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Fußnoten

Rolf Selbmann, Erläuterungen und Dokumente. Kleider machen Leute, Stuttgart 1984, S. 51 f.

»Vorrede Gottfried Kellers zum zweiten Teil der Leute von Seldwyla«, in: Gottfried Keller, Kleider machen Leute, hrsg. von Wolfgang Pütz, Stuttgart 2017, S. 59 ff. (Reclam XL. Text und Kontext. 19378.)

Selbmann (s. Anm. 1), S. 48.

Ebenda, S. 49.

Rolf Selbmann, Gottfried Keller. Romane und Erzählungen, Berlin 2001, S. 77; Klaus Jeziorkowski, Gottfried Keller. Kleider machen Leute. Text, Materialien, Kommentar, München/Wien 1984, S. 106 ff.

Paul Wüst, »Entstehung und Aufbau von Gottfried Kellers Seldwyler Novelle Kleider machen Leute«, in: Mitteilungen der literaturhistorischen Gesellschaft Bonn 9 (1914) H. 4/5, S. 105.

Manfred Lurker (Hrsg.), Wörterbuch der Symbolik, 5., durchges. u. erw. Aufl. Stuttgart 1991, S. 213.

Vgl. Stephan Kohl, Realismus: Theorie und Geschichte, München 1977, S. 131 ff.

Vgl. Hugo Aust, Literatur des Realismus, Stuttgart 1977, S. 34.

Vgl. Kohl (s. Anm. 8), S. 109 f.

Vgl. Rolf Selbmann (s. Anm. 1), S. 65.

Friedrich Theodor Vischer, »Gottfried Keller«, in: F. Th. V., Altes und Neues (H. 2), Stuttgart 1881, S. 154156.

Bernd Neumann, »Gottfried Keller: Kleider machen Leute«, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart 1997, S. 246.

Neumann (s. Anm. 13), S. 255.

Hans Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider, übers. von Heinrich Denhardt, Stuttgart 1987. Auch online verfügbar: gutenberg.spiegel.de/buch/marchen-1227/114 oder http://www.zeno.org/Literatur/M/Andersen,+Hans+Christian/M%C3%A4rchensammlung/M%C3%A4rchen/Des+Kaisers+neue+Kleider (Stand: 298. 2018).

Andersen (s. Anm. 15), S. 36.

Andersen (s. Anm. 15), S. 38.

Andersen (s. Anm 15), S. 41.

Ein junger Die HauptpersonenMann macht sich zu Fuß auf den mühseligen Weg in die kleine schweizerische Provinzstadt mit dem verheißungsvollen Namen Goldach, um seinem glücklosen Leben ein neues Ziel zu geben. Er friert, ist völlig ausgehungert, und er besitzt – abgesehen von wenigen Habseligkeiten, zu denen allerdings auch ein Pelzmantel und eine Pelzmütze gehören – nichts, womit sich Essen und Unterkunft bezahlen ließen.

Dies könnte der Beginn einer konventionellen Geschichte sein, wie sie der Kein Prototyp des amerikanischen Traumsamerikanische Mythos vom sozialen Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär erzählt. Dem Muster des American Dream entsprechend, würde der Held, in diesem Fall ein »armes Schneiderlein« (S. 3), alleine durch Mut, Verzicht und Leistung zu Wohlstand und Besitz gelangen.

Doch anders als man erwarten könnte, erzählt die Novelle davon, wie der Protagonist nicht durch eigene Verdienste, sondern durch bloße Zufälle zum Shootingstar einer bürgerlichen Gesellschaft wird, bevor man ihn doch als Der Held als AntiheldScharlatan enttarnt und er noch tiefer als zuvor in den sozialen und existenziellen Abgrund zu stürzen droht. Wenzel Strapinski, so der Name des Schneiders, hat es fast ausschließlich durch sein »edles und romantisches Aussehen« (S. 3) geschafft, von einer leichtgläubigen und sensationslüsternen Öffentlichkeit für jemanden gehalten zu werden, der er in Wahrheit nicht ist, aber gerne sein möchte.

Der berühmte Der Titel der GeschichteTitel von Gottfried Kellers Novelle aus dem Jahre 1873/74 weist bereits auf das zentrale

Zu einer Täuschung gehören jedoch immer zwei Seiten: Schein und Seinjemand, der täuscht, und jemand, der sich täuschen lässt. Kellers Novelle nimmt beide Seiten in den Blick. Indem sie die moralischen Verwerfungen eines Menschen zeigt, der materiellen Reichtum, gesellschaftliches Ansehen und privates Glück durch Betrug zu erlangen versucht, verurteilt sie die bewusste Produktion von Schein als individuelle Verfehlung. Zugleich aber kritisiert sie auch diejenigen, die dumm oder naiv genug sind, dem Glanz und der Schönheit der Illusion zu trauen und sich blenden zu lassen. Kleider machen Leute ist insofern auch eine Gesellschaftssatire, welche die Leichtgläubigkeit und Verführbarkeit der Menschen als Ausdruck von deren Oberflächlichkeit und Unvernunft offenbart.

Die Geschichte, die Gottfried Keller erzählt, ist außerdem ein Ehrlichkeit und SolidaritätPlädoyer für eine solidarische Gemeinschaft. Wenzel Strapinski wird erst wieder in die Gesellschaft integriert, als er sich nach seiner

Auch heute ist die Novelle aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von unveränderter Aktualität. Dies kann der Leser leicht nachvollziehen, wenn er die Selbsttäuschung der Aktualität der NovelleMenschen durch den Glauben an leere Versprechungen in den Blick nimmt. Es bleibt dem heutigen Leser selbst überlassen, entsprechende Glücksverheißungen – wie beispielsweise aus dem Bereich der Mode und der Markenartikel, der (sozialen) Medien oder des materiellen Wohlstands der Konsumgesellschaft – daraufhin zu prüfen. Jedenfalls wird dieser »Glücksbegriff« am Ende der Novelle in Frage gestellt, wenn der »rund und stattlich« gewordene Strapinski dem Leser »so gar nicht mehr träumerisch« (S. 57) erscheint, sondern zu einem biederen Geschäftsmann und Spekulanten geworden ist.

Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute erzählt die tragikomische Geschichte eines Mannes, der aus einem elenden Zustand der unvermittelten Arbeits-, Mittel- und Obdachlosigkeit heraus in abenteuerliche Lebensumstände gerät, an deren Ich-Suche und IdentitätsfindungEnde er die Liebe seines Lebens findet und wieder in die bürgerliche Gesellschaft zurückkehren kann.

Nach dem AusgangssituationKonkurs seines Arbeitgebers macht sich der Schneider Wenzel Strapinski »[a]n einem unfreundlichen Novembertage« (S. 3) von seinem bisherigen Wohnort Seldwyla aus zu Fuß auf den Weg zu der »kleinen reichen Stadt« (S. 3) Goldach, um dort eine Arbeitsstelle zu finden. Sein trotz Radmantel und Pelzmütze erbarmungswürdiges Aussehen und der beginnende Regen veranlassen einen Kutscher, ihm einen Platz in dem »neuen und bequemen Reisewagen« (S. 4) anzubieten, der zu einem Schlossherrn »in der Ostschweiz« (S. 4) überführt werden soll.

Beim Eintreffen im Gasthof »zur Waage« (S. 4) in Goldach wird das »arme Schneiderlein« (S. 3) wie ein vornehmer und vermögender Mann behandelt. Der Grund für diesen Fehleinschätzung mit FolgenIrrtum seitens der ihn empfangenden Personen liegt nicht nur in dem Umstand, dass er der Luxuskarosse eines Adligen entsteigt; vielmehr lassen sich die Menschen auch von dem »sorgfältig gepflegt[en]« (S. 3) Aussehen und der vornehmen Kleidung des Fremden blenden, dem ein Radmantel und eine Pelzmütze den Anschein eines

Der Held wird zum HochstaplerZwar versucht der vermeintliche »Prinz oder Grafensohn« (S. 5) der unerwarteten und geradezu aufdringlichen Gastfreundschaft der Goldacher Bürger zu entkommen, doch nach einem gescheiterten Fluchtversuch fügt er sich in die ihm nicht zustehende Behandlung als hochstehende Persönlichkeit. So verzehrt er zunächst zögerlich ein aus mehreren Gängen bestehendes Menü, bis er schließlich, in der Annahme, dass sein Betrug ohnehin bald aufgedeckt werde, seinen großen Hunger und Durst ohne weitere Hemmungen stillt.

Durch eine Lüge des Kutschers, der sich einen Spaß erlaubt und behauptet, dass es sich bei dem fremden Mann um den polnischen Grafen Strapinski handele, fühlen sich die Wirtsleute zu weiteren Bemühungen um dessen leibliches Wohl angetrieben.

