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Zum Buch

Mit »Zur Welt kommen« legen Flaßpöhler und Werner keinen Ratgeber vor, der das Stillen, Wickeln und Füttern optimieren will. Sondern eine Philosophie für Mütter und Väter, die jene existenzielle Dimension ausleuchtet, die in dem einfachen Satz steckt: Ein Mensch kommt zur Welt. Ein ebenso persönliches wie tiefsinniges, kurzweiliges wie erhellendes Buch für Menschen, die, indem sie Kinder bekommen, ebenfalls neu geboren werden.

Zu den AutorInnen

Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des »Philosophie Magazins«. Ihr Buch »Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe« wurde mit dem Arthur-Koestler-Preis ausgezeichnet, ihre Streitschrift »Die potente Frau« wurde ein Bestseller.

Florian Werner ist promovierter Literaturwissenschaftler, lehrt als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen und arbeitet für den Hörfunk. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet, zuletzt erschien bei Blessing »Die Weisheit der Trottellumme – Was wir von Tieren lernen können«.

Svenja Flaßpöhler

Florian Werner

Elternschaft als

philosophisches

Abenteuer

BLESSING

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Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-17749-2
V002

www.blessing-verlag.de

Für Ada und Samuel

INHALT

Die Tochter 

ANFANGEN

SOWOHL-ALSAUCH

HEBAMMENKUNST

SCHMERZEN 

ABNABELN 

MITLEID 

MUTTERLIEBE 

VATERLIEBE 

TRÄNEN 

FLEXIBILITÄT 

SUPPLEMENT 

SUBJEKTIVITÄT 

UNSICHTBARKEIT 

ANTIAPOKALYPSE 

WEIBLICHE ALLMACHT 

MÄNNLICHE OHNMACHT 

GEMEINSCHAFT 

REUE 

STAMMBAUM 

Der Sohn 

WARTEN 

URSPRUNG 

VANITAS 

PENIS 

KUGELMENSCH 

GROTESKE KÖRPER 

MUTTERMUND 

BACKSTEIN 

UNGEFRAGT 

ZEIT 

GABE 

VERANTWORTUNG 

TIERNAMEN 

VERGESSEN  

FREIHEIT 

MENSCHENFRESSER 

KREISFÖRMIG 

RHYTHMUS 

NATUR 

TRANSPARENZGESELLSCHAFT 

OPFER 

BLÜTE 

TRANSPORTMITTEL 

ZUFALL 

AUFHÖREN 

ELTERN WERDEN

Die Entscheidung, ein Kind in die Welt zu setzen, rührt an den Grundfesten unserer modernen Existenz. Wie lässt sich noch unabhängig leben, wie sich beruflich verwirklichen, wenn man die Verantwortung für einen kleinen Menschen trägt, der bis in die Haarspitzen angewiesen ist auf elterliche Fürsorge und Zuwendung? Wie eine leidenschaftliche Beziehung führen, wenn plötzlich ein Dritter den Körper der Frau beansprucht, ja zeitweise sogar in ihm wohnt? Wie ist ein gleichberechtigtes Geschlechterverhältnis möglich, wenn Schwangerschaft und Geburt uns doch die grundlegenden biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann schonungslos vor Augen führen?

Über Fragen wie diese denken wir in diesem Buch gemeinsam nach: als Paar, als Liebende und Streitende, als Eltern zweier Kinder. Wir kennen einander seit fünfzehn Jahren, vor zehn Jahren kam unsere Tochter zur Welt, vor drei Jahren unser Sohn. Eine Philosophin und ein Literaturwissenschaftler: Natürlich haben wir am Frühstückstisch nicht nur Fragen der richtigen Erziehung und Ernährung erörtert (und zwischendurch Lätzchen gewechselt, bekleckerte Gesichter sauber gemacht und Bananenbrei vom Boden gewischt), sondern auch über die philosophischen Dimensionen der Elternschaft diskutiert: Bereichert ein Kind die Liebe, oder ersetzt es sie eher? Wie verändert das Elternsein die Wahrnehmung der Zeit? Wie lässt sich die mütterliche Dominanz im familiären Gefüge ausgleichen? Warum fühlt man sich als Vater beim Babyschwimmen so eigentümlich geschlechtslos? Irgendwann fingen wir an, unsere Gedanken aufzuschreiben. Die Kinder wurden größer, die Berge mit Notizen auch: So entstand dieses Buch.

