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Buch

Für Emily Charlton sind Vorstadtidyllen das pure Grauen. Ihr Herz gehört New York, wo die Stylistin und Imageberaterin ihr Handwerk als Assistentin der Modepäpstin Miranda Priestley gelernt hat. Emilys Klienten sind die Stars des Film- und Musikgeschäfts, bis snapchattende Millennials ihr die Aufträge wegschnappen. Nun sucht sie Trost bei ihrer Freundin Miriam in Greenwich, wo die Rasenflächen so perfekt manikürt sind wie die Fingernägel der gelangweilten Hausfrauen. Doch diese Welt der Schönheits-OPs, Fitnessclubs und zahllosen Cocktails ist härter als jedes Großstadtpflaster. Und mittendrin Emily, die nun auch noch den Ruf eines Supermodels wiederherstellen soll, das hier untergetaucht ist …

Weitere Informationen zu Lauren Weisberger

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Lauren Weisberger

Die Frauen

von Greenwich

Roman

Aus dem Englischen

von Jeannette Bauroth

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »When Life Gives You Lululemons« bei Simon & Schuster, New York.

Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel »The Wives« bei HarperCollinsPublishers Ltd, London.

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Deutsche Erstveröffentlichung März 2020

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Lauren Weisberger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

nach einer Gestaltung von Simon & Schuster, New York

Umschlagillustration (Frau): Istock/Ralwel

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

AB • Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19412-3
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine gesamte Familie, in Liebe

Teil 1

Kapitel 1

Schon wieder das Nazi-Outfit?

Emily

Emily zerbrach sich den Kopf. Es musste doch etwas geben, worüber sie sich beschweren konnte! Es war Silvester in Los Angeles, einer der nervigsten Abende des Jahres in der möglicherweise nervigsten Stadt der Welt. Warum fiel ihr also nichts ein?

Mit einem Skinny Martini in der Hand beobachtete sie von ihrer Liege aus, wie der wunderbare Körper ihres Ehemanns durchs Wasser schnitt wie eine bewegliche Kunstinstallation. Als Miles auftauchte, stützte er sich am Rand des beleuchteten Infinity Pools ab, in dem das türkisfarbene Wasser über die Seite hinweg geradewegs den Berg hinabzufließen schien. Hinter ihm funkelten meilenweit die Lichter aus dem Tal und ließen die Stadt verlockend, ja geradezu sexy wirken. Los Angeles strahlte eigentlich nur bei Nacht. Dann sah man nichts mehr von dem Smog und den Junkies und dem zermürbenden Verkehr. All das wurde durch die idyllische Aussicht auf den Nachthimmel und die stumm funkelnden Lichter ersetzt, als ob Gott selbst in die Hügel von Hollywood hinabgestiegen wäre und den perfekten Snapchat-Filter für seine am wenigsten geliebte Stadt auf Erden ausgewählt hätte.

Miles lächelte ihr zu, und sie winkte, doch als er ihr bedeutete, zu ihm ins Wasser zu kommen, schüttelte sie den Kopf. Rings um sie herum feierten die Menschen auf diese entschlossene Weise, die man nur an Silvester nach Mitternacht zu sehen bekam: Heute werden wir so viel Spaß haben wie noch nie zuvor, wir werden haarsträubende Dinge sagen und tun, wir lieben unser Leben und alle Menschen darin. Im riesigen Whirlpool saßen Dutzende Feiernde, alle mit einem Drink in der Hand, während andere Gäste sich am Rand niedergelassen hatten und damit zufrieden waren, ihre Füße ins Wasser zu halten und darauf zu warten, dass ein paar Zentimeter Platz frei wurden. Auf der Terrasse über dem Pool legte ein DJ einen Hip-Hop-Remix auf, und überall – auf der Veranda, im Pool, auf der Pool-Terrasse, auf dem Weg ins Haus und vice versa – bewegten sich die Leute glücklich zu seiner Playlist. Auf der Liege links neben Emily saß ein Mädchen, das nur ein Bikiniunterteil trug, rittlings auf einem Mann und massierte ihm die Schultern, während ihre Brüste frei herumschwangen. Sie arbeitete sich an seinem Rücken hinab und begann dann recht aggressiv, seine Pobacken zu kneten. Sie war vielleicht dreiundzwanzig, höchstens fünfundzwanzig, und obwohl ihr Körper alles andere als perfekt war – ihr Bauch war leicht gerundet und ihre Oberschenkel waren übermäßig kurvig –, gab es an ihren Armen keinen Winkespeck, und sie hatte keine Falten am Hals. Überhaupt nirgendwo Falten, nur jugendliche Haut. Anders als die kleinen Demütigungen an Emilys sechsunddreißigjährigem Körper: leichte Dehnungsstreifen an den Hüften, ein minimal absackendes Dekolleté, vereinzelte dunkle Haare entlang ihrer Bikinizone, die trotz Emilys regelmäßiger Wachsbehandlungen einfach so zu sprießen schienen. Sie war keine Schreckgestalt – sie war immer noch schlank und gebräunt, vielleicht sogar richtiggehend heiß in ihrem eleganten Zweiteiler von Eres –, aber es wurde mit jedem Jahr schwerer.

