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CRISTINA ALGER hat einen Abschluss vom Harvard College und der NYU Law School. Bevor sie Autorin wurde, hat sie als Finanzanalystin und als Wirtschaftsanwältin gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in New York.

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Cristina Alger

DAS
KARTENHAUS

Macht ist ein gefährliches Spiel

Aus dem Englischen
von Ivana Marinović

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Banker’s Wife« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

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Copyright © 2018 by Cristina Alger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by

Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd

Umschlagmotiv: Arcangel / Mark Owen und bürosüd

Redaktion: Sigrun Zühlke

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23562-8
V002

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Für Jonathan

Prolog

Nur vereinzelt erhielten die Flugzeuge am Londoner RAF Northolt Flughafen Starterlaubnis. Es herrschten heftige Seitenwinde, und der anhaltende Schneeregen reduzierte die Sicht auf null. Northolt verfügte lediglich über eine Startbahn, und die Privatjets stauten sich bereits davor. Es war sechs Uhr morgens. Die Anzahl der Passagiere im Wartebereich war überschaubar, aber darum nicht weniger ungeduldig. Bei den meisten handelte es sich um Geschäftsleute auf dem Weg zu frühen Meetings in Paris, Luxemburg und Berlin. Manche hatten den Flug von ihren Unternehmen gechartert bekommen; andere hingegen besaßen gleich ihren eigenen Jet. Doch all diesen Männern gemeinsam war, dass sie nicht gerne warteten.

Ein Russe namens Popov sorgte für Aufruhr. Er brüllte abwechselnd die Frau hinter dem Schalter und sein Handy an. Doch weder die Dame noch die Person am anderen Ende der Leitung schien ihm die gewünschte Antwort geben zu können, weshalb seine Stimme zunehmend lauter wurde, bis er im gesamten Terminal zu hören war. Seine weibliche Begleitung, eine gelangweilte, gertenschlanke Blondine in Fuchspelzmantel und Sneakern, starrte währenddessen ungerührt auf ihr Handy. Offensichtlich war sie seine cholerischen Anfälle gewohnt. Alle anderen sahen ihn an. Unauffällig senkten die Wartenden ihre Zeitungen oder drehten sich wie beiläufig zu ihm um. Über 1,90 Meter groß und mindestens 120 Kilogramm schwer, war Alexei Popov kaum zu übersehen, vor allem nicht, wenn er wütend war.

»Ich verstehe durchaus, Sir«, sagte die Frau am Schalter erneut und versuchte, angesichts seines verbalen Trommelfeuers sachlich und ruhig zu bleiben. »Und ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten. Aber aus Sicherheitsgründen sind wir dazu angehalten …«

Popov fluchte auf Russisch und schleuderte sein Handy weg. Die Frau hinter dem Schalter duckte sich, und zwei Sicherheitskräfte eilten herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Sogar die Blondine schaute jetzt auf. Sie nahm Popov am Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, um ihn zu beschwichtigen.

Thomas Jensen saß in einer Ecke des Terminals und betrachtete die Szene mäßig interessiert über die Morgenausgabe seiner Financial Times hinweg. Wie alle anderen Passagiere an diesem Morgen trug auch Jensen einen maßgeschneiderten Anzug und hatte einen Aktenkoffer bei sich. Mit seinem akkurat gekämmten silbergrauen Haar und den teuren Slippern sah er genau nach dem aus, was er tatsächlich war: ein Oxford-Absolvent mit profunden Erfahrungen im Finanzwesen und einem entsprechend gut gedeckten Bankkonto. Anders als die meisten anderen Passagiere jedoch war Jensen weder ein Banker noch ein Großindustrieller. Obwohl er sich aus beruflichen Gründen in Northolt aufhielt, war seines ein ganz anderes Geschäft. Er arbeitete für eine Regierungsbehörde, über deren Aufgaben nur eine Handvoll Leute Bescheid wusste. Der einzige äußere Hinweis darauf, dass es sich bei Jensens Arbeit nicht um einen Schreibtischjob handelte, sondern vielmehr um ein gefährliches und zuweilen sogar brutales Unternehmen, war der unübersehbare charakteristische Knick im Nasenrücken, die ihm mal bei einem Einsatz gebrochen worden war. Auch wenn er schon schlimmere Verletzungen davongetragen hatte, bereitete ihm seine Nase nach wie vor Probleme. Aus diesem Grund trug er ständig ein mit einem Monogramm versehenes Taschentuch bei sich, das er auch jetzt aus der Tasche zog, um sich die Nase abzuwischen, während er weiterhin diskret die anderen Passagiere im Wartesaal im Auge behielt.

Aufgrund der ganzen Aufregung um Popov war Jensen der einzige Passagier, der es bemerkte, als ein Mann und eine Frau rasch den Terminal durchquerten, durch den Ausgang schlüpften und das Rollfeld betraten. Jensen erhob sich, verstaute das Taschentuch wieder in seiner Tasche und schlenderte an die Fensterfront. Er musterte die zierliche Figur der Frau – die Schultern gegen den Wind hochgezogen, das Haar im Stil von Jackie Onassis mit einem schwarzen Schal verhüllt, der es vor dem Regen schützen sollte. Ihr Begleiter war gut gebaut und überragte sie um eine Kopflänge. Als der Mann sich umdrehte, erhaschte Jensen einen Blick auf seine Schildpattbrille und das sorgfältig frisierte grau melierte Haar. Während sie an Bord einer Gulfstream G450 gingen, legte er schützend eine Hand auf den Rücken der Frau. Ihre Maschine war die größte und teuerste in Northolt an diesem Morgen. In den Nachrichten würde später stehen, dass sie von einem Piloten mit einem bemerkenswerten Lebenslauf geflogen worden war: Omar Khoury hatte ein Jahrzehnt bei der Royal Saudi Air Force gedient, bevor er in die Privatwirtschaft wechselte. Er galt als absolut erfahrener, routinierter Pilot, der sich kaum von den suboptimalen Wetterbedingungen beeindrucken lassen würde. Unmittelbar nachdem die Türen des Flugzeugs sich hinter den beiden Passagieren geschlossen hatten, erhielt es auch schon die Starterlaubnis. Und während Popov sich immer noch lautstark über die Verspätungen aufregte, rollte die G450 die Startbahn entlang und verschwand am grauen Himmel.

Sobald der Flieger sich in der Luft befand, faltete Jensen sorgfältig seine Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Er ging an Popov vorbei, passierte die Schalter und verließ den Terminal. Eine Limousine erwartete ihn am Ausgang.

Als der Wagen auf die A40 Richtung London bog, klingelte sein Handy.

»Es ist erledigt«, meldete sich Jensen. »Nur eine Maschine ist gestartet, und beide Personen befinden sich an Bord.« Er legte auf, faltete seine Zeitung wieder auseinander und las den Rest der Fahrt schweigend.

Keine Stunde später brach der Funkkontakt zu der G450 ab. Irgendwo über den französischen Alpen verschwand sie einfach vom Radar, als hätte es sie nie gegeben.

Marina

Marina stand auf dem Balkon ihrer Suite im Le Meurice und blickte auf das Lichtermeer von Paris. Die Aussicht war spektakulär, besonders bei Nacht. Im Westen zeichneten sich leuchtend der Eiffelturm und das Roue de Paris vor dem Dunkel des nächtlichen Himmels ab. Auf der anderen Seite der Rue de Rivoli erstreckten sich grün schimmernd die Tuilerien, als würden sie von innen erleuchtet. Kurz überlegte Marina, ob sie Grant wecken sollte, ihren Verlobten, damit er mit ihr zusammen die Aussicht genießen konnte. Aber dafür würde noch genügend Zeit sein. Der Urlaub hatte gerade erst begonnen. Sie verwarf den Gedanken und setzte sich an den Tisch, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es fühlte sich gut an, keinen Gedanken an die Arbeit verschwenden, nicht funktionieren zu müssen, sich nicht mit E-Mails herumzuschlagen, die danach schrien, beantwortet zu werden. Stattdessen konnte sie endlich einmal wieder ein Buch lesen. Oder sich die Nägel machen lassen. Sie könnte aber auch einfach gar nichts tun. Die Nacht gehörte ihr. Und hier in Paris fing sie gerade erst an.

Ihr Handy klingelte und ließ sie aufschrecken. Als sie sah, wer anrief, verspürte sie einen Anflug von Ärger. »Duncan«, meldete sie sich brüsk. »Wir haben hier schon nach Mitternacht.«

»Hast du schon geschlafen?«

»Nein.«

»Natürlich nicht. Du lebst immer noch nach New Yorker Zeit. Außerdem schläfst du ja gar nicht.«

»Das bedeutet noch lange nicht, dass du das Recht hast, mich während meines ersten Urlaubs seit beinahe zehn Jahren anzurufen.«

»Du musst etwas für mich erledigen.«

Marina schloss gequält die Augen. Das war genau der Grund, warum Grant wollte, dass sie beim Press-Magazin kündigte. Sie hatte nicht übertrieben – es stimmte, dass sie in den beinahe zehn Jahren, die sie nun schon für Duncan arbeitete, kein einziges Mal Urlaub genommen hatte. Darüber hinaus hatte sie die meisten Wochenenden und auch an zahllosen Feiertagen gearbeitet. Sie ging zu jeder Tages- und Nachtzeit ans Telefon. Ihre Karriere hatte sie als Duncans Assistentin begonnen. Und heute, neuneinhalb Jahre später, behandelte er sie manchmal immer noch als solche, obwohl sie im Impressum mittlerweile als leitende Redakteurin geführt wurde. Sie war keine vierundzwanzig Stunden fort, und schon wollte er sie wieder für sich in Beschlag nehmen. Es war unglaublich – wenn auch nicht wirklich überraschend.

Marina hatte fest vor zu kündigen. Sie hatte Grant versprochen, es direkt nach der Hochzeit zu tun. Die Gerüchte, dass Grants Vater, James Ellis, für das Präsidentenamt kandidieren wollte, hatten sich bestätigt. Das bedeutete, dass der Wahlkampf in wenigen Wochen auf Hochtouren anlaufen würde. Er hatte bereits ein Team an Beratern und Presseagenten zusammengetrommelt. Und das war auch dringend nötig. Als hitzköpfiger New Yorker Milliardär war er nicht unbedingt ein Kandidat des Volkes. Aber sobald die Imageberater in ihre Trickkisten griffen, würde James Ellis’ Biografie sich in die Erfolgsgeschichte eines hart arbeitenden Geschäftsmannes verwandeln, in eine ernst zu nehmende, frische Alternative zu Senator Hayden Murphy, dem mutmaßlichen Kandidaten der Demokraten – einem routinierten Insider der Washingtoner Polit-Elite. Zumindest war das der Plan. Murphy, der seit Jahren von Gerüchten über Korruption und Vetternwirtschaft verfolgt wurde, war ein Respekt einflößender, aber mit Makeln behafteter Rivale. Ellis wusste das, und genau darauf setzte er.

Heimlich, still und leise hegte Marina Zweifel, ob ihr künftiger Schwiegervater das Zeug zum künftigen »Anführer der freien Welt« hatte. Sie hatte schon mitansehen müssen, wie er freundlichen Menschen gegenüber, die den geringsten Fehler begingen, die Beherrschung verloren hatte – einer neuen Haushälterin, die gerade das falsche Tafelwasser in seinem Haus in Southampton eingeräumt, oder einem Chauffeur, der die Ausfahrt zum Teterboro Flughafen in New Jersey verpasst hatte. Sie wusste auch, dass Grant einen beruhigenden Einfluss auf seinen Vater hatte. Grant würde von seinem Job als Investmentbanker zurücktreten, um stattdessen das Familienunternehmen zu übernehmen, während sein Vater sich auf Wahlkampftour begab. In seiner neuen Funktion als Vorsitzender von Ellis Enterprises würde Grant ständig unterwegs sein und von ihr erwarten, dass sie ihn begleitete. Es gab nun einmal Dinge, die man als Ehefrau des Geschäftsführers eines multinationalen Konzerns tun musste. Ganz zu schweigen von den Erwartungen, die an die Schwiegertochter eines Präsidenten gestellt wurden – vorausgesetzt, dass es dazu kommen sollte. Es war unmöglich, gleichzeitig zu arbeiten und mit Grant Ellis verheiratet zu sein. Es stand außer Frage, was von beidem ihr wichtiger war. Sie musste kündigen. Das war Teil der Abmachung, und auf gewisse Weise hatte sie das von Anfang an gewusst.

Für einen kurzen Moment erwog Marina, auf der Stelle zu kündigen, am Telefon. Es wäre sicherlich gerechtfertigt. Bei der Press wurde ohnehin am laufenden Band gekündigt. Duncan war als Chefredakteur für seine schwierige Art berüchtigt; zudem speiste er seine Angestellten mit einem Lohn ab, der sogar noch unter den ohnehin schon dürftigen Branchenstandards lag. Doch es fühlte sich nicht richtig an, einfach so alles hinzuschmeißen. Nach allem, was Duncan für sie getan hatte – nach allem, was sie gemeinsam getan hatten –, wollte sie doch zumindest auf anständige Weise kündigen: persönlich. Und zu einem Zeitpunkt, der nicht nur für sie günstig war, sondern auch der Zeitschrift kein Problem bereitete.

»Du bist wirklich unmöglich«, sagte Marina. Dann drückte sie die Zigarette aus und huschte in die Suite zurück, um einen Stift zu holen. »Solltest du nicht eigentlich dein Sabbatical genießen?«

Duncan überging die Frage. Das Sabbatical war ein sehr heikles Thema, da er sich diese Auszeit nicht freiwillig genommen hatte. Philip Brancusi, der Geschäftsführer der Muttergesellschaft von Press, hatte sie ihm verordnet und darauf bestanden, dass Duncan die sechs Wochen nutzte, um ein für alle Mal dem Alkohol zu entsagen. Seine Trinkgewohnheiten waren zu einem ernsten Problem geworden – eines, von dem alle im Verlagswesen wussten. Alle außer Duncan selbst.

»Hast du was zum Schreiben? Du notierst dir doch alles, ja?«, fragte er.

»Ja, natürlich.«

»Du musst dich für mich mit jemandem treffen. Er kommt aus Luxemburg. Ich weiß nicht, wie lange er Zeit hat, also halte dich bereit. Er wird dir einen USB-Stick geben, den du mir mitbringen sollst. Sei äußerst vorsichtig damit und erzähle niemandem davon.«

»Was soll ich Grant sagen? Dass ich ein Rendezvous mit einem mysteriösen Europäer habe?«

»Wer ist Grant?«

»Sehr witzig.«

»Sag ihm, dass du joggen gehst. Oder dass du dich mit einem alten Freund treffen musst. Er ist ein großer Junge. Er wird es überleben, wenn du mal für eine Dreiviertelstunde verschwindest.« Duncan klang verärgert, was wiederum Marina verärgerte. Wütend drückte sie den Bleistift so stark auf das Papier, dass die Spitze abbrach.

»Verdammt«, murmelte sie und griff nach einem Kugelschreiber.

»Hör zu, ich weiß, dass du genervt bist«, sagte Duncan. »Mir ist klar, dass dir das nicht passt. Aber es ist wirklich wichtig, Marina. Es handelt sich um hochsensibles Material. Meine Quelle vertraut keinen E-Mails, nicht einmal verschlüsselten. Er möchte die Daten persönlich übergeben. Ich wollte letzte Woche selbst nach Genf fliegen, um ihn zu treffen, aber ich glaube, ich werde beschattet.«

Marina unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. »Von wem?«

Duncan überging die Frage. »Ich habe ihm gesagt, dass du der einzige Mensch bist, dem ich vertraue.«

»Duncan, hör bitte auf, mir Honig ums Maul zu schmieren. Ich nehme an, du wirst mir nicht sagen, worum genau es geht?«

Duncan schwieg. Im Hintergrund konnte Marina ein Geräusch hören, das sich wie ein Schneepflug anhörte. Sie fragte sich, ob Duncan die Stadt verlassen und sich wieder einmal in seinem Wochenendhaus verkrochen hatte, in dem er zusehends mehr Zeit verbrachte. Es gefiel ihr nicht, wenn er dort war. Er trank dann zu viel und ging zu wenig unter Leute. Wenn Duncan betrunken war, neigte er dazu, ebenso dramatisch wie paranoid zu werden. Und wenn er dramatisch und paranoid wurde, rief er für gewöhnlich Marina an.

»Wir reden, wenn du wieder da bist«, sagte er. »Aber Marina … es ist endlich so weit. Nach all den Jahren. Ich glaube, wir haben ihn gefunden.«

Marina hielt beim Schreiben inne. »Ihn?«

»Morty Reiss.«

»Lebendig?«

»Sehr lebendig sogar.«

Marina sagte nichts, während sie die enorme Tragweite seiner Worte auf sich wirken ließ. Es war nun acht Jahre her, seit Morty Reiss Selbstmord begangen hatte. Fast auf den Tag genau. Oder, besser gesagt, es war acht Jahre her, seit man Morty Reiss’ Auto auf der Tappan Zee Bridge in New York gefunden hatte – mit einem an die Windschutzscheibe geklebten Abschiedsbrief. Einige Tage nach seinem angeblichen Selbstmord wurde enthüllt, dass es sich bei Mortys Hedgefonds, RCM, um eines der größten Ponzi-Systeme aller Zeiten handelte, ein hochristkanter Investment-Betrug nach dem Schneeballprinzip. Reiss hatte die Vorzeichen erkannt und war gesprungen – so oder so ähnlich ging die Geschichte. Sein Leichnam allerdings war nie gefunden worden. Anfangs hegten Marina und Duncan denselben Verdacht wie viele andere auch: Reiss hatte seinen Tod vorgetäuscht, um sich mit seinem unrechtmäßig erworbenen Vermögen an ein sonniges Fleckchen Erde ohne Auslieferungsabkommen mit den USA abzusetzen. Von all den Leuten, über die Marina während ihrer Laufbahn bei der Press geschrieben hatte, war Reiss vermutlich der gerissenste und zugleich rücksichtsloseste Betrüger, mit dem sie es je zu tun gehabt hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass Marina über die illustren Persönlichkeiten der New Yorker High Society schrieb – Wall-Street-Manager, Immobilienmagnaten, Modedesigner, Publizisten –, war das durchaus vielsagend. Falls es irgendjemanden gab, der clever genug war, um spurlos mit seinem ganzen Geld abzutauchen, dann Reiss.

Reiss war brillant – um nicht zu sagen, brillanter, als die Polizei erlaubte –, doch letztlich liefen alle Ponzi-Systeme zwangsweise auf ihren Kollaps zu; und genau das war es, was Marina an der RCM-Affäre nie ganz losließ. Insidergeschäfte, Veruntreuung … damit konnte nun wirklich jeder durchkommen, der sich clever genug anstellte. Nimm das Geld und schau, dass du dich schnellstmöglich aus dem Staub machst. Doch Ponzi-Systeme erforderten ein endloses Aufgebot an Investoren, ohne die das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Warum also hätte Reiss sich für ein Verbrechen ohne Ende entscheiden sollen? Dafür schien er eigentlich zu schlau. Es sei denn natürlich, er hätte von Anfang an vorgehabt, seinen Tod vorzutäuschen.

Falls dem so war, musste Marina es ihm tatsächlich lassen: Reiss war möglicherweise der durchtriebenste Finanzverbrecher aller Zeiten.

Doch als es im Verlauf der Jahre keinerlei Nachrichten oder Spuren von Reiss gab, verblassten ihre Zweifel allmählich, und sie begann, die Tatsachen zu akzeptieren. War es einem Mann wie Reiss – dessen Gesicht monatelang rund um den Globus über die Fernsehbildschirme geflackert war – wirklich möglich, einfach so zu verschwinden? Marina konnte es sich nicht vorstellen. Es schien ihr zu unplausibel, um nicht zu sagen fantastisch. Der Plot für einen Hollywoodfilm, nicht Gegenstand seriöser Berichterstattung. Ja, Reiss war ausgefuchst, aber eben auch nur ein Mensch. Vielleicht hatten Gier und Hybris ihn am Ende doch das Leben gekostet.

Während Marinas Interesse an Morty Reiss schwand, entwickelte sich das von Duncan Sander zu einer ausgewachsenen Obsession. Nachdem sie den ersten Artikel zum RCM-Fall noch gemeinsam verfasst hatten, ging Duncan dazu über, im Alleingang eine ganze Serie von Berichten über Reiss und seinen Komplizen, Carter Darling, zu schreiben. Seine Theorien zu Reiss’ Aufenthaltsort wurden nicht nur zusehends abstruser, sondern entbehrten auch jeglicher Grundlage, bis Marina schon fürchtete, Duncans fixe Idee könnte seinem Ruf als seriöser Journalist irreparablen Schaden zugefügt haben. Und tatsächlich hatte sie ihn vor sechs Monaten beinahe um seine Karriere gebracht, als er im Frühstücksfernsehen behauptete, Reiss habe mehrere hundert Millionen Dollar auf einem Konto der Caribbean International Bank auf den Kaimaninseln liegen. Und die US-Behörden, so insistierte er, würden wegsehen, da ein Kreis hochkarätiger Politiker, die ebenfalls ganz zufällig Millionen von Dollars auf Nummernkonten liegen hatten, die Bank beschützten. Das Interview sorgte für Aufsehen, und das nicht nur aufgrund seiner Aussagen, sondern vor allem aufgrund seines ganzen Auftritts. Die verwaschene, schleppende Sprache in Kombination mit dem verschwitzten, ungepflegten Äußeren war den Zuschauern nicht entgangen. Und schon bald hieß es, Duncan Sander befände sich auf dem besten Weg zu einem öffentlichen Zusammenbruch. Die Caribbean International Bank drohte nicht nur damit, Duncan vor Gericht zu zerren, sondern darüber hinaus, die Press und ihre Muttergesellschaft, Merchant Publications, zu verklagen. Unter dem Druck des Geschäftsführers Brancusi veröffentlichte Duncan hastig einen offiziellen Widerruf. Dann verkündete er mit großem Trara seinen Entschluss, sich in eine Entzugsklinik im Norden Connecticuts zu begeben, wo er mehre Wochen damit verbrachte, auszunüchtern und sein verletztes Ego zu pflegen. Soweit Marina sagen konnte, hatte der Entzug Duncan nicht wirklich geholfen, von der Flasche wegzukommen, aber ihm zumindest eine Begnadigung seitens der Press erwirkt, und so war er einen Monat später an seinen Schreibtisch zurückgekehrt.

Momentan befand er sich auf seinem zweiten Entzug, und Marina wusste, dass dies seine letzte Chance bei Brancusi war. Er hatte Duncan ein klares Ultimatum gestellt: entweder ein für alle Mal dem Alkohol entsagen und arbeitsfähig wieder antanzen … oder sich nie wieder blicken lassen. Duncan konnte sich keinen weiteren Fehltritt leisten. Sollte er ein weiteres Mal danebenliegen, so würde Brancusi seinen Kopf rollen lassen.

»Duncan, kannst du das beweisen? Das wirst du nämlich müssen. Wir können unmöglich noch einmal …« Marina brach abrupt ab, sie wollte den Satz nicht beenden. Duncan mochte es nicht, wenn man ihn an das Interview oder sein Alkoholproblem erinnerte – genau genommen wollte er an keinen Fehler erinnert werden, den er jemals begangen hatte. Aus diesem Grund hatten sie nie darüber gesprochen, außer in ganz vagen Andeutungen.

»Ja, diesmal kann ich es. Er hat mehr als siebzig Millionen bei der Swiss United gebunkert.«

Marina notierte sich Swiss United und unterstrich es. »Swiss United. Also nicht die Caribbean International«, sagte sie und gab sich Mühe, nicht allzu skeptisch zu klingen.

»Nein. Und genau darum geht es. Das Geld war dort. Ich lag richtig mit meiner Einschätzung. Aber er hat es transferiert. Kurz bevor ich das Interview gegeben habe.«

»Und du hast Beweise dafür? Kontoauszüge oder Ähnliches?«

»Meine Quelle hat sie. Hör zu, Marina, das ist die wichtigste Story unserer Karrieren.«

Marina zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Hinter ihr stand Grant und sah sie verlegen ein.