Die Einträge, die darin versammelt sind, reichen von A wie Anfangen über M wie Mutterliebe bis Z wie Zeit. Angeordnet sind sie chronologisch: Der (nicht selbstverständliche) Wunsch, ein Kind zu bekommen, steht am Beginn – die (schwierige) Entscheidung, kein weiteres mehr zu zeugen, am Ende. Die Begriffe, mit denen die Kapitel überschrieben sind, haben oft erst auf den zweiten Blick mit Schwangerschaft, Geburt und Elternsein zu tun. Wir wollten keinen Ratgeber schreiben, nicht das Stillen, Wickeln und Füttern erklären oder gar optimieren, sondern jene existenzielle Dimension ausleuchten, die bereits in dem einfachen Satz steckt: Ein Mensch kommt zur Welt. Was genau heißt das?

Diese Frage so zu stellen bedeutet, in der Geburt weit mehr zu sehen als einen rein biologischen Akt. Wer ein Kind dabei begleitet, wie es eine rätselhafte Welt entdeckt, dem wird die Welt selbst wieder ein Stück weit fremd. So merkwürdig ein Küchenstuhl aus der Perspektive eines krabbelnden Babys erscheinen muss, so grotesk erscheint den frischgebackenen Eltern bisweilen der zuvor als »normal« empfundene Alltag. Elternwerden heißt nicht nur, die Verantwortung für ein Menschlein zu übernehmen, es zu lieben und zu umsorgen. Im Elternwerden liegt vielmehr auch die Chance, das eigene Leben noch einmal anders zu begreifen. Auch Erwachsene werden, indem sie Kinder bekommen, neu geboren.

Die Philosophin Hannah Arendt hat diese Perspektive für uns eröffnet. Anders als für ihren Lehrer und Geliebten Martin Heidegger, der das Leben vom Ende, vom Tode her begriff, bedeutete Existieren für Arendt wesentlich: Anfangen. Wir alle, so die Philosophin, sind einst neu auf dieser Welt gewesen: Daher tragen wir die Fähigkeit zum Neubeginn tief in uns. »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt«, schreibt sie, »kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen; d.h. zu handeln.« Der Mensch ist ein Handelnder: Nur er besitzt die Möglichkeit, sich etwas vorzunehmen, Dinge anders zu machen, alte Gewohnheiten und Gewissheiten abzulegen. Er kann sich ins Ungewisse wagen.

Ein Paar, das sich für ein Kind entscheidet, tut genau dies: Es wagt das radikal Neue – körperlich, intellektuell, sozial, politisch. Für uns etwa ging die Familiengründung mit einer entschieden nicht-traditionellen Verteilung der Geschlechterrollen einher: Die berufliche Festanstellung hat bei uns die Frau; wenn die Kinder krank sind, bleibt im Zweifelsfall der Mann zu Hause. Dennoch, so unsere Erfahrung, sind die Rollen von Mutter und Vater nur begrenzt austauschbar, die jeweiligen Erfahrungen sehr spezifisch. Die Kapitel dieses Buches erzählen persönliche Geschichten, geben Gedanken, Phantasien, Wahrnehmungen und Hoffnungen wieder, die sich für Mutter und Vater jeweils ganz anders darstellen. Sie sind entsprechend, je nachdem wer von uns beiden sie verfasst hat, mit den Symbolen  und  gekennzeichnet. Gerade die Tatsache, dass wir keine geschlechtslosen Eltern-Teile, sondern zwei Menschen mit verschiedenen, für die Reproduktion in unterschiedlicher Hinsicht bedeutsamen Körpern sind, macht das Elternsein so spannend, so schön – und so kompliziert.

Dass wir dabei nicht immer einer Meinung sind, oft auch gegensätzliche Standpunkte vertreten, liegt auf der Hand. Wir unterbrechen uns daher im Lauf dieses Buches immer wieder, fallen uns ins Wort, widersprechen einander, weisen uns auf blinde Flecken oder vermeintliche Fehler hin – und bringen im besten Fall beim anderen neue Gedanken und Einsichten hervor. Der Philosoph Platon bezeichnete die Technik seines Lehrmeisters Sokrates einmal als maieutike techne, als »Hebammenkunst«: Erst im Zusammenspiel zweier vertrauter Menschen, so die zugrunde liegende Idee, können neue Menschen beziehungsweise Gedanken zur Welt kommen. Wir hoffen, mit diesem Buch ein paar Gedanken und Einsichten hervorgebracht zu haben, die auf eigenen Füßen stehen können und die nicht nur ihren Erzeugern Freude machen.

Die Tochter

   ANFANGEN

F. und ich in jung, wir sitzen in unserer Küche. Während des (ungestörten, zweisamen) Frühstücks, das wir wie immer Zeitung lesend verbringen, fallen vier oder fünf Sätze, deren Bedeutsamkeit wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfassen können. Sätze, die Gesprächsfäden der letzten Monate wieder aufnehmen und an deren Wortlaut ich mich nur noch vage erinnere. Sätze, die zur Folge haben, dass ich ins Bad gehe und, nach kurzem Innehalten, eine Packung mit kleinen rosafarbenen Pillen im Mülleimer versenke.

Bereits jetzt, in diesem Augenblick, passiert es. Während ich die Tabletten entsorge und F. in der Küche die Teetassen spült, tritt eine Wandlung ein, die unumkehrbar ist. Ab jetzt sind wir nicht mehr das Paar, das wir vor ein paar Minuten noch waren. Wir sind ein Paar, das sich ein Kind wünscht, sich nach einem Dritten sehnt. Dieses Dritte, wir kennen es nicht. Wir können es uns noch nicht einmal vorstellen. Können nicht vorwegnehmen, wie es sein, wie es uns verändern wird.

Wird es meine Augen haben? Was für Haare? Was für Füße? Wie fühlt es sich an, ein Wesen in den Armen zu halten, das mit jeder Faser seines kleinen Leibes von mir abhängig ist? Werde ich es mehr lieben als F.? Wird F. das Kind mehr lieben als mich?

Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat sich der Metamorphose, die ein Paar durchläuft, das sich ein Kind wünscht, eingehend gewidmet. Auch für Lévinas war klar: Der Wunsch nach einem Kind ist zwar konkret. Doch wie es sein mag, wenn dieser Wunsch wahr wird, ist vollkommen unvorhersehbar. In seinem Werk Totalität und Unendlichkeit spricht der Philosoph von einer »absoluten Zukunft«, einer Zukunft, die nicht willentlich durch Vermögen oder Können gesteuert, gar vorweggenommen werden kann: »Die Beziehung zu einer solchen Zukunft, die nicht auf die Macht über Mögliches zurückgeführt werden kann, nennen wir Fruchtbarkeit.« Die »Fruchtbarkeit« ist kein Gegenstand gezielter Gestaltungskraft, sondern besitzt ihre ganz eigene Logik. Sie entfaltet sich durch und durch eigenwillig.

Sicher, wir leben heute in einer anderen Zeit als Lévinas. Der Philosoph verfasste seine Schrift Anfang der 1960er-Jahre, als die Pränataldiagnostik gerade erst im Entstehen war (die erste sonografische Darstellung eines ungeborenen Kindes stammt aus dem Jahr 1958). Im 21. Jahrhundert vermögen Mediziner sehr wohl vorauszusehen, ob ein Kind gesund zur Welt kommen wird oder nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen oder ein Intersex ist, wie lang sein Körper ist, wie groß der Umfang des Kopfes, wie dick seine Nackenfalte. Doch unterhalb dieses Wissens – oder sagen wir besser: der statistischen Erhebungen – existiert eine prinzipielle Unverfügbarkeit, die auch die ausgefeilteste technische Methode nicht aufzuheben vermag. Niemand garantiert uns ein gesundes Kind. Niemand befreit uns von der Frage, was wir tun, wenn es »Auffälligkeiten« gibt. Niemand kann uns sagen, ob das Baby, das wir zeugen werden, unser Leben bereichern wird – oder uns überfordert, gar unsere Liebe tötet.

Die Fruchtbarkeit, die Lévinas fast liebevoll beschreibt, ist das Gegenteil von Planbarkeit, von Optimierung, Effizienz und Autonomie. Kurzum: Sie widerspricht den innersten Funktionsgesetzen und den höchsten Werten der Moderne. Die Fruchtbarkeit ist eine Herausforderung, eine Provokation im buchstäblichen Sinne: Du glaubst, du bist selbstbestimmt, hast dein Leben im Griff, kannst verfügen über deine und eure Zukunft? Du denkst, ein Kind fügt deinem Leben nur etwas hinzu, aber es nimmt dir nichts? Du meinst, es festigt dich in deiner Identität, stellt dich stabil in die Welt, tröstet dich hinweg über deine Sterblichkeit, weil du ja in ihm, deinem Kind, weiterlebst? Was für grandiose Irrtümer! Dein Kind wird nicht so sein wie du. Es geht nicht aus dir allein hervor, sondern aus der Verbindung zu einem Anderen, zu deinem Mann (der übrigens, nebenbei bemerkt, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht dein Mann ist, sondern dein Freund).

»Der Eros«, schreibt Lévinas, »setzt der Rückkehr des Ich zu sich ein Ende.« Das Kind, das dem Eros entspringt (wenn alles klappt wohlgemerkt, auch die Zeugung ist nicht verfügbar), ist das Zeugnis dieses Endes. Schluss mit dem Ich, so wie du es kanntest! Das Anfangen ist folglich auch ein Aufhören. Ein Paar, das aufbricht in die Zukunft der Fruchtbarkeit, lässt etwas hinter sich. Was es war, wird es nie wieder sein.

   SOWOHL-ALS-AUCH

Ein verhangener Februarnachmittag in Berlin. Ich sitze auf dem Sofa, vor mir eine Kanne Tee und ein Stück Apfelkuchen mit Sahne, an meinem kugelrunden Bauch lehnt Nietzsches Genealogie der Moral. Ich bin im achten Monat schwanger, bald wird unsere Tochter geboren, doch noch ist Zeit, mich in diesen Wochen des Mutterschutzes in philosophische Werke zu vertiefen, für deren genaue Lektüre mir im beruflichen Alltag leider oft die Ruhe fehlt.

Nun also Friedrich Nietzsche, der in der dritten Abhandlung seiner berühmten Schrift den Wert asketischer Ideale beleuchtet. »Askese« leitet sich vom griechischen Wort askein ab und bedeutet wörtlich übersetzt: »üben«. Gemeint ist mit diesem Begriff eine streng enthaltsame Lebensweise, eine Selbstüberwindung im Dienste von etwas Höherem. Wie sollte der Mensch seine ihm eigene Kraft entfalten und zum »Optimum« seiner Fähigkeiten streben können, wenn er nicht Verlockungen und Ablenkungen, worin auch immer diese bestehen mögen, entsagte und sich aufs Wesentliche beschränkte? Keine Konzentration ohne Abstinenz, keine Selbstüberwindung ohne Qual, keine Leistungssteigerung ohne unermüdliches Training.

Diese Notwendigkeit einer asketischen Lebensform nun gilt Nietzsche zufolge besonders für eine ganz bestimmte Berufsgruppe, der auch ich angehöre. Er schreibt: »Welcher grosse Philosoph war bisher verheiratet? Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht; mehr noch, man kann sie nicht einmal denken als verheirathet. Ein verheiratheter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz.« Wer sich mit Fug und Recht Philosoph nennen will, wählt also ein Leben in Einsamkeit, heiratet nicht und hat auf keinen Fall Kinder, um sich ganz und gar dem Denken widmen zu können: Davon ist der geistige Schöpfer des Eremiten Zarathustra felsenfest überzeugt.

Zwar sei, so gibt Nietzsche zu, Sokrates durchaus verheiratet gewesen, mit Xanthippe, wie man weiß – doch in der zickigen Gattin habe sich das Komödienhafte dieses Lebensentwurfs nur umso eindrücklicher bestätigt. Nein, ein wahrhafter Denker muss allein bleiben, muss allein bleiben wollen.