Schnell spricht sich die Anwesenheit des »Grafen« herum. Von den reichen Bürgern der Stadt, welche den angeblichen Adligen zu gemeinsamen Vergnügungen auf das Gut des Amtsrates einladen, durchschaut lediglich der Buchhalter Melchior Böhni als intriganter GegenspielerBöhni die falsche Identität des Fremden, da ihm dessen »wunderlich zerstochene[n] Finger« (S. 16) auffallen. In der sensationsgierigen Hoffnung auf einen neuen Skandal im ereignislosen Alltag der Stadt Goldach behält Böhni seine Entdeckung für sich und setzt sogar beim Kartenspiel Geld für Strapinski ein, um zu verhindern, dass auch die anderen Geschäftsleute

An dem Vorhaben, mit dem beim Spiel gewonnenen Geld seine Schulden im Gasthof zu begleichen und sogleich die Stadt zu verlassen, wird Strapinski ein weiteres Mal gehindert, als er im Haus des Amtsrates auf dessen Ein Fräulein betritt den SchauplatzTochter Nettchen trifft und sich in sie verliebt. Er nimmt daher die Einladung des Hausherrn zum Abendessen an und ist glücklich, an der Seite von Nettchen Platz nehmen zu dürfen.

Wenn er auch nicht ohne gelegentliche Zweifel und Gewissensnöte ist, so übernimmt der Schneider schließlich doch ganz die RollenanpassungRolle des Grafen, den man in ihm zu sehen glaubt. Zugleich deuten die Menschen, mit denen er Umgang hat, sein nach wie vor unsicheres Verhalten als Ausdruck seiner Vornehmheit.

Zurück im Gasthof zur Waage, vollzieht Wenzel Strapinski den endgültigen Wendepunkt hin zu einem vorsätzlichen Täuschungsmanöver, als er gegenüber dem Wirt mit den Worten »Man muss meine Spur verlieren für einige Zeit« (S. 21) gezielt den Eindruck erweckt, als ob ihn ein dunkles Geheimnis umgebe. Auf diese Weise verhindert er, dass man sich auf die Suche nach dem inzwischen abgereisten Kutscher begibt, da man annimmt, dass dieser es versäumt habe, das persönliche Gepäck des angeblichen polnischen Grafen abzuladen. Durch seinen irreführenden Hinweis auf eine ihm persönlich drohende Gefahr halten die Einwohner von Goldach den Fremden nun

Von diesem Zeitpunkt an hat Strapinski auch den Mut, aus dem Gasthof zu gehen und die Stadt zu besichtigen. Vor den Toren der Stadt angekommen, überlegt er noch einmal, seine Reise fortzusetzen und Goldach unbemerkt zu verlassen, doch eine erneute Begegnung mit Nettchen hindert ihn im letzten Augenblick an der Entscheidung, den Betrug zu beenden. Stattdessen treibt er die SelbstinszenierungSelbstinszenierung auf die Spitze, indem er sich den Bürgern von Goldach weiterhin als wohlhabender Adliger präsentiert.

Eine unerwartete finanzielle Zuwendung »von einem fremden Kollekteur« (S. 28) gibt ihm die Möglichkeit, die Schulden, die er gegenüber den Einwohnern von Goldach angehäuft hat, mit einem Schlag zu begleichen. Unter dem Druck der aufkommenden Gerüchte, dass er die Tochter des Amtsrats heiraten werde, kündigt er zwar während eines festlichen Abends seine unmittelbare Abreise an, lässt jedoch von der Umsetzung dieses Vorhabens ab, als ihm Nettchen mit einer tränenreichen Umarmung ihre Verzweiflung über den bevorstehenden Abschied zeigt. Die Von der Verliebtheit zum HeiratsantragLiebe, die Wenzel Strapinski spätestens ab diesem Moment für die junge Frau empfindet, veranlasst ihn, »am Morgen in aller Frühe« (S. 30) tatsächlich beim Amtsrat um die Hand von dessen Tochter anzuhalten.

Währenddessen bereitet Melchior Böhni, der

Der anlässlich der Karnevalszeit aus geschmückten Wagen bestehende Maskentanz der SeldwylerMaskenzug enthüllt mit satirischen »Anspielungen auf das Schneiderwesen« (S. 33) die wahre Identität des Mannes, der gerade mit großer Pracht seine Verlobung feiert. Im Gasthaus angekommen, treffen beide Gesellschaften aufeinander. Ein »Schautanz« (S. 35), den die Einwohner von Seldwyla zur Belustigung der Brautgesellschaft aufführen, enthüllt Strapinskis Betrug und lässt alle Anwesenden endgültig begreifen, dass die Darbietungen der Karnevalsgesellschaft einzig dem Zweck dienen, das falsche Spiel des angeblichen polnischen Grafen aufzudecken und diesen der Lächerlichkeit preiszugeben.

Unter dem Schock, den die Enthüllungen bei ihm und bei Nettchen erzeugt haben, Wenzel verlässt die Bühne seines eigenen Schauspielsverlässt Strapinski unter Tränen den Ort des Geschehens und macht sich in der eisigen Winternacht zu Fuß auf den Weg Richtung Seldwyla. Im paradoxen Gefühl der eigenen Schande und Unschuld zugleich wird er sich dabei auch der nun verloren scheinenden Liebe bewusst,