»Hey«, flüsterte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ich muss auflegen«, sagte Marina zu Duncan. »Wir reden später weiter.«

»Ist Grant da?«

»Ja.«

»Okay. Ich rufe dich morgen an, wenn ich Näheres zur Übergabe weiß.«

»In Ordnung. Gute Nacht, Duncan.«

»Entschuldige«, sagte Grant und küsste Marina auf den Scheitel, als sie das Handy weglegte. »Ich habe deine Stimme gehört und gehofft, du würdest den Zimmerservice anrufen. Ich bin am Verhungern.«

Marina lachte. »Nein, aber ich kann gerne noch anrufen. Worauf hast du Lust?«

»Mal schauen.« Grant griff über sie hinweg nach der Speisekarte. »Mit wem hast du da telefoniert?«

»Duncan.«

»Was wollte er?«

»Er arbeitet an einer Story. Ich soll ihm helfen.«

Grant blickte von der Speisekarte auf. »Ich hoffe, du hast Nein gesagt.«

»Natürlich habe ich Nein gesagt.«

»Sollte er nicht eigentlich auf Entzug sein?«

»Sabbatical.«

»Wie auch immer. Es ist jedenfalls völlig daneben, dich im Urlaub anzurufen, und dazu noch mitten in der Nacht.«

»Ich glaube, er war einfach nur aufgeregt.«

Grant schüttelte den Kopf. »Er kennt einfach keine Grenzen.«

Marina seufzte. »Ich weiß. Mich ärgert sein Benehmen ja auch. Aber du musst auch die andere Seite sehen: Ohne Duncan wäre ich nie Journalistin geworden. Als ich bei der Press anfing, wollte ich, ehrlich gesagt, nur bei einem Modemagazin arbeiten, weil ich dachte, es würde cool klingen. Ich dachte, ich würde auf schicke Partys gehen, Designerklamotten anprobieren und wichtige Leute treffen. Aber Duncan hat mehr in mir gesehen. Und er hat mehr von mir erwartet. Als wir an der Story über die Darlings arbeiteten, hat er mich wie seine Kollegin behandelt, nicht wie seine zweiundzwanzigjährige Assistentin. Er hat mich wirklich in die Arbeit mit einbezogen. Und als wir damit fertig waren, hat er mich als Co-Autorin angeführt. Also, ja, er treibt mich manchmal in den Wahnsinn. Oft sogar. Aber ich habe ihm auch meine Karriere zu verdanken.«

Grant griff nach Marinas Hand. Sie verschränkten ihre Finger und lächelten. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich versuche nur, dich zu beschützen.«

»Und das finde ich auch wirklich süß von dir.«

Grant runzelte die Stirn. »Und sexy?«

»Extrem sexy.«

»Ist es auch sexy, wenn ich mir jetzt einen doppelten Cheeseburger mit Bacon und Pommes bestelle?«

»Unbeschreiblich sexy.«

»Es wird mindestens eine halbe Stunde dauern, bis der Zimmerservice aufkreuzt. Hast du Lust, mir im Schlafzimmer Gesellschaft zu leisten, während ich auf meinen Mitternachtsimbiss warte?«

»Bestell mir doch gleich Pommes mit, okay? Ich bin ein Einzelkind. Ich bin nicht gut im Teilen.«

»Ich auch nicht. Aber versprich mir etwas.«

»Alles.« Marina schlang ihre Arme um Grants Nacken und lächelte zu ihm hinauf.

»Versprich mir, dass ich dich auf diesem Trip nicht teilen muss. Wir haben nur diese paar Tage. Ich möchte einfach nur abschalten und die Zeit zu zweit genießen.«

Marina nickte. »Mmhmm«, machte sie und streckte sich, um ihn zu küssen. Sie spürte Grants Hände, die ihren Po umfingen. Plötzlich hob er sie hoch, und sie schlang die Beine um seine Hüften. »Ich verspreche es«, murmelte sie, als er sie ins Bett trug.