Der Philosoph – Nietzsche spricht naturgemäß nur von Männern, eine philosophierende Frau ist für ihn ein noch größerer Witz als ein Denker mit Ehering –, der Philosoph also wendet sich entschlossen »höchster und kühnster Geistigkeit« zu, eine Zuwendung, durch die er »das Dasein« keineswegs verneint, sondern »sein Dasein« als Denker fundamental bejaht. So heißt es unmissverständlich: »Was endlich die ›Keuschheit‹ der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich wo anders als in Kindern (…). Darin ist Nichts von Keuschheit aus irgend einem asketischen Skrupel und Sinnenhass, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockey sich der Weiber enthält: so will es vielmehr, zum Mindesten für die Zeiten der grossen Schwangerschaft, ihr dominirender Instinkt. Jeder Artist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt; für die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen gehört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Erfahrung, – sondern eben ihr ›mütterlicher‹ Instinkt ist es, der hier zum Vortheil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräthe und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalischen Lebens verfügt: die grössere Kraft verbraucht dann die kleinere.«

 Einwurf von der Seitenlinie: Vermutlich ist diese nietzscheanische Erkenntnis dafür verantwortlich, dass etliche Fußballnationaltrainer ihre Spieler während wichtiger Turniere zu Enthaltsamkeit verdonnern. (Der brasilianische Fußballer Ronaldo hingegen empfahl bekanntlich »Passiv-Sex« zwei Stunden vor dem Spiel.)

Starker Tobak. Da sitze ich nun also hochschwanger auf dem Sofa und frage mich: Wie umgehen mit dieser radikalen Ablehnung jener Existenzweise, die ich für mich gewählt habe? Denken und Heiraten, Schöpfen und Kinderhaben, Philosophieren und Koitieren: Schließt sich das wirklich aus?

Natürlich liegt nahe, Nietzsches Ausführungen einfach als lachhaften Gebärneid abzutun, ja, sie in Bausch und Bogen als überholt und auf krankhafte Weise selbstbezogen zu verurteilen – handelt es sich doch um die Sätze eines Egomanen und bekennenden Frauenfeinds, der in seiner eigenen Askese schlechterdings verrückt wurde. Doch das wäre zu einfach. Immerhin stimmt es, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, dass Denken und vor allem Schreiben ein hohes Maß an Enthaltsamkeit erfordert. Wenn ich am Schreibtisch sitze, will ich niemanden sehen, geschweige denn anfassen, und um diesen Rückzugsraum zu schaffen, bedarf es einer großen Portion Egozentrik, gar Aggression.

Unter anderem deshalb habe ich mich keineswegs schon immer als Mutter gesehen. Lange Zeit war ich überzeugt, nie heiraten, nie Kinder haben zu wollen ( Reue), um mich selbstbestimmt auf meine – und nur meine – Ziele konzentrieren zu können. Und wer weiß: Wäre ich F. nicht begegnet, vielleicht hätte ich mich tatsächlich jenen asketischen Idealen verschrieben, die Nietzsche hochhält ( Verantwortung,  Freiheit).

Und doch, denke ich, während ich mir ein letztes Stück Kuchen auf die Gabel schiebe: Ich will mich nicht zwischen der einen und der anderen Art von Fruchtbarkeit entscheiden. Ich möchte nicht wählen zwischen geistiger und körperlicher Fortpflanzung. Hat nicht Nietzsche selbst eine fundamentale Bejahung der Existenz gefordert? War es nicht er, der die Sinnen- und Lustfeindlichkeit verachtete, ja, als »Sklavenmoral« verdammte? Was ich will, ist kein Entweder- oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Ehrgeiziger, asketischer formuliert: Ich will schaffen, woran Nietzsche scheiterte.

   HEBAMMENKUNST

Im Kreißsaal, bei der Geburt unseres ersten Kindes, beschlichen mich erstmals Zweifel an Sokrates. Beziehungsweise an der sokratischen Methode des Philosophierens, so wie Platon sie in seinen Dialogen beschreibt. Es gab natürlich auch andere und weitaus wichtigere Dinge, die mich in den Stunden, bis unsere Tochter den Weg ans Licht der Welt gefunden hatte, beschäftigten: ob alles gut gehen würde. Wie lange die Geburt noch dauern sollte. Und warum S. mir jedes Mal, wenn ein Wehenschub kam, so heftig gegen Arme und Oberkörper boxen musste ( Mitleid). Aber zwischendurch blitzte dieser Gedanke auf: Der weise Sokrates hatte keine Ahnung.

Der Philosoph war nämlich, wie er im Dialog Theätet verrät, der Sohn einer »sehr wackeren und ehrwürdigen Hebamme« namens Phänarete, von der er auch die Kunst des dialogischen Philosophierens erlernt haben will. Zumindest vergleicht er seine eigene philosophische Methode – einem anderen Menschen Wissen zu entlocken, das dieser bereits in sich trägt, ohne es allerdings eigenständig formulieren zu können – mit der Tätigkeit einer Hebamme. Der Befragte geht dieser Analogie zufolge mit einem Gedanken schwanger − der Philosoph leistet lediglich Geburtshilfe. Die Gedanken sind in embryonaler Form bereits vorhanden, sie müssen nur noch zur Welt kommen. Der größte Unterschied zur klassischen Hebammenkunst besteht freilich darin, wie Sokrates sagt, »daß meine Kunst Männer, nicht Weiber entbindet, und daß es die Seelen der Männer sind, auf deren Geburtswehen sie ihr Augenmerk richtet, nicht ihre Leiber«.

Die Vorstellung, dass es sich bei Gedanken im besten Wortsinn um »Kopfgeburten« handele und dass es eines erfahrenen Hebammerichs bedürfe, um sie wohlbehalten ans Licht der Welt zu bringen, war überaus wirkungsreich. Noch Immanuel Kant schrieb in der Metaphysik der Sitten, wenn jemand der Vernunft eines anderen etwas abfragen wolle, so könne dies nicht anders als dialogisch geschehen: »Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang seines Lehrjüngers dadurch, daß er die Anlage zu gewissen Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle blos entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken).« Nach dem griechischen Ausdruck für die Hebammenkunst, maieutike techne, spricht man bei dieser Form des dialogischen Philosophierens daher von Mäeutik.

Was die freundliche, freischaffende Hebamme angeht, die S. und mich während der Schwangerschaft betreute und auf die Geburt vorbereitete, mag diese Analogie nun zutreffen: Wie der von Sokrates beschriebene Geistesgeburtshelfer wusste sie alles darüber, wie man durch »Verabreichungen von Mittelchen (…) die Schmerzen erregen und sie nach Belieben auch mildern« kann. Die diensthabende Hebamme allerdings, die uns schließlich bei der Geburt im Kreißsaal beiseitestand, war aus ganz anderem Holz geschnitzt − und ihre Mittelchen waren bei Weitem nicht so sanft, wie des Philosophen Schulweisheit sich träumen lässt. Irgendwann, als der Kopf unserer Tochter bereits aus dem Unterleib von S. hervorlugte, der Rest ihres Körpers aber noch auf sich warten ließ, lehnte sich die Hebamme, wenn ich mich recht entsinne (aber meine Erinnerungen an jenen überwältigenden Tag sind verschachtelt und verzerrt), mit ausgestreckten Armen von oben gegen den kugelrunden Bauch und drückte mit ihrem Körpergewicht dagegen wie eine Bäuerin, die ein widerborstiges Schwein aus dem Stall schiebt. Mit Erfolg, zum Glück.

Natürlich bin ich der Hebamme für ihre beherzte Geburtshilfe auf ewig dankbar – aber mein Vertrauen in Sokrates ist seitdem nachhaltig erschüttert. Wenn er bei seinem Philosophieren tatsächlich nach einer mäeutischen Methode verfahren wäre, die diesen Namen verdient – dann hätte er seine Schüler, Kollegen und Kontrahenten nicht in stundenlange Gespräche auf dem Athener Marktplatz verwickelt, sondern hätte seine Gesprächspartner, sobald er an einen kritischen diskursiven Punkt gelangt wäre, zu Boden geworfen, in den Schwitzkasten genommen und die gewünschten Antworten mit Ohrfeigen oder Fausthieben aus ihnen herausgeprügelt. Der große Philosoph mag der Sohn einer Hebamme gewesen sein − aber dass er tatsächlich jemals bei einer Geburt (außer seiner eigenen) mit dabei war, scheint mir zweifelhaft. Mit den Seelen der Männer kannte er sich jedenfalls sehr viel besser aus als mit den Körpern der Frauen.