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Anne Applebaum

ROTER HUNGER

Stalins Krieg gegen die Ukraine

Aus dem Englischen
von Martin Richter

Siedler

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Red Famine. Stalin’s War on Ukraine« bei Doubleday, New York.

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1. Auflage

Copyright © 2017 Anne Applebaum

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Bert Hoppe

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildung: 123RF/Jim Mills; Fotolia.com/snyGGG

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15964-1
V002

www.siedler-verlag.de

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Den Opfern

INHALT

Vorwort

EINLEITUNG
Die ukrainische Frage

KAPITEL 1
Die ukrainische Revolution, 1917

KAPITEL 2
Rebellion, 1919

KAPITEL 3
Hunger und Waffenstillstand, die 1920er Jahre

KAPITEL 4
Die Doppelkrise, 1927–1929

KAPITEL 5
Kollektivierung – die Revolution auf dem Land, 1930

KAPITEL 6
Rebellion, 1930

KAPITEL 7
Die Kollektivierung scheitert, 1931/32

KAPITEL 8
Hungerbeschlüsse – Beschlagnahmungen, schwarze Listen und Grenzen, 1932

KAPITEL 9
Hungerbeschlüsse –
Das Ende der Ukrainisierung, 1932

KAPITEL 10
Hungerbeschlüsse – Durchsuchungen und Durchsucher, 1932

KAPITEL 11
Hungersnot, Frühjahr und Sommer 1933

KAPITEL 12
Überleben, Frühjahr und Sommer 1933

KAPITEL 13
Nachwirkungen

KAPITEL 14
Die Vertuschung

KAPITEL 15
Der Holodomor in Geschichte und Politik

EPILOG
Die Wiederaufnahme der ukrainischen Frage

ANHANG

Danksagung

Bibliographie

Bildteil

Bildnachweis

Register

Anmerkungen

Vorwort

Es fehlte nicht an Warnzeichen. Zu Beginn des Frühjahrs 1932 begannen die Bauern der Ukraine zu hungern. Berichte der Geheimpolizei und Briefe aus den Getreideanbaugebieten der ganzen Sowjetunion – dem Nordkaukasus, der Wolgaregion, Westsibirien – erwähnten Kinder mit vor Hunger geschwollenen Bäuchen, Familien, die Gras und Eicheln aßen, Bauern, die ihr Zuhause auf der Suche nach Lebensmitteln verließen. Im März fand eine Ärztekommission in einem Dorf bei Odessa Leichen auf der Straße. Niemand hatte die Kraft, sie zu begraben. In einem anderen Dorf versuchten die örtlichen Behörden, die Todesfälle vor Außenstehenden zu verbergen. Sie leugneten, was geschah, obwohl es sich vor den Augen ihrer Besucher abspielte.1

Manche schrieben direkt an den Kreml und baten um eine Erklärung:

Werter Genosse Stalin, gibt es ein Gesetz der Sowjetregierung, das besagt, Dorfbewohner müssten hungern? Wir, die Kolchosarbeiter, haben nämlich seit dem 1. Januar auf unserem Hof kein Stück Brot mehr gehabt. … Wie sollen wir eine sozialistische Volkswirtschaft aufbauen, wenn wir zum Hungertod verurteilt sind, weil die Ernte erst in vier Monaten kommt? Wofür sind wir an den Fronten gestorben? Damit wir hungern und unseren Kindern beim Verhungern zusehen?2

Andere hielten es für unmöglich, dass der Sowjetstaat dafür verantwortlich sein könne:

Jeden Tag verhungern zehn bis zwanzig Familien in den Dörfern, Kinder laufen weg, und Bahnhöfe sind überfüllt mit fliehenden Dorfbewohnern. Auf dem Land gibt es keine Pferde und kein Vieh mehr. … Die Bourgeoisie hat hier eine echte Hungersnot geschaffen als Teil des kapitalistischen Plans, die ganze Bauernklasse gegen die Sowjetregierung aufzuhetzen.3

Doch die Hungersnot war kein Werk der Bourgeoisie, sondern eine Folge der katastrophalen Entscheidung der Sowjetunion, die Bauern zur Aufgabe ihres Lands zu zwingen, sie zur Arbeit auf Kolchosen zu verpflichten und die wohlhabenderen Bauern, die sogenannten Kulaken (wörtlich: »Fäuste«), aus ihren Häusern zu vertreiben. All diese Maßnahmen, für die letztlich Joseph Stalin, der Generalsekretär der KPdSU, verantwortlich war, und das daraus folgende Chaos hatten das Land an den Rand einer Hungersnot gebracht. Während des ganzen Frühjahrs und Sommers 1932 schickten viele seiner Genossen aus allen Teilen der UdSSR eindringliche Botschaften an ihn, in denen sie die Krise beschrieben. Ukrainische KP-Führer waren besonders verzweifelt, und mehrere schrieben ihm lange Briefe, in denen sie um Hilfe baten.

Viele von ihnen glaubten im Spätsommer 1932, eine größere Tragödie lasse sich noch abwenden. Das Regime hätte um internationale Hilfe bitten können wie bei der Hungersnot 1921. Es hätte die Getreideexporte oder die zu hohen Getreideabgaben stoppen können. Es hätte Bauern in Hungerregionen Hilfe anbieten können – und das tat es in gewissem Maße auch, aber viel zu wenig.

Stattdessen fasste das sowjetische Politbüro, das höchste Entscheidungsgremium der Kommunistischen Partei, im Herbst 1932 eine Reihe von Beschlüssen, die die Hungersnot in den ländlichen Regionen der Ukraine ausweiteten und verschärften. Zugleich hinderte man Bauern daran, die Republik zu verlassen, um Lebensmittel zu suchen. Auf dem Höhepunkt der Krise durchsuchten Teams aus Polizisten und Parteiaktivisten, getrieben von Hunger und Angst und angestachelt durch ein Jahrzehnt voller Hasspropaganda und Verschwörungsrhetorik, die Häuser der Bauern und nahmen alles Essbare mit: Kartoffeln, Rüben, Kürbisse, Bohnen, Erbsen, was immer in Backöfen und Schränken lag, dazu Vieh und Haustiere.

Das Ergebnis war eine Katastrophe: Mindestens 5 Millionen Menschen verhungerten in der ganzen Sowjetunion zwischen 1931 und 1934, darunter mehr als 3,9 Millionen Ukrainer. Wegen ihres Ausmaßes wurde die Hungersnot von 1932/33 in Emigrantenpublikationen damals und später als »Holodomor« bezeichnet, eine Zusammensetzung der ukrainischen Wörter holod (Hunger) und mor (Tötung, Mord).4

Doch die Hungersnot ist nur ein Teil der Geschichte. Während auf dem Land die Bauern starben, attackierte die Geheimpolizei die geistigen und politischen Eliten der Ukraine. Als die Hungersnot sich ausbreitete, begann eine Hetz- und Repressionskampagne gegen ukrainische Intellektuelle, Professoren, Museumskuratoren, Schriftsteller, Künstler, Priester, Theologen, Beamte und Funktionäre. Jeder, der mit der Ukrainischen Volksrepublik verbunden gewesen war, die vom Juni 1917 an einige Monate lang existiert hatte, jeder, der für die ukrainische Sprache oder Geschichte eingetreten war, jeder mit einer unabhängigen literarischen oder künstlerischen Karriere konnte öffentlich beleidigt, eingesperrt, ins Arbeitslager geschickt oder hingerichtet werden. Als er diese Vorgänge nicht mehr mit ansehen konnte, nahm sich Mykola Skrypnyk, einer der bekanntesten ukrainischen KP-Führer, 1933 das Leben. Er war nicht der einzige.

Aus diesen beiden Strategien – dem Holodomor im Winter und Frühjahr 1932/33 und der Unterdrückung der intellektuellen und politischen Klasse der Ukraine in den Monaten danach – resultierte die Sowjetisierung der Ukraine, die Zerstörung des ukrainischen Nationalbewusstseins und die Zerschlagung jeder ukrainischen Infragestellung der sowjetischen Einheit. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der den Ausdruck »Genozid« prägte, nannte die Ukraine dieser Epoche ein »klassisches Beispiel« seines Konzepts: »Es ist ein Fall von Genozid, von Vernichtung, nicht nur von Einzelnen, sondern von einer Kultur und einer Nation.« Schon bald ist der Begriff »Genozid« allerdings in einem engeren, legalistischeren Sinne verwendet worden. Er hat sich auch zu einem kontroversen Schlüsselbegriff entwickelt, den Russen ebenso wie Ukrainer als auch verschiedene Gruppen innerhalb der Ukraine politisch instrumentalisieren. Aus diesem Grund wird die Frage, ob der Holodomor ein »Genozid« war – und auch Lemkins ukrainische Verbindungen und Einflüsse –, im Epilog dieses Buchs gesondert behandelt.

Das zentrale Thema ist konkreter. Was genau geschah in der Ukraine zwischen 1917 und 1934, speziell im Herbst, Winter und Frühjahr 1932/33? Welche Kette von Ereignissen und welche Mentalität führten zur Hungersnot? Wer trug die Verantwortung? Welche Stelle nimmt diese schreckliche Episode in der Geschichte der Ukraine und der ukrainischen Nationalbewegung ein?

Fast ebenso wichtig ist die Frage, was danach geschah. Die Sowjetisierung der Ukraine begann nicht mit der Hungersnot und endete nicht damit. Festnahmen ukrainischer Intellektueller und führender Politiker gingen in den 1930er Jahren weiter. Über ein halbes Jahrhundert lang gingen die Sowjetführer brutal gegen den ukrainischen Nationalismus vor, in welcher Form er auch immer auftrat, ob als Aufstand nach dem Zweiten Weltkrieg oder als Opposition in den 1980er Jahren. Während dieser ganzen Zeit trat die Sowjetisierung häufig im Gewand der Russifizierung auf. Die ukrainische Sprache wurde verdrängt, ukrainische Geschichte nicht gelehrt.

Vor allem wurde die Geschichte der Hungersnot von 1932/33 nicht gelehrt. Stattdessen leugnete die UdSSR von 1933 bis 1991 einfach, es habe überhaupt eine Hungersnot gegeben. Der Sowjetstaat zerstörte lokale Archive, stellte sicher, dass Totenscheine keine Unterernährung erwähnten, und fälschte sogar öffentlich zugängliche Volkszählungsdaten, um die Ereignisse zu verschleiern.5 Solange die UdSSR existierte, war es nicht möglich, eine umfassend dokumentierte Geschichte der Hungersnot und der damit einhergehenden Repressionen zu schreiben.

Doch 1991 wurde Stalins schlimmste Befürchtung Wirklichkeit. Die Ukraine erklärte sich für unabhängig. Die Sowjetunion zerfiel, teilweise als Folge des ukrainischen Wunsches, sie zu verlassen. Zum ersten Mal in der Geschichte entstand eine souveräne Ukraine und dazu eine neue Generation ukrainischer Historikerinnen und Historiker, Archivare, Journalisten und Verleger. Dank ihrer Bemühungen kann nun die vollständige Geschichte der Hungersnot 1932/33 erzählt werden.

Dieses Buch beginnt 1917 mit der ukrainischen Revolution und der ukrainischen Nationalbewegung, die 1932/33 zerstört wurde. Es endet in der Gegenwart mit einer Erörterung der aktuellen Erinnerungspolitik in der Ukraine. Es konzentriert sich auf die Hungersnot in der Ukraine, die zwar Teil einer größeren sowjetischen war, aber eigene Ursachen und Merkmale hatte. Der Historiker Andrea Graziosi hat darauf hingewiesen, dass niemand die allgemeine Geschichte der NS-Verbrechen mit der sehr spezifischen Geschichte von Hitlers Verfolgung der Juden oder der Sinti und Roma verwechselt. Derselben Logik folgend, bespricht dieses Buch die landesweiten Hungersnöte zwischen 1930 und 1934 – die ebenfalls viele Opfer forderten, besonders in Kasachstan und bestimmten russischen Provinzen –, konzentriert sich aber stärker auf die spezifische Tragödie der Ukraine.6

Das Buch spiegelt auch ein Vierteljahrhundert Forschung über die Ukraine wider. In den frühen 1980er Jahren fasste Robert Conquest alles damals zugängliche Material über die Hungersnot zusammen, und sein Buch Harvest of Sorrow von 1986 (dt. Ernte des Todes, 1988) ist immer noch ein Meilenstein in der Literatur über die Sowjetunion. Doch in den drei Jahrzehnten seit dem Ende der UdSSR und der Entstehung einer souveränen Ukraine haben mehrere großangelegte nationale Kampagnen zur Sammlung von Zeugnissen der Oral History und von Erinnerungen Tausende neuer Berichte aus dem ganzen Land erbracht.7 Im selben Zeitraum sind die Archive in Kiew und anderen ukrainischen Städten zugänglich geworden, während es in Moskau weiterhin große Einschränkungen für Forscher gibt; der Anteil des der Öffentlichkeit freigegebenen Materials ist in der Ukraine einer der höchsten in Europa. Die ukrainische Regierung hat Forscher finanziell unterstützt, um Dokumentensammlungen zu veröffentlichen, welche die Forschung weiter vorangebracht haben.8 Anerkannte Historiker der Hungersnot und der stalinistischen Epoche in der Ukraine – unter ihnen Olga Bertelsen, Hennadij Borjak, Wasyl Danylenko, Ljudmyla Hrynewytsch, Roman Kruzyk, Stanislaw Kultschyzkyj, Jurij Myzyk, Wasyl Marotschko, Heorhij Papakin, Ruslan Pyrih, Jurij Schapowal, Wolodymyr Serhijtschuk, Walerij Wasyljew, Oleksandra Weselowa und Hennadij Jefimenko – haben zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, darunter Sammlungen von Dokumenten und Zeitzeugenberichten. Oleh Wolowyna und ein Team von Demographen – Oleksandr Hladun, Natalja Lewtschuk, Omeljan Rudnyzkyj – haben endlich mit der schwierigen Arbeit begonnen, die Zahl der Opfer zu bestimmen. Das Harvard Ukrainian Research Institute hat mit vielen dieser Forscher zusammengearbeitet, um ihre Arbeit zu veröffentlichen und zu verbreiten.

Das Holodomor Research and Education Consortium in Toronto unter der Leitung von Marta Basiuk und seine Partnerorganisation in der Ukraine unter der Leitung von Ljudmyla Hrynewytsch unterstützen auch weiterhin neue Forschungen. Jüngere Wissenschaftler entwickeln überdies neue Fragestellungen. Daria Mattinglys Arbeit über Motive und Hintergrund der Personen, die Lebensmittel bei hungernden Bauern beschlagnahmten, und Tetjana Borjaks Werk zur Oral History sind beide herausragend; sie haben auch wichtige Erkenntnisse zu diesem Buch beigetragen. Westliche Forscher haben ebenfalls neue Beiträge geliefert. Lynne Violas Archivstudien zur Kollektivierung und der darauf folgenden Bauernrebellion haben das Bild der 1930er Jahre verändert. Terry Martin war der erste, der die Chronologie von Stalins Entscheidungen im Herbst 1932 offenlegte, und Timothy Snyder und Andrea Graziosi zählten zu den ersten, die ihre Bedeutung erkannten. Serhii Plokhy und sein Team in Harvard haben die ungewöhnliche Anstrengung unternommen, eine Landkarte der Hungersnot herzustellen, um ihren Ablauf besser zu verstehen. Ich bin ihnen allen für die Erkenntnisse und in einigen Fällen auch für die Freundschaft dankbar, die so viel zu diesem Projekt beigetragen haben.

Wäre dieses Buch in einer anderen Zeit geschrieben worden, könnte diese sehr kurze Einleitung zu einem komplexen Thema vielleicht hier enden. Weil aber die Hungersnot die ukrainische Nationalbewegung zerstörte, weil diese Bewegung 1991 erneuert wurde und weil die Führung des heutigen Russland noch immer die Legitimität des ukrainischen Staats in Frage stellt, will ich hier erwähnen, dass ich die Notwendigkeit einer neuen Geschichte der Hungersnot zuerst 2010 mit Kollegen am Harvard Ukrainian Research Institute diskutiert habe. Wiktor Janukowitsch war gerade mit russischer Unterstützung zum ukrainischen Präsidenten gewählt worden. Damals zog die Ukraine wenig politische Aufmerksamkeit aus dem Rest Europas auf sich und tauchte kaum in der Presse auf. Damals gab es keinen Grund zu der Annahme, eine neue Untersuchung von 1932/33 lasse sich als politische Aussage irgendeiner Art interpretieren.

