Zum Buch
Die 28-jährige Hannah ist bereit fürs große Abenteuer: Ein Traum wird wahr, als sie mit ihren Kollegen einen Dokumentarfilm in dem entzückenden spanischen Ort Mojácar drehen darf. Das heißt auch, dass sie lange Sommertage mit Theo verbringen wird – ihrem Boss und heimlichen Schwarm. Hannah könnte wetten, unter der spanischen Sonne wird sie ihn endlich für sich gewinnen. Wenn ihr nur nicht ihr bester Freund und Kameramann Tom sowie die Moderatorin Claudette ständig in die Quere kämen. Die Sache wird noch komplizierter, als Nancy, Hannahs nervige Halbschwester, anreist. Was um alles in der Welt will Nancy hier? Kann Hannah nicht ein Mal in ihrem Leben einen perfekten Sommer haben?
»So atmosphärisch … man kann die Paella und Sangria buchstäblich riechen.« Closer
Zur Autorin
Isabelle Broom, geboren 1979 in Cambridge, hat Medienwissenschaften an der University of West London studiert und arbeitet als Redakteurin und Autorin. Nach Olivensommer und Wintersterne ist Hibiskusblütenmeer ihr dritter Roman im Diana Verlag.
ISABELLE BROOM
ROMAN
Aus dem Englischen
von Uta Rupprecht
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Deutsche Erstausgabe 05/2019
Copyright © 2017 by Isabelle Broom
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Then. Now. Always bei Penguin Random House UK
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Covermotiv: © Andreas Naumann, EyeEm, BSIP, UIG,
Elles Rijsdijk, EyeEm/gettyImages
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-23385-3
V003
www.diana-verlag.de
DAMALS
Der Wind ist das Erste.
Wie ein warmer Atem heißt er sie willkommen, als sie vorsichtig aus dem Bus steigt, und sie bleibt einen Moment stehen, um das Gefühl zu genießen. Nach der schrecklich langen Reise fühlt sie sich schmutzig, klebrig und erschöpft. Hinter ihr schließt sich die Bustür mit einem leise protestierenden Quietschen der rostigen Scharniere.
Hier bist du sicher, sagt eine beruhigende Stimme in ihrem Inneren, hier wird er dich nicht finden, und sie auch nicht.
Sie wendet den Kopf und erblickt weit unter sich das Meer, ein tiefblaues Tuch mit weißen Flecken dort, wo sich die Wellen brechen. Fast glaubt sie zu hören, wie sie ans Ufer schlagen – ein leises Rauschen, ein sanftes Knirschen.
Die Sonne ist schon fast untergegangen, sie hängt müde am Himmel. Dennoch muss sie die Augen zusammenkneifen, wenn sie zu ihr hinschaut, obwohl sie mit einer Hand die Augen beschattet. Ihre Tränen sind auf den Wangen getrocknet, die Haut darunter spannt und brennt. Sie fragt sich, ob sie irgendwann aufhören kann zu weinen. Wird sie das alles jemals vergessen können?
Der Bus ist inzwischen weitergefahren, mit laut tuckerndem Motor, knirschenden Gängen und einer Staubwolke, die noch lange über der Straße schwebt. Wo er stand, wird nun ein weitläufiger Abhang sichtbar. Beim ersten Anblick des Hügels mit den verstreut stehenden weißen Häusern, die in der Dämmerung sanft violett leuchten, spürt sie tief in der Brust einen Stich. So viele Möglichkeiten, um sich zu verbergen. Ein Labyrinth, in dem sie ihr altes Ich abstreifen kann.
Während sie von dem steinigen Pfad aus hinaufschaut, nimmt sie plötzlich einen intensiven Geruch wahr, eine Mischung aus Kiefern, Zitronen und Salz. Aus dem Unterholz neben der Straße dringt ein Rascheln, das Murmeln winziger geschäftiger Insekten. Das Leben geht weiter, die Erde hört nicht auf, sich zu drehen. Vögel fliegen und Wellen brechen sich, die Sonne geht unter und der Wind frischt auf. Und sie ist hier. Sie ist am Leben.
Zwar hat sie noch keine Menschenseele gesichtet, aber ihre Angst verfliegt allmählich. In die Dunkelheit, die sie umhüllt hat, dringen Lichtstrahlen: Es gibt Hoffnung für die Zukunft. Irgendwie wird es weitergehen. Sie muss sich nicht mehr fürchten.
Der Hügel winkt sie mit unsichtbaren Fingern zu sich, die fernen Lichter blinken wie Sterne.
»Lebwohl«, flüstert sie und macht sich an den Aufstieg.
1
Jetzt
Ich weiß, es ist ein total peinliches Klischee, in seinen Chef verliebt zu sein, aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Seit ich ihn während meines Praktikums vor fünf Jahren mit meinen jungen, leicht zu beglückenden Augen das erste Mal erblickte, bin ich ihm verfallen, und daran hat sich in der Zwischenzeit nicht ein Jota geändert. Allerdings muss ich sagen, dass er selbst schuld ist – was muss er auch so unglaublich schnuckelig, so atemberaubend genial und, tja, so ganz und gar perfekt sein?
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigt sich Tom und mustert besorgt mein gerötetes Gesicht, während das Objekt meiner Sehnsüchte an uns vorbei in den Besprechungsraum marschiert. Heute trägt er ein hellblaues Hemd und sieht einfach sagenhaft sexy aus.
»Mir geht’s prima«, versichere ich ihm und fächele mir wie zur Bestätigung kühlende Luft ins Gesicht. »Es ist nur echt heiß hier. Zu viele Computer, die gleichzeitig laufen.«
»Na, wenn du meinst.« Achselzuckend wendet sich Tom wieder seinem Bildschirm zu.
