Cover

CARMEN MOLA bevorzugt es, ihre wahre Identität nicht preiszugeben. Ihr Thriller Er will sie sterben sehen wurde schon vor dem Erscheinen in zahlreiche Länder verkauft und stieg in Spanien direkt in die Top Ten der Bestsellerliste ein.

Er will sie sterben sehen in der Presse:

»Eine furiose neue Stimme auf dem Thrillermarkt!«
El País

»Ein unglaublich spannender, harter Thriller. Gut durchdacht und ausgeführt, mit einem erstaunlichen, unerwarteten Finale.«
La Vanguardia

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CARMEN MOLA

ER WILL SIE

STERBEN

SEHEN

THRILLER

Aus dem Spanischen
von Sybille Martin

Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»La novia gitana« bei Alfaguara, Madrid.

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Copyright © 2018 by Carmen Mola

Translated from the original edition of

Penguin Random House Grupo Editorial S.A.U., Barcelona, 2018

This edition has been published through the agreement with

Hanska Literary & Film Agency, Barcelona, Spain.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by

Penguin Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Hafen Werbeagentur, Hamburg

Umschlagmotiv: © GlobalP / GettyImages; inxti / GettyImages; Merche Portu / GettyImages

Redaktion: Sigrun Zühlke

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23820-9
V002

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Erster Teil
Der Himmel in einem Raum

Wenn du bei mir bist,

hat dieser Raum keine Wände,

sondern Bäume, Bäume ohne Ende.

Anfangs wirkt es wie ein Spiel. Jemand hat den Jungen in einen dunklen Raum gesperrt, und er muss versuchen, auf eigene Faust wieder herauszukommen. Als Erstes müsste er den Lichtschalter finden, aber er sucht nicht danach, weil er glaubt, dass die Tür gleich wieder aufgehen wird.

Die Tür geht nicht auf.

Es könnte auch ein Ausdauerspiel sein, bei dem derjenige gewinnt, der am längsten stillhalten kann und nicht um Hilfe ruft. Der Junge drückt sein Ohr an die schartige Holztür. Er hört ein ohrenbetäubend lautes Geräusch, ein Motorrad wird gestartet und fährt weg. Da begreift er, dass er allein ist. Wenn er schreit, wird er in diesem finsteren Raum voller Staub und Feuchtigkeit nur das Echo seiner eigenen Stimme hören. Er ist so verängstigt, dass er nicht einmal weinen kann.

Also muss er jetzt doch den Lichtschalter finden. Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang. Es muss doch zumindest eine Glühbirne an der Decke geben. Der Schuppen hat weit oben ein schmales, hohes Fenster, aber die Sonne ist längst untergegangen, was bleibt, sind die ersten Schatten der Nacht.

Er weiß nicht, warum man ihn eingesperrt hat.

Wie ein Schlafwandler bewegt er sich durch die Dunkelheit und stößt sich an einer Waschmaschine. Sollte sie noch funktionieren, könnte er wenigstens das Rauschen des Wassers hören, wenn sich die Trommel dreht, doch das tut sie nicht. Er geht weiter, streicht wie ein Blinder mit der Hand an der Wand entlang. Doch anstatt auf den Lichtschalter stoßen seine Finger gegen den Griff eines Werkzeugs. Es ist eine Schaufel, die scheppernd zu Boden fällt.

Der Junge fängt an zu weinen und braucht eine Weile, bis er das Knurren hört, das aus einer Ecke kommt. Er ist nicht allein, ein Tier hat sich hier drinnen versteckt. Er hört es nicht zum ersten Mal, er weiß, dass es nachts in der Gegend herumstreift und so laut jault und heult, dass er glaubte, es sei ein Wolf. Aber es ist nur ein Hund, der sich in diesen Schuppen verkrochen hat, den der Junge nie betreten durfte, weshalb er sich jetzt in der Dunkelheit nicht zurechtfindet.

Plötzlich sieht er zwei leuchtende Punkte. Instinktiv weicht er zurück. Er hat das Gefühl, als kämen die leuchtenden Punkte auf ihn zu, weiß aber nicht, ob er sich das in seiner Angst nur einbildet. Dieses doppelte Funkeln kann doch unmöglich echt sein. Und dann ist es wieder verschwunden. Dafür spürt er einen stechenden Schmerz im Bein. Das Tier hat ihn gebissen.

Der Junge will es mit den Händen wegschieben. Er wird noch einmal gebissen, aber seine Tritte und Schläge lassen den Hund schließlich zurückweichen. Der Junge hört ihn schnaufen und dann nichts mehr. Es ist absolut nichts zu hören, und die Stille kommt ihm noch viel schrecklicher vor.

Vorsichtig weicht er zur Tür zurück, um sich wehren zu können, falls der Hund ihn noch einmal angreift, und ertastet dabei den Lichtschalter. Unglaublich, dass er ihn nicht gleich gefunden hat, aber aus irgendeinem Grund hatte er diesen Teil der Wand ausgelassen.

An der Decke hängt eine nackte Glühbirne. Sie spendet genug Licht, um zu erkennen, dass in dem Schuppen Kisten mit alten Decken, Kassetten und Büchern, Spaten und Sensen, eine Waschmaschine, ein rostiges Fahrrad mit nur einem Rad und anderes Gerümpel herumstehen.

Der Hund kauert unter einem alten Emaille-Waschbecken. Es ist ein Streuner, und ihm fehlt eine Pfote.

Ohne den Blick von dem Tier abzuwenden, ergreift der Junge die Schaufel. Der Hund knurrt. Der Junge ist überrascht, wie leicht er die Schaufel hochheben kann. Das muss der Überlebensinstinkt sein, etwas, das ihm einflüstert, dass in diesem Schuppen kein Platz für sie beide ist.

Das Tier steht auf und humpelt auf den Jungen zu. So, wie es hinkt, sieht es nicht bedrohlich aus. Doch dann verbeißt es sich in seinen Knöchel, als wolle es ihm das Mark aussaugen. Der Junge schlägt zu, und der Hund bricht jaulend zusammen. Er schlägt so lange weiter auf ihn ein, bis er die schwere Schaufel nicht mehr halten kann. Dann sinkt er zu Boden und weint.

Sein Knöchel schmerzt, der Abdruck der Hundezähne ist deutlich zu sehen. Auch sein Schuh ist blutverschmiert. Er zieht ihn aus und entdeckt dabei die Wunde, die ihm der Hund mit seinem ersten Biss zugefügt hat. In seiner großen Angst hat er sie gar nicht mehr gespürt.

Dann geht das Licht aus.

Das Keuchen des Jungen wird vom Echo verstärkt, und er zwingt sich, die Luft anzuhalten, um zu hören, ob der Hund noch atmet. Aber nein. Der Hund ist tot.

Kapitel 1

»Su-sa-na! Su-sa-na! Su-sa-na!«

Susanas Freundinnen kreischen, klatschen und tanzen entfesselt, ebenso wie die anderen fünfzehn oder zwanzig jungen Frauen, die sich heute, am Freitag, im Very Bad Boys in der Calle Orense getroffen haben. Kein einziger Mann ist im Publikum, nur Frauen, die einen Junggesellinnenabschied feiern oder sich mit Freundinnen treffen; einige tragen lächerliche Haarreifen mit Plastikschwänzen auf der Stirn, andere Miss-Schärpen mit dem Namen der Braut oder T-Shirts mit einem Bild von ihr … Susanas Freundinnen haben es nicht übertrieben, sie tragen nur rosafarbene Ballettröckchen.

»Su-sa-na! Su-sa-na! Su-sa-na!«

Susana zögert, sie steht nicht gern im Mittelpunkt, aber jetzt ist es so weit. Sie wird von zwei Männern umtanzt, einem blonden, der aussieht wie ein Schwede oder Wikinger, und einem Mulatten, vermutlich Brasilianer. Anfangs trugen beide Polizeiuniformen, jetzt sind sie aber fast ganz nackt, sehr attraktiv mit ihrer breiten Brust und den muskulösen Beinen, das Haar ist zu beiden Seiten des Kopfes rasiert und oben etwas länger, die Körperbehaarung vollständig entfernt, und die Haut glänzt, als wäre sie mit Öl eingerieben … Jetzt tragen sie nur noch winzige Tangas, der Mulatte einen roten und der Wikinger einen weißen. Susana befürchtet, dass sie ihnen die Slips mit den Zähnen ausziehen soll, wie es die Braut vor ihr getan hat. Wenn ihr Vater sie sehen würde … Wegen solcher Sachen ist er so wütend auf sie.

»Keine Sorge, wir tun dir nichts«, flüstert ihr der Mulatte in perfektem Spanisch beruhigend zu.

Susana hat sich geirrt, er ist nicht Brasilianer, sondern Kubaner.

Sie befindet sich auf einer kleinen Bühne, die Musik dröhnt, und die Männer haben sie auf einen Stuhl gesetzt. Sie tanzen um sie herum, streifen sie mit ihren Genitalien, streichen mit den Händen über ihren Körper. Bei Betreten des Lokals hatten sich die Freundinnen gegenseitig versprochen: »Was im Very Bad Boys passiert, bleibt im Very Bad Boys.« Keine von ihnen wird weitererzählen, was geschieht, schon gar nicht Raúl, den sie in zwei Wochen heiraten will. Und ganz sicher wird sie nicht tun, was diese Rocío gemacht hat, deren Freundinnen den Plastikschwanz auf dem Kopf tragen. Alle konnten sehen, wie sich einer der beiden Tänzer, die sie als Feuerwehrmänner gekleidet auf die Bühne geholt hatten, Schlagsahne auf sein Geschlechtsteil geschmiert und sie so lange daran geleckt hat, bis nichts mehr übrig war, während ihre Freundinnen regelrecht ausgeflippt sind. So etwas wird sie nicht machen, auch wenn es keine ihrer Freundinnen ausplaudern wird oder sie deshalb verklemmt wirkt. Ihre Freundinnen halten sie für eine Heilige und ihr Vater für eine Schlampe, sie ist aber weder das eine noch das andere.

Sie kann sie zwar nicht sehen, stellt sich aber vor, wie sie alle kreischen und juchzen, alle außer einer: Cintia. Später wird sie ihr erklären, dass das alles nichts zu bedeuten hat, dass sie nur getan habe, was alle Welt von einer Braut bei ihrem Junggesellinnenabschied erwartet.

Der Mulatte hält sein Versprechen, und weder er noch der Schwede verlangen etwas von ihr, was sie nicht will, denn mit einer Weigerung würde sie den Freundinnen nur den Spaß verderben. Vermutlich sehen die beiden Männer bei ihrer Arbeit jede Menge Bräute und wissen auf den ersten Blick, wie weit sie gehen können. Sie tanzen, sie ziehen den Slip aus, reiben sich noch ein wenig an ihr und helfen ihr dann trotz des kreischenden Publikums höflich und respektvoll von der Bühne.

Marta, die coolste ihrer Freundinnen, die das Ganze organisiert und behauptet hat, Susana könne nicht ohne Junggesellinnenabschied heiraten, brüllt ihr ins Ohr: »Haben sie dich nicht in ihre Garderobe eingeladen?«

»Nein.«

»Du bist echt eine Schlaftablette! Als ich geheiratet habe, bin ich nach dem Auftritt zu dem Blonden, der mit dir getanzt hat, in die Garderobe.«

»Und was hast du gemacht?«

»Na, was wohl … Genau das, was du denkst. Der hat bestimmt einen doppelt so großen wie dein Raúl, obwohl ich Raúls noch nicht gesehen habe. Diese Rocío von vorhin vernascht gerade die beiden Feuerwehrmänner, und wahrscheinlich deine beiden Polizisten noch dazu.«

Susana ist anders, sie denkt nicht daran, mit einem der Stripteasetänzer zu vögeln, so viele Bräute einschließlich ihrer Freundin Marta das auch tun mögen. Kein Wunder, dass deren Ehe nur fünf Monate gehalten hat. Beklommen schaut sie sich um, entdeckt aber nirgendwo die einzige Freundin, die ihr wirklich wichtig ist.

»Und Cintia?«

»Ist gegangen, als du auf der Bühne warst. Wo hast du denn diese Tranfunzel aufgegabelt?«

Cintia ist die einzige der Freundinnen, die nicht mit Susana zur Schule gegangen ist, die anders ist. Sie hätte sich denken können, dass sie nicht zu den anderen passt. Aber ausschließen wollte sie sie auch nicht. Sie hätte zwei Junggesellinnenabschiede feiern sollen, einen mit Cintia und einen mit den alten Freundinnen.

»Warum bist du gegangen?«

Im Taxi auf dem Weg ins El Amante nahe der Calle Mayor, wo sie noch was trinken wollen, weil es laut Marta die angesagteste Bar Madrids ist, hat sie ihrer Freundin eine WhatsApp-Nachricht geschickt, aber zwei Stunden später hat Cintia sie immer noch nicht gelesen. Beim Verlassen des El Amante schaut sie erneut bekümmert und hoffnungsvoll in ihr Smartphone.

In den letzten beiden Stunden wurden sie von jungen Männern zu Drinks eingeladen, die Freundinnen wollten sie auf die Toilette schleppen, um eine Linie Koks zu schniefen, was sie ablehnte, und sie haben einen ehemaligen Fußballspieler getroffen und Selfies mit ihm gemacht. Die Freundinnen auf der einen Seite, die Braut auf der anderen, er einen Arm um ihre Taille … Der Fußballspieler hat ihr doch tatsächlich vorgeschlagen, gemeinsam den Club zu verlassen, vielleicht hat sie ihm gefallen, vielleicht hätte es ihn gereizt, mit einer Braut am Tag ihres Junggesellinnenabschieds zu schlafen. Susana hat ihn sich leicht vom Hals geschafft, sie ist sehr hübsch – so hübsch, dass sie mal davon geträumt hat, Model zu werden – und seit Jahren an aufdringliche Männer gewöhnt.

»Jetzt gehen wir in eine Top-Secret-Bar in der Nähe der Metro-Station Alonso Martínez«, schlägt Marta vor. »Die hat bis morgen früh auf, und ich kenne das Codewort, um reinzukommen.«

»Jetzt gehen wir nach Hause, es ist schon spät«, widerspricht Susana. Und sie sagt es so bestimmt, dass die Versuche der anderen, sie zum Weiterfeiern zu überreden, eher halbherzig klingen.

Als sie zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt aus dem Taxi steigt, weil die Straßen in ihrem Viertel einem Labyrinth gleichen und man einen großen Bogen fahren muss, um sie vor der Haustür abzusetzen, fällt ihr auf, dass sie noch das rosa Ballettröckchen trägt. Das wird sie oben gleich ausziehen. Sie holt ihr Smartphone heraus und stellt fest, dass Cintia die Nachricht, die sie ihr beim Verlassen des Very Bad Boys geschrieben hat, noch immer nicht gelesen hat. Sie schreibt ihr eine zweite.

»Ich bin jetzt zu Hause und hundemüde. Du bist doch nicht sauer, oder? Ich habe dich vermisst.«

Alle finden es lächerlich, dass Susana ihre WhatsApp-Nachrichten getreu der Rechtschreibung verfasst, fehlerfrei, ohne Abkürzungen und mit der richtigen Interpunktion. Cintia hingegen vergisst gern mal die Vokale, benutzt viele Emojis und schreibt ein Kauderwelsch, das Susanna oftmals nur schwer entziffern kann. Ihr fällt auf, dass sie die ganze Nacht kaum an Raúl gedacht hat, doch das überrascht sie nicht und wird auch nichts an ihrer Entscheidung ändern: Sie wird ihn heiraten, obwohl ihr Vater dann nicht mehr mit ihr sprechen und Cintia sauer auf sie sein wird. Es ist keine Liebe, es hat nichts mit Liebe zu tun.

Die Calle Ministriles, in der Susanas kleine Wohnung liegt, ist menschenleer. Viele würden Angst haben, nachts durch eine derart dunkle Straße zu gehen, in der die Stadtverwaltung offensichtlich vergessen hat, Laternen aufzustellen. Aber sie ist daran gewöhnt und fürchtet sich nicht, sie will nicht in ständiger Angst leben wie ihre Mutter. Ihre Ratschläge und Warnungen kümmern sie wenig, ihr wird nichts passieren, denn in ihrer Familie hat es schon genug Schicksalsschläge gegeben. Sie hat das mal in einem Film gehört: Es fallen niemals zwei Bomben auf dieselbe Stelle, kein Ort ist sicherer als ein Bombenkrater.

Als sie den Schlag auf den Kopf spürt und ein Tuch auf ihren Mund gedrückt wird, bleibt ihr keine Zeit zu reagieren. Sie ist zwei Meter von ihrer Haustür entfernt, hatte gerade den Schlüssel aus der Tasche geholt und sich gewünscht, ins Bett zu gehen und noch einmal nachzusehen, ob Cintia ihre Nachrichten endlich gelesen hat … Sie spürt noch, wie ihre Kräfte schwinden, wie sie über die Straße geschleift und in den Laderaum eines Fahrzeugs gezerrt wird. Dann nichts mehr.

Kapitel 2

Die Quinta de Vista Alegre ist eine wunderschöne Parkanlage in Carabanchel und hatte ihre Glanzzeit im neunzehnten Jahrhundert, als sie zunächst Königin Maria Christina von Bourbon als Sommerresidenz diente und später Wohnsitz des Marquis von Salamanca wurde, Namensgeber des noblen Madrider Stadtteils Salamanca.

»Ich bin nicht näher gegangen. Ich habe sofort angerufen, als ich sie gesehen habe.« Der Parkwächter der Quinta de Vista Alegre ist nervös, er möchte, dass die Polizei die Leiche schnellstmöglich wegschafft. »Das ist die erste Tote, die ich hier finde, aber das musste ja mal passieren, der Park ist ziemlich verwahrlost.«

Subinspector Ángel Zárate arbeitet erst seit Kurzem bei der örtlichen Dienststelle und hatte noch keine Gelegenheit, den Park aufzusuchen, weshalb er sich erstaunt umblickt. Sie sind an einem Palast vorbei durch eine Gartenanlage gegangen, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und man eher damit rechnet, eine Dame in der Kleidung des neunzehnten Jahrhunderts anzutreffen, als eine Tote aus dem einundzwanzigsten zu finden.

»Sieht aus wie im Retiro«, sagt er anerkennend.

»Dieser Park ist schöner, er wird nur leider nicht gepflegt. Sie wissen ja, wie Politiker sind: Für das, was ihnen nicht direkt nützt, gibt’s kein Geld. Für ihre Bankette und Luxuskarossen geben die gewiss mehr aus. Hier stehen zwei kleine Paläste, der alte gehörte der Königin und der neuere dem Marquis, darüber hinaus gibt es ein Seniorenheim und früher sogar ein Waisenhaus. Es hieß immer, das Gelände sollte an die Universität von New York vermietet werden, die es modernisiert und dann hier einzieht, aber nichts ist passiert. Sie sehen ja, wie es hier aussieht.«

Zárate langweilen Menschen, die schlecht über Politiker reden, selbst wenn sie recht haben. Es ist einfacher, ihnen die Schuld zu geben, statt selbst etwas zu tun. Und diese Gartenanlage wirkt nicht sonderlich verwahrlost, zumindest gepflegter als jeder andere Park im Bezirk. Hier gibt es keine Jugendbanden, Dealer oder kaputte Schaukeln.

»Sie heißen …?«

»Ramón, stets zu Diensten«, sagt der Parkwächter, nennt aber keinen Familiennamen.

»Wann haben Sie die Tote gefunden, Ramón?«

»Vor einer knappen halben Stunde. Zum Glück bin ich dieses Areal abgelaufen, hier stand früher das Waisenhaus von La Unión. Ich bin dort aufgewachsen, wissen Sie? Um ehrlich zu sein, war ich schon seit Tagen auf der Hut. Hier schleichen nachts immer wieder Obdachlose herum, aber in den letzten Tagen habe ich keine gesehen.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht.«

»Alles hängt immer mit allem zusammen, Señor Inspector. Nichts geschieht einfach so, am Ende führt eins zum anderen. Haben Sie noch nie gehört, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Australien hier bei uns ein Erdbeben auslösen kann?«

Einen Parkwächter, der seine eigene Version des Schmetterlingseffekts zum Besten gibt, hat Zárate nun wirklich nicht erwartet. Aber er möchte jetzt die Leiche sehen.

»Da kommt Ihr Kollege zurück. Und entschuldigen Sie, dass ich so viel quatsche, es ist der Mangel an Gesellschaft, tagsüber bin ich meist allein, und seit dem Tod meiner Frau auch nachts. Hier gibt es nur die Obdachlosen und mich. Und jetzt die Tote, klar.«

Alfredo Costa kommt auf sie zu. Heutzutage würde sein Kollege die Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst nicht mehr bestehen. Er erzählt Zárate gern, dass er in seinem Alter vor Kraft nur so strotzte, aber jetzt mit knapp fünfzig könnte er nicht einmal mit seiner Großmutter mithalten.

»Hast du die Leiche gesehen?« Zárate ist ungeduldig, als junger Polizist hatte er noch nicht die Gelegenheit, in einem Mordfall zu ermitteln. Wie sagt sein Mentor Salvador Santos immer, der ihn bestärkt hat, zur Polizei zu gehen: In Madrid wird wenig gemordet.

»Ja, ich habe sie gesehen, bin aber nicht näher gegangen.« Costa ist ganz anderer Meinung als Salvador, für seinen Geschmack wird zu viel gemordet, und vor allem, wenn er gerade Dienst hat. »Und du solltest es auch nicht tun, denn wenn die Kriminaltechnik kommt, nerven die uns nur wieder damit, wir hätten ›Spuren verwischt‹. Ich sag dir, CSI hat dem Ruf der Polizei eindeutig geschadet.«

»Hast du sie angerufen?«

»Gleich nach dir, sie müssten schon da sein.«

Beide gehen zu der Stelle, die ihnen der Parkwächter gezeigt hat, und bleiben ein paar Meter vor der Leiche stehen. Sie hat etwas um die Taille, etwas Rosafarbenes.

»Was ist das?«

»Ein Tutu. Wenn du Töchter hast, kaufst du ihnen solchen Scheiß.« Costa hat zwei Mädchen im Alter von zehn und vierzehn Jahren; wenn man ihn so reden hört, vergeht einem die Lust, Kinder in die Welt zu setzen.

»Ich gehe mal etwas näher.«

»Damit handelst du dir nur Ärger ein. Wann lernst du endlich, dass man Problemen besser aus dem Weg geht? Befördert wirst du wegen deiner Dienstjahre, und nicht, weil du dir die Hände schmutzig machst.«

Bevor sich Zárate entschließen kann, trifft die Kriminaltechnik tatsächlich ein. Wenigstens ist Fuentes dabei, einer der Dienstältesten. Der bildet sich im Gegensatz zu manch anderem Kollegen nicht ein, in einer Fernsehserie mitzuspielen.

»Wisst ihr, wer sie ist?«

»Wir sind nicht näher herangegangen.«

»Verdammt«, schimpft er. »Und woher wisst ihr dann, dass sie tot ist?«

Alle drei treten näher, und Zárate schaut sie sich genauer an: tiefschwarzes Haar – er könnte wetten, eine Romni –, hübsch, aber mit fratzenhaft verzerrtem Gesicht, als hätte sie schwer gelitten. Ballettröckchen und Kleidung sind verdreckt und blutverschmiert.

Als Fuentes ein Augenlid hochzieht, kriecht eine Made heraus. Fuentes stößt einen überraschten Schrei aus. Aber nicht wegen der Made.

»Sie lebt noch! Schnell, meinen Koffer.«

Als die junge Frau ein letztes Mal krampft, kommt einer seiner Assistenten angelaufen. Wäre sie früher gefunden worden, hätte man sie vielleicht noch retten können. Fuentes schnaubt und schüttelt den Kopf.

»Jetzt ist sie tot. Viel fehlte ja nicht mehr. Wir schreiben in den Bericht, dass sie bei Auffinden bereits tot war, so erspare ich euch Scherereien.«

»Was ist mit ihr passiert? Wo kommt die Made her?« Zárate ist zu seinem Leidwesen fassungslos.

»Nichts anfassen, ich fürchte, das ist kein Fall für euch. Ich werde Comisario Rentero anrufen«, verkündet Fuentes.

Zárate schaut sich erneut um. Für ihn hat der Park seinen Zauber verloren, für ihn ist er zu einem höllischen Ort geworden, wo Maden aus den Augen von Toten kriechen.

Kapitel 3

»Ein Tomaten-Baguette, Señora Inspectora?«

Elena Blanco mag es gar nicht, wenn Juanito, der Kellner aus Rumänien – tüchtig, nassforsch und Barça-Fan –, sie in der Öffentlichkeit Inspectora nennt, aber sie hat es aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen.

»Sehe ich aus, als wollte ich ein Tomaten-Baguette?«

Mehr braucht sie nicht zu sagen, schon hat Juanito unter dem Tresen eine Flasche Grappa hervorgeholt, den sie morgens gern trinkt, einen Nonino Friulana, durchsichtig und kristallklar, trocken und rein im Geschmack. Es heißt, man solle Grappa nicht auf nüchternen Magen trinken, aber Elena Blanco lässt mit diesem Getränk schon sehr, sehr lange die Nächte ausklingen, in denen an Schlaf eindeutig nicht zu denken war.

»Heute früh war Didi hier. Er wollte, dass ich ihm ein Glas von Ihrem Grappa einschenke.«

»Ich hoffe, du hast es nicht getan.«

»Nein, ich habe ihm einen Kräuterschnaps hingestellt, den er anstandslos getrunken hat. Und er hat mir erzählt, dass im Parkhaus auf Ebene drei heute Nacht ein Pärchen gevögelt hat.«

»In einem roten Land Rover?«

Juanito grinst, er findet Elenas Kommentare witzig und erzählt ihr deshalb gern jeden Klatsch, von dem er glaubt, es könnte sich dabei um sie handeln. Manchmal flirtet er auch mit ihr, obwohl er genau weiß, dass es ein sinnloses Unterfangen und reine Zeitverschwendung ist.

»Das waren doch nicht etwa Sie, Inspectora …?«

»Nein, aber ich denke oft, sollte ich jemals in dem Parkhaus unter meiner Wohnung vögeln, dann unbedingt in einem roten Land Rover. Und wie du siehst, gibt es Glückspilze, die meine Fantasien ausleben. Hat dir Didi was für mich gegeben?«

Juanito sieht sich aufmerksam nach allen Seiten um, bevor er ihr das Tütchen zusteckt, als würde er ihr die Großlieferung eines kolumbianischen Drogenbarons aushändigen.

»Keine Angst, Juanito, ich bin die Polizei und werde dich nicht verhaften.«

»Sie sollten vorsichtiger sein.«

»Mit den roten Land Rovern oder mit der Ware?«

»Mit allem.«

»Mir ist schleierhaft, wie du es durch halb Europa geschafft hast, so anständig, wie du bist.«

In dem Tütchen sind nur ein paar Gramm Marihuana. Didi kultiviert im Garten seines Hauses in Camarma de Esteruelas ein paar Hanfpflanzen. Die Ausbeute ist so gering, dass er seine paar Kunden kaum ein halbes Jahr damit versorgen kann. Elena reicht das, sie raucht nur gelegentlich einen Joint, wenn sie nach einer langen, feuchtfröhlichen Nacht mit dem Besitzer eines großen Wagens ein Parkhaus aufgesucht hat. Sie nimmt nur selten einen Mann mit in ihre Wohnung.

»Was kriegst du, Juanito? Ich muss jetzt ins Bett.«

Auf der Plaza Mayor zu wohnen, ist Luxus und Last zugleich. Ein Luxus, weil du dir beim Blick vom Balkon vorstellen kannst, dass sich seit Jahrhunderten die ganze Stadt hier versammelt, denn die Plaza hatte bereits vierhundertjähriges Jubiläum. Es heißt, hier hätten Stierkämpfe, Prozessionen, Messen, Mysterienspiele, Prozesse der heiligen Inquisition stattgefunden und sogar Scheiterhaufen gebrannt. Von Elenas Balkon aus hat man einen guten Überblick, und bei genauerem Hinsehen kann man die faszinierenden bunten Malereien an der Fassade der Casa de la Panadería erkennen oder gratis die künstlerischen Darbietungen verfolgen, die die Stadtverwaltung regelmäßig organisiert. Deshalb ist es auch eine Last, weil vom Volkstanz-Wettbewerb zu Ehren des Madrider Schutzheiligen San Isidro bis hin zum Weihnachtsmarkt alles direkt vor ihrer Haustür stattfindet. Einmal konnte sie sogar vom eigenen Balkon aus das Dressurreiten der Königlich-Andalusischen Reitschule genießen. Lärm, das ganze Jahr garantiert Lärm.

Die Touristen lassen sich neben dem dicken Spiderman oder hinter den Pappaufstellern von Flamenco-Tänzerinnen fotografieren, sie werfen den Darstellern der lebenden Statuen oder der Ziege mit dem Holzkopf Münzen in den Topf und haben keinen blassen Schimmer, dass es hinter diesen alten Fassaden eine Wohnung gibt wie ihre: über zweihundert Quadratmeter groß und modern, minimalistisch und elegant eingerichtet. Als sie die Wohnung von ihrer Großmutter geerbt hatte, war sie mit schweren Möbeln und Nippes vollgestopft, jetzt könnte sie in jeder Zeitschrift für Schöner Wohnen abgebildet werden.

Für Elena hat sie noch einen zusätzlichen Vorteil: In einer Balkonecke steht eine Kamera, die von der Plaza aus nicht zu sehen ist und auch den Augen der Touristen verborgen bleibt. Das Objektiv der Kamera, die auf einem dreibeinigen Stativ befestigt ist und geschützt unter einem kleinen Vorsprung steht, ist immer auf dieselbe Stelle gerichtet: den Torbogen zur Calle de Felipe III. Sie ist seit Jahren so eingestellt, dass sie alle zehn Sekunden ein Foto macht. Elena überprüft, ob die Kamera in Ordnung ist. Es sind Tausende Aufnahmen, seit sie die Fotos am gestrigen Morgen zum letzten Mal gesichtet hat, und es sind Millionen, seit sie die Kamera installiert hat, aber sie behält nur wenige, und die eher interessehalber.

Bevor sie sich an den Computer setzt, schaltet sie ihr iPad ein. Sie hört immer dasselbe Lied der italienischen Sängerin Mina Mazzini: »Vorrei che fosse amore«. Sie lauscht, singt leise mit und raucht dazu den Joint, den sie sich aus Didis Marihuana gedreht hat. Dann zieht sie sich langsam aus, entdeckt den Kratzer, den ihr der Besitzer des Land Rovers auf der Schulter hinterlassen hat, und betrachtet sich im Spiegel: Sie hat noch den gleichen Körper wie als junge Frau, sie braucht kein stundenlanges Training im Fitnessstudio, um gegen Kilos und Rundungen anzukämpfen.

Beim Duschen denkt sie, dass sie vielleicht heute Glück hat, dass auf einem dieser vielen Tausend Fotos das pockennarbige Gesicht zu sehen sein wird, das sie schon so lange sucht. Das Telefon klingelt, sie nimmt es ungerührt zur Kenntnis. Erst als es kurz darauf wieder klingelt, ahnt sie, dass es wichtig sein könnte. In ein Handtuch gehüllt, geht sie triefend zum Telefon.

»Rentero? Ich habe heute frei … Quinta de Vista Alegre? Nein, ich weiß nicht, wo das ist, aber das Navi bestimmt … Carabanchel? In Ordnung, ich brauche zwanzig Minuten, oder besser dreißig. Mein Team soll dort auf mich warten.«

Kapitel 4

Eine halbe Stunde Fahrt nach Carabanchel ist im Madrider Berufsverkehr an einem Montag ziemlich optimistisch kalkuliert. Inspectora Blanco hat fast eine Stunde gebraucht, und als sie endlich eintrifft, ist ihr Team schon bei der Arbeit, was sie stolz zur Kenntnis nimmt. So gefällt ihr das.

»Die Leiche sieht nicht viel schlimmer aus als du … Hast wohl ordentlich einen draufgemacht heute Nacht.«

Buendía, der Gerichtsmediziner des Teams, ist einer der ganz wenigen, denen Elena Blanco einen solchen Kommentar durchgehen lässt. Sie arbeitet schon lange mit ihm zusammen und würde ihm sogar ihr Leben anvertrauen, auch wenn sie hofft, dass das nie der Fall sein wird. Elena überlässt wichtige Dinge nur ungern anderen.

Normalerweise hätte sie die Spuren der Nacht mit ein wenig Schminke kaschiert. Doch sie hatte lediglich Zeit, in eine Jeans und ein T-Shirt zu schlüpfen, sich zu kämmen und eine Schmerztablette zu nehmen. Jetzt braucht sie dringend einen Kaffee und einen Grappa, die sie sich so bald wie möglich holen lassen wird.

»Ist Rentero schon da?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, glaube auch nicht, dass er kommt … Die Leiche liegt dort drüben.«

Inspectora Elena Blanco, die Chefin der Brigada de Análisis de Casos, Brigade für Sonderermittlungen, kurz BAC, war noch nie in der Quinta de Vista Alegre. Wie alle, die an diesem Morgen dort eintreffen, blickt sie sich erstaunt um. Parkanlage, Paläste und Statuen wirken etwas heruntergekommen, aber vielleicht macht gerade das ihren Reiz aus, weil man erkennt, dass es sich nicht um Nachbildungen handelt wie in amerikanischen Vergnügungsparks, sondern um echte Geschichte. Vielleicht hat früher einmal eine Adlige an genau derselben Stelle Platz genommen, wo jetzt ein älterer Polizist sitzt, der dreinblickt, als interessiere ihn das Ganze überhaupt nicht.

»Wer ist das?«

»Kollege Costa«, erklärt Buendía. »Er ist einer der beiden Polizisten, die zuerst am Tatort waren. Er will so schnell wie möglich weg, im Gegensatz zu seinem Kollegen, einem gewissen Ángel Zárate, der ständig dazwischenfunkt und alles ganz genau wissen will. Er ist schon zweimal mit Chesca aneinandergeraten.«

»Ist er jung, dieser Zárate?«

»Um die dreißig. Du kennst doch die jungen Kollegen. Er ist halt frustriert, dass wir ihm den Fall wegnehmen.«

»Von mir aus kann er ihn gern behalten.«

Normalerweise übernimmt die BAC derartige Fälle nicht, sondern wird später hinzugezogen. Die BAC ist eine Sonderabteilung der spanischen Polizei, die bei verfahrenen Ermittlungen zum Einsatz kommt oder in Fällen von Inkompetenz oder Befangenheit der ermittelnden Beamten. Manchmal aber auch bei ausgesprochen kniffeligen, schwer lösbaren Fällen … In den Vereinigten Staaten wären sie eine Art Supercops, in Spanien müssen sie lediglich die Kastanien aus dem Feuer holen und können auch nichts mehr delegieren. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sie über wesentlich mehr Mittel verfügen als andere Abteilungen.

»Was hat denn die Leiche da um die Hüfte?« Wie allen anderen fällt es auch Elena als Erstes auf.

»Ein Tutu. Gut möglich, dass …«

»… sie auf einem Junggesellinnenabschied war«, beendet sie den Satz.

Dank der besonderen Lage ihrer Wohnung ist auch dies ein Thema, über das sie Vorträge halten könnte. Fast alle Junggesellenabschiede ziehen unter ihrem Balkon vorbei. Anfangs waren es vor allem stockbesoffene Engländer, dann ebenso betrunkene Engländerinnen, schließlich Franzosen, Italiener, Spanier … Tutus hat sie schon oft gesehen, auch jede Menge Spitzenschleier. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit sind jedoch die Haarreifen mit Plastikschwänzen.

»Chesca, Orduño, kommt mal her.«

Die beiden gehören ebenfalls zu ihrem Team. Gute Polizisten, jung, durchtrainiert und effektiv, auf die Elena immer dann zurückgreift, wenn außer Köpfchen auch Muskelkraft benötigt wird. Orduño war früher beim Sondereinsatzkommando Geo, Chesca bei der Mordkommission. Elena Blanco hat sie persönlich ausgesucht, dazu den Gerichtsmediziner Buendía und Mariajo, ihre eigenwillige Informatik-Spezialistin. Sie alle genießen ihr vollstes Vertrauen.

»Zu Befehl, Inspectora!« Elena hat es einige Mühe gekostet, Orduño sein militärisches Gebaren abzugewöhnen. Es zeigt sich zwar langsam Erfolg, aber ganz abgelegt hat er es noch nicht.

»Seht zu, dass die Leute dort bei der Leiche verschwinden. Ich bezweifle es zwar, aber falls es da noch eine nicht verwischte Spur geben sollte, möchte ich sie finden. Das Opfer könnte bei einem Junggesellinnenabschied gewesen sein, mal sehen, was dabei herauskommt.«

Klare und präzise Anweisungen, Theorien können sie später bei ihren Besprechungen im Büro entwickeln. Alle wissen, wie Elena arbeitet, und alle respektieren sie.

»Inspectora, die beiden Polizisten, die zuerst bei der Leiche waren …«

»Ángel Zárate und sein Kollege, nicht wahr? Keine Sorge, Chesca, ich kümmere mich darum, Buendía hat mir schon von ihnen erzählt.«

Sie hat Zárate entdeckt und möchte erst einmal sehen, wie er agiert, bevor sie mit ihm spricht. Sie mag keine Feindseligkeiten unter Kollegen, weiß aber, dass es nicht immer zu verhindern ist, wenn ihr Team einen Fall übertragen bekommt. Chescas größte Schwäche ist, alle anderen Kollegen für Feinde zu halten, die BAC ist für sie Familie und die restliche Welt die Konkurrenz. Zum Glück ist Orduño wesentlich diplomatischer.

»Wo wir gerade davon reden, Buendía, erklär mir mal, warum Rentero uns gerufen hat.«

Buendía weiß, dass sie es objektiv und direkt mag, also kommt er ohne Umschweife zur Sache.

»Als Erster war Fuentes von der Kriminaltechnik bei der Leiche. Er ist ein guter Polizist, ein Veteran, ich kenne ihn seit Jahren. Als er das Augenlid des Opfers hochzog, kroch eine Made heraus. Von der Verwesung kann das nicht kommen, denn die Frau ist erst in dem Moment gestorben.«

»Also?«

»Ein Glücksfall. Fuentes hat vor Jahren im Mordfall einer Frau mitgearbeitet, die unter exakt den gleichen Umständen zu Tode kam, ein grauenhafter Ritualmord. Er fürchtet, es könnte sich um denselben Täter handeln. Deshalb hat er Rentero angerufen und der wiederum uns.«

»Aber hallo, jetzt haben wir schon Serienkiller in Spanien. Kann man den Kollegen nicht verbieten, zu viele Krimis zu schauen?«

»Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Elena. Ich lasse mir die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen und mache mich sofort an die Obduktion.«

»Ich komme gleich nach. Vorher muss ich noch mit diesem Zárate reden.«

Zárate hat inzwischen erkannt, dass sie das Sagen hat. Er will sich bei ihr beschweren.

»Sind Sie die Chefin?«, fragt er herablassend.

»Mir wurde gesagt, dass du als Erster bei der Leiche warst.« Elena übergeht seine Frage geflissentlich, um klarzustellen, wer hier die Regeln aufstellt. »Ich bin Inspectora Blanco, Leiterin der BAC.«

»Dann gibt es die BAC also wirklich …«

Sein Sarkasmus überrascht sie, sie findet ihn nämlich recht attraktiv: Er hat dunkles Haar und einen durchtrainierten Körper wie die meisten ihrer jungen Kollegen … Wenn er einen roten Geländewagen hätte und Elena auf einer ihrer nächtlichen Touren wäre, würde sie ihn ohne zu zögern in Didis Parkhaus abschleppen.

»Wir übernehmen den Fall.«

»Wieso? Er liegt im Zuständigkeitsbereich meines Kommissariats.«

»Wieso? Nun, weil das Leben ungerecht ist und weil es die BAC wirklich gibt. Wir geben deinen Vorgesetzten Bescheid. Und noch was: Tu mir den Gefallen und stör die Kollegen von der Spurensicherung nicht bei ihrer Arbeit.«

Kapitel 5

Elena war keine Zeit geblieben, nach Hause zu fahren und sich umzuziehen, also schlüpft sie in den Kittel und setzt Haube und Mundschutz auf, um den Sektionssaal betreten zu können. Sie arbeitet nicht gern in Jeans und T-Shirt, weil Rentero sie jederzeit in ein teures Restaurant oder die Bar eines Fünf-Sterne-Hotels zitieren könnte, Orte, die ihr Chef gern aufsucht und wo er sich am liebsten mit ihr verabredet.

»Hast du schon was, Buendía?«

»Wir haben auf dich gewartet«, begrüßt sie der Pathologe. »Bis jetzt haben wir sie nur äußerlich untersucht.«

»Irgendein Hinweis darauf, wer die Roma-Braut ist?« Da sie ihren Namen noch nicht kennen, nennen sie das Opfer erst einmal so.

»Sie hat ein Schmetterlings-Tattoo, wir haben es fotografiert, ich schicke dir das Foto, wenn wir fertig sind.«

Die Tätowierung befindet sich am rechten Schulterblatt und ist nicht sehr groß. Ein schöner Schmetterling in den Farben Rot, Grün, Blau und Schwarz.

»Ist das ein bestimmter Schmetterling? Ich meine, könnte er eine bestimmte Bedeutung haben?« Elena ist gerade in den Sinn gekommen, dass sich die Made aus ihrem Auge in einen solchen Schmetterling verwandeln könnte. Im Grunde sind eine Made und eine Larve dasselbe.

»Ich kenne mich nicht aus mit Schmetterlingen, wir werden es schon herausfinden.«

Buendía zeigt ihr die Finger der jungen Frau.

»Sie hat Hautpartikel unter den Fingernägeln.«

»Könnten die vom Täter stammen?«

»Oder von ihr selbst, sie könnte sich oder ihren Freund oder sonst wen gekratzt haben«, zerstört Buendía die aufkeimende Hoffnung der Inspectora. »Wir nehmen Proben und analysieren sie.«

»Wurde sie vergewaltigt?« Elena weiß, dass es bei Gewalt gegenüber Frauen vor oder unmittelbar nach ihrem Tod nicht selten zu sexuellem Missbrauch kommt.

»Nein. Das müssen wir zwar noch gründlicher untersuchen, aber es sieht nicht danach aus.«

Elena schaut Buendía gern bei der Arbeit zu, er arbeitet gewissenhaft und methodisch und hat die ruhigste Hand, die sie je gesehen hat. Unterstützt wird er von zwei ebenso effektiven wie schweigsamen namenlosen Assistentinnen.

»Schau mal hier.«

Buendía zeigt auf drei kleine Löcher im Schädel, die mit einem Schnitt zu einem Kreis verbunden sind. An dieser Stelle ist der Kopf rasiert. Das wunderschöne schwarze, wenn auch blutverkrustete Haar der Toten ist Elena schon im Park aufgefallen …

»Dieser kreisrunde Schnitt ist oberflächlich und rudimentär, vielleicht mit einem scharfen Messer oder Cutter ausgeführt. Es wirkt, als solle er nur die Löcher verbinden oder markieren, wo sie sich befinden. Für die Löcher wurde wahrscheinlich ein kleiner Präzisionsbohrer verwendet. Es sind Maden drin.«

»In den Löchern?« Elena ekelt sich, auch wenn sie sich nichts anmerken lässt.

»Ich fürchte, im ganzen Schädel, aber das kann ich dir erst sagen, wenn ich ihn geöffnet habe. Das wird nicht angenehm, geh besser ein Stückchen beiseite.«

Elena fühlt sich verpflichtet zu bleiben, so unangenehm die Schädelsektion der jungen Frau auch sein mag. Ein Anruf verschafft ihr eine kurze Pause.

»Rentero? Endlich meldest du dich … In der Bar der Medizinischen Fakultät in einer Viertelstunde … Perfekt, bis gleich.«

Ihr bleibt noch Zeit zu sehen, wie Schädelmeißel und Autopsiesäge zum Einsatz kommen. Seine Assistentinnen haben das Gerät für das Abtrennen der Schädeldecke bereitgestellt.

»Gut …«

Im Schädel selbst wimmelt es von Maden, sie haben das Gehirn der jungen Frau fast vollständig aufgefressen.

»Ich werde einen Entomologen konsultieren, mal hören, was der dazu meint.« Mehr kann Buendía im Moment nicht sagen.

Comisario Manuel Rentero, stellvertretender Direktor und somit Nummer zwei der spanischen Polizei, erwartet sie an einem Tisch in der Cafetería der Medizinischen Fakultät.

»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«, fragt er anstelle eines Grußes.

Er ist nicht nur ihr Chef, sondern war auch ein guter Freund ihres Vaters und pflegt seit dessen Tod freundschaftlichen Kontakt zu ihrer Mutter. Er sieht sie häufiger als Elena selbst.

»Du wirst mir bestimmt gleich sagen, wo sie ist.«

»Das weißt du nicht? Am Comer See, wie immer im Frühsommer. Wie lange hast du sie nicht gesehen?«

»Vielleicht besuche ich sie mal im Urlaub.« Elena muss sich mit ihrer Ironie zurückhalten, die Gepflogenheiten ihrer Familie interessieren sie schon lange nicht mehr. Doch sie will Rentero nicht vor den Kopf stoßen, denn obwohl er wie ihre Eltern zur gehobenen Gesellschaft gehört, arbeitet er und ist ein guter Chef. »Ich komme gerade von der Obduktion der jungen Frau von heute Morgen. Man hat sie grausam ermordet.«

»Maden?«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe es vermutet. Susana Macaya, dreiundzwanzig Jahre, Vater Roma, Mutter Spanierin.« Rentero schiebt ihr die Akte der Toten rüber. Jetzt hat sie endlich einen Namen: Susana. »Vor sieben Jahren gab es einen ähnlichen Fall.«

»Ähnlich oder identisch?«

»Die Tote damals hieß Lara, Lara Macaya, sie war die Schwester von Susana und wollte auch heiraten.«

Elena Blanco erwidert nichts. Diese Tatsache bestätigt, dass es ihr Fall ist und dass sie denjenigen, der das getan hat, ins Gefängnis bringen wird. Zwei tote Schwestern kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Kopf voller Maden. Jetzt versteht sie, warum die BAC eingeschaltet wurde.

Kapitel 6

»Haben die jetzt das Sagen, obwohl sie später gekommen sind?«

Zárate ist frustriert und würde dem Parkwächter der Quinta de Vista Alegre liebend gern den Mund verbieten, als wäre der arme Mann schuld daran, dass man Costa und ihn rausgekickt hat. Die Chefin der BAC ist schon wieder weg, aber eine jüngere Kollegin läuft herum und behandelt alle anderen wie Untertanen.

»Es kommt doch vor allem darauf an, den Täter zu finden, oder? Wer dafür zuständig ist, geht Sie nichts an. Ich vermute mal, dass es hier keine Kameras gibt?«

»Nein, keine Kameras, nichts. Nur mich. Und einen Gärtner, der alle vierzehn Tage vorbeikommt. Früher kam er öfter, aber vor ein paar Jahren wurde eine Bewässerungsanlage eingebaut.«

»Gibt es viele Besucher?«

»Nur wenige. Die Anwohner wollen, dass der Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, aber bis jetzt ist nichts passiert. Hier gibt es nur mich und die Obdachlosen.«

»Gab es mal einen Diebstahl oder Ähnliches?«

»Nein, es ist ruhig, höchstens mal einen kleinen Brand, wenn die Obdachlosen im Winter betrunken Feuer machen und nicht aufpassen oder wenn sie sich streiten. Aber Gott sei Dank ist nie was passiert.«

»Und Sie sagten, Sie hätten die Obdachlosen schon eine Weile nicht mehr gesehen?«

»Ja, das wundert mich. Bei gutem Wetter ist das kein schlechter Ort zum Schlafen. Ich würde versuchen, sie ausfindig zu machen.«

»Ich weiß, wie ich meine Arbeit zu machen habe«, entgegnet Zárate unwirsch. »Um die kümmere ich mich zu gegebener Zeit schon.«

Er sollte nicht so schnell die Geduld verlieren. Sein Mentor Santos hat ihm immer wieder eingeschärft, dass er lernen muss, besser zuzuhören, dass er Zeugenaussagen nicht leichtfertig abtun darf, dass er den Weizen von der Spreu trennen soll. Zárate weiß, dass er recht hat, aber heute ist er sauer, weil man ihm den Fall weggenommen und diese Inspectora ihn wie einen Streifenpolizisten behandelt hat.

Inzwischen wurde die Handtasche des Opfers gefunden, er kennt jetzt ihren Namen, Susana Macaya, das hat er einen Kollegen der BAC am Telefon sagen hören. Er hat auch gesehen, wie sie Abdrücke von Schuhsohlen eines vermutlich großen und schweren Mannes genommen haben, wahrscheinlich eine Spur. Außerdem wurde eine Supermarkt-Plastiktüte sichergestellt, an der vielleicht Fingerabdrücke zu finden sind. Er hätte sie nicht aufgehoben, weil er dachte, der Wind hätte sie herangeweht, aber er hat sie natürlich auch nicht von Nahem gesehen, vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen, das er aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Er muss zugeben, dass die Kollegen der BAC ausgesprochen effizient arbeiten und jeden Zentimeter genauestens absuchen. Wenn sie nur nicht so überheblich wären …

»Wir können jetzt fahren.« Das wünscht sich Costa schon, seit die Leiche gefunden wurde.

»Ich bleibe«, erwidert Zárate stur.

»Mach dich doch nicht zum Affen, das ist jetzt deren Fall, vergiss es.«

»Weißt du, wo die ihre Dienststelle haben?«

»Nein, das weiß niemand. Ich wusste nicht einmal, dass es die BAC wirklich gibt. Wir sind die Dorfpfaffen und sie die hohen Tiere aus dem Vatikan. Vergiss es, du hast noch viele Dienstjahre vor dir und wirst es schon bald satthaben, in Mordfällen zu ermitteln.«

»Fahr allein, wir sehen uns morgen.«

Als Costa schließlich abzieht, betritt Zárate das abgesperrte Gelände und schaut sich weiter um. Er findet eine Zigarettenkippe und steckt sie in einen Plastikbeutel.

»Was machst du da, verdammt noch mal?« Die arrogante Polizistin steht plötzlich vor ihm und reißt ihm das Beweismittel praktisch aus der Hand.

»Ich bin Subinspector, und da lag eine Zigarettenkippe, die ihr übersehen habt.«

»Ist mir egal, was du zu sein glaubst, für mich bist du ein beleidigter Schutzpolizist. Das ist unser Fall, und du verschwindest jetzt. Oder soll ich dich selbst rausschmeißen?«

»Ach ja? Wie willst du das anstellen? Wie denn?«

Die beiden stehen dicht voreinander und provozieren sich wie Schulkinder. Aber sie befinden sich nicht im Pausenhof, und er trägt eine Uniform und sie eine Weste mit den Buchstaben BAC auf dem Rücken. Der Muskelprotz kommt beschwichtigend näher.

»Mach weiter, Chesca. Du bist Zárate, oder? Ich bin Orduño. Du musst entschuldigen, meine Kollegin braust leicht auf.«

»Dann soll sie sich wieder abregen.«

»Lass gut sein, wir stehen doch auf derselben Seite. Das ist jetzt unser Fall, mach kein böses Blut. Vielleicht hast du eines Tages einen ähnlichen, wer weiß.«

Er schiebt ihn entschlossen vom abgesperrten Areal. Zárate trabt davon, steckt die Hand in die Jackentasche und fragt sich, wann die Kollegin wohl merkt, dass ihre Brieftasche weg ist.