Die Maidan-Revolution von 2014, Janukowitschs Entscheidung, auf Protestierende schießen zu lassen und dann aus dem Land zu fliehen, die russische Invasion und Annexion der Krim, die russische Invasion der Ostukraine und die damit einhergehende russische Propagandakampagne rückten die Ukraine unerwarteterweise ins Zentrum der internationalen Politik, während ich an diesem Buch arbeitete. Meine Forschung über die Ukraine wurde von den dortigen Vorgängen sogar aufgehalten, zum einen, weil ich darüber schrieb, zum anderen, weil meine ukrainischen Kollegen so stark ins aktuelle Geschehen involviert waren. Obwohl die Ereignisse jenes Jahres aber die Ukraine ins Zentrum der Weltpolitik rückten, wurde dieses Buch nicht als Reaktion darauf geschrieben. Ebenso wenig nimmt es Partei für oder gegen bestimmte ukrainische Politiker oder Parteien oder reagiert auf das heutige Geschehen in der Ukraine. Es versucht vielmehr, die Geschichte der Hungersnot mit Hilfe neuer Archivunterlagen, neuer Augenzeugenberichte und neuer Forschungsergebnisse zu erzählen und die Arbeit der oben genannten bedeutenden Historiker zusammenzuführen.

Das bedeutet nicht, dass die ukrainische Revolution, die frühen Jahre der Sowjetukraine, die massenhafte Unterdrückung der ukrainischen Elite wie auch der Holodomor keine Beziehung zu aktuellen Ereignissen hätten. Ganz im Gegenteil, sie sind die entscheidende Vorgeschichte, die ihnen zugrunde liegt und sie erklärt. Die Hungersnot und ihre Hinterlassenschaft spielen eine gewaltige Rolle in aktuellen russischen und ukrainischen Diskussionen über ihre Identität, ihr Verhältnis und ihre gemeinsame sowjetische Erfahrung. Bevor man aber diese Diskussionen beschreibt oder bewertet, ist es wichtig, zunächst zu begreifen, was eigentlich geschah.

Wenn ich sterbe, sollt zum Grab ihr

Як умру, то поховайте

Taras Schewtschenko, 18451

EINLEITUNG

Die ukrainische Frage

Jahrhundertelang bestimmte die Geographie das Schicksal der Ukraine. Die Karpaten bildeten die Grenze im Südwesten, doch die sanften Hügel und Felder im Nordwesten konnten eindringende Armeen nicht aufhalten, ebenso wenig die offene Steppe im Osten. Alle großen ukrainischen Städte – Dnipropetrowsk und Odessa, Donezk und Charkiw, Poltawa, Tscherkasy und natürlich die alte Hauptstadt Kiew – liegen in der Osteuropäischen Ebene, einer Tiefebene, die den größten Teil des Landes einnimmt. Nikolai Gogol, der Ukrainer war, aber auf Russisch schrieb, bemerkte einmal, der Dnipro (russisch Dnepr) fließe durchs Zentrum der Ukraine und bilde ein Becken: »Alle Flüsse führen, wie die Zweige eines Baumes, zur Mitte hin, alle fließen ins Land hinein, kein einziger nimmt seinen Weg dort, wo die Grenze verlief, so konnte keiner als natürliche Grenze gegen die Nachbarvölker dienen.« Das hatte politische Folgen: »Hätte es wenigstens nach einer Seite hin eine natürliche Grenze gehabt – ein Gebirge oder das Meer –, so hätte das Volk, das sich hier niedergelassen hatte, sein politisches Dasein bewahrt, hätte einen eigenen Staat gebildet.«2

Das Fehlen natürlicher Grenzen ist einer der Gründe, warum es den Ukrainern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht gelang, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu bilden. Seit dem späten Mittelalter gibt es eine eigene ukrainische Sprache mit slawischen Wurzeln, die mit dem Polnischen und Russischen verwandt, aber eigenständig ist, ähnlich wie das Italienische mit dem Spanischen und Französischen verwandt, aber eigenständig ist. Die Ukrainer hatten eine eigene Küche, eigene Sitten und lokale Traditionen, eigene Bösewichte, Helden und Legenden. Wie bei anderen europäischen Völkern bildete sich das ukrainische Nationalbewusstsein im 18. und 19. Jahrhundert weiter heraus. Während des größten Teils seiner Geschichte war aber das Gebiet, das wir heute die Ukraine nennen, eine Kolonie anderer europäischer Reiche, ebenso wie Irland oder die Slowakei.

Die Ukraine – was im Russischen wie im Polnischen »Grenzland« bedeutet – gehörte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zum Russischen Reich. Davor gehörte dasselbe Gebiet zu Polen oder vielmehr der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die es 1569 vom Großfürstentum Litauen geerbt hatte. Noch früher lag die Ukraine im Zentrum der Kiewer Rus, des im 9. Jahrhundert gebildeten mittelalterlichen Staats aus slawischen Stämmen und Wikingeradel. Er ist in der Erinnerung dieser Region ein fast mythisches Reich, das Russen, Weißrussen und Ukrainer gleichermaßen als Vorläufer beanspruchen.

Viele Jahrhunderte lang war die Ukraine zwischen unterschiedlichen Reichen umkämpft, und manchmal standen ukrainischsprachige Soldaten auf beiden Seiten der Front. 1621 kämpften polnische Husaren mit türkischen Janitscharen um die Kontrolle der heute ukrainischen Stadt Chotyn. 1914 standen die Truppen des Zaren in Galizien denen des österreichisch-ungarischen Kaisers gegenüber. Und von 1941 bis 1944 kämpfte Hitlers Wehrmacht in Kiew, Lwiw, Odessa und Sewastopol gegen Stalins Rote Armee.