»So schlimm sehe ich doch gar nicht aus, oder?«, murmele ich, und er betrachtet mich.
»Rot wie ein Radieschen«, stellt er fest. »Bloß mit mehr Haaren.«
Gelegentlich zieht Tom mich auf, um sich zwischen dem Kaffee um drei Uhr nachmittags und dem Sechs-Uhr-Bier nach der Arbeit die Zeit zu vertreiben. Ich sollte also nicht überrascht sein, denn ich zahle es ihm ja stets mit gleicher Münze heim. Allerdings mag ich mir gar nicht vorstellen, wie er mich piesacken würde, wenn er von der peinlichen Verliebtheit wüsste. Und sie ist tatsächlich ein bisschen peinlich, außer meinem Spiegelbild würde ich nie jemandem davon erzählen. Ja, auch das noch, ich rede vor dem Spiegel mit mir selbst. Hannah Hodges: eine wandelnde Katastrophe.
»Haben wir auf Twitter eigentlich schon irgendwelche Reaktionen zu Mojácar?« Entschlossen bringe ich das Gespräch wieder auf die Arbeit.
Tom macht ein paar Mausklicks und schnaubt verächtlich. »Bloß von Leuten, die glauben, ich würde eigentlich von ›Mallorca‹ reden.«
»O Mann, solche Banausen!«, knurre ich und verdrehe die Augen, als ich die höhnischen Tweets auf seinem Bildschirm lese. Insgeheim bin ich allerdings ziemlich begeistert, denn ich habe Theo meine Idee zu dem Dokumentarfilm teilweise damit verkauft, dass über die kleine spanische Stadt Mojácar nur wenig bekannt ist. Diese Tweets beweisen, wie recht ich habe.
Theo hatte gestrahlt wie ein Kaufhausweihnachtsbaum, als ich von meinen Aufenthalten dort in meiner Teenagerzeit erzählte, und nachdem ich meinen Laptop zu ihm umgedreht hatte, weiteten sich seine schönen braunen Augen beim Anblick der Bilder von kleinen weißen Häusern, die wie Bauklötze einen Hügel bedeckten, von wuchernden Bougainvilleen und einem breiten Sandstrand. Bei meiner Erklärung, warum die Stadt sich so gut für den Auftrag, an dem wir gerade arbeiteten, eignen würde, klatschte er sogar vor Freude in die Hände. Das war auf jeden Fall einer der besten Tage meines bisherigen Berufslebens (na gut, auch meines Privatlebens), seitdem lasse ich diese Momente mindestens zwölfmal täglich genüsslich vor meinem inneren Auge ablaufen. Offenbar bin ich doch nicht so schlecht bei Präsentationen, obwohl ich im Vorfeld vor Panik fast gestorben bin.
»Glaubst du wirklich, dass wir das alles noch rechtzeitig vor Drehbeginn hinkriegen?«, fragt mich Tom jetzt. Mein bester Freund macht sich Sorgen über alles und jedes. Manchmal wünschte ich mir, er wäre kämpferischer, draufgängerischer, doch er hat immer nur Bedenken.
Mit künstlich empörter Miene drehe ich mich zu ihm um. »Natürlich schaffen wir das. Theo hat mir den Auftrag erteilt, alles über den Drehort und die Geschichte von Mojácar herauszufinden. Vertrau mir, ich werde ihn … ich meine, die Firma nicht enttäuschen. Dieser Film wird alles haben: Schönheit, Magie und einen ungewöhnlichen Schauplatz.«
»Magie?« Tom runzelt die Stirn. »Schon wieder dieses Höhlengemälde?«
»Oh, das ist nicht alles«, erwidere ich und schaue instinktiv hinab auf das kleine eintätowierte Symbol auf der Innenseite meines linken Handgelenks. Im Lauf der Jahre ist die schwarze Tinte zu einem schmutzigen Blau verblasst, aber es entlockt mir immer noch ein nostalgisches Lächeln. Mein Indalo-Mann mit seinem einfach gezeichneten Strichmännchen-Körper und den ausgebreiteten Armen. Sobald Theo uns im Konferenzraum zusammengerufen und berichtet hatte, wir hätten den Auftrag für eine Dokumentarreihe über moderne Traditionen und Mythen bekommen, wusste ich, welcher Ort perfekt dazu passen würde – und ich hatte recht behalten. Kurz danach war die Finanzierung genehmigt worden, und jetzt mussten wir ernsthaft loslegen, um den Termin halten zu können.
Vorsorglich fahre ich mit dem Daumen über meinen Indalo-Mann. »Ich glaube an ihn«, gestehe ich.
Tom wirft einen Blick auf das Tattoo und sieht mich wieder an. Einen Moment lang entdecke ich etwas wie Zuneigung in seinen Augen, aber er blinzelt schnell.
»Du bist wirklich verrückt.« Er lächelt.
»Aber du magst mich doch trotzdem, oder?«
Tom verdreht die Augen und konzentriert sich auf seinen Bildschirm.
Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft man uns schon für ein Paar gehalten hat. Allerdings ist diese Vermutung wohl durchaus naheliegend. Tom und ich haben uns in der ersten Woche an der Uni im Café der Studentenvertretung kennengelernt, seitdem sind wir quasi wie siamesische Zwillinge. Ich kenne alle seine Schwächen und Fehler, er kennt die meinen, und trotzdem mögen wir uns immer noch so gern, als wären wir miteinander verwandt. Tatsächlich betrachte ich Tom in gewisser Weise als meinen Bruder, vielleicht deshalb, weil ich ihn so unendlich viel lieber mag als meine richtige Schwester. Na ja, Halbschwester.
Er sieht mir sogar ähnlicher als sie. Während mein geliebter Theo dunkle Haut, dunkle Haare und breite Schultern hat, ist Tom schlaksig wie ich und hat ebenso lange, blasse Glieder und einen strohfarbenen Schopf wuscheliger Haare auf dem Kopf. Als Vogelscheuchen, die in einem Feld die Krähen verjagen sollen, wären wir beide bestens geeignet – an diese Tatsache erinnere ich ihn bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er etwas tut, was mich ärgert.
»Hannah, hast du mal einen Moment Zeit?«
O Gott, Theo ruft nach mir. Hastig springe ich auf und verspüre einen Kloß im Hals.
»Klar, bin schon unterwegs!«
Diese Antwort quieke ich, als wäre ich eine Art Mischwesen aus Maus und Mensch, was Tom mit Sicherheit bemerkt hat. Na toll.
Theo sitzt in einem der sechs Ledersessel im vollverglasten Besprechungsraum, einen Fuß lässig auf das Knie des anderen Beins gelegt. An seinem Oberschenkel lehnt ein iPad. Was hat dieses Gerät für ein Glück!
Ich hole tief Luft und lasse beim Ausatmen meine lächerliche Unsicherheit ausströmen. »Wie kann ich dir helfen?«
Theo lächelt mich an und deutet auf den Stuhl neben sich. »Setz dich, Hannah.«
Ich setze mich und gebe mir alle Mühe, nicht rot zu werden, als mein bloßes Knie sein Hosenbein streift.
»Wie kommst du mit der Recherche voran?«
»Gut«, zwitschere ich und erzähle ihm von den sarkastischen Twitter-Reaktionen. »Ich glaube, wir dürfen sicher sein, dass Mojácar ein Teil von Spanien ist, den nicht viele Leute kennen.«
»Das ist Musik in meinen Ohren.« Theo grinst. Er ist in Griechenland aufgewachsen und spricht immer noch mit leichtem Akzent. Jedes Mal, wenn ich ihn reden höre, verwandelt sich mein Inneres in eine Art Kartoffelbrei – und ich kann absolut nichts dagegen tun.
»Ich bin mir sicher, es wird dir dort sehr gut gefallen.« Nervös lege ich die Fußknöchel übereinander und löse sie wieder. »Wann willst du denn fahren?«
»Genau darüber wollte ich mit dir reden.« Theo lächelt erneut, und ich umklammere die Armlehnen meines Sessels. »Darum habe ich dich hergebeten. Hättest du Lust, mitzukommen?«
»Ich?« Jetzt hat das Maus-Mensch-Wesen erneut meinen Körper übernommen.
»Ja. Du und ich, und natürlich Claudette und Tom.«
»Wir alle?« Allmählich höre ich mich wie eine Idiotin an.
Theo sieht mich prüfend an, aber er lacht gutmütig. »Du hast die Idee präsentiert und warst auch schon in Mojácar, also musst du mitkommen«, erläutert er und klatscht in die Hände, wie um sein Argument zu unterstreichen.
Ich bin drauf und dran, mich zu zwicken, ob ich vielleicht träume. Ich arbeite seit gut fünf Jahren als Rechercheurin für Vivid Productions in London, und in der ganzen Zeit war ich nicht ein einziges Mal bei einem Auslandsdreh dabei. Ich bin weder ein geschickter Kameramann wie Tom noch eine angesagte Moderatorin mit französischem Akzent wie Claudette, sondern lediglich eine Rechercheurin, die in der Regel vom Büro aus arbeitet. Meine Stärke ist es, Hinweisen nachzugehen, Interviews zu organisieren und aus den tiefsten und dunkelsten Kellern von Fernsehsendern in aller Welt vergessenes Archivmaterial aufzustöbern. Aber das? Das ist etwas völlig Neues für mich – und ich habe darauf gehofft, solange ich zurückdenken kann.
»Aufbruch ist in zwei Wochen«, fährt Theo fort und wischt mit einem langen gebräunten Finger über sein iPad. »Passt das für dich?«
»Ja, natürlich.« Nur mit äußerstem Kraftaufwand kann ich mich daran hindern, ihn zu umarmen.
»Du wirst dort meine rechte Hand sein, also wird nicht viel Zeit bleiben zum Sonnenbaden und Sangriatrinken«, warnt er noch. »Dieses Projekt hat einen sehr engen Zeitrahmen, daher schneide ich das Material selbst, noch während wir dort sind. Ich brauche dich, damit du auf die Anschlüsse achtest und die nötigen Interviews auf die Beine stellst.«
Ich bewege den Kopf auf und ab wie ein Wackeldackel, der beim Schleudergang auf einer Waschmaschine sitzt.
»Bis dahin sollten wir ein paar Leute auftreiben, die damals in der Künstlerkolonie gelebt haben, von der du erzählt hast. Bist du da schon weitergekommen?«
Ich schüttele bedauernd den Kopf, niedergeschlagen, weil ich schlechte Nachrichten habe.
»Wie gesagt, die Kolonie wurde im Jahr 2013 aufgelöst«, rufe ich ihm ins Gedächtnis. »Leider scheint es so, als hätten sämtliche Künstler die Gegend verlassen. Aber ich bleibe dran.«
Theo nickt. »Gute Arbeit, Hannah. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Tatsächlich? Ich werde dunkelrot vor Stolz.
Als ich ein paar Minuten später zu meinem Schreibtisch zurückschwebe, ist Tom von Twitter zu Facebook gewechselt und macht gerade Teepause.
»Sissy Martin hat geheiratet«, verkündet er.
»Was? Schon wieder?«
Sissy kennen wir beide von der Universität, sie war, um es vorsichtig auszudrücken, das menschliche Äquivalent zu einer Rutschbahn im Park. Jeder, der wollte, durfte mal.
