Zum Buch
Zertrümmerte Instrumente waren lange ihr Markenzeichen: The Who haben aber nicht nur damit Rockgeschichte geschrieben. Gründer und bis heute zentrale Figur der englischen Superband ist neben Pete Townshend Sänger Roger Daltrey. In seiner Autobiografie spannt er den Bogen von der armen, aber glücklichen Kindheit in einer Londoner Arbeiterfamilie, dem Schulrauswurf des aufmüpfigen Jugendlichen über erste Bandversuche mit Pete Townshend, John Entwistle und Keith Moon bis hin zu den Welterfolgen seit »My Generation« und der Rockoper Tommy. Für alte und junge Fans öffnet er den Kosmos von Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll, enthüllt die kreative Dynamik innerhalb der Band und erzählt, wie er selbst geerdet blieb und ihm ein Leben als Familienmensch gelang.
Zum Autor
Geboren 1944 in London, gründete 1959 eine Schülerband, aus der The Who hervorgingen. Schon ihre ersten Singles in den früher 1960er-Jahren wurden in England Hits; international berühmt wurden The Who mit ihrem Song »My Generation«, Tommy, der ersten Rockoper überhaupt, und durch ihren Auftritt beim legendären Woodstock-Festival. Roger Daltrey hielt über die Jahrzehnte die Band zusammen und machte sich auch als Schauspieler einen Namen. Heute lebt er mit seiner Familie in Sussex.
ROGER DALTREY
MY GENERATION
AUTOBIOGRAFIE
Deutsch von Kristian Lutze
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»Thanks a lot, Mr Kibblewhite: My Life« bei Blink Publishing,
an imprint of Bonnier Book UK, London.
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1. Auflage
© RHD LLP 2018
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München,
nach einem Entwurf von Richard Evans
Redaktion: Gerhard Seidl
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-23583-3
V001
www.cbertelsmann.de
EINS Das Flanellhemd
ZWEI School’s Out
DREI Die Skiffle-Jahre
VIER The Detours
FÜNF The High Numbers
SECHS »The Who, innit?«
SIEBEN Breaking up is hard to do
ACHT Dippity-Don’t
NEUN Tommy
ZEHN Flucht aufs Land
ELF Who’s Next
ZWÖLF Unter neuem Management
DREIZEHN Familie
VIERZEHN Und Action …
FÜNFZEHN By Numbers
SECHZEHN Das Ende, ein Anfang und ein weiteres Ende
SIEBZEHN Das Leben danach
ACHTZEHN Die Re-Formation
NEUNZEHN Brüder
ZWANZIG I hoped i’d die
DANK
BILDTEIL
BILDNACHWEIS
REGISTER
Für Heather
An einem schwülen Märzabend 2007 betraten Pete und ich in Tampa, Florida, die Bühne des Ford Amphitheatre. Zum neunten Mal in diesem Monat, zum neunundsiebzigsten Mal in den vergangenen neun Monaten spielte die Band die ersten Takte von »I Can’t Explain«. Ich schwang das Mikro in Richtung des Publikums, bereit, loszulegen wie immer. Bereit, die erste Zeile zu treffen … »Got a feeling inside«. Aber das Mikro wog eine Tonne. Es zog hinaus wie ein Schiffsanker. Ob es wieder zurückkam, weiß ich nicht. Mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, war ich hinter der Bühne. Die Lichter waren verschwommen, besorgte Stimmen wurden mal lauter, mal leiser. Unter ihnen die von Pete, der wissen wollte, was los war. Und aus der Ferne konnte ich das Getöse von zwanzigtausend enttäuschten Fans hören.
Fünfzig Jahre lang hatte ich es jedes Mal geschafft. Ich war immer erschienen und aufgetreten. Hunderte von Gigs. Tausende. Pubs, Clubs, Bürgerzentren, Kirchsäle, Konzerthallen, Stadien, die Pyramid Stage, die Hollywood Bowl, Woodstock. Aber nicht an jenem Abend. Zum ersten Mal, seit ich mir im Alter von zwölf ein Mikro geschnappt und Elvis gesungen hatte, konnte ich nicht auftreten. Als man mich in einen Krankenwagen verfrachtete, war ich enttäuschter als irgendjemand sonst an diesem Abend. Ich lauschte den Sirenen – eine weitere neue Erfahrung – und fühlte mich hilflos.
In den Tagen danach dokterten die Ärzte viel an mir herum und fanden schließlich heraus, dass der Salzgehalt in meinem Körper niedriger war, als er sein sollte. Rückblickend erscheint es offensichtlich, aber von allein bin ich nicht dahintergekommen. Jedes Mal wenn wir auf Tour gingen, wurde ich nach zwei bis drei Monaten krank. Wirklich krank. Und nach all den Jahren erfahre ich, dass es dafür einen ganz einfachen Grund gab. Es war Salz – oder der Mangel an Salz. All das Herumrennen und Schwitzen hat mich ausgelaugt. Wir waren Sportler, haben aber nie wie Sportler trainiert und gelebt. Zwei oder drei Stunden pro Abend, Abend für Abend, und wir haben uns nichts dabei gedacht. Kein Aufwärmen. Kein Stretchen. Keine Vitaminzusätze. Nur eine Garderobe mit Alkohol. Schließlich waren wir eine Rockband und keine Fußballmannschaft.
Aber das war nicht das Einzige, das ich in jener Woche erfuhr. Ein paar Tage später kam einer meiner Ärzte herein, ein Röntgenbild an die Brust gedrückt.
»Und, Mr. Daltrey, wann haben Sie sich den Rückenwirbel gebrochen?«, fragte er.
Ich wies ihn freundlich darauf hin, dass das nie passiert sei.
Höflich widersprach er mir. Der Beweis war auf dem Röntgenbild in seiner Hand – ein irgendwann gebrochener Wirbel und sein nicht besonders achtsamer Eigentümer. Man sollte meinen, dass ich den Bruch seinerzeit bemerkt hätte, doch ich habe im Lauf der Zeit genug Schrammen abgekriegt. Zu jeder Rock-’n’-Roll-Geschichte gehört auch ein Anteil von Glück, aber das Glück kommt nur mit harter Schufterei. Wenn man hinfällt, steht man wieder auf und macht einfach weiter. So war es am Anfang, und so ist es heute immer noch.
Mir fielen drei Anlässe ein, bei denen ich mir einen Rückenwirbel gebrochen haben könnte. Da waren zum einen die Dreharbeiten zu dem Song »I’m Free« aus Tommy. Nach 1:15 Minuten sieht man auf dem Video, wie ich von einem Soldaten zu einem Salto in die Luft geschleudert werde. Eigentlich war der Stunt unkompliziert, aber ich bin falsch gelandet. Ich weiß nicht mehr, ob ich irgendwas knacken hörte, aber es hat verdammt wehgetan. Und für den Rest des Tages drehten wir die Anfangssequenz des Songs, wo meine Figur Tommy Walker durch eine Glasscheibe fällt. Erst filmten wir die Szene draußen, dann gingen wir ins Studio, um sie vor einem Blue Screen nachzuspielen. Den ganzen Nachmittag lang musste ich aus einer Höhe von einem bis anderthalb Metern auf eine Matte fallen. Und Schnitt.
»Noch einmal, Roger.« Das war Ken Russells Lieblingsspruch. Er trieb seine Schauspieler immer gern bis an ihre Grenze.
»Bist du sicher, dass wir die Szene noch nicht im Kasten haben, Ken?«, erwiderte ich mit möglicherweise gebrochenem Rückenwirbel.
»Noch einmal, Roger.«
»Geht klar, Ken.«
Oder es hätte am 5. März 2000 auf dem Weg zum Ultimate-Rock-Symphony-Gig im Sydney Entertainment Centre passiert sein können. Paul Rodgers von Bad Company hatte sich krank gemeldet, und ich sollte seine Songs zusätzlich übernehmen. Deshalb wurde der Van früher geschickt, und ich wärmte meine Stimme auf dem Weg in die Arena auf. Bei einer Übung packe ich mit einer Hand meine Zunge mit einem Handtuch, mit der anderen halte ich mein Kinn, während ich seltsame Skalen singe. Es klingt irre, und es sieht irre aus, als wäre ich von einem Dämon besessen. Ich hoffe, dass es zumindest ein relativ melodiesicherer Dämon ist, trotzdem will man nicht gerade damit beschäftigt sein, wenn man einen Autounfall hat.
Die Frau, die auf den Freeway auffuhr, hatte offenbar andere Ideen und scherte ohne Vorwarnung auf unsere Spur. Mein Fahrer konnte noch bremsen, und wir prallten seitlich gegen ihr Fahrzeug. Es war nicht allzu schlimm. Ich hatte immer noch meine Zunge in ein Handtuch gewickelt in der Hand, und wir lebten beide noch. Auch damals hörte ich kein Knacken, doch es war höllisch schmerzhaft. Als wir schließlich am Auftrittsort ankamen, tauchte ein Osteopath auf und klickte meine Knochen zurück an ihren Platz, bevor ich auf die Bühne ging. Ich schaffte den Gig vermutlich auf reinem Adrenalin, aber in den nächsten drei Jahren hatte ich permanent Schmerzen.
Aber am wahrscheinlichsten ist es wohl in einem Band Camp passiert, an dem ich mit neun oder zehn teilgenommen habe. Sagen wir, es war 1953. Ich war der Sänger unserer Kompanie der Boy’s Brigade und schmetterte auf den Schultern unseres Sergeants ahnungslosen Strandurlaubern erbauliche amerikanische Marschlieder entgegen. Ich sang wie ein kleiner Engel.
Das einzige Problem war ein Junge namens Reggie Chaplin. Reggie war auch in der Boy’s Brigade. Er war ein wirklich großer Junge, dreißig Zentimeter größer und sechzig Zentimeter breiter als ich. Er wohnte in der Wendell Road in Shepherd’s Bush, die nur fünf Minuten von unserem Zuhause in der Percy Road entfernt lag, aber diese Entfernung bedeutete einen himmelweiten Unterschied. Es gab Familien, denen man besser nicht querkam. Die gibt es noch immer. So ist London. Und in Shepherd’s Bush waren es die Chaplins aus der Wendell Road. Sie waren eine raue Sippe aus einer rauen Straße, und dummerweise hatte es Reggie, der große Reggie, auf mich abgesehen.
Da waren wir also im Band Camp, und weil ich der Kleine war, wurde ich auf einer Decke in die Luft geworfen. So etwas haben Kinder zum Spaß gemacht, bevor iPads erfunden wurden.
Reggie war der Anführer, und als ich fünf Meter in der Luft war, rief er: »Loslassen.« Ich kann bis heute hören, wie der kleine Mistkerl sagt: »Loslassen.«
Natürlich ließen alle die Decke los. Ich krachte auf den Boden und wurde sauber ausgeknockt. Vielleicht hat auch irgendwas geknackt, doch ich war jenseits von Gut und Böse. Das bedeutete einerseits, dass das Band Camp für mich versaut war. Ich musste den Rest des Tages in einem verdammten Krankenhaus verbringen und den Rest der Woche in einem Zelt der Boy’s Brigade, unter Schmerzen und, wie ich heute vermute, mit einem gebrochenen Rückenwirbel. Andererseits war ich fein raus – meine Probleme mit Reggie hatten sich erledigt. Als er mich bewusstlos auf dem Boden liegen sah, glaubte er, er habe mich getötet.
Als ich wieder zu mir kam, war Reggie der Erste, den ich sah, und er weinte. Der härteste Junge von Shepherd’s Bush schluchzte dicke fette Tränen der Schuld und der Angst. Er fühlte sich schrecklich. Nun, danach war er wie mein Schutzengel, und ich war dicke mit einem Chaplin. Ich stand mich gut mit einer rauen Familie aus einer rauen Straße. Alle behandelten mich plötzlich anders. Ich war unberührbar. Das blieb bis zum Wechsel aufs Gymnasium so, und ab da ging sowieso alles den Bach runter. Aber ich eile meiner Geschichte voraus. Kehren wir zurück in eine Zeit vor vermutlich gebrochenen Rückenwirbeln, vor guten und schlechten Schulen. Kehren wir zurück an den Anfang.
* * *
Meine Mum hielt bis in die frühen Morgenstunden des 1. März 1944 durch, bevor sie meine Wenigkeit zur Welt brachte. Nur ein bisschen früher, und ich wäre ein Schaltjahr-Baby geworden, und das wollte sie nicht. Nur einmal alle vier Jahre Geburtstag. Das reicht einfach nicht, oder? Andererseits wäre ich dann heute erst achtzehneinhalb.
Ich hatte Glück, überhaupt geboren zu werden. Denn 1938 hatte man bei Grace Irene Daltrey – ihr könnt sie Irene nennen wie alle – eine Nierenerkrankung festgestellt. Auch nach Entfernung einer Niere verfiel ihre Gesundheit weiter, und sie zog sich auch noch Kinderlähmung zu. Zwei Jahre verbrachte sie in einem Krankenhaus in Fulham mit einer der ersten Eisernen Lungen in Großbritannien, und lange Zeit stand es auf der Kippe. Sie überlebte so gerade eben, war jedoch für die nächsten Jahre an einen Rollstuhl gefesselt.
Aus meiner Sicht noch entscheidender war, dass die Ärzte ihr erklärten, sie würde nie Kinder haben können. Hätten sie recht behalten, wäre dies ein sehr kurzes Buch geworden, doch mein Dad nahm die Herausforderung an. Als der Krieg ausbrach, ging er mit der Royal Artillery nach Frankreich, aber auch das konnte ihn nicht aufhalten. Er bekam ziemlich regelmäßig Sonderurlaub, um meine Mum zu Hause zu besuchen. Und neun Monate nach einem dieser sehr besonderen Besuche kam gegen alle Wahrscheinlichkeit ich daher: Roger Harry Daltrey.
Es war keine leichte Zeit, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Die Leute glauben, der Blitz sei 1941 beendet gewesen. Fake News! Der März 1944 war der dritte und schlimmste Monat des »Unternehmens Steinbock«, eines fünfmonatigen Mini-Blitzes, der alles andere als klein war. Die Luftwaffe warf Bomben über ganz London ab und begann, zunehmend verzweifelt, ihre »Maikäfer« abzufeuern. Der erste schlug ein, als ich acht Wochen alt war. Einen Monat später schickten die Deutschen schon mehr als hundert dieser V1-Raketen pro Tag.
Eines ihrer Ziele war die Munitionsfabrik in Acton Green, gut zwei Meilen von der Percy Road entfernt, doch die Geschosse verfehlten sie regelmäßig. Eddie Chapman, der Doppelagent, der die Deutschen über die Zielgenauigkeit ihrer Bombenangriffe informieren sollte, übermittelte falsche Daten, sodass die Koordinaten nie korrigiert wurden. Gott sei Dank dafür, doch es bedeutete auch, dass die Straßen von Shepherd’s Bush die volle Wucht der Angriffe abkriegten. Wer in der U-Bahn Schutz suchte, wusste nie, ob an der Stelle, wo vorher sein Haus gestanden hatte, nicht hinterher ein Krater klaffen würde.
Mum und ich haben vermutlich viele Nächte in den Schutzräumen der U-Bahnstation Hammersmith verbracht. Etwa eine Woche vor meiner Geburt glaubte sie während einer schwierigen Nacht einmal, dass auf dem überfüllten Bahnsteig vier bei ihr die Wehen eingesetzt hätten. So viele Jahre später fällt es schwer, sich vorzustellen, wie sie all das allein bewältigt hat, während Dad im Krieg war. Auch die dreizehn Monate, die Mum und ich in einem Farmhaus in Stranraer im Südwesten Schottlands evakuiert waren, um den schlimmsten Luftangriffen zu entgehen, müssen hart gewesen sein. Mrs. Jameson, unsere Gastgeberin, teilte ihr Vier-Zimmer-Haus schon mit einer anderen Bauernfamilie, trotzdem schuf sie noch Raum für meine Mutter und mich sowie meine Tante Jessie und ihre beiden Töchter. Wir lebten zu fünft in einem Zimmer. Mehr als siebzig Jahre später ist es Zeit, Mrs. Jameson und ihrer Familie einen verspäteten Dank auszusprechen.
Was für Umwälzungen für eine junge Mutter, doch Irene beklagte sich nie. Selbst Jahre später habe ich weder meine Mutter noch meinen Vater je etwas Schlechtes über ihr Leben während des Krieges sagen hören. Sie sprachen nur von den guten Zeiten. Sechs Jahre Tod und Zerstörung in nie gekanntem Ausmaß, und alles war prächtig und prima.
Ich glaube nicht, dass eins von uns Kriegskindern sich täuschen ließ. Kinder sind sehr aufmerksam. Sie wissen, wann etwas nicht einfach nur prächtig und prima ist. Und in den Lücken zwischen den lustigen Geschichten erkennen sie die Wahrheit. Selbst als kleiner Junge wusste ich, dass es für meinen Dad hart gewesen war. Er hatte seinen Bruder in Burma verloren. Angeblich war dieser der Ruhr erlegen, doch er war damals als Kriegsgefangener in einem japanischen Lager festgehalten worden, also wer weiß, woran er wirklich gestorben ist. Dad hat nie direkt darüber gesprochen, doch es gab Anzeichen. Einmal waren wir auf dem Weg nach Lancing in Sussex, um meine jüngste Schwester Gillian zu besuchen, bei der ein Herzgeräusch festgestellt worden war, weshalb man sie in ein Erholungsheim geschickt hatte. Irgendwie hatte Dad uns ein großes altes Taxi besorgt; keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber es war die einzige Möglichkeit, sie während ihres Jahres in dem Heim jeden Sonntag zu besuchen. Es war der Remembrance-Day-Sonntag, und um kurz vor elf Uhr hielt Dad an und ließ uns wie jedes Jahr schweigend auf dem Bürgersteig Aufstellung nehmen. Dabei bemerkte ich eine Träne, die über seine Wange kullerte. Für einen kleinen Jungen war es ein Schock, seinen Dad weinen zu sehen. Er war ein freundlicher Mann, aber irgendwie leer. Das hatte der Krieg ihm angetan. Ich weiß noch, dass er am Tag vor seinem Tod denselben Ausdruck in den Augen hatte. Das war, neun Monate nachdem meine jüngere Schwester an Brustkrebs gestorben war. Sie war erst zweiunddreißig gewesen. An jenem Tag begriff ich, dass mein Vater innerlich geweint hatte – nicht erst seit ihrem Tod, sondern seit er aus dem Krieg heimgekehrt war.
Das hat der Krieg vielen Menschen angetan. Er hat vielen Menschen etwas genommen.
Petes Dad Cliff war meinem Vater sehr ähnlich, obwohl er viel mehr redete. Ich bin sicher, die Tatsache, dass er Saxofonist in einer Band der Royal Air Force war, hat ihm geholfen, das Trauma zu bewältigen. Mein Dad wollte nur noch seine Ruhe, und das hat sich nie wieder geändert. Ich bin sicher, er war für den Rest seines Lebens vom Krieg traumatisiert.
* * *
Meine allererste Erinnerung ist die Heimkehr meines Vaters aus dem Krieg. Er war am D-Day verwundet worden, übernahm jedoch sofort eine Verwaltungsaufgabe und wurde erst Ende 1945 aus der Armee entlassen. Ich muss also etwa zwanzig Monate alt gewesen sein, vielleicht auch zwei Jahre, und möglicherweise setzt diese erste Erinnerung sich aus verschiedenen Fragmenten zusammen. Aber ich weiß noch, dass die ganze Familie zum ersten Mal im Wohnzimmer versammelt war und an den Wänden viele Stühle standen. Ich erinnere mich an das Gurtband am Stiefel eines Mannes, an seinen Rucksack und seinen Stahlhelm, und dann an meine Überraschung darüber, dass dieser Mann, dieser vollkommen Fremde, der gerade erst angekommen war, im Bett meiner Mum schlafen durfte.
All das scheint heute so weit entfernt, dieses Leben, die Kindheit, das Heranwachsen in den Nachkriegsjahren. Es ist beinahe unmöglich, sich diese Zeit vorzustellen, wenn man sie nicht selbst durchlebt hat. Es ist kein Zufall, dass alle in meinem Jahrgang Geborenen irgendwie verkümmert waren. Meine zwei ersten Lebensjahre waren die beiden schlimmsten Jahre der Nahrungsmittelknappheit. 1945 beschlossen die Amerikaner, ihr Lend-Lease-Programm einzustellen, das es Großbritannien bis dahin ermöglicht hatte, Lebensmittel aus den USA auf Pump zu kaufen. Gleichzeitig mussten wir, sobald die Feindseligkeiten beendet waren, die verfügbaren Nahrungsmittel mit den Deutschen teilen.
Ich habe nie jemanden darüber klagen hören. Die Deutschen waren der Feind, bis der Krieg vorbei war, danach teilten wir ohne Murren. Schließlich ging es ihnen noch schlechter als uns. Daran dachte ich, als ich mit The Who 1966 zum ersten Mal nach Deutschland kam. Ich war schlicht perplex. Wie hatte es dazu kommen können, dass wir gegen diese Menschen kämpften? Sie sind uns so ähnlich. Es sind großartige Menschen. Und wir haben sechs Jahre Krieg gegen sie geführt. Es ist verrückt. Die Lebensmittelrationierung dauerte jedenfalls fast meine gesamte Kindheit an, und unser Appetit schrumpfte mit unserem Magen. Zum Frühstück gab es Porridge, zum Abendessen Brot mit Zucker. Das Kriegsbrot »National Loaf« enthielt »zusätzliches Kalzium« – das heißt, es bestand zur Hälfte aus Kalk, um uns weiszumachen, wir würden Weißbrot bekommen. Für eine Wochenration Eipulver musste man Schlange stehen.
Zweimal im Jahr gab es als besondere Köstlichkeit ein Brathähnchen. Das war damals ein großes Ereignis, dabei würden es diese Hähnchen heute gar nicht erst in ein Supermarktregal schaffen. Es waren schäbige, magere Viecher, mehr Sehnen und Knochen als Fleisch. 1998 habe ich in einer Aufführung von Eine Weihnachtsgeschichte im Madison Square Garden den Ebenezer Scrooge gespielt; Bob Cratchit, der arme, mies behandelte Schreiber, hatte ein Hähnchen, das doppelt so groß war wie die, die wir nach dem Krieg hatten. Und wir sollten Mitleid mit ihm haben.
Nichts wurde weggeworfen – Lumpen, Papier, Blechdosen, Schnüre oder leere Flaschen, alles hatte einen Wert. In den Regalen der Läden gab es keine Spielsachen. Man konnte nicht im Geschäft an der Ecke mal schnell einen neuen Kinderwagen oder auch nur Kinderkleidung und -schuhe kaufen. Wir trugen unsere Schuhe, bis sie Löcher hatten, und dann zeigte Dad uns, wie man sie flickte. Wie viele Leute wissen heute noch, wie man seine Schuhe flickt?
Damals war das normal, heute erscheint es fast unvorstellbar. Drei dramatische Generationen und Tausende von Meilen weiter lässt mich der Weg, den wir zurückgelegt haben, noch immer fassungslos staunen. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern, mich jemals benachteiligt gefühlt zu haben. Tief im Innern müssen die Umstände eine Wirkung hinterlassen haben, aber oberflächlich war meine Kindheit mit Ausnahme von Reggie und seiner Decke eine glückliche.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, wie erstaunlich die Generation unserer Eltern war. Sie haben nie wirklich viel verlangt. Sie wollten in friedlichen Zeiten leben und sich hin und wieder ein bisschen amüsieren.
Ein Schwof mit ein paar Flaschen Dunkelbier fühlte sich an wie die Party des Jahrhunderts. Alles war schlicht, doch sie wussten, wie man mit wenig bis gar nichts Spaß hatte. Heute ist es umgekehrt. Wir haben so viel, und alles ist immer sofort verfügbar. Wohin sich das alles entwickelt, finde ich schwer absehbar. Ich bin sicher, wenn man jung ist und nichts anderes kennt, schwimmt man halt mit dem Strom. Aber vielleicht kann es mir irgendwer irgendwann mal erklären.
Bevor meine Schwester so krank wurde, gehörten die Sonntage der Familie. Wir alle, die ganze ausgedehnte Daltrey-Sippe, begannen den Tag in der Kirche in der Ravenscourt Road. Ich sang im Chor, ein kleiner Engel, wie gesagt. Nach dem Kindergottesdienst fuhren wir dann im Konvoi mit Dads Taxi an der Spitze nach Hanwell. Es war ein Austin 12/4 Low Loader – mit einem Chassis von Strachan aus Acton und einem faltbaren Dach wie eine Nobelkarosse von Rolls-Royce. Er thronte vorn am Steuer, neben ihm Mum hinter einer provisorischen Tür auf einem Sitz, den Dad an Stelle des großen Gepäckfachs eingebaut hatte. Wir anderen saßen hinten und winkten den Fußgängern zu wie Könige ihren Untertanen. Es war fantastisch.
Direkt unter dem Wharncliffe Viaduct in Hanwell gab es einen Ort namens Bunny Park, in dem wir den ganzen Sonntagnachmittag Kricket spielten, während die Dampfloks der Züge auf der Great Western Line über uns hinwegdonnerten. An langen Sommertagen ging das über Stunden so, und alle Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel spielten mit.
Vielleicht habe ich nur die guten Zeiten im Gedächtnis behalten. Vielleicht mache ich das Beste daraus, genau wie unsere Eltern. Es muss Streitereien gegeben haben, doch ich kann mich nicht daran erinnern. Man sagt, ich sei ein Quälgeist gewesen, immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt. Ständig habe ich irgendwas gebaut und dabei ein Chaos angerichtet. Erinnern kann ich mich allerdings daran, dass ich für alles, was ich haben wollte, kämpfen musste. Damals wurde einem nichts auf einem Tablett serviert. Aber das war okay. Ich bezweifle, dass mein Leben gelaufen wäre, wie es gelaufen ist, wenn ich diese spezielle Lektion nicht sehr früh gelernt hätte.
* * *
Wir lebten in einer Mietwohnung in der Percy Road 16. Meine Tante Jessie und mein Onkel Ed wohnten mit meinen drei Cousinen – Enid und Brenda, beide älter als ich, sowie der Jüngsten, Margaret – im Erdgeschoss, meine Mum, ich und der fremde Mann mit den Soldatenstiefeln, der sich als mein Vater entpuppte, im ersten Stock. Wir hatten zwei Zimmer plus ein Wohnzimmer und eine Küche, in der es ein wenig eng wurde, als meine beiden Schwestern hinzukamen. Hinter der Küche eine kurze Treppe hinunter lag ein gemeinsames Badezimmer. Ich war der einzige Junge und musste das Bad mit zwei Schwestern und drei Cousinen teilen. Fünf Mädchen gegen einen Jungen. Ich habe gelernt, die Beine zusammenzukneifen. Meine Tante und mein Onkel waren treue Labour-Anhänger, und als ich älter wurde, nahmen sie uns immer zu geselligen Wochenenden der Labour Party mit – rauchgeschwängerte Bürgerzentren und Bier. Ich habe mit meinem Dad nie über seine politischen Ansichten gesprochen. Er hätte eigentlich auch Labour-Anhänger sein müssen, aber aus Gründen, die nie ganz klar wurden, hasste er die Partei. Er sagte bloß, sie würden nur Scheiße labern.
Meine Cousinen waren im Übrigen sehr intelligent. Sie redeten endlos über Dinge, die sie am Tag in der Schule gelernt hatten, und ich hörte fasziniert zu. Wie die meisten Kinder hatte ich Lust aufs Lernen. Die hatte das System noch nicht aus mir herausgeprügelt. Enid war eine frühe Modeanhängerin. Sie stand auf Typen, die sie Beatniks nannte, die mit ihren Zauselbärten und zu weiten Strickpullovern für mich jedoch aussahen wie alte Männer. Die Mädchen kleideten sich wie Doris Day und hörten traditionellen Jazz, der auf jeden Fall lebendiger klang als das, was die Billy-Cotton-Band jeden Sonntag zur Mittagszeit im Radio spielte.
Enid und Brenda bestanden ihr Abitur und studierten. Keine Ahnung, woher sie ihre Intelligenz haben. Es ist erstaunlich. Lorna, die ältere Schwester meiner Mum, hat einen Elektriker namens Ernie geheiratet. Die beiden hatten zwei Söhne, von denen einer mit vierzehn ein Studium in Oxford begann. Heute sind beide führende Nuklearphysiker. Wer hätte gedacht, dass ich Nuklearphysiker in der Verwandtschaft habe? Alle meine Cousins und Cousinen haben es mithilfe des Grammar-School-Systems geschafft. Sie waren die intelligente Arbeiterklasse, die Grammar-School-Generation, die Großbritannien nach dem Krieg wiederaufgebaut hat, und sie haben es weit in der Welt gebracht. Das beweist, dass das System funktionierte. Nur für mich nicht. Ich glaube, ich habe mich mehr an der Konformität abgekämpft als an dem Lernstoff an sich. Ich war rebellischer als meine Cousinen und Cousins. Ich konnte es nicht leiden, wenn mir jemand sagte, was ich tun sollte.
Nein, das stimmt nicht. In der Boy’s Brigade habe ich gern Befehle befolgt und auf den Schultern des Sergeants laut muntere Lieder gesungen, während die Truppe in Formation am Strand auf und ab paradierte. In der Grundschule habe ich mich auch gern an Regeln gehalten. Ich habe es geradezu geliebt. Ich verstand mich gut mit den Lehrern. Ich war Klassenbester. Der Weg zur Victoria Junior Boys’ School war für mich der schönste Teil des Tages. Wie viele Kinder können das von sich sagen?
Ich musste eine kurze Hose, ein Unterhemd und einen Pullover tragen. Dieser Pullover war die einzige Wolke an meinem ansonsten klaren und blauen Himmel. Er war aus Wolle. Keine angenehme, weiche Lammwolle. Wir reden von den 1950er-Jahren. Es war dicke, kratzige Wolle. Schafswolle. Pferdewolle. Stahlwolle hätte wahrscheinlich weniger gejuckt. Jahrelang musste ich diesen Pullover tragen, und ich hasste es. Als ich acht war, kaufte mir meine Mum dann ein graues Flanellhemd, das mir alles bedeutete.
Mum erklärte mir, ich könne es nur zwei Tage hintereinander tragen, weil es dann gewaschen werden müsse. Das hieß: zurück zu dem grässlich juckenden Kratzpulli. Also stand ich um sechs Uhr morgens auf, wusch, trocknete und bügelte das Hemd, damit ich es jeden Tag tragen konnte. Ich war ein Sklave der Mode. Oder der Bequemlichkeit. Mein Klassenlehrer in den letzten drei Jahren der Grundschule hieß Mr. Blake, und ich liebte ihn beinahe so sehr wie dieses Flanellhemd. Er brachte mir viel über Geografie, Geschichte und all die Dinge bei, für die ich mich interessierte. Er machte Schulausflüge mit uns, abwechslungsreiche Unternehmungen, und wir lernten auf ganz natürliche Weise, was die beste Methode ist. Außerdem glaubte er, dass ich Potenzial hatte. »Ein Junge mit breit gefächerten Interessen – praktisch, intellektuell, musikalisch und sportlich«, schrieb es 1955 in mein Zeugnis. Ich hätte auch Nuklearphysiker werden können.
In jenem Sommer bestand ich den Test fürs Gymnasium und »gewann« einen Platz an der Acton County Grammar School. Gleichzeitig wurde Dad bei Armitage Shanks, einer Sanitärkeramikfabrik, befördert, und auch unsere Familie stieg in der Welt auf. Wir zogen zwei Meilen weiter nach Westen, in den grünen Doppelhaushälften-Luxus der Fielding Road 135 in Bedford Park. Wir hatten unser eigenes Badezimmer, unseren eigenen Garten vor und hinter dem Haus. Es war der Traum jeder aufstrebenden Arbeiterfamilie. Aber mir war das alles gleichgültig. Ich wollte nicht umziehen. Ich wollte nicht weg von meinen Freunden. Zwei Meilen hätten ebenso gut eine Million sein können. Für mich fühlte es sich an, als wären wir auf den Mars gezogen.