Der Kampf um die Kontrolle des ukrainischen Territoriums besaß stets auch eine geistige Komponente. Seit Europäer damit begannen, über die Bedeutung von Nationen und Nationalismus zu nachzudenken, haben Historiker, Schriftsteller, Journalisten, Dichter und Ethnographen über die Ausdehnung der Ukraine und das Wesen der Ukrainer debattiert. Seit den ersten Kontakten im frühen Mittelalter erkannten die Polen stets an, dass sich die Ukrainer sprachlich und kulturell von ihnen unterschieden, auch wenn sie demselben Staat angehörten. Viele Ukrainer, die im 16. und 17. Jahrhundert polnische Adelstitel annahmen, blieben orthodoxe Christen und traten nicht zum Katholizismus über; ukrainische Bauern sprachen eine Sprache, die von den Polen »Ruthenisch« genannt wurde, und wurden stets als Menschen beschrieben, die andere Sitten, andere Musik, eine andere Küche hatten.

Obwohl sie es auf dem Zenith ihrer imperialen Macht weniger gern zugaben, spürten auch die Moskowiter instinktiv, dass die Ukraine, die sie manchmal »Südrussland« oder »Kleinrussland« nannten, sich von ihrer nördlichen Heimat unterschied. Der frühe russische Reisende Fürst Iwan Dolgorukow beschrieb 1810 den Augenblick, als seine Reisegesellschaft endgültig »die Grenzen der Ukraine überschritt. Meine Gedanken wandten sich [Bohdan] Chmelnyzkyj und [Iwan] Mazeppa zu« – frühen ukrainischen Volksführern –, »und die Baumalleen verschwanden … überall gab es ausnahmslos Lehmhütten, keine andere Behausung.«3 Der Historiker Serhiy Bilenky hat bemerkt, dass Russen im 19. Jahrhundert oft dieselbe paternalistische Haltung gegenüber der Ukraine zeigten wie Nordeuropäer gegenüber Italien. Die Ukraine war eine idealisierte, alternative Nation, primitiver, aber zugleich authentischer, emotionaler und poetischer als Russland.4 Auch Polen sehnten sich nach »ihrer« Ukraine noch lange, nachdem sie verloren war, und machten sie zum Thema romantischer Gedichte und Prosaschriften.

Obwohl sie aber die Unterschiede anerkannten, suchten Polen wie Russen manchmal die Existenz einer ukrainischen Nation zu untergraben oder zu leugnen. »Die Geschichte Kleinrusslands ist wie ein Zufluss, der im Hauptstrom der russischen Geschichte aufgeht«, schrieb Wissarion Belinsky, ein führender Theoretiker des russischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. »Die Kleinrussen waren immer ein Stamm, nie ein Volk – und noch weniger ein Staat.«5 Russische Gelehrte und Bürokraten sahen die ukrainische Sprache als »einen Dialekt oder Halbdialekt oder eine Ausdrucksform der gesamtrussischen Sprache, mit einem Wort eine Mundart, die als solche kein Recht auf eine unabhängige Existenz hatte«.6 Inoffiziell benutzten russische Schriftsteller sie, um Umgangs- oder Bauernsprache zu kennzeichnen.7 Polnische Autoren neigten dazu, die »Leere« des Gebiets im Osten zu betonen, und beschrieben die Ukraine oft als »unzivilisiertes Grenzland, dem sie Kultur und staatliche Institutionen brachten«.8 Die Polen benutzten auch den Ausdruck Dzikie pola (wilde Felder) für das leere Territorium der Ostukraine, eine Region, die für ihre nationale Imagination eine ähnliche Rolle spielte wie der Wilde Westen für die amerikanische.9

Hinter solchen Überzeugungen lagen handfeste wirtschaftliche Gründe. Schon der griechische Historiker Herodot schrieb über die berühmte »Schwarzerde« der Ukraine, den fetten Boden, der im unteren Teil des Dnipro-Beckens besonders fruchtbar ist: »An seinen Ufern wächst das vortrefflichste Korn und, wo das Land nicht bebaut wird, das dichteste Gras.«10 Das Schwarzerdegebiet umfasst etwa zwei Drittel der modernen Ukraine, erstreckt sich von dort nach Russland und Kasachstan und führt neben dem relativ milden Klima dazu, dass die Ukraine zwei Ernten im Jahr einfahren kann. Der Winterweizen wird im Herbst gesät und im Juli und August geerntet; das im April und Mai gesäte Getreide wird im Oktober und November geerntet. Das Korn des überaus fruchtbaren ukrainischen Bodens hat seit langem ehrgeizige Kaufleute angezogen. Seit dem Spätmittelalter brachten polnische Händler ukrainisches Getreide nach Norden zu den Handelsrouten der Ostsee. Polnische Herrscher und Adlige gründeten frühe »Freihandelszonen« und boten Bauern, die ukrainisches Land bestellen und entwickeln wollten, Freiheit von Steuern und Kriegsdienst.11 Der Wunsch, ein so wertvolles Gebiet zu besitzen, stand oft hinter den kolonialistischen Argumentationen. Weder Polen noch Russen wollten eingestehen, dass ihre Kornkammer eine eigenständige Identität hatte.

Dennoch bildete sich in den Gebieten der heutigen Ukraine unabhängig von dem, was ihre Nachbarn meinten, eine eigenständige ukrainische Identität aus. Seit dem Ende des Mittelalters teilten die Bewohner dieser Region ein Gefühl, wer sie seien, wobei sie sich oft, aber nicht immer, im Gegensatz zu ausländischen Besatzungsmächten definierten, ob Russen oder Polen. Wie die Russen und Weißrussen führten sie ihre Geschichte auf die Großfürsten der Kiewer Rus zurück, und viele fühlten sich als Teil einer großen ostslawischen Kultur. Andere sahen sich als Unterdrückte oder Rebellen und bewunderten besonders die großen Aufstände der Saporoscher Kosaken unter Führung von Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnische Herrschaft im 17. Jahrhundert und von Iwan Mazeppa gegen die russische Herrschaft zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die ukrainischen Kosaken – selbstregierte halbmilitärische Gemeinschaften mit eigenen Gesetzen – waren die ersten Ukrainer, die dieses Gefühl von Identität und Unzufriedenheit in konkrete politische Projekte umsetzten, durch die sie außergewöhnliche Privilegien und eine gewisse Autonomie von den Zaren errangen. 1610 und 1618 schlossen sich ukrainische Kosaken der polnischen Armee bei ihrem Marsch auf Moskau an, beteiligten sich an der Belagerung der Stadt und trugen dazu bei, dass der polnisch-russische Konflikt jener Epoche zumindest zeitweise zugunsten der Polen ausging (was folgende Generationen russischer und sowjetischer Führer sicher nie vergaßen). Später verliehen die Zaren den ukrainischen Kosaken und den russischsprachigen Donkosaken einen besonderen Status, um ihre Loyalität zum Russischen Reich zu sichern, wodurch sie ihre eigenständige Identität behalten durften. Ihre Privilegien garantierten, dass sie nie revoltierten. Doch Chmelnyzkyj und Mazeppa hinterließen ihre Spuren in der polnischen und russischen Erinnerung und auch in der europäischen Geschichte und Literatur. »L’Ukraine a toujours aspiré à être libre«, schrieb Voltaire, als die Nachricht von Mazeppas Aufstand Frankreich erreichte: »Die Ukraine hat immer danach gestrebt, frei zu sein.«12

In den Jahrhunderten der Kolonialherrschaft nahmen die Regionen der Ukraine einen unterschiedlichen Charakter an. Die Bewohner der Ostukraine, die länger unter russischer Herrschaft waren, sprachen eine dem Russischen etwas nähere Form des Ukrainischen. Sie gehörten auch eher der russisch-orthodoxen Kirche an, deren Riten aus Byzanz stammten und deren Hierarchie Moskau unterstand. Die Bewohner Galiziens, Wolhyniens und Podoliens lebten länger unter der Herrschaft Polens und nach den polnischen Teilungen des späten 18. Jahrhunderts unter der Österreich-Ungarns. Sie sprachen eine »polnischere« Form des Ukrainischen und gehörten eher der römisch- oder griechisch-katholischen Kirche an. Letztere besitzt ähnliche Riten wie die orthodoxe Kirche, erkennt aber die Autorität des Papstes an.

Weil sich aber die Grenzen zwischen allen Regionalmächten so oft verschoben, lebten und leben die Angehörigen beider Kirchen auf beiden Seiten der Trennlinie zwischen den ehemals polnischen und ehemals russischen Gebieten. Als Italiener, Deutsche und andere Europäer im 19. Jahrhundert sich als Völker moderner Nationen zu identifizieren begannen, waren unter den Intellektuellen, die in der Ukraine über »das ukrainische Wesen« debattierten, Orthodoxe wie Katholiken, und sie lebten in der »Ost-« wie in der »Westukraine«. Trotz Unterschieden in Grammatik und Schreibung vereinte auch die Sprache die Ukrainer über Grenzen hinweg. Das kyrillische Alphabet unterschied das Ukrainische vom lateinisch geschriebenen Polnischen. (Die Habsburger versuchten einmal, das lateinische Alphabet einzuführen, aber es setzte sich nicht durch.) Die ukrainische Version der kyrillischen Schrift unterschied sich auch von der russischen, etwa durch einige zusätzliche Buchstaben, was eine allzu große Annäherung beider Sprachen verhinderte.

Lange Zeit wurde das Ukrainische vor allem auf dem Land gesprochen. Da die Ukraine eine Kolonie Polens und dann Russlands und Österreich-Ungarns war, wurden die großen Städte – wie Trotzki einmal bemerkte – zu Zentren der kolonialen Kontrolle, Inseln der russischen, polnischen oder jüdischen Kultur im Meer der ukrainischen Bauernschaft. Bis weit bis ins 20. Jahrhundert blieben Stadt und Land so durch die Sprache geteilt. Die meisten Städter sprachen Russisch, Polnisch oder Jiddisch, die Landbewohner dagegen Ukrainisch. Wenn Juden nicht Jiddisch sprachen, zogen sie oft das Russische vor, die Sprache von Staat und Handel. Die Bauern identifizierten die Städte mit Wohlstand, Kapitalismus und »fremdem« – meist russischem – Einfluss. Ukrainische Stadtbewohner sahen wiederum das Land als zurückgeblieben und primitiv an.

Die Propagierung des »ukrainischen Wesens« erzeugte daher ebenso Konflikte mit den Kolonialherren wie mit den Bewohnern der jüdischen Schtetl, die seit dem Mittelalter auf dem Gebiet der alten polnisch-litauischen Union existierten. Zum Chmelnykyj-Aufstand gehörte auch ein Massenpogrom, bei dem Tausende, vielleicht Zehntausende Juden ermordet wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sahen Ukrainer nur selten die Juden als wichtigste Rivalen an – ukrainische Dichter und Intellektuelle richteten ihren Zorn meist auf Russen und Polen –, aber der weit verbreitete Antisemitismus im Russischen Reich berührte zwangsläufig auch das Verhältnis von Ukrainern und Juden.

Wegen der engen Verbindung zwischen Sprache und Landleben war die ukrainische Nationalbewegung immer stark »bäuerlich« geprägt. Wie in anderen Teilen Europas begannen die Intellektuellen, die das nationale Erwachen der Ukraine anführten, häufig mit der Wiederentdeckung von Sprache und Sitten auf dem Land. Volkskundler und Sprachforscher hielten Kunst, Dichtung und Alltagssprache der ukrainischen Bauern fest. Obwohl das Ukrainische nicht in staatlichen Schulen gelehrt wurde, wurde es zur Sprache rebellischer, gegen das Establishment eingestellter ukrainischer Autoren und Künstler. Auch patriotische Sonntagsschulen unterrichten es nun. Ukrainisch wurde niemals zur Amtssprache, man verwendete es aber in privaten Briefen und in der Dichtung. 1840 veröffentliche Taras Schewtschenko, der 1814 geborene und früh verwaiste Sohn von Leibeigenen, das Buch Kobsar (Der Barde), den ersten herausragenden ukrainischen Gedichtband. Schewtschenkos Dichtung verbindet romantischen Nationalismus und ein idealisiertes Bild des Landlebens mit Zorn über soziale Ungerechtigkeit und prägte den Ton für viele spätere Äußerungen. In einem seiner bekanntesten Gedichte »Sapowit« (Vermächtnis) bat er, an den Ufern des Dnipro bestattet zu werden:

So begrabt mich und erhebt euch,
Die Ketten zerfetzet!
Mit dem Blut der bösen Feinde
Die Freiheit benetzet!

Поховайте та вставайте,
Кайдани порвіте
І вражою злою кров’ю
Волю окропіте…

Die Bedeutung der Bauernschaft führte auch dazu, dass die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an für eine populistische und (wie man später sagen würde) »linke« Opposition gegen die russisch- und polnischsprachigen Kaufleute, Landbesitzer und Adligen stand. Aus diesem Grund wurde sie nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Zarenreich durch Alexander II. 1861 rasch stärker. Freiheit für die Bauern bedeutete Freiheit für Ukrainer und einen Schlag gegen ihre russischen und polnischen Herren. Der Kampf für eine stärkere ukrainische Identität war schon damals zugleich ein Kampf für größere politische und wirtschaftliche Gleichheit, was der herrschenden Klasse des Zarenreichs völlig klar war.

Weil sie nie mit staatlichen Institutionen verbunden war, äußerte sich die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an in der Gründung einer Vielzahl von autonomen freiwilligen und wohltätigen Organisationen, frühen Beispielen dessen, was wir heute »Zivilgesellschaft« nennen. Ein paar Jahre lang regten »Ukrainophile« nach der Befreiung der Leibeigenen junge Leute dazu an, Selbsthilfe- und Studiengruppen zu bilden, Zeitungen und Zeitschriften herauszubringen, Schulen und Sonntagsschulen zu gründen und die Alphabetisierung der Bauern voranzutreiben. Nationale Ziele äußerten sich in der Forderung nach geistiger Freiheit, Schulbildung und Aufstiegschancen für die Bauern. In diesem Sinne war die ukrainische Nationalbewegung von Anfang an von ähnlichen Bewegungen im Westen inspiriert und enthielt Elemente des westlichen Sozialismus wie des westlichen Liberalismus und Konservatismus.

Diese Phase endete bald. Sobald sie an Kraft gewann, wurde die ukrainische Nationalbewegung genau wie andere Nationalbewegungen von der Führung in St. Petersburg als mögliche Bedrohung für die Einheit des Zarenreichs angesehen. Wie die Georgier, Tschetschenen und andere Gruppen, die Autonomie innerhalb des Reichs anstrebten, stellten die Ukrainer die Vormachtstellung der russischen Sprache und einer russischen Geschichtsdeutung in Frage, für die die Ukraine eine bloße Provinz »Südwestrussland« ohne nationale Identität war. Sie drohten auch, den Bauern weitere Macht zu einem Zeitpunkt zu geben, als diese bereits an wirtschaftlichem Einfluss gewannen. Eine wohlhabendere und besser organisierte ukrainische Bauernschaft, die lesen und schreiben konnte, konnte womöglich auch mehr politische Rechte fordern.

Vor allem die ukrainische Sprache wurde aufs Korn genommen. Während der ersten Bildungsreform des Zarenreichs 1804 erlaubte Zar Alexander I., in staatlichen Schulen einige nichtrussische Sprachen zu verwenden, aber nicht das Ukrainische, weil es angeblich keine »Sprache« sei, sondern nur ein Dialekt.13 In Wirklichkeit waren russische Staatsvertreter sich ebenso klar wie ihre sowjetischen Nachfolger über die politischen Gründe für dieses Verbot – das bis 1917 andauerte – und die Bedrohung, die das Ukrainische für die Zentralregierung darstellte. 1881 erklärte der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wolhynien, der Gebrauch des Ukrainischen und ukrainischer Lehrbücher in Schulen könne zu ihrem Gebrauch in der höheren Bildung und schließlich in Gesetzgebung, Gerichten und Verwaltung führen, was »zahlreiche Komplikationen und gefährliche Veränderungen für den einheitlichen russischen Staat« schaffen würde.14

Die Beschränkungen für die ukrainische Sprache begrenzten den Einfluss der Nationalbewegung. Sie führten auch zu weit verbreitetem Analphabetismus. Viele Bauern, die auf Russisch unterrichtet wurden, das sie kaum verstanden, machten wenig Fortschritte. Ein Lehrer in Poltawa beklagte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Schüler »rasch vergaßen, was man ihnen beigebracht hatte«, wenn sie auf Russisch lernen mussten. Andere berichteten, ukrainische Schüler in russischen Schulen seien »demoralisiert«, langweilten sich und würden zu »Hooligans«.15 Diskriminierung führte auch zur Russifizierung. Für jeden Bewohner der Ukraine – Juden, Deutsche und andere Minderheiten ebenso wie für Ukrainer – war die russische Sprache der Schlüssel zu höherem sozialen Status. Bis zur Revolution von 1917 setzten Posten im Staatsdienst und in den freien Berufen sowie Geschäftsverträge eine Bildung auf Russisch voraus, nicht auf Ukrainisch. In der Praxis mussten sich politisch, wirtschaftlich oder intellektuell ehrgeizige Ukrainer also auf Russisch verständigen.

Um die ukrainische Nationalbewegung kleinzuhalten, verbot der russische Staat auch ukrainische Organisationen aus Zivilgesellschaft und Staatswesen und sah dies »als Garantie gegen politische Instabilität«.16 1876 verbot ein Erlass des Zaren Alexander II. ukrainische Bücher und Zeitschriften sowie den Gebrauch des Ukrainischen im Theater, sogar in Operntexten. Er behinderte oder verbot auch die neuen Freiwilligenorganisationen und subventionierte stattdessen prorussische Zeitungen und Organisationen. Die scharfe Feindschaft der Sowjetregierung gegen ukrainische Medien und die ukrainische Zivilgesellschaft – die viel später von der postsowjetischen russischen Regierung fortgeführt wurde – besaß somit einen klaren Vorläufer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.17

Auch die Industrialisierung verstärkte den Druck zur Russifizierung, da der Bau von Fabriken Menschen aus anderen Gegenden des Zarenreichs in die ukrainischen Städte brachte. 1917 sprach nur ein Fünftel der Einwohner von Kiew Ukrainisch.18 Die Entdeckung von Kohlevorkommen und der rasche Ausbau der Schwerindustrie hatten eine besonders dramatische Wirkung im Donbas, der Bergbau- und Industrieregion am östlichen Rand der Ukraine. Dort waren die führenden Unternehmer meist Russen, dazu ein paar bekannte Ausländer; so gründete der Waliser John Hughes das heutige Donezk, das ursprünglich zu seinen Ehren »Jusowka« hieß. In den Fabriken von Donezk war Russisch die Verkehrssprache. Häufig brachen Konflikte zwischen russischen und ukrainischen Arbeitern aus, die manchmal zu »wilden Messerkämpfen« und offenen Schlachten wurden.19

Auf der anderen Seite der Grenze in Galizien, der ukrainisch-polnischen Provinz des Habsburgerreichs, hatte die nationalistische Bewegung viel weniger zu kämpfen. Der österreichische Staat räumte den Ukrainern viel mehr Autonomie und Freiheit ein als Russland oder später die UdSSR, nicht zuletzt, weil die Ukrainer aus seiner Sicht eine nützliche Konkurrenz zu den Polen darstellten. 1868 gründeten patriotische Ukrainer in Lwiw (damals Lemberg) den Kulturverein Proswita, der Dutzende von Ablegern im ganzen Land bildete. Von 1899 an war auch die Ukrainische Nationaldemokratische Partei ungehindert in Galizien aktiv und schickte Abgeordnete ins Wiener Parlament. Bis heute ist der frühere Sitz eines ukrainischen Selbsthilfevereins eines der eindrucksvollsten Gebäude des 19. Jahrhunderts in Lwiw. Es ist eine spektakuläre architektonische Synthese, deren Jugendstilfassade ukrainische Folkloreelemente einbezieht, eine perfekte Verschmelzung von Wien und Galizien.

Doch auch innerhalb des Russischen Reichs waren die Jahre vor der Revolution 1917 in vieler Hinsicht positiv für die Ukraine. Die ukrainischen Bauern beteiligten sich engagiert an der Modernisierung des Zarenreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gewannen sie rasch an politischem Bewusstsein und waren skeptisch gegenüber dem Staat geworden. 1902 gab es eine Welle von Bauernaufständen in der Ukraine und Russland; auch in der Revolution von 1905 spielten die Bauern eine wichtige Rolle. Die Aufstände setzen eine Kette von Unruhen in Gang, erschütterten die Stellung von Nikolaus II. und führten zur Einführung einiger bürgerlicher und politischer Rechte in der Ukraine, darunter der Erlaubnis, in der Öffentlichkeit Ukrainisch zu sprechen.20

Als 1917 das Russische Reich und 1918 Österreich-Ungarn zerbrachen, glaubten viele Ukrainer, sie könnten endlich einen Staat errichten. Diese Hoffnung wurde auf dem ehemals habsburgischen Territorium rasch ausgelöscht. Nach einem kurzen, aber heftigen polnisch-ukrainischen Krieg, der 15000 Ukrainer und 10000 Polen das Leben kostete, wurde das multiethnische Gebiet der Westukraine, einschließlich Galiziens und Lwiws Teil des neuen polnischen Staats und blieb es bis 1939.

Die Folgen der Februarrevolution 1917 in Petrograd (wie St. Petersburg seit 1914 hieß) waren komplizierter. Die Auflösung des Zarenreichs brachte in Kiew für kurze Zeit die ukrainische Nationalbewegung an die Macht, aber zu einem Zeitpunkt, als niemand aus der zivilen oder militärischen Führungsschicht des Landes bereit war, volle Verantwortung dafür zu übernehmen. Als 1919 in Versailles die Grenzen der neuen Staaten gezogen wurden – darunter das moderne Polen, Österreich, Jugoslawien und die Tschechoslowakei –, gehörte die Ukraine nicht dazu. Dennoch blieb dieser Moment nicht folgenlos. Mit den Worten von Richard Pipes markierte die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 26. Januar 1918 »nicht den Endpunkt des Prozesses der Staatsbildung der Ukraine, sondern ihren ernsthaften Beginn«.21 Die wenigen stürmischen Monate der Unabhängigkeit und die intensive Debatte über die nationale Identität sollten die Ukraine für immer verändern.

Ukrainisches Volk! Deine Zukunft liegt in deinen Händen.
In dieser Stunde der Prüfung, der völligen Unordnung und des Zusammenbruchs beweise durch deine Einigkeit und Reife, dass du, ein Volk von Bauern, stolz und würdevoll deinen ebenbürtigen Platz unter allen anderen organisierten mächtigen Nationen einnehmen kannst.

Erster Universal [Manifest] der Zentralna Rada, 19171

Wir werden das Reich des Sozialismus nicht mit weißen Handschuhen auf einem polierten Fußboden betreten.

Leo Trotzki, 19172