»Diesmal einen Armeeoffizier, so wie es aussieht.« Tom deutet mit seiner großen Hand auf den Bildschirm. »Und wo machen sie Flitterwochen? Ausgerechnet in Sri Lanka. Das steht ganz oben auf meiner Liste.«
Seit ich ihn kenne, redet Tom von einer Weltreise, aber abgesehen von ein paar größeren Drehaufenthalten für Vivid ist er nicht sonderlich weit gekommen. Selbstsüchtig, wie ich bin, freut mich das, denn jedes Mal, wenn er länger weg ist, vermisse ich ihn schrecklich. Andererseits wünsche ich ihm natürlich, dass er seinen Traum verwirklichen kann.
Über seinen Kopf hinweg spähe ich auf die Fotos und schnaube. »Wie kann es sein, dass diese dämliche Sissy Martin schon die zweite Ehe führt, und bei mir steht nicht mal die erste in Aussicht?«
»Du bist einfach zu wählerisch«, stellt Tom fest, was nur teilweise zutrifft. Der Grund, dass mein Bett leer und kalt bleibt, sind nicht meine hohen Maßstäbe, sondern die Tatsache, dass ich unfähig bin, jemand anderen als meinen attraktiven Chef zur Kenntnis zu nehmen.
»Na, vielleicht lerne ich ja in Mojácar die Liebe meines Lebens kennen«, sage ich und zwinkere ihm übertrieben zu, damit er es auch wirklich mitbekommt. »Ich wurde nämlich soeben eingeladen, auf den Dreh mitzufahren.«
»Echt jetzt?« Tom strahlt und wedelt mit den dünnen Armen.
»Echt. Offenbar soll ich dort Theos rechte Hand sein.« Unglücklicherweise entkommt mir der letzte Teil des Satzes mit einer so unüberhörbar verträumten Stimme, dass mich Tom misstrauisch mustert.
»Er braucht wohl noch jemanden außer euch beiden«, füge ich schnell hinzu. »Du weißt schon, jemanden mit unglaublichem Wissen, sagenhaften Fähigkeiten im Umgang mit Menschen und … Au!«
Tom hat sich mit einem spielerischen, aber doch ziemlich festen Schlag auf meinen Oberschenkel gerächt.
»Zwing mich nicht, dich niederzuschlagen, Robertson«, warne ich ihn. »Ich habe es schon mal getan und ich kann es wieder tun.«
Es stimmt. Das habe ich.
»Ich ergebe mich!« Lachend hebt er die Hände. Eine davon ist mit blauer Tinte beschmiert, weil sein Füller ausgelaufen ist.
»Um das wieder gutzumachen, kannst du mir einen Tee bringen«, sage ich, drehe mich um und öffne Facebook auf meinem Computer, auch wenn ich genau weiß, dass ich mich innerhalb von Minuten darüber ärgern werde. Und tatsächlich …
»Ach du meine Güte. Das ist ja zum Kotzen!«, schnauze ich den Bildschirm an.
»Was denn?« Mit beängstigender Geschwindigkeit bewegt Tom mit seinen langen Spargelbeinen seinen Stuhl zu mir herüber.
»Das da.« Ich deute auf das Foto. »Meine Halbschwester, so ekelhaft arrogant wie immer.«
Tom betrachtet das Bild und zuckt die Achseln. »Sie sieht glücklich aus.«
Wäre ich nicht so voller Abscheu gegenüber meiner jüngeren, hübscheren, dunkelhaarigeren und weitaus selbstsichereren Schwester, dann würde ich ihm vielleicht zustimmen, aber so finde ich das Foto von Nancy mit ihrem blonden und blauäugigen Freund, die wie zwei verliebte Trottel in die Kamera lächeln, unendlich abstoßend.
»Kannst du mir noch mal erklären, warum du sie so hasst?«, fragt Tom mit etwas verwirrter Miene und rollt wieder zurück zu seinem Schreibtisch.
»Sie ist verwöhnt, langweilig, selbstbezogen und öde«, zähle ich an den Fingern auf.
»Ich würde sagen, langweilig und öde ist in etwa dasselbe«, stellt Tom fest.
Ich starre ihn an.
»Aber ganz im Ernst«, sagt er mit einem schiefen Grinsen, »deine Schwester ist eigentlich sehr nett. Damals auf unserer Abschlussfeier habe ich mich richtig gut mit ihr unterhalten. Und, wenn ich dich daran erinnern darf, sie kann schließlich nichts dafür, dass sie auf die Welt gekommen ist.«
Ich öffne schon den Mund zu einer scharfen Retourkutsche, da kommt Theo aus dem Besprechungsraum. Ich rieche sein zitroniges Aftershave, und ein Kribbeln durchrieselt meinen ganzen Körper.
»Alles okay?«, fragt er im Vorbeigehen.
»Ja, Chef«, erwidern Tom und ich im Chor und schließen unsere jeweiligen Facebook-Seiten gleichzeitig mit einem schnellen Klick.
Während er durchs Büro geht, dreht sich jeder männliche und weibliche Kopf unseres fünfzehnköpfigen Teams zu ihm um. Ich stoße einen zufriedenen Seufzer aus. Ich werde mit ihm nach Spanien reisen, und dort wird er sich in mich verlieben. Endlich wird es geschehen. Es muss einfach geschehen.
Und als in diesem Augenblick die Maisonne den Wolkenschleier durchbricht und zum Fenster hereinstrahlt, bin ich tatsächlich davon überzeugt, dass mein größter Wunsch wahr werden wird.
2
Die folgenden zwei Wochen vergehen wie im Flug. Ich arbeite bis spätabends und habe anschließend noch diverse Haarentfernungstermine. Auf keinen Fall will ich das Risiko eingehen, dass Theo unter dem neuen Bikini, den ich mir gerade geleistet habe, irgendwo ein Haar hervorlugen sieht. Auch wenn er uns vorgewarnt hat, diese Reise werde lediglich aus Arbeit, Arbeit, Arbeit bestehen, gönne ich mir doch gelegentlich eine kleine Tagträumerei, in der lediglich wir beide, ein heißer Whirlpool und Champagner auf Eis vorkommen. Wo der Whirlpool herkommen soll, ist mir egal – der Tagtraum gefällt mir einfach zu gut, und ich weigere mich zu glauben, dass er nicht wenigstens zu zwei Dritteln Wirklichkeit werden könnte.
An dem Abend vor unserer Abreise nach Mojácar treffen Tom und ich unsere Freunde Rachel und Paul in unserem Lieblingspub in Islington, um darauf anzustoßen. Na ja, auch wenn ich »Freunde« sage, sind wir doch eigentlich nur mit Rachel befreundet. Was mich betrifft, darf Paul nur dabei sein, weil er Rachels Freund ist. Und das ist wirklich der einzige Grund.
Als wir wie immer zu spät in den Pub kommen, warten sie bereits auf uns. Rachel steht auf, um uns beide zur Begrüßung zu umarmen. Als treue Freundin äußert sie sich begeistert über meine neue Frisur (ich befürchte, ich sehe aus wie eine blonde Fernsehmoderatorin aus den neunziger Jahren; sie versichert mir, das sei nicht wahr) und sagt zu Tom, der Bart stehe ihm ausgezeichnet (auch das ist nicht wahr).
»Ihr kommt gerade rechtzeitig, um die nächste Runde zu übernehmen«, bemerkt Paul, ohne aufzustehen, was ihm ein Kichern von seiner Freundin und eine Missfallensäußerung von mir einträgt.
»Halt die Klappe und hol was zu trinken, Pauly«, befiehlt sie ihm freundlich und zwinkert mir zu, während wir unsere Hinterteile auf die Bank schieben, auf der sie sitzen.
Rachel legt die schlanken Finger um ihr halb leeres Weinglas und sagt: »Na, seid ihr für euren Trip bereit?«
»Hannah zumindest ist komplett enthaart, wenn es das ist, was du meinst«, erklärt Tom und schiebt seinen Fuß gerade rechtzeitig weg, um zu verhindern, dass ich ihn trete.
»Ich werde dir nie wieder etwas anvertrauen«, murmele ich, und beide lachen mich aus. Paul kommt mit drei Pints zurück, die sehr nach Ale aussehen. Ich hatte um ein Lager gebeten.
Tom hebt sein Glas an die Nase und schnüffelt vorsichtig. »Was ist das?«
»Gibt’s heute billiger«, antwortet Paul und grinst uns an, als er sich wieder setzt. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, ihm nicht den Inhalt meines Bierglases über den Kopf zu schütten, obwohl es sicher witzig wäre, zu sehen, wie ihm sein sorgfältig gestyltes Haar ums Gesicht hängt. Paul sieht sehr gut aus, und er ist sich dessen auch bewusst. Vermutlich war dies die Ausrede dafür, dass er keinen Charakter entwickeln musste, abgesehen von seinen oft sexistischen und immer richtig schlechten Witzen. Rachel ist viel zu verknallt in ihn, um diese Tatsache zu erkennen, und dass weder Tom noch ich sie im Lauf des Jahres, das sie jetzt mit Paul zusammen ist, darauf hingewiesen haben, zeigt, wie sehr wir sie mögen. Mit ihren üppigen roten Locken, den hellgrünen Augen und der makellosen Haut ist sie natürlich viel schöner als Paul, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund fühlt sie sich ihm unterlegen – und ich bin sicher, er tut nichts, um daran etwas zu ändern.
»Und, nehmt ihr euch dort ein gemeinsames Zimmer?«, fragt Paul jetzt und wirft mir und Tom einen Blick zu, als wollte er sagen: »Ich weiß doch, dass ihr es miteinander treibt.«
Ich mache mir nicht die Mühe, darauf etwas zu erwidern, sondern hebe das Glas mit dem ekligen Ale, um meinen verächtlichen Gesichtsausdruck zu verbergen. Tom hingegen murmelt etwas in dem Sinne, dass er die Entscheidung mir überlasse. Wenn er Paul gegenüber nur nicht immer so nervös und leicht einzuschüchtern wäre! Dabei ist er siebzehn Millionen Mal mehr wert als dieser selbstzufriedene Knallkopf!
»Wie haben deine Mitbewohner auf die Neuigkeit reagiert?«, will Rachel von mir wissen. Ich wohne in einer riesigen viktorianischen Steinruine zusammen mit neun anderen Leuten, von denen ich die meisten nie zu Gesicht bekomme. Ein paar von ihnen habe ich mit Sicherheit nicht mal kennengelernt, ehe sie bei uns eingezogen sind.
Ich zucke die Achseln. »Ich habe eine Nachricht auf der Pinnwand in der Küche hinterlassen und ein Schloss für meine Zimmertür gekauft. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass irgendjemand merkt, dass ich überhaupt weg bin.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum du noch dort wohnst«, sagt Tom wie jedes Mal, wenn das Gespräch auf meine Wohnverhältnisse kommt. »Du lebst immer noch wie eine Studentin.«
»Ach, tut mir leid, aber ich habe dummerweise nicht von meinen stinkreichen Eltern die Anzahlung für eine Wohnung bekommen wie gewisse andere Menschen«, gebe ich zurück. »Solchen Luxus wie du kann sich eben nicht jeder leisten.«
Rachel lacht, denn sie weiß so gut wie ich, dass Toms schäbiges Apartment über einem Grill-Imbiss in South Ealing alles andere als luxuriös ist. Dennoch ärgert es mich, dass er Wohnungseigentümer ist. Ich kenne niemanden, der es ohne finanzielle Hilfe von Verwandten geschafft hätte, sich eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen. Meine Bleibe in Acton ist vielleicht heruntergekommen und überbelegt, aber ich zahle auch nur 450 Pfund warm im Monat. Als ich zufällig (absichtlich) mal einen Blick auf Toms Kontoauszug geworfen habe, den er auf dem Schreibtisch vergessen hatte, hätte ich mich beinahe an meinem Schinken-Tomaten-Sandwich verschluckt. Kein Wunder, dass er so mager ist, wenn ihm nach Abzug der Kreditrate praktisch nichts mehr übrig bleibt.