Eine unbekannte Nummer mit der Vorwahl 917 leuchtete auf ihrem Handydisplay auf.

»Emily? Hier spricht Helene. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber wir haben uns vor einigen Jahren bei der Met-Gala kennengelernt.«

Emily blickte gen Himmel, um sich zu erinnern. Obwohl ihr der Name bekannt vorkam, konnte sie ihn nicht zuordnen. Schweigen erfüllte die Luft.

»Ich bin die Managerin von Rizzo.«

Rizzo. Interessant. Er war der neue Bieber, der derzeit heißeste Popstar. Er war zu unsagbarem Ruhm gelangt, als er vor zwei Jahren mit sechzehn als jüngster Sänger aller Zeiten einen Grammy für das beste Album des Jahres gewonnen hatte. Helene war nach Hollywood gezogen, um dort bei einer Agentur zu arbeiten – ICM oder Endeavor, erinnerte Emily sich vage. Aber dass Helene jetzt Rizzo vertrat, war komplett an ihr vorbeigegangen.

»Natürlich erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. Das konnte kein normaler Anruf sein.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Uhrzeit anrufe«, erwiderte Helene. »Hier in New York ist es schon vier Uhr morgens, aber Sie halten sich vermutlich in L.A. auf. Es tut mir schrecklich leid, Sie zu stören …«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin im Elternhaus von Gigi Hadid und nicht halb so betrunken, wie ich es eigentlich sein sollte. Was gibt’s?«

Vom Pool her ertönte ein Kreischen. Zwei Mädchen waren gemeinsam Hand in Hand hineingesprungen und spritzten jetzt Miles und seine Freunde nass. Emily verdrehte die Augen.

»Nun, äh …« Helene räusperte sich. »Das bleibt unter uns, richtig?«

»Natürlich.« Das klang vielversprechend.

»Ich weiß nicht genau, ob ich die Sache überhaupt selbst richtig verstanden habe, aber Riz ist heute Abend bei Seacrests Time-Square-Show aufgetreten, und alles hat problemlos geklappt. Anschließend wollte ich mich mit ein paar alten Collegefreunden treffen, und Rizzo machte sich auf den Weg zu einer Party im 1 OAK. Nüchtern, zumindest, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Zufrieden mit seinem Auftritt.«

»Okay …«

»Vor einer Minute hat mir allerdings ein Kollege, der im New Yorker Büro von ICM arbeitet und zufällig gerade im 1 OAK ist, ein Bild geschickt …«

»Und?«

»Und es sieht nicht gut aus.«

»Was ist los? Ist er bewusstlos? Liegt er in seinem eigenen Erbrochenen? Küsst er einen Kerl? Nimmt er Drogen? Befummelt er eine Minderjährige?«

Helene seufzte und sagte etwas, das jedoch von kreischendem Gelächter übertönt wurde. Im flachen Ende des Pools hatte sich ein Mädchen mit grellpinkfarbenen Haaren und in einem Stringbikini für einen improvisierten Hahnenkampf auf Miles’ Schultern gesetzt.

»Tut mir leid, können Sie das noch einmal wiederholen? Hier geht es gerade ein wenig chaotisch zu«, antwortete Emily und beobachtete, wie das winzige Stoffstück sogar noch enger zwischen die nackten Pobacken des Mädchens gezogen wurde, die auf den Schultern von Emilys Ehemann auflagen.

»Wie es aussieht, trägt er eine Nazi-Uniform.«

»Eine was

»Mit einer Hakenkreuzarmbinde und passendem Stirnband. Springerstiefeln. Das volle Programm.«

»Ach du lieber Himmel«, murmelte Emily, ohne nachzudenken.

»So schlimm?«

»Na ja, toll ist das nicht. Prinz Harry hat das vor einer Ewigkeit auch mal abgezogen, aber wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Ich will nicht lügen, Jungs oder Drogen wären mir lieber gewesen.«

Im Pool griff das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren auf Miles’ Schultern gerade auf ihrem Rücken nach der Schleife ihrer Bikiniträger, riss sie auf und begann, das Oberteil wie ein Lasso über ihrem Kopf zu schwingen.

»Das Wichtigste zuerst: Wer weiß davon?«, fragte Emily.

»Bisher wurde noch nichts online gepostet, aber das ist natürlich nur eine Frage der Zeit.«

»Nur, damit wir uns richtig verstehen: Sie rufen mich an, um mich zu engagieren, richtig?«, vergewisserte sich Emily.

»Ja. Auf jeden Fall.«

»Okay, dann schicken Sie Ihrem Kollegen eine Nachricht, dass er Rizzo auf die Herrentoilette schleppen und aus diesem Outfit rausholen soll. Mir egal, ob er anschließend in einem Tanga aus Goldlamé herumläuft, alles ist besser als diese Naziklamotten.«

»Darum habe ich mich schon gekümmert. Er hat Rizzo sein Hemd und seine Schuhe gegeben, die Armbinde konfisziert, ihm aber die Hose gelassen, die offenbar leuchtend rot ist. Es ist nicht perfekt, aber das Beste, was wir momentan tun können, zumal ich Rizzo selbst nicht erreiche. Aber garantiert postet bald jemand irgendwas.«

»Bestimmt, also hören Sie zu. Das hier ist unser Plan. Sie steigen jetzt in ein Taxi und holen ihn aus dem 1 OAK raus. Nehmen Sie ein Mädchen oder zwei mit, das wirkt besser, und dann bringen Sie ihn in seine Wohnung und sorgen dafür, dass er sie nicht verlässt. Setzen Sie sich vor seine verdammte Tür, wenn es sein muss. Kennen Sie seine Passwörter? Obwohl, vergessen Sie’s. Nehmen Sie ihm einfach das Handy weg. Werfen Sie es ins Klo. Wir müssen uns Zeit verschaffen, ohne dass er in der Zwischenzeit im Suff irgendeinen Tweet absetzt.«

»Okay. Wird erledigt.«

»Der nächste Flug von hier geht morgen früh um sechs. Ich fahre jetzt nach Hause, um zu packen, und dann zum Flughafen. Die Geschichte wird auf jeden Fall publik, wenn ich im Flieger sitze, wenn nicht sogar schon zuvor. Geben Sie auf keinen Fall eine Erklärung ab, hören Sie, auf keinen Fall! Lassen Sie ihn mit niemandem reden, nicht mal mit dem Lieferanten, der das Essen bringt. Absolute Informationssperre, verstehen Sie? Ganz egal, wie schlimm die Fotos sind oder wie entsetzt die Reaktionen, und vertrauen Sie mir, die werden entsetzt sein, ich will keine Reaktion von Ihrer Seite, bevor ich bei Ihnen bin, okay?«

»Danke, Emily. Ich bin Ihnen was schuldig.«

»Dann los!«, drängte Emily und verkniff es sich, laut auszusprechen, was sie eigentlich gerade dachte – dass die Rechnung für ihre Zeit, die Reisekosten und den Feiertagszuschlag Helene einen Herzinfarkt verpassen würde.

Sie nahm den letzten Schluck von ihrer Margarita, stellte sie auf dem Glastisch neben sich ab und stand auf. Dabei versuchte sie, das Paar auf der Nachbarliege zu ignorieren, das eventuell gerade tatsächlich Geschlechtsverkehr hatte.

»Miles? Schatz?«, rief Emily im höflichsten Ton, den sie zustande brachte.

Keine Antwort.

»Miles, mein Lieber? Kannst du ihre Schenkel mal dreißig Sekunden lang von deinen Ohren schieben? Ich muss weg.«

Zufrieden beobachtete sie, wie ihr Ehemann ohne Umschweife das Mädchen ins Wasser absenkte und zu ihr herübergeschwommen kam. »Du bist doch nicht sauer, oder? Sie ist doch nur ein naives Kind.«

Emily kniete sich hin. »Natürlich bin ich nicht sauer. Wenn du mich schon betrügen willst, dann such dir bitte jemanden, der um einiges schärfer ist als die da.« Sie nickte in Richtung des Mädchens, das nicht besonders begeistert davon schien, dass ihre Haare nass geworden waren. »Ich habe einen Anruf aus New York erhalten. Es geht um einen Notfall mit Rizzo. Ich fahre nach Hause, um zu packen, damit ich hoffentlich vor sechs am LAX sein kann. Ich rufe dich an, wenn ich gelandet bin, okay?«

Obwohl es keineswegs das erste Mal war, dass Emily mitten in irgendwas abberufen wurde – eine befreundete Chirurgin behauptete, Emily hätte schlimmere Bereitschaftszeiten als sie selbst –, wirkte Miles absolut schockiert.

»Aber es ist Silvester! Gibt es denn niemanden in New York, der sich darum kümmern kann?« Es war offensichtlich, dass er mit der Situation alles andere als glücklich war, und Emily verspürte einen Stich, bemühte sich aber um einen lockeren Ton.

»Tut mir leid, Schatz. Das hier kann ich nicht ablehnen. Bleib hier, amüsier dich. Aber nicht zu sehr …« Den letzten Satz hatte sie hinzugefügt, damit er sich besser fühlte. Sie machte sich nicht mal ansatzweise Sorgen, dass Miles etwas Dummes tun würde. Sie beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die nassen Lippen. »Ich ruf dich an«, versprach sie und wob sich einen Weg durch die Menge bis zur kreisrunden Einfahrt, wo einer der süßen Mitarbeiter vom Parkdienst ihr einen Wagen heranwinkte. Er hielt ihr die Tür auf, und sie schenkte ihm ein Lächeln und einen Zehndollarschein.

»Zwei Fahrtziele, bitte«, erklärte sie dem Fahrer. »Zuerst zum Santa Monica Boulevard, wo Sie auf mich warten werden, und dann zum Flughafen. Aber schnell.«

New York, ihre erste große und wahre Liebe, wartete.

Kapitel 2

Der gelebte Traum

Miriam

Sie hatte gerade erst die zweite Meile begonnen, und trotzdem überkam Miriam schon das Gefühl, gleich zu ersticken. Sie atmete hastig und unregelmäßig, doch egal, wie tief sie Luft einsog, es gelang ihr einfach nicht, ihren Puls zu senken. Zum tausendsten Mal während der vergangenen sechzehn Minuten überprüfte sie ihren Fitbit – wie konnten das nur erst sechzehn Minuten gewesen sein? – und machte sich kurz Sorgen, dass die angezeigte Herzfrequenz von 165 sie umbringen könnte. Was sie offiziell zur einzigen Frau in Greenwich, oder vielleicht sogar weltweit machen würde, die durch Joggen gestorben war. Und ganz ehrlich, eigentlich konnte man es kaum als Joggen bezeichnen, wenn man gerade mal eine lausige Meile innerhalb von sechzehn Minuten schaffte.

Aber sie hatte sich zum Joggen überwunden! Das war doch genau das, was all die Wellness-Blogger und Motivationsredner immer predigten, oder etwa nicht? Einfach machen! Wer anfängt, hat schon gewonnen! Erwarte keine Perfektion, einfach machen und gut! »Idioten«, murmelte sie und blies riesige Atemwolken in die eiskalte Januarluft. Sich am dritten Januar um sieben Uhr morgens zum Joggen zu motivieren, noch dazu an einem Sonntag, war mehr als einfach nur machen. Es war ein regelrechter Triumph.

»Morgen!«, rief eine Frau, während sie Miriam links überholte und damit das, was von ihrem Herzen übrig war, beinahe zum absoluten Stillstand brachte.

»Hi!«, rief Miriam dem Rücken der Frau hinterher, die wie eine schwarz gekleidete Gazelle wirkte: Sie hatte Leggings von Lululemons mit aufwendigen Netzeinsätzen an, die sowohl cool als auch extrem kälteanfällig wirkten. Dazu trug sie eine taillierte schwarze Daunenjacke, die an ihren nicht existierenden Hüften endete, schwarze Nike-Turnschuhe und eine Art technisch aussehende Mütze mit einem niedlichen Bommel. Ihre Beine schienen endlos, und ihr Po wirkte so fest, dass man vermutlich nicht mal eine Haarklemme darunter verstecken konnte. Ganz zu schweigen von einer Haarbürste, die Miriam einmal zu ihrem eigenen Entsetzen erfolgreich unter ihre linke Pobacke hatte klemmen können.

Miriam verlangsamte ihr Tempo bis auf Schrittgeschwindigkeit, doch bevor sie ihre Fassung wiedergewinnen konnte, kamen ihr auf der anderen Straßenseite zwei Frauen in gleichermaßen fabelhafter Trainingskleidung entgegen. Ein Golden Retriever zog glücklich an der Leine einer Frau in grellpinker Daunenjacke, während ein keuchender brauner Labrador neben einer Frau in Armeegrün hertrabte. Zusammen wirkten sie wie eine bewegliche Weihnachtskarte und waren in einem zügigen Tempo unterwegs.

»Gesundes neues Jahr!«, rief die Besitzerin des Golden Retrievers, als sie an Miriam vorbeisprinteten.

»Gleichfalls«, murmelte sie, erleichtert darüber, dass es sich bei ihnen nicht um Bekannte handelte. Wobei sie in den fünf Monaten, die sie jetzt hier wohnten, kaum andere Mütter kennengelernt hatte. Der Umzug war gerade rechtzeitig zum Beginn der Vorschule für die Zwillinge und der zweiten Klasse für Benjamin in der neuen öffentlichen Schule erfolgt. Bis auf eine kurze Begrüßung einiger anderer Moms beim täglichen Bringen und Abholen an der Schule hatte sie noch nicht viel Gelegenheit gehabt, sich mit anderen Frauen auszutauschen. Paul behauptete, dass das in allen reichen Vororten so war – die Menschen verkrochen sich in ihren großen Häusern, wo sie im Ober- oder Untergeschoss alles hatten, was sie brauchten: ihre Fitnessräume, ihre Filmräume, ihre Weinkeller und Probiertische. Da die Nannys mit den Kindern spielten, mussten die sich nicht mit anderen Kindern zum Spielen treffen. Die Einkäufe wurden von den Haushälterinnen erledigt. Angestellte, Angestellte und noch mehr Angestellte kümmerten sich um alles, angefangen vom Rasenmähen bis hin zum Poolreinigen oder dem Auswechseln der Glühbirnen.

Der berauschende Geruch von brennendem Holz begrüßte Miriam, sobald sie ihr Haus durch den Hintereingang betrat, und ein schneller Blick ins Wohnzimmer bestätigte, dass ihr Ehemann ihr Bedürfnis vorhergesehen hatte, am Kamin zu sitzen. Das gehörte zu den Dingen, die sie bisher am Vorstadtleben am meisten liebte: Kaminfeuer am Morgen. Sie machten ansonsten düstere Vormittage sofort gemütlich und ließen die Wangen ihrer Kinder noch rosiger strahlen als sonst.

»Mommy ist zu Hause!« Matthew, fünf Jahre alt und besessen von Waffen aller Art, verkündete das von der Sofalehne aus, auf der er im Schlafanzug balancierte und dabei ein realistisch aussehendes Schwert schwang.

»Mommy! Matthew gibt mir das Schwert nicht, dabei wollten wir uns abwechseln!«, beschwerte sich seine Zwillingsschwester Maisie lauthals von ihrer Position unter dem Küchentisch aus, was ihr Lieblingsort zum Schmollen war.

»Mom, gibst du mir dein Passwort, damit ich Hellion kaufen kann?«, fragte Benjamin, ohne von Miriams iPad aufzublicken, das er sich einfach genommen hatte.

»Nein«, erwiderte sie. »Wer hat dir denn jetzt Elektronikzeit erlaubt? Leg das iPad weg, jetzt ist Familienzeit.«

»Wie wär’s mit deinem Fingerabdruck? Bitte? Jameson sagt, es ist das coolste Spiel aller Zeiten. Warum darf er es haben und ich nicht?«

»Weil seine Mommy netter ist als ich«, antwortete sie und schaffte es, ihrem Sohn einen Kuss auf die Haare zu geben, bevor er ihr auswich.

Paul stand in einer Flanellschlafanzughose und einem Fleecepulli am Herd und wendete Pancakes in der Pfanne. »Ich bin echt beeindruckt«, sagte er. »Keine Ahnung, wie du dich heute Morgen dazu motivieren konntest.« Miriam stellte wieder einmal fest, wie gut aussehend er war, trotz der vorzeitig ergrauten Haare. Er war nur drei Jahre älter als sie, aber man hätte ihn leicht für mindestens ein Jahrzehnt älter halten können.

Miriam griff nach ihrer Taille und bekam zwei Hände voll Speck zu fassen. »Damit.«

Paul legte den letzten Pancake zu dem guten Dutzend anderer auf einen Teller und schaltete den Herd aus. Dann kam er herüber und umarmte sie. »So wie du bist, bist du perfekt«, versicherte er ihr automatisch. »Hier, iss einen.«

»Auf keinen Fall. Ich quäle mich doch nicht durch zwanzig höllische Minuten, um das alles mit einem Pancake wieder zunichtezumachen.«

»Sind sie fertig, Daddy? Ja? Ja?«

»Können wir Schlagsahne dazu essen?«

»Und Eis?«

»Ich will keine von denen mit Blaubeeren!«

Blitzschnell hatten sich alle drei Kinder an den Tisch gesetzt, wo sie vor Begeisterung beinahe Schnappatmung bekamen. Miriam versuchte, das Chaos zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, wie sehr sich die Kinder freuten und wie nett ihr Mann drauf war. Aber das fiel gar nicht so leicht, wenn die Arbeitsplatte überall mit Mehl bedeckt war, Teigspritzer an den Fliesen hinter der Herdplatte klebten und auf dem Fußboden heruntergefallene Schokoladenstückchen und Blaubeeren lagen.

»Möchte jemand Obstsalat oder Joghurt?«, fragte sie und holte beides aus dem Kühlschrank.

»Ich nicht!«, riefen alle mit vollem Mund.

Ja, ich auch nicht, dachte Miriam, während sie sich ein wenig in eine Schüssel füllte. Sie steckte sich einen Löffel voll in den Mund und hätte ihn beinahe wieder ausgespuckt. Der Joghurt war ganz offensichtlich schlecht geworden, und nicht mal die süßen Erdbeeren konnten den ranzigen Geschmack überdecken. Sie kratzte den gesamten Inhalt der Schüssel in den Mülleimer und überlegte, ob sie sich ein paar Eier kochen sollte. Stattdessen knabberte sie an diesen ballaststoffreichen Kräckern, die wie Pappe schmeckten, doch nach zwei Bissen brachte sie das nicht mehr über sich.

»Gönn dir was«, murmelte sie, nahm sich einen Pancake mit Schokoladenstückchen vom Stapel und schob ihn sich in den Mund.

»Sind die nicht gut, Mommy? Möchtest du auch Schlagsahne dazu?«, fragte Benjamin und schwenkte den Behälter herum wie eine Trophäe.

»Ja bitte«, sagte sie und hielt ihm den Rest ihres Pancakes hin, damit er ihn besprühen konnte. Ach, egal. Schließlich lebte sie ihrer Tochter gerade vor, dass Essen kein Feind war. Alles in Maßen. In diesem Haus gab es keine Essstörungen. Sie hatte gerade eine Kapsel in die Kaffeemaschine eingelegt, als sie Paul »Ach du Scheiße« murmeln hörte.

»Daddy! So was sagt man nicht!«, ermahnte ihn Maisie und klang dabei genau wie Miriam.

»Daddy hat ein schlimmes Wort gesagt! Daddy hat ›Scheiße‹ gesagt!«

»Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte er, das Gesicht hinter der Zeitung versteckt, die Miriam auf den Tisch gelegt hatte. »Miriam, komm her und sieh dir das an.«

»Gleich. Willst du auch einen Kaffee?«

»Nein, komm bitte jetzt gleich.«

»Was ist denn los, Daddy? Was steht denn in der Zeitung?«

»Hier hast du noch einen Pancake«, antwortete Paul Maisie und reichte die Zeitung weiter an Miriam.

Unterhalb des Knicks, aber immer noch auf der Titelseite prangte die Schlagzeile: WEHE, WENN SIE LOSGELASSEN! FRAU DES SENATORS BETRUNKEN BEIM AUTOFAHREN ERWISCHT … MIT KINDERN IM AUTO!

»Heilige Scheiße.«

»Mommy! Du hast ›Scheiße‹ gesagt!«

»Daddy, jetzt hat Mommy ein schlimmes Wort gesagt!«

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sang Matthew vor sich hin.

»Wer möchte einen Film gucken?«, fragte Paul. »Benjamin, geh runter in den Keller und mach euch Boss Baby an.« Wieder begann ein hektisches Stühlerücken, als die Kinder Richtung Treppe davonliefen, und Sekunden darauf legte sich wohltuende Stille über den Raum.

»Das kann nicht stimmen«, meinte Miriam und studierte das Polizeifoto ihrer alten Highschoolfreundin. Sie hatten sich in ihrