Cover

Das Versprechen des Buchhändlers

Das Buch

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Hanna studiert Geige am Lyzeum in Gutenstadt und wünscht sich nichts sehnlicher, als auf der großen Bühne zu stehen. Max ist Buchhändler und kann sich dem Zauber von Hannas Musik nicht mehr entziehen, seit er sie das erste Mal gehört hat. Eine zarte Liebe entfaltet sich zwischen den beiden. Doch sie wird bedroht von einem Schatten, der unaufhaltsam größer wird. Hanna ist Jüdin, und für ihre Liebe ist im nationalsozialistischen Deutschland kein Platz. Bald tobt der Krieg, und doch setzen die beiden alles daran, zusammenzubleiben. Immer wieder muss Max jedoch für einige Monate verreisen. Der Grund bleibt sein Geheimnis.

Nach Kriegsende: Hanna erwacht desorientiert auf einem Feld irgendwo in der Nähe von Berlin. Ohne zu wissen, was aus Max geworden ist, beginnt sie ein neues Leben und widmet sie sich ihrer anderen großen Liebe – dem Musizieren. Sie reist um die Welt und kann doch nicht vergessen, was war und wem ihr Herz gehört.

Die Autorin

Jillian Cantor studierte Englisch an der Penn State University, bevor sie mit dem Schreiben begann. Für ihre Romane wurde sie in den USA bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Söhnen in Arizona.

Lieferbare Titel

Das Mädchen mit dem Edelweiß

JILLIAN CANTOR

Das Versprechen
des
Buchhändlers

Aus dem Amerikanischen
von Stefanie Fahrner

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
In Another Time bei Harper Perennial.


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Deutsche Erstausgabe 12/2019
Copyright © 2019 by Jillian Cantor
Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Claudia Krader
Covergestaltung: Cornelia Niere,
unter Verwendung von © Giovan Battista D’Achille / Trevillion Images;
Gettyimages / Heritage Images / Kontributor; © Laura Frenkel / Shutterstock
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-24352-4
V001

www.heyne.de

Für Gregg.
Du bist der Grund dafür,
dass ich Liebesgeschichten schreibe.

Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein,
muss ich sie herzustell’n geboren sein!

William Shakespeare
Hamlet, 1. Aufzug, 5. Szene

PROLOG
HANNA, 1958

Ich habe Stuart nicht die ganze Wahrheit über meine Vergangenheit erzählt. Er würde sie nämlich nicht verstehen. Wie sollte er auch, wenn ich sie selbst nicht begreife? Außerdem würde er mir sowieso nicht glauben. Wie so oft würde er mich zweifelnd ansehen, dann etwas milder dreinschauen, während kleine Fältchen um seine blauen Augen wachsen, die sowohl sein Alter als auch seine Freundlichkeit betonen. »Ach, Liebes«, sagt er dann immer. Wie einst Schwester Louisa, als ich in ihre Kirche taumelte, beinahe erfroren und krank vor Durst und Hunger.

Noch heute frage ich mich manchmal, ob ich mir das alles nicht ausgedacht habe. Ob auch Max nur ein Traum war, ein Fantasiegebilde. So unwirklich wie alles andere.

»Du hast ein Trauma durchlebt«, sagte Schwester Louisa, nachdem ich in Berlin zum ersten Mal beim Arzt gewesen war. »Dein Verstand spielt dir Streiche, um dich zu schützen.«

Es war seltsam, aber als die Schwester das sagte, hätte ich ihr fast geglaubt. Wie konnte sie sich irren? Diese Nonne mit ihrem runzligen Gesicht, blass wie Schnee, und den hellgrauen Augen, mit ihrer Ordenstracht und dem sanften Lächeln. Sie würde mich nie und nimmer anlügen. Sie zeigte auf die Geige in meiner Hand. »Spielst du mir etwas vor, Liebes?«

Sie berührte meine Stradivari. Ich besaß sie seit meinem sechzehnten Geburtstag, ein extravagantes Geschenk, das Großvater Moritz mir kurz vor seinem Tod gemacht hatte. Ich hielt sie in der Hand, als ich auf dem Acker wieder zu mir kam, hatte sie früher für Max in der Buchhandlung gespielt. Manchmal ist meine Violine das Einzige, das sich heute echt anfühlt.

Ich spiele seit meinem sechsten Lebensjahr Geige. Sie ist stets ein Teil von mir gewesen, ein weiterer Arm, notwendig und wichtig für mein tägliches Überleben. Meine Geige verbindet meine Gegenwart mit meiner Vergangenheit, meine Träume mit meiner Wirklichkeit. Meine Finger bewegen sich flink über die Saiten. Mein Verstand vergisst alles, was ich verloren oder hinter mir gelassen habe. Nur die Musik ist mein ständiger Begleiter. Nichts als die Musik. Nicht Stuart. Nicht Max. Nicht das Hier und Heute. Auch nicht die Vergangenheit.

»Hanna«, sagt Stuart.

Ich habe das heutige Datum, den 6. November 1958, mit Bleistift oben auf mein Notenblatt geschrieben, damit ich weiß, dass es echt ist, damit ich es nicht vergesse. Das mache ich jeden Tag. Ich habe damit angefangen, als ich bei Julia in London lebte.

Manchmal vergesse ich, wie alt ich inzwischen bin, jedenfalls bewegen sich meine Finger nicht mehr so geschmeidig wie früher. An manchen Tagen schwellen meine Knöchel an, und ich muss sie mit Eisbeuteln kühlen, wenn ich nach der Probe nach Hause komme. Ich verheimliche das vor Stuart, wie so vieles andere auch.

Heute übe ich am Konservatorium, wie jeden Tag. Das Ensemble wird im Frühjahr erneut auf Tournee gehen. Wir werden dieses Mal durch Europa reisen und dabei Bach, Vivaldi und Holst spielen. London, Paris, Berlin. Als erste Geige muss ich alles richtig spielen, perfekt. Ich beherrsche sämtliche Stücke bereits gut, aber das genügt nicht. Ich muss die Musik atmen. Sie muss in meine Haut eindringen, in mein Gedächtnis einsickern, sodass ich sie niemals vergessen werde. Wie ein süßes Parfüm, das alle meine Sinne berührt und beherrscht.

Als Stuart hereinkommt, lege ich meine Geige auf den Schoß und lächle ihn an. Der liebe, süße Stuart.

Er ist zehn Jahre älter als ich und möchte nichts lieber als mich heiraten. Was er mir mehr als einmal gesagt hat. Ich lache und tue so, als würde ich es für einen Scherz halten, obwohl wir beide wissen, dass es keiner ist.

»Du bist eine alte Seele«, sagte er einmal zu mir, wie um unseren Altersunterschied wegzuwischen.

Erst in diesem Moment dachte ich: Vielleicht kennt Stuart mich ja doch?

»Hanna«, sagt er jetzt. »Du hast Besuch. Ein Freund.«

Meine Welt in New York City ist eine Blase. Proben und Üben. Ich wohne alleine in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Greenwich Village. Obwohl ich mit fast jedem im Orchester befreundet bin, würde ich keinen Kollegen einen guten Freund nennen. Nur Stuart. Weil er glaubt, dass er mich liebt und versteht.

»Das muss ein Missverständnis sein«, erwidere ich und setze die Geige wieder am Kinn an.

»Das ist kein Missverständnis«, sagt Stuart. »Er hat nach Hanna gefragt. Dem Mädchen, das so feurig auf der Geige spielt«, lacht Stuart. Fältchen legen sich um seine Augen. Die Genauigkeit der Beschreibung amüsiert ihn und macht ihn gleichzeitig betroffen.

Vor so vielen Jahren, als ich der festen Meinung gewesen war, dass ich alles aufgeben müsste, alles ruiniert hätte, sagte Max zu mir, ich könnte woanders vorspielen. Es gäbe noch andere Orchester.

»Du darfst nicht aufgeben«, hatte er gesagt. »Du spielst so feurig auf der Geige, Hanna. Du darfst dieses Feuer nicht preisgeben.«

MAX, 1931

Max hörte Hanna, bevor er sie sah. Vielmehr hörte er ihre Violine, deren Klang durch das leere Auditorium im Lyzeum schnitt: scharf und hell, leidenschaftlich und gewaltig. Er hatte noch nie zuvor eine Violine gehört, außer vielleicht auf einer Schallplatte, die er als Junge auf dem Grammofon seiner Mutter abgespielt hatte. Der echte Klang, der in dem großen, leeren Raum widerhallte, war so schön und intensiv, dass Max für einen Moment erstarrte.

Max hatte ganz zufällig die Tür zu diesem Hörsaal geöffnet. Er hatte nach Herrn Dettweilers Vorlesung über Betriebswirtschaft gesucht, die, wie sich herausstellte, in einem anderen Hörsaal stattfand, in einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Rasenfläche. Das Lyzeum in Gutenstadt war groß und unübersichtlich, und Max hatte den Lageplan nicht richtig gedeutet. Er landete im entgegengesetzten Teil des Komplexes, da, wo Hanna gerade auf der Bühne probte.

Er ging auf sie, auf die Musik zu. Ihre Augen waren geschlossen. Sie war klein, aber ihr Körper wiegte sich mit den Noten, die sie spielte – eine Kraft wie ein riesiger Windstoß, der sie hin und her bewegte und dennoch niemals umwerfen würde. Sie hatte die Musik und das Instrument unter Kontrolle. Das sah er ganz deutlich, obwohl er nichts über Musik oder Geigen wusste. Diese Frau beherrschte die Musik. Nicht umgekehrt.

Sie beendete ihren Vortrag mit einem kräftigen Bogenstrich, öffnete dann die Augen und sah ihn keine zehn Meter von der Bühne entfernt stehen. Während des Zuhörens war er näher und näher gekommen. Sie legte die Hand über den Mund. Schockiert? Verängstigt? Wütend?

»Ich … Verzeihung«, stammelte er. »Ich habe den falschen Hörsaal erwischt.« Plötzlich schämte er sich dafür, in ihren Raum eingedrungen zu sein. Es war keine öffentliche Aufführung. Ihre Musik an diesem Morgen war Privatsache gewesen. Er fühlte sich wie ein Eindringling, drehte sich um und rannte davon.

Erst als er auf der anderen Seite der Rasenfläche das richtige Gebäude betrat, kam ihm der Gedanke, dass er sich hätte vorstellen und nach ihrem Namen fragen sollen. Wegen des Klanges dieser Geige, ihrer Geige. Er ging ihm nicht aus dem Kopf.

Eigentlich wollte Max an diesem Vormittag Professor Dettweilers Wirtschaftsvorlesung besuchen. Er war zwar kein Akademiker, aber zu lernen und zu lesen gefiel ihm.

Sein Vater hatte eine kleine Buchhandlung im Zentrum von Gutenstadt besessen. Nachdem sein Herz im Frühling zuvor plötzlich stehen geblieben war, mitten im Gespräch mit einem Kunden, hatte Max den Laden übernommen. Seine Mutter war gestorben, als er erst zehn gewesen war. So gab es nach dem Tod des Vaters niemanden sonst.

Max hatte keine andere Wahl, als den Laden weiterzuführen. Selbst wenn er eine gehabt hätte, hätte er sich für das entschieden, was ihm übergeben wurde, denn er liebte das Geschäft seines Vaters. Den Geruch von Büchern, Tinte, Papier und Buchbinderleim. Die Kunden in der Stadt, die nach Geschichten und Vorschlägen suchten. Max fühlte sich wohl in diesem Leben, in dem vertrauten Ort Gutenstadt, wo er aufgewachsen war, nur eine Zugstunde westlich von Berlin.

In der Buchhandlung lief es inzwischen ruhiger als früher. Deshalb hatte Max sich bei Herrn Dettweiler in der Wirtschaftsvorlesung eingeschrieben. Es war ihm mehr als einmal in den Sinn gekommen, dass er die Buchhandlung möglicherweise nicht ewig weiterführen konnte, dass er vielleicht noch etwas anderes lernen musste. Eine Fortbildung in Wirtschaft erschien ihm wie ein guter Anfang. Zumindest konnte sie ihm dabei helfen, die Buchhandlung über Wasser zu halten.

Mitten in Dettweilers Vorlesung schlich er sich in den richtigen Hörsaal und bemühte sich, nicht aufzufallen. Die meisten Plätze waren besetzt. Im vorderen Teil des Raums stand Dettweiler, ein älterer, dicker Glatzkopf mit Brille, der lebhaft vortrug und eine Gleichung an die Tafel kritzelte. Die Studenten um Max herum hörten aufmerksam zu und machten sich Notizen. Er versuchte der Vorlesung zu folgen. Es war einige Jahre her, dass er die Schule verlassen hatte. Um ehrlich zu sein, er hatte Literatur mehr geschätzt als Mathematik und Naturwissenschaften. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Frau auf der anderen Seite der Rasenfläche und ihrem Geigenspiel. Würde er sie noch antreffen, wenn er sofort dorthin zurückging? Er wollte sie nach ihrem Namen fragen und danach, ob sie Bücher oder Kaffee mochte. Jawohl, er würde sie auf einen Kaffee einladen.

Er stahl sich aus dem Hörsaal, rannte über den Rasen und zurück in das Auditorium, in dem sie auf der Bühne gespielt hatte.

Der Raum war leer. Max hatte seine Chance vertan.

Max lebte in einer kleinen Dreizimmerwohnung über der Buchhandlung in der Hauptstraße von Gutenstadt und musste etwa zehn Minuten mit der Straßenbahn zum Lyzeum fahren. Die Wohnung enthielt viele Sachen seines Vaters und einige seiner Mutter. Was einmal das Leben seiner Eltern gewesen war, war nun zu Max’ Leben geworden, mit Ausnahme des dumpfen Schmerzes der Einsamkeit, der ihn jeden Abend überkam.

Die Buchhandlung befand sich im Einkaufsviertel und lag neben Feinsteins Bäckerei und gegenüber dem Fischgeschäft von Herrn Sokolov. Deswegen mangelte es ihm nie an gutem Essen, an Gesellschaft jedoch schon. Zumindest, seit sein Vater nicht mehr da war. Seine Eltern waren nie alleine gewesen. Zuerst hatten sie einander gehabt. Später hatte der Vater Max gehabt. Max selbst hatte zwar Freunde, aber das war nicht dasselbe.

Als Max an diesem Vormittag vom Lyzeum nach Hause kam, durchsuchte er den Schrank im Schlafzimmer, bis er das alte Grammofon seiner Mutter und die dazugehörigen Schallplatten fand. Alles war staubig, weil es nicht benutzt wurde. Er bezweifelte, dass die Platten funktionierten. Doch er legte eine auf, und tatsächlich ertönte eine Opernstimme, hoch und weit entfernt und kratzig. Das klang überhaupt nicht wie die Geigenmusik, die er gehört hatte. Nicht einmal annähernd. Und er spürte es wieder in seinem Bauch. Diesen Schmerz, diese Leere.

Max öffnete die Buchhandlung um zwölf Uhr, wie jeden Tag außer sonntags, und richtete die Bücher in den Regalen aus. Plötzlich fiel sein Blick auf den Schrank hinten im Laden. Sein Vater hatte vor Jahren ein Schloss installiert und ein Schild an die Schranktür gehängt, auf dem er die Kunden aufforderte, sich von dem Schrank fernzuhalten: Achtung! Das Schild hing noch dort, aber es war nicht mehr sichtbar, weil Max ein paar Monate zuvor ein Bücherregal vor die Schranktür gerückt hatte.

Er hatte diese Tür nur einmal geöffnet. Im Juni, nur einen Monat nachdem sein Vater gestorben war. Der Schmerz war frisch gewesen, und das Geschäft flaute bereits ab. Die allgemeine Wirtschaftslage war schlecht, und die Leute mussten ihr spärliches Geld für Nahrungsmittel ausgeben anstatt für Bücher. Außerdem hatte sich seine Freundin Edda gerade von ihm getrennt, und er tat sich selbst leid. Er hatte sich gefragt: War es das gewesen? War das alles, was er vom Leben erwarten konnte? Oder kommt da noch etwas?

Die Glocke über der Ladentür läutete und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die andere Seite des Ladens. Zu seinem Entsetzen und seiner Freude betrat sie seine Buchhandlung. Das schöne Mädchen, das im Lyzeum Geige gespielt hatte.

Er starrte sie mit leicht offenem Mund an. Sie war größer als gedacht, nur einen Kopf kleiner als er selbst. Ihr braunes Haar war hinten am Kopf zu einem Knoten geschlungen. Einige widerspenstige Locken hatten sich gelöst und fielen nach vorne über ihr herzförmiges Gesicht. Sie schob sie geistesabwesend zurück.

»Sie haben dies hier vergessen«, sagte sie brüsk. »Als Sie heute Morgen … Was haben Sie da eigentlich gemacht? Mich ausspioniert, oder so?« Sie hielt ein Buch hoch.

Erst in diesem Augenblick erinnerte er sich daran, dass er es in der Hand gehabt hatte, als er auf sie zugelaufen war. Er hatte es als Lektüre dabeigehabt und es wohl im Hörsaal abgelegt. Wie alle Bücher, die er im Geschäft verkaufte, trug auch dieses einen Stempel mit dem Namen und der Adresse des Geschäfts im hinteren Umschlag. Ein Kniff, wie sein Vater es genannt hatte, um die Kunden daran zu erinnern, nach der letzten Seite zurückzukehren und ein weiteres Buch zu kaufen.

Max nahm das Buch entgegen und bedankte sich bei ihr. »Ich bin Max«, sagte er. »Max Bissinger.«

»Ach, dann ist das also Ihr Laden?« Sie fuhr mit den Fingern über eine Reihe von Buchrücken in einem Regal. Buchhandlung Bissinger. Die Worte, die auf der Rückseite des Buches eingestempelt waren, prangten auch auf der Glasfront des Geschäfts.

»Ja, er gehörte meinem Vater, der kürzlich verstorben ist.«

Sie sah vom Bücherregal auf, und ihr Gesichtsausdruck wurde freundlicher. »Oje, das tut mir leid.« Sie ging auf ihn zu und streckte die Hand aus. »Hanna Ginsberg.«

Er nahm ihre Hand und schüttelte sie. Ihre Finger waren zierlich und dünn, fühlten sich aber ziemlich stark an. »Ich wollte Sie nicht stören. Ich hatte bloß den falschen Raum erwischt. Ihr Geigenspiel – es ist so schön.«

Sie lächelte zaghaft und zog die Hand weg. »Nun, das ist sehr nett von Ihnen, aber Herr Fruchtenwalder, mein Lehrer, findet, es sei nicht gut genug für das Sinfonieorchester.«

»Nicht gut genug? Ist der verrückt?«, fragte Max hastig.

Sie lachte. »Sie sind auch Geiger?«

Er schüttelte den Kopf. »Ihr Spiel ist wunderbar. So etwas habe ich noch nie gehört.«

»In und um Berlin gibt es Hunderte Geiger. An mir ist nichts Besonderes«, erwiderte sie.

»Das stimmt nicht«, sagte Max. »Ich glaube, Sie sind etwas Besonderes, Hanna Ginsberg.«

Sie lachte wieder und sagte ihm, dass sie gehen müsse, sie sei spät dran.

»Werden wir uns wiedersehen?«, rief er ihr nach, aber sie antwortete nicht. Stattdessen winkte sie mit einer Hand und machte sich auf den Weg nach draußen.

Die Schmetterlingshaarspange, die ihre Locken zusammenhielt, fing das Sonnenlicht des späten Nachmittags ein und funkelte so hell, dass er kurz geblendet wurde.

Er blinzelte, und dann war sie fort.

HANNA, 1946

Als ich die Augen öffnete, befand ich mich auf einem Acker. Der Himmel war schwarz. Eine Million Sterne glitzerten über mir, und mein erster Gedanke war: Wie schön!

Eine Nacht wie Diamanten und Beethovens Violinkonzert in D-Dur. Da wurde mir bewusst, dass ich meine Geige in der Hand hielt. Ich umklammerte sie mit der rechten Hand. Meine Finger waren taub, kalt und zitterten. Die Hände bebten so sehr, dass die Geige mein Bein traf und das harte Holz gegen meine Kniescheibe schlug.

»Max«, rief ich. »Max?«

Meine Stimme zitterte, und die Worte hallten zurück zu mir. Keine Antwort. Nur Stille und der Nachthimmel und die Sterne. Und meine Geige?

Gerade noch war ich in der Buchhandlung gewesen und spielte Mahler. Max saß hinter der Theke und las ein Buch. Spiel mir das Feuer, Hanna. Er sah mich genauso an, wie er mich immer ansah, wenn wir nebeneinander im Bett lagen und seine grünen Augen in Flammen standen, als wären Musik und Verlangen dasselbe. Feuer.

Ich hatte ihn angelächelt und dann die Augen geschlossen, um zu spielen. Die Musik überwältigte mich. Da war dieses schreckliche Geräusch, ein hämmerndes Klopfen gegen das Schaufenster. Männerstimmen. Die SA. Sie schrien, dass wir aufmachen sollten. Dass wir das Gesetz gebrochen hätten. Was hatten wir getan?

Der Laden war geschlossen. Max hatte die Tür abgesperrt. Ich mochte die Akustik im Laden, deshalb übte ich dort abends oft. Die Männer rüttelten an der Tür und warfen sich dagegen. Das Schloss würde nicht mehr lange halten.

»Du musst dich verstecken«, sagte Max und eilte in den hinteren Teil des Ladens. Weitere Schläge gegen das Schaufenster. Ich rannte zu Max. Er packte mich, zog mich an sich und umarmte mich ganz fest.

Das war das Letzte, woran ich mich erinnerte, in der sternenklaren Nacht auf diesem Acker. Wie um alles in der Welt war ich hierhergekommen? Wo war ich?

»Max«, rief ich erneut, diesmal leiser. Wegen der SA. Was, wenn sie nach mir suchten?

Der Acker war weit und still, die Nachtluft frisch und kühl. Ich zitterte. Irgendwo in der Ferne hörte ich eine Eule, das war alles. Ich zwickte mich in den Arm, und es tat weh, aber nichts änderte sich. Nein, ich träumte nicht. Ich war hier, wo auch immer das war. Ganz alleine.

Ich ging los. Was konnte ich sonst auch tun? Ich konnte nicht auf diesem Acker bleiben und auf Max warten oder auf diese schrecklichen SA-Männer, die – was eigentlich wollten? Mich verhaften? Mich ermorden? Was genau war mein Verbrechen? Ich zitterte wieder, hielt aber meine Geige fest in der Hand und ging weiter.

Ich ging und ging und ging. Der Himmel verwandelte sich von Schwarz über Perlgrau in ein Orangeblau. In der Ferne sah ich einen Kirchturm, der sich über dem Hügel erhob. Als ich mich näherte, kam mir das Gebäude vertraut vor, wegen der Kirche, die ich vom Zugfenster aus sah, wenn ich in Richtung Berlin fuhr. Aber jene Kirche war weiß, diese hier braun. Meine Beine waren so müde, aber irgendwie würde ich es dorthin schaffen. Sicher konnte mir jemand helfen, zur Buchhandlung zurückzukehren. Max würde sicher wissen, was passiert war. Max würde sich erinnern. Max. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war?

Ich dachte darüber nach, über die letzten Worte, über die letzten Momente mit Max. Doch sosehr ich mich bemühte, ich hatte keine Erinnerung daran, wie ich auf diesen Acker gelangt war.

Als ich die Kirchentür erreichte, war ich durstig und ausgekühlt. Und müde. Mein Kopf schmerzte, und irgendetwas stimmte nicht. Das wusste ich genau. Ich war mir nur nicht sicher, was. Meine Beine waren schwer vor Angst und Erschöpfung.

Hatte die SA die Tür aufgebrochen, mich geschnappt und hierhergebracht? Hatte ich mir den Kopf gestoßen? Konnte ich mich deswegen an nichts erinnern? War ich verletzt?

Ich legte eine Hand an meinen Kopf, an mein Gesicht, aber alles fühlte sich normal an. Keine Beule. Kein Blut. Kein Schmerz.

Ich öffnete die Kirchentür und trat ein. Im Raum standen Holzbänke, alle leer. Ein großes Buntglasfenster an einer Wand war teilweise mit Brettern vernagelt, als wäre es kaputtgegangen und nicht repariert worden.

»Hallo«, rief ich. »Ist da jemand? Hallo?«

Niemand antwortete, und ich war erschöpft. In der Kirche war es wärmer, also ging ich zur nächstbesten Bank, streckte mich auf dem harten Holz aus und drückte meine Geige fest an die Brust. Ich wollte mich ausruhen, nur für eine Weile. Wenn ich aufwachte, war ich vielleicht wieder bei Max.

»Geht es dir gut, mein Kind?« Eine Frauenstimme riss mich aus dem Schlaf.

Wie so oft hatte ich von Musik geträumt. Die Stücke, die ich am intensivsten übte, brannten sich so tief in meinen Kopf, dass sie mich bis in meine Träume verfolgten. Ich träumte von Wagner. Nein, das stimmte nicht. In der Buchhandlung hatte ich Mahler geübt. Meine Finger zuckten unruhig über das Griffbrett der Geige.

Die Frau legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich erschrak und öffnete die Augen. Die Kirche. Der Acker. Max? Ich wich vor ihr zurück.

»Es ist alles gut, du bist in Sicherheit. Ich werde dir nichts tun«, sagte die Frau sanft. »Ich bin Schwester Louisa.«

»Wo bin ich?«

»In der Kirche von Menchen, etwa zwanzig Kilometer weg von Berlin.«

Das war tatsächlich die Kirche, die ich vom Zug aus sah. Vor Kurzem hatte man sie wahrscheinlich in einer anderen Farbe gestrichen, und ich hatte es nicht bemerkt. Oder war sie schon immer braun gewesen?

»Was führt dich zu uns, mein Kind?«

»Ich …« Ich wollte ihre Frage beantworten, wusste aber nicht, wie ich hergekommen war. »Ich muss nach Gutenstadt«, sagte ich. »Zur Buchhandlung Bissinger. Mein – äh …« Ich hielt inne, weil ich daran dachte, dass ich nicht die Wahrheit über Max und mich sagen konnte. »Ich muss dringend – den Laden aufsuchen.«

Sie schüttelte den Kopf und sah mich besorgt an. »Diesen Laden gibt es seit vielen Jahren nicht mehr, mein Kind. Schon seit vor dem Krieg.«

»Nein, ich bin erst gestern Abend dort gewesen. Viele Jahre nach dem Krieg.«

»Meinst du den Ersten Weltkrieg?« Sie setzte sich neben mich auf die Bank. »Ich weiß nicht, was dir zugestoßen ist«, sagte sie. »Was es auch war, mein Kind, es tut mir leid für dich. Jedenfalls bist du in Sicherheit. Alle Lager sind befreit worden. Hitler ist tot.«

Ich verachtete Hitler mit jeder Faser meines Herzens. Er hatte mir meine Mutter und das Orchester gestohlen. Eine große Erleichterung durchströmte mich, als ich hörte, dass er tot war. Aber warum konnte ich mich nicht daran erinnern?

»Wenn Sie mir helfen, zum Bahnhof zu kommen, dann könnte ich den Zug nach Gutenstadt nehmen«, sagte ich.

»Der Bahnhof wurde zerbombt«, sagte Schwester Louisa traurig. »Wir sind froh, dass unsere Kirche noch steht und nur kleinere Schäden zu beklagen hat.« Sie warf einen Blick auf das mit Brettern vernagelte Fenster. »Nun, ich bringe dir etwas zu essen und zu trinken. Danach fahren wir nach Berlin, wo du einen Arzt aufsuchen kannst.«

»Ich brauche keinen Arzt«, beharrte ich.

Tatsächlich nicht? Ich erinnerte mich an nichts. Dazu kamen die Dinge, die Schwester Louisa aufgezählt hatte und die mir völlig neu waren. Hitler war tot, der Bahnhof bombardiert worden. Sie sagte aber auch, dass die Buchhandlung nicht mehr existierte. Das konnte ganz einfach nicht stimmen. Ich war doch gerade erst dort gewesen.

»Ich muss Max finden«, sagte ich leise. Aber wenn sie recht hatte und etwas mit der Buchhandlung, mit Gutenstadt, passiert war – was war dann mit Max?

Ich war nicht religiös und außerdem Jüdin, keine Katholikin. Aber dort in der Kirche sprach ich ein stummes Gebet.

Bitte, bitte, lieber Gott. Mach, dass es Max gut geht.

MAX, 1931

Am nächsten Morgen kehrte Max ins Lyzeum zurück, obwohl er erst in der nächsten Woche wieder eine Vorlesung hatte. Er ging direkt in den Hörsaal, in dem er am Tag zuvor auf die übende Hanna gestoßen war. In der Straßenbahn hatte er sich überlegt, was er zu ihr sagen würde, falls er sie dort antraf. Dass ihr Lehrer völlig falsch lag und ihre Musik das Erstaunlichste war, was er je gehört hatte. Dass er in der Nacht davon geträumt hatte, lange nachdem sie seinen Laden verlassen hatte.

Heute jedoch spielte ein junger Pianist auf der Bühne, Hanna war nirgends zu sehen. Max wartete darauf, dass er seinen Vortrag beendete, und als er fertig war, ging Max zur Bühne und fragte ihn, ob er Hanna Ginsberg kenne.

»Ja«, sagte der junge Mann und sammelte seine Noten ein. Er war ungefähr im Alter von Max, aber sehr dünn, fast schon zu dünn.

Max, der über eine lebhafte Fantasie verfügte, stellte sich vor, dass er nicht genug zu essen hatte. Dass er nur das Klavier hatte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Heutzutage ging es so vielen Leuten schlecht. Max hatte Glück, dass sein Vater ihm ein ordentliches finanzielles Polster hinterlassen hatte. Ohne das hätte er den Buchladen – oder sich selbst – nicht über Wasser halten können.

»Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«, fragte Max.

Der dünne Pianist runzelte die Stirn. »Warum sollte ich es Ihnen sagen?«

»Nun, ich … Sie kam gestern in mein Geschäft, und ich habe das Buch für sie, das sie gesucht hat.« Das war nur eine halbe Lüge, denn Hanna war am Tag zuvor ja wirklich in sein Geschäft gekommen. Wie zum Beweis hielt Max ein Buch hoch, obwohl es jenes war, das er selbst in der Straßenbahn gelesen hatte. Gedichte von Erich Kästner.

»Sie ist nicht da«, sagte der dünne Pianist. »Sie ist bei ihrer Mutter. Die wohnt südlich von hier in einem Mietshaus in der Lindenstraße. Die genaue Adresse weiß ich nicht. Kennen Sie die Ecke?«

Max bedankte sich und machte sich auf den Weg. Er wusste, dass es in dem fraglichen Viertel eine kleine jüdische Gemeinde gab. Er war daran vorbeigegangen. Es war eine Ansammlung von Gebäuden in einer Straße, die mit Linden gesäumt war, zwischen Haltestelle und Lyzeum. Als er sich nun dem Viertel näherte, sah er, dass es in diesen Mietshäusern viele Wohnungen gab. Wie sollte er bloß herausfinden, in welcher Hanna wohnte?

Er lehnte sich gegen eines der vier dreistöckigen Backsteingebäude und seufzte. Er konnte nicht an jede einzelne Tür klopfen. Die Leute würden ihn für verrückt halten. Vielleicht war er ja verrückt? Immerhin jagte er einem Mädchen nach, das er nicht kannte. Alles nur, weil ihre Geige ihn am Tag zuvor verzaubert hatte.

Er hörte ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Musik? Hannas Violine. Die leisen Töne kamen aus dem Haus gegenüber, aus einem halb offen stehenden Fenster im zweiten Stock. Das war Hanna, unverkennbar.

Er folgte der Musik. Quer über den Hof, eine Treppe nach oben, zu der Tür direkt unter dem offenen Fenster, aus dem der Klang ihrer Geige drang, stetig lauter werdend, während Max näher kam. Er klopfte an, und die Musik hörte abrupt auf. Als sich die Tür öffnete, wurde Max klar, dass er keine Ahnung hatte, was er eigentlich sagen wollte.

»Sie?«, sagte Hanna. Sie hielt Geige und Bogen in einer Hand und stemmte die andere Hand in die Hüfte. Offensichtlich genervt hob sie die Brauen. »Verfolgen Sie mich etwa?«

»Ich wollte nur … Ich dachte, vielleicht könnten wir …«, stammelte Max und spürte, dass seine Wangen brannten.

Er klang wie ein Idiot. Normalerweise war er selbstbewusst, redete gewandt mit den Kunden und empfahl ihnen Bücher. Aber Hanna war wunderschön, ganz und gar eingenommen von ihrer Musik und sehr bestimmt. Das schüchterte ihn ein.

»Ich wollte Ihr Üben nicht unterbrechen«, sagte er schließlich. »Ich war nur gerade in der Gegend.«

Hanna trat hinaus und schloss die Tür hinter sich. »Ich kann Sie nicht hereinbitten«, sagte sie leise. »Meiner Mutter geht es nicht gut. Deshalb kann ich leider keine Besucher empfangen.«

»Ach, das tut mir leid.« Er dachte an seine eigene Mutter, die nach Monaten im Bett praktisch nur noch Haut und Knochen gewesen war. Bis zu dem Morgen, an dem sie starb.

»Ich brauche Ihr Mitleid nicht.« Hanna verschränkte die Arme vor der Brust und der Violine, als wäre sie ein Teil von ihr, eine natürliche Erweiterung ihres Körpers.

»Darf ich Ihnen meine Freundschaft anbieten?«, fragte Max.

Hanna lächelte schief. »Ich habe genügend Freunde.«

Auch Max hatte Freunde. Oft ging er mit Johann ein Bier trinken, meist samstags nach Ladenschluss. Johann war inzwischen verheiratet, und seine Elsa erwartete das erste Kind. Max und Johann sahen sich nicht mehr so oft wie damals in der Schule, aber sie trafen sich jeden Samstagabend, manchmal auch unter der Woche. Als sein Vater noch lebte, war Max mit Edda zusammen gewesen. Sie hatte ihn verlassen, weil er nach dem Tod seines Vaters viel Zeit im Laden verbracht hatte. Als ihm auffiel, dass er sie gar nicht so sehr vermisste, kam ihm der Gedanke, dass er sie vielleicht nie richtig geliebt hatte. Hanna war die erste Frau, die seitdem sein Interesse weckte. »Wir könnten einen Kaffee trinken gehen«, schlug Max vor. »So würden wir Ihre Mutter nicht stören.«

Hanna sah skeptisch drein und lehnte sich gegen die Tür. »Ich muss mich auf meine Musik konzentrieren und mich um meine Mutter kümmern. Ich habe keine Zeit für andere Dinge. Und ich brauche auch nichts.« Dann fügte sie hinzu: »Und niemanden.«

»Das klingt furchtbar einsam«, sagte Max.

Hanna verdrehte die Augen. »Wenn ich jemals ein Buch brauche, komme ich bestimmt zu Ihnen in den Laden«, sagte sie. »Jetzt muss ich üben.«

Dann ging sie zurück in ihre Wohnung und schlug Max die Tür vor der Nase zu. Es ging so schnell, dass er nicht einmal mehr protestieren konnte. Max stand da wie vom Donner gerührt, den Mund offen, als die Geige von Neuem einsetzte. Die Musik war einfach faszinierend und ging ihm die ganze Heimfahrt über nicht aus dem Kopf.

An jenem Nachmittag war es ruhig in der Buchhandlung, wie so oft in letzter Zeit. Max hatte langjährige Stammkunden, die bereits zu seinem Vater gekommen waren. Einige Leute trieben immer Geld für Bücher auf, und manchmal machte Max auch Tauschgeschäfte. Die Leute brachten ihre alten Bücher in gutem Zustand zurück und erhielten dafür einen Rabatt auf neue.

Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage kamen jedoch kaum noch neue Kunden. Die extremen Etatkürzungen und die Steuererhöhungen im Jahr zuvor hatten sehr viele Menschen arbeitslos gemacht. Arbeitslose kauften keine Bücher. Das Geld trieb Max allerdings weniger um als die Stille. Es war langweilig, alleine im Laden zu hocken und auf Kunden zu warten. Immer nur hinter der Theke zu sitzen und zu lesen befriedigte ihn auf Dauer nicht.

Der einzige Besucher des Ladens an jenem Tag war kurz nach fünf Johann, der nach der Arbeit vorbeischaute. Johann wollte ein paar Bücher für Elsa mitnehmen. Ihr Bauch wurde von Woche zu Woche dicker und hinderlicher. Max war jedoch klar, dass Johann auch kam, weil er nach ihm sehen wollte. Das hatte Johann sich zur Gewohnheit gemacht, seit Max’ Vater nicht mehr da war.

»Nicht viel los heute?«, sagte Johann und ging zur Theke.

Er war korrekt in Anzug und Krawatte gekleidet, Letztere hatte er nach einem vermutlich langen und anstrengenden Tag gelockert.

Manchmal beneidete Max ihn um all die Dinge, die sich in seinem Leben abspielten. Außerdem hatte er Elsa und das Baby, das bald zur Welt kommen würde.

Max kannte Johann praktisch sein ganzes Leben und Elsa beinahe ebenso lang. Er und Johann waren zusammen in die Grundschule gegangen, und Johann hatte nach der Schule viele Nachmittage in der Buchhandlung verbracht, wo die beiden sich in aufregende Bücher vertieft hatten. Johanns Vater war in sehr jungen Jahren gestorben, und manchmal hatte es sich angefühlt, als wäre Max’ Vater auch Johanns, denn Max und Johann waren fast wie Brüder.

Später, in der Sekundarschule, verliebte sich Johann in Elsa. Später freundete sich Elsa auch mit Max an. Aber jetzt waren sie erwachsen, und Max traf die beiden nicht mehr oft. Johann ging auf die Universität, denn er wollte Anwalt werden, und nebenher verdiente er sich etwas Geld in einer Anwaltskanzlei in der Stadt. Auf diese Weise versuchte er, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Und Max hatte das Geschäft.

»Inzwischen ist nie mehr viel los«, antwortete Max.

Hinter der Theke stand ein Stapel neuer Bücher, die nur darauf warteten, dass Johann sie zu Elsa nach Hause brachte. Billige Liebesgeschichten, Elsas Lieblingsgenre. Er übergab sie Johann. »Danke. Elsa wird sich sicher darüber freuen.«

»He, Jo«, rief Max ihm nach, als Johann mit den Büchern zur Tür ging. Johann blieb stehen und drehte sich um. Er trug den großen Stapel Bücher und sah müde aus. »Ich versuche gerade, mich an etwas zu erinnern. Womit hast du Elsa damals auf dich aufmerksam gemacht?«

»Du meinst, abgesehen von meinem unverschämt guten Aussehen und meiner beeindruckenden Schlagfertigkeit?«

»Ja.« Max verdrehte die Augen. Johann war ziemlich schüchtern und sah eigentlich ganz unscheinbar aus, verfügte aber über einen ausgeprägten Sinn für Humor. »Abgesehen davon.«

»Dein Vater … Habe ich dir das nie erzählt?« Max schüttelte den Kopf. »Ich erzählte ihm, dass ich ein Mädchen nett fand, sie mich aber links liegen ließ. Daraufhin gab er mir ein Buch, das ich ihr schenken sollte. Das sei der richtige Weg, ein Frauenherz zu erobern.«

Johann lächelte, als er die Erinnerung wiederaufleben ließ, und auch Max war gerührt. Er stellte sich vor, wie sein Vater hinter der Theke stand, jene Worte zu Johann sagte und genau das richtige Buch für Elsa auswählte.

»Wir sehen uns am Samstag«, sagte Johann und verließ den Laden.

»Grüß Elsa herzlich von mir«, rief Max ihm nach. Dann durchstöberte er die Regale, auf der Suche nach dem perfekten Buch.

HANNA, 1946

»Dissoziativer Gedächtnisverlust«, erklärte der Herr Doktor und leuchtete mit einem runden weißen Lämpchen in meine Augen. Ich war für einen Moment geblendet und blinzelte. Er schaltete das Lämpchen aus und trat einen Schritt zurück. »Ich sehe keine Hinweise auf eine Verletzung. Ihre Pupillen funktionieren normal. Kein Gehirntrauma.«

Dissoziativer Gedächtnisverlust?

»Was bedeutet das?«, fragte ich.

Der Herr Doktor war ein älterer Mann, der beinahe zerbrechlich wirkte. Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber dem Untersuchungstisch und nahm das Stethoskop ab. Er sprach in freundlichem Ton mit mir und hatte sanfte Hände. Darum fand ich ihn recht sympathisch, obwohl ich ihn erst seit heute Morgen kannte. Doktor Wein, der Arzt in Berlin, der sich bis zuletzt um meine Mutter gekümmert hatte, war nicht mehr da.

»Alle jüdischen Ärzte sind verschwunden«, hatte Schwester Louisa so sachlich verkündet, dass mir kurz der Atem stockte.

»Wohin?«, fragte ich.

Wenn Hitler tot war, dann konnten die jüdischen Ärzte doch sicher wieder praktizieren? Und die Juden waren nicht mehr von der Gesundheitsfürsorge ausgeschlossen?

Aber sie ließ sich nichts weiter entlocken und schlug stattdessen vor, zu Doktor Martin zu gehen, den sie als einen Freund der Kirche bezeichnete.

Jetzt saß der Doktor mir gegenüber und sah ernst drein. »Ich glaube, Sie haben ein schweres Trauma erlebt.«

»Sie sagten doch gerade, kein Gehirntrauma.«

»Ich rede nicht von einem körperlichen Trauma. Sondern von einem seelischen, psychischen Trauma.« Er starrte mich durchdringend an und verschränkte seine dünnen Arme vor der Brust. »Sie sind Jüdin.« Er sprach das Offensichtliche aus, formulierte es nicht als Frage, aber ich nickte trotzdem. »Sie sind nur ein bisschen untergewichtig und bei recht guter allgemeiner Gesundheit. Sie waren wahrscheinlich nicht für längere Zeit in einem Lager.«

Ich dachte daran, was die Nonne gesagt hatte, nämlich dass alle Lager befreit worden waren. Ich wollte nachfragen, was das genau bedeutete. Doch wenn ich das tat, würde der Doktor sicher glauben, dass ich den Verstand komplett verloren hatte.

»Vielleicht haben Sie sich versteckt?«, spekulierte der Arzt.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war in der Buchhandlung Bissinger in Gutenstadt … Mit meinem … Mit Max Bissinger. Ich habe auf der Geige geübt, weil ich nämlich ein wichtiges Probespiel in den Niederlanden habe. Max hat hinter der Theke gelesen.«

»In welchem Jahr war das?«, fragte der Doktor.

Welches Jahr? Er musste wohl den Tag meinen. »Das war am Donnerstag, glaube ich. Ja, es war auf jeden Fall am Donnerstag, weil ich donnerstags meine Stunde bei Herrn Fruchtenwalder hatte. Da ich im Augenblick keinen Unterricht habe, hatte ich an diesem Tag Zeit zum Üben.«

»In welchem Jahr?«, fragte der Doktor ganz sachlich.

»Neunzehnhundertsechsunddreißig«, sagte ich.

»Wissen Sie, welches Jahr wir gerade haben, Hanna?«

»Neunzehnhundertsechsunddreißig?«, sagte ich, obwohl ich zunehmend unsicher wurde.

Traurig schüttelte er den Kopf. »Wir schreiben 1946, Hanna. Sie haben zehn Jahre verloren. Ihr Kopf blockiert diese Jahre. Ich vermute, dass Ihnen in dieser Zeit etwas Schreckliches zugestoßen ist und Sie zu Ihrer letzten glücklichen Erinnerung zurückgekehrt sind. An jenem Abend in der Buchhandlung waren Sie glücklich, nicht wahr?«

Max hatte seine Hände sanft auf meine Schultern gelegt, kurz bevor ich anfing zu üben. Mit den Lippen war er über mein Ohr geglitten, und dann hatte er geflüstert, dass er mich liebte. Es war ein schöner Abend gewesen. Wir hatten gerade zusammen gegessen und aufgehört, uns zu streiten. Ich war glücklich und verliebt.

Kann ein Mensch zehn Jahre einfach so verlieren? Die Zeit war kein falsch einsortiertes Notenblatt oder Max’ Lesebrille, die er ständig verlegte.

»Werde ich sie jemals zurückbekommen?«, fragte ich den Doktor. Ich hatte große Angst vor seiner Antwort und beugte mich erwartungsvoll nach vorne.

Der Arzt überlegte kurz. »Das ist schwer zu sagen«, entgegnete er schließlich. »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.« Er deutete auf die Geige, die ich in den Händen hielt.

Im Auto hatte ich mich geweigert, sie der Nonne zu geben. Die Geige war das Einzige, was ich noch hatte. Das Einzige, was echt war und mir gehörte. Ich würde sie nicht für einen Moment aus der Hand geben.

»Wissen Sie noch, wie man darauf spielt?«, fragte er.

Ich hatte keinen Bogen und war mir nicht sicher, was damit passiert war. Der Gedanke war mir gar nicht gekommen. Konnte es sein, dass ich nicht mehr wusste, wie man spielt? Nein.

»Ich glaube schon«, stammelte ich. »Ich bräuchte einen Bogen.« Ich legte trotzdem die linke Hand auf das Griffbrett der Geige und spielte den Anfang des Mahler-Stücks. »Ja«, sagte ich.

Meine Erinnerung an die Noten war perfekt und klar. Ganz so, als wären tatsächlich nur Stunden und nicht Jahre vergangen, seit ich in der Buchhandlung geübt hatte.

»Nun, das ist ein sehr gutes Zeichen«, sagte der Doktor. »Wirklich ein sehr gutes Zeichen.« Er hob die Hände. »Der Verstand ist ein seltsames Ding. Sie bekommen diese Zeit vielleicht zurück – oder auch nicht.« Er stand auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Sie haben Glück gehabt, Hanna. Eine Jüdin, die heutzutage in Berlin lebt und so gesund ist wie Sie, das sieht man nicht oft.«

Ich schwieg, während ich mit Schwester Louisa zurückfuhr, und betrachtete die Landschaft Berlins und der Außenbezirke. Ein Bauer war so freundlich gewesen, uns auf dem Wagen mitzunehmen.

Nichts war mehr so wie in meiner Erinnerung. Es fehlten ganze Straßenzüge, viele Gebäude. Als wir durch Gutenstadt kamen, fiel mir auf, dass die Wohnungen in der Lindenstraße nicht mehr da waren, in denen ich zusammen mit Julia und Mamele gewohnt hatte. Übrig geblieben war nur die untere Hälfte von Haus drei. Das Dach war völlig verschwunden, als wäre ein großer Sturm darüber hinweggefegt.

»Der Herr Doktor sagt, ich habe zehn Jahre vergessen«, sagte ich zu der Nonne, als sie in die Straße zur Kirche einbog. »Gedächtnisverlust aufgrund eines Traumas.«

Schwester Louisa nickte, schien aber nicht sonderlich überrascht zu sein.

»Wo sind die Juden?«, fragte ich leise.

Sie wandte den Blick ab und schaute geradeaus auf die Straße, obwohl sie das Auto bereits geparkt hatte. »Die, die Glück hatten, sind vor dem Krieg entkommen«, sagte sie.

»Vor welchem Krieg?«, fragte ich.

»Vor dem Zweiten Weltkrieg.«

Ein ganzer Krieg, an den ich mich nicht erinnern konnte? Es war wirklich unfassbar.

Mein Gedächtnis war immer hervorragend gewesen, geradezu umwerfend. Ein kurzes Stück brauchte ich nur ein einziges Mal zu spielen und konnte es auswendig.

»Was ist mit denen, die kein Glück hatten?«, wollte ich von Schwester Louisa wissen.

Sie seufzte, legte den Kopf schief und versuchte zu entscheiden, ob sie es mir sagen sollte oder nicht. »Sie wurden in Arbeitslager geschickt«, raunte sie. Sie senkte ihre Stimme fast zu einem Flüstern. »Viele wurden getötet.«

Ihre Worte waren kaum zu verstehen, aber ich glaubte ihr. Die Atmosphäre war in der Tat angespannt gewesen. Der Hass auf die Juden, der Boykott jüdischer Geschäfte, die Erlasse der Nazis in Bezug auf alle Nichtarier.

Ich wusste, dass politische Gefangene in Arbeitslager gesteckt wurden. Schon bis 1936 waren Juden von vielem ausgeschlossen worden: von der Krankenversicherung, den meisten kulturellen Vereinigungen, dem Militär. Vom Sinfonieorchester. Sogar von der Liebe.

Aber ins Arbeitslager? Sie wurden getötet? Warum hatte das niemand verhindert? Wie hatten die Menschen, die ich in Gutenstadt und Berlin gekannt hatte, dies zulassen können?

Die Tränen stiegen mir in die Augen, als ich an die Juden dachte, die ich gekannt hatte. Nicht nur Doktor Wein und Herr Fruchtenwalder, sondern auch meine Kommilitonen im Lyzeum, meine Freundin Gerda, die in der Grundschule zusammen mit mir die Geige gelernt hatte, ihr Freund Hans und ihr Vater, der Konditor Brichtmann. Fritz, der Pianist, der mich bei Probespielen begleitet hatte. Waren sie tatsächlich alle fort?

Meine Schwester Julia war kurz nach Mameles Tod mit ihrem Mann Friedrich nach London gezogen. Sie hatte mich mitnehmen wollen, weil sie befürchtete, dass Deutschland für Juden nicht mehr lange sicher war. Doch ich hatte mich geweigert, meine Chance beim Sinfonieorchester aufzugeben und Max zu verlassen. Ich konnte mich noch lebhaft an die Worte erinnern, die wir draußen auf der Treppe vor unserer Wohnung in der Lindenstraße ausgetauscht hatten.

»Du setzt dein Leben und deine Karriere aufs Spiel, und wofür? Für die Musik? Für diesen unzuverlässigen Menschen?« Julia fand Max unzuverlässig. Ich dagegen kannte ihn als einen großzügigen, gut aussehenden und brillanten Mann.

Julia und ich hatten uns an diesem Nachmittag heftig gestritten und danach monatelang keinen Kontakt mehr gehabt. Sie hat recht gehabt, dachte ich jetzt. Nicht, was Max anging, sondern die Gefahr. Wenigstens war sie nicht in Deutschland gewesen, als es passierte.

Doch Max? Max war kein Jude. Aber er war nicht bei mir. Ich spürte diese kalte, harte, eisige Wahrheit in meiner Brust. Ein seelisches Trauma. Wann war ich zuletzt richtig glücklich gewesen? War Max etwas Schreckliches zugestoßen, und mein Verstand wollte nicht, dass ich mich daran erinnerte?

»Sie sagten, der Buchladen in Gutenstadt sei verschwunden?«, fragte ich die Nonne. »Wann war das? Was ist passiert?«

»Er ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt«, antwortete Schwester Louisa sachlich. »Die ganze Hauptstraße ist 1938 abgebrannt.«

Bis auf die Grundmauern niedergebrannt? 1933 hatte in Berlin eine große Bücherverbrennung stattgefunden. Ich versuchte, den Geruch nach Rauch auszublenden, während ich mit meinen Quartett spielte, ein paar Straßen entfernt. Wir hatten kaum Publikum für unser Konzert. Gleichzeitig waren Tausende und Abertausende gekommen, um sich Goebbels anzuhören, der verkündete, der jüdische Intellektualismus sei tot, während er Bücher von Freud und anderen verbrennen ließ.

Max fürchtete, dass sie ihn holen würden, seine Bücher, seinen Laden. Damals hatten Julia und Friedrich zum ersten Mal über einen Umzug nach London gesprochen. Friedrich war Doktorand in Biologie und hatte zum Zeitpunkt der Verbrennung an einem Buch geschrieben.

Aber Max war kein Jude. Er hatte penibel darauf geachtet, nach dem Feuer nur erlaubte Bücher im Laden auszustellen. Die anderen, die verbotenen, bewahrte er hinten in einem Schrank auf und ging nur dorthin, wenn ein vertrauenswürdiger Kunde ihn darum bat.

Hatten die Soldaten sie gefunden? Hatten sie das Schild an der Schranktür ignoriert? Waren sie hereingestürzt, hatten die verbotenen Waren gefunden, Max für seine Verbrechen getötet und die Buchhandlung, die ganze Straße, niedergebrannt? Ich schauderte bei dem Gedanken. Tief in meinem Inneren konnte ich nicht glauben, dass es wahr sein sollte. Wenn es so passiert wäre, würde ich mich daran erinnern. Das wusste ich genau.

»Komm, gehen wir hinein.« Es war kühl auf dem Anhänger gewesen, und Schwester Louisa hauchte sich in die Hände. Ich folgte ihr. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.