»Wo wir gerade von Wohnungen reden«, wirft Rachel ein, ehe Tom etwas sagen kann, »wir haben eine kleine Neuigkeit, stimmt’s, Pauly?«
Wenn sie ihn nur nicht immer so nennen würde.
Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, sieht Paul ein bisschen unbehaglich drein. Es ist nur eine vorübergehende Verlegenheit, aber ich habe es bemerkt. Und er hat gesehen, dass ich es bemerkt habe.
»Ich ziehe zu Rachel«, erklärt er und hüstelt leicht, als sie über dem Tisch nach seiner Hand greift.
Auch Rachel hat von einer spendablen Verwandten profitiert, einer Großmutter, die so selbstlos war, sich jeden Penny vom Munde abzusparen und das Geld nach ihrem Tod den Kindern ihrer Tochter zu vermachen. Rachel lebt in einem richtigen Haus mit vier Zimmern in Willesden, das ungefähr fünftausend Meilen weit von allem entfernt ist, weshalb wir sie auch praktisch nicht besuchen. Wenn jetzt Paul mit den sagenhaften Haaren dort einzieht, werde ich vermutlich nie wieder dort hinfahren.
»Das ist ja großartig«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wie schön für euch beide.«
Ist das wirklich schön? Ich kann mir nicht vorstellen, so eng mit einem Mann zusammenzuleben, geschweige denn mit so einem Trampel wie Paul. Rachel ist viel mutiger als ich. Aber was soll eigentlich diese Eile? Sie ist gerade achtundzwanzig geworden, genau wie Tom und ich. Das kommt mir alles viel zu ernsthaft und erwachsen vor.
Großherzig wie immer schüttelt Tom nun Paul die Hand. Ich finde nicht, dass man ihm gratulieren sollte, Rachel ist eine Göttin und viel zu gut, um ihm die Stiefel zu polieren, womit sie, da bin ich mir sicher, sofort anfangen wird, und ihm die Unterhosen zu bügeln und ihm Schokoherzen aufs Kopfkissen zu legen. Ich weiß nicht, ob es das billige Ale oder die düstere Vorahnung bezüglich einer meiner besten Freundinnen ist, was da in meinem Inneren brodelt, aber mir ist auf einmal richtig schlecht.
Als würde Rachel das spüren, wechselt sie eilig das Thema. »Ich finde es einfach unglaublich, dass du wieder nach Mojácar fährst!« Sie strahlt mich an. »Wie gerne würde ich mitfahren. Es wäre so toll, die Stadt wiederzusehen.«
Während sie das sagt, schaut sie auf ihr eigenes kleines Tattoo auf der Innenseite des linken Handgelenks. Wir haben uns das Symbol gemeinsam stechen lassen, wobei eine für die andere bezahlt hat, um sicherzustellen, dass es ein Geschenk ist. Die Legende behauptet, wenn der Indalo-Mann vom Empfänger selbst erstanden wird, funktioniert er nicht als Talisman. Damals als Teenager glaubten Rachel und ich von ganzem Herzen an so etwas, daher das umständliche Bezahlen. Bei mir hat es gewirkt, allerdings ist meines auch viermal so groß wie ihres und hat daher viermal so viel gekostet. Die arme Rachel.
Mit dem kleinen Finger streiche ich jetzt über mein Tattoo, fahre die Körperlinien meines Tintenfreundes nach und auch den Halbkreisbogen, den die beiden Arme über seinem Kopf bilden. Wenn man den Geschichtsbüchern glauben darf, repräsentiert dieser Halbkreis einen Regenbogen, aber ich habe mich damals dennoch für eine Ausführung in einfachem Schwarz entschieden. Im vergangenen Monat habe ich über dieses Symbol und die Legende, die sich darum webt, so viel gelesen und recherchiert, dass es mir wichtiger und bedeutsamer denn je erscheint. Ich hoffe nur, dass alles, was ich über den Indalo-Mann gelesen habe, wahr ist – selbst das, was sich wie ausgemachter Blödsinn anhört.
Ich war fünfzehn, als ich zum ersten Mal nach Mojácar kam, und ich weiß noch genau, wie begeistert ich war. Ich war noch niemals mehr als nur ein paar Tage von meiner Mutter weg gewesen, und als sie mir nachwinkte, während ich im Auto von Rachels Vater davonfuhr, flossen jede Menge Tränen. Es war sehr großzügig von ihren Eltern, mich in den Familienurlaub mitzunehmen – vor allem, wenn man bedenkt, dass Rachel und ich uns zu dieser Zeit am liebsten in einer merkwürdigen, selbst erfundenen Sprache unterhielten, die aus Grunzlauten und ausladenden Handbewegungen bestand. Wir hielten uns für unglaublich raffiniert, in Wirklichkeit sahen wir wohl aus wie zwei durchgeknallte Gibbons.
Im ersten Jahr durften wir abends noch nicht allein ausgehen, aber im zweiten Sommer, als wir beide sechzehn geworden waren, wurde uns erlaubt, unbegleitet zum Abendessen zu gehen und tagsüber die Strandbars zu besuchen. Rachels Eltern liebten Ausflüge, ihre Mutter malte und stellte die tragbare Staffelei gerne an abgeschiedenen Orten auf. Wir beide hingegen waren nur daran interessiert, kichernd über die spanischen Kellner zu lästern, beim Sonnenbaden Teenagermagazine zu lesen und sämtliche tollen Jungs der Schule durchzuhecheln.
Erst im dritten Jahr fingen wir an, heimlich in Bars zu gehen und mit jungen Einheimischen zu knutschen. Es war alles ganz unschuldig, aber damals kamen wir uns unglaublich erwachsen vor. In Mojácar waren die Leute so viel lässiger und entspannter als zu Hause im langweiligen alten England. In Mojácar gelang es mir, mein Schneckenhaus abzuwerfen, mir nicht mehr so viele Gedanken zu machen und es zu genießen, wie weit das Leben hier von meinen Problemen zu Hause entfernt war. Ich fand es großartig, einen Ort zu haben, der mir ganz allein gehörte, wo Mum und Dad noch nie gewesen waren. Und noch toller war, ein anderes Ich zu haben, das sie ebenfalls nie zu Gesicht bekommen würden. Nur Rachel hat meine beiden Seiten kennengelernt, aber selbst sie ist der Mojácar-Hannah zum letzten Mal vor vielen Jahren begegnet. In dem Jahr, als wir achtzehn wurden, hatten wir fest vor, wieder hinzufahren – wir sprachen monatelang fast über nichts anderes –, aber dann wurde bei Rachels Vater ein Tumor festgestellt, und über Nacht löste sich die heile Welt meiner armen Freundin auf. Seitdem ist es wohl das Leben selbst gewesen, das uns, jede für sich, an der Rückkehr nach Mojácar gehindert hat, aber jetzt, während ich neben Rachel sitze und darüber rede, kann ich gar nicht glauben, dass wir es nie wieder geschafft haben.
»Ich wünschte, du könntest mitfahren«, sage ich zu ihr. »Es wird ziemlich seltsam sein, wenn du nicht dabei bist.«
»Nein, das glaube ich nicht!«, versichert sie mir und sieht mir in die Augen. »Ich bin mir sicher, du wirst dir dort sehr gut die Zeit vertreiben können.«
Rachel ist der einzige Mensch, der von meiner Schwärmerei für Theo weiß, daher ist mir klar, was sie meint, auch wenn die beiden Männer keine Ahnung haben.
»Das könnte schon sein«, sage ich und erwidere ihren bedeutsamen Blick.
»Wenn ich Single wäre, hätte ich große Lust auf eine Urlaubsromanze«, bemerkt Paul viel zu sehnsüchtig. Verlegen schweigend warten wir, bis Rachels versteinerter Blick von ihrem Freund richtig gedeutet wird. Es dauert eine ganze Weile.
Endlich sagt er: »Natürlich bin ich froh, dass ich nicht mehr Single bin«, und lächelt über ihre wütende Miene. »Du weißt doch, Rachy, dass ich niemanden will außer dir.«
Inzwischen besteht ernsthaft die Gefahr, dass das Ale-Glas sich in ein Wurfgeschoss verwandelt.
»Wenn ich mich recht erinnere, hattest du in Mojácar nie Probleme damit, nette Männer kennenzulernen«, sagt Rachel jetzt und mustert mich belustigt.
Tom, der gerade das Bierglas angesetzt hat, stößt ein gemeines Lachen aus, aber Rachel fährt fort, ohne auf ihn zu achten: »Ich wüsste nicht, warum das jetzt anders sein soll. Du musst bloß diese knackige, zuversichtliche Siebzehnjährige von damals auf dein heutiges Selbst übertragen, dann kann dir keiner widerstehen.«
»Ich war ganz bestimmt nicht knackig«, antworte ich und verziehe das Gesicht beim Gedanken an den flachbrüstigen, sommersprossigen Teenager von damals. »Und zuversichtlich war ich auch bloß, weil wir jeden Abend vor dem Ausgehen die Wodkavorräte deiner Eltern dezimiert haben.«
»Inzwischen kannst du dir selbst Wodka kaufen – noch besser!«
Apropos Alkohol – mir fällt auf, dass alle Gläser fast leer sind. Ich mache mich auf den Weg zur Theke, um die nächste Runde zu besorgen.
Als ich beim Aufstehen an Paul vorbeikomme, drückt er kurz meine Hand und sagt: »Bring mir doch ein Peroni mit, ja?«
Echt jetzt, ein Peroni-Bier? Er kriegt das billige, eklige Ale aus dem Hahn, das reicht.
Trotz bester Vorsätze ist es schon nach elf, als wir auf den Bürgersteig hinausstolpern und uns mit ungeschickten Umarmungen voneinander verabschieden. Rachel zieht Tom beiseite und flüstert ihm etwas ins Ohr, doch ehe ich hinübertorkeln kann, um herauszufinden, was sie gesagt hat, verstellt Paul mir den Weg und zieht mich in eine ziemlich steife Umarmung.
»Viel Spaß in Mallorca, wirklich«, lallt er.
»Es ist Mojácar«, sage ich zähneknirschend und klopfe ihm leicht auf die Schulter.
Was für ein Blödmann!
In diesem Moment läutet glücklicherweise eine Glocke. Genauer gesagt mein Handy, dessen Klingelton eine Art Glockenläuten ist. Wer ruft mich um diese Zeit an? Einen kurzen, flüchtigen, ekstatischen Moment lang erlaube ich mir den Gedanken, es könnte Theo sein, um mir zu gestehen, er halte es nicht länger aus, müsse mir augenblicklich seine Liebe gestehen und sich der unterdrückten Leidenschaft hingeben, die ihn seit Monaten umtreibt.
Es ist meine Mutter.
»Hi, Mum«, grüße ich vorsichtig, während ich mich aus Pauls trunkener Umklammerung löse. »Warum rufst du so spät noch an?«
»Ist es schon so spät?«, kommt die Antwort, und ich ahne, dass ich an diesem Abend nicht die Einzige bin, die zu tief ins Glas geschaut hat.
»Für jemanden deines Alters schon«, witzele ich und freue mich über das empörte Kreischen am anderen Ende.
»Na, du fliegst doch morgen, und weil ich doch ganz früh diesen Zoga-Kurs im Freizeitzentrum habe …«
»Zoga?«, frage ich, während ich Rachel zuwinke und ihr noch einen Luftkuss schicke. Hand in Hand mit Paul wandert sie in Richtung U-Bahn-Station davon. Tom steht am Bordstein und wartet auf mich. Dabei hält er den Blick auf seine Schuhe gerichtet und tut so, als würde er mein Telefongespräch gar nicht hören.
»Das ist etwas Neues«, erklärt sie fröhlich. »Eine Mischung aus Yoga und Zumba.«
»Ach so.« Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie so etwas funktionieren soll. Tanzt man erst und macht dann Yoga? Oder meditiert man über den Hüftschwung? Das ist doch kompletter Blödsinn.
»Hast du schon mit deinem Vater geredet?«, fragt sie jetzt, und ihre Stimme wird ein wenig schrill wie immer, wenn das Gespräch auf mein zweites Elternteil kommt.
»Nein.«
»Ach. Aber er weiß doch, dass du wegfährst, oder?«
»Wenn du es ihm nicht gesagt hast, dann nicht.« Ich seufze und kicke einen Kieselstein so heftig über die Straße, dass Tom mich erschrocken ansieht.
»Das habe ich natürlich nicht. Ich habe seit Monaten nicht mit ihm gesprochen.«
»Ich schicke ihm eine SMS«, lüge ich verärgert. Verdammt, ich bin achtundzwanzig, da muss ich doch meinem Vater nicht mehr alles erzählen. Außerdem interessiert es ihn sowieso nicht.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagt Mum, und ich merke, wie mein Groll schlagartig verraucht. »Das wollte ich dir nur sagen. Ich weiß, wie lange du auf so eine Reise gewartet hast, also genieß bitte jeden einzelnen Moment, ja?«
Ich stelle mir Mojácar vor, die engen Kopfsteinpflastergassen, die Kaskaden von Bougainvillea-Blüten, den weiten, hellen Strand und das kühle, rauschende Mittelmeer, und muss unwillkürlich lächeln.
»Das werde ich, versprochen«, antworte ich. »Da kannst du dir vollkommen sicher sein.«
Wir plaudern weiter, während Tom und ich zur Bushaltestelle gehen. Er wartet mit mir, bis mein 64er kommt, obwohl sein Bus früher da ist. Manchmal kann er wirklich sehr süß sein. Das vergesse ich leicht, weil wir einen Großteil unserer gemeinsamen Zeit damit verbringen, uns gegenseitig aufzuziehen.
»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragt er, als ich das Gespräch endlich beendet habe.
»Sie hat einen Zoga-Kurs angefangen«, sage ich mit gerunzelter Stirn, und er lacht liebevoll, als ich ihm erkläre, was das ist. Manchmal glaube ich, Tom liebt meine Mutter mehr als ich.
»Was hältst du davon, dass Paul bei Rachel einzieht?«, fragt er dann, obwohl er genau weiß, was ich davon halte.
»Ich glaube, sie ist verrückt«, antworte ich trocken. »Und dass sie sich unter Wert verkauft.«
»Aber sie scheint glücklich …«, setzt Tom an, doch als er meinen Gesichtsausdruck bemerkt, hält er mitten im Satz inne.
»Er ist so ein flegelhafter Typ«, führe ich an. »Er ist selbstsüchtig, hat keinerlei Gespür für andere, er respektiert sie nicht, und ich wette, dass er sie betrügt.«
»Jetzt hör aber auf, Hannah!« Tom hebt die Hand. »Das ist unfair.«
Ich hasse es, wenn Tom mir einen Rüffel erteilt – vor allem, wenn ich weiß, dass ich recht habe und er nicht.
»Okay«, lenke ich ein. »Vielleicht betrügt er sie jetzt noch nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit.«
Dazu schüttelt Tom nur den Kopf. »Da liegst du falsch«, sagt er ruhig. »So schlimm ist er wirklich nicht. Wie war das, als er Freikarten für den Shard hatte und uns mitgenommen hat? Oder damals, als er und Rachel sich gerade mal ein paar Wochen kannten und für ein Wochenende mit ihr nach Rom geflogen ist? Auch wenn du ihn nicht sonderlich magst – und ich gebe dir ja recht, dass er manchmal ziemlich nervt –, aber Rachel ist deine älteste Freundin, und sie liebt ihn. Zählt das denn gar nichts für dich?«
Noch mehr hasse ich es, wenn Tom mir einen Rüffel erteilt – und ich weiß, dass er recht hat und ich nicht.
Trotzig sage ich daher: »Tut mir leid, Dad«, und halte gerade noch rechtzeitig den Arm hoch, um den Busfahrer auf mich aufmerksam zu machen. Tom sieht ein bisschen traurig aus, als ich ihm durch das Busfenster zum Abschied zuwinke, und als der Bus um die Ecke biegt und Tom aus meinem Blickfeld entschwindet, trifft mich tatsächlich ein kleiner, aber sehr harter Kieselstein der Schuld.
Ich habe London so satt. Je früher wir das sonnige Spanien erreichen und die trübe Alltagswirklichkeit hier hinter uns lassen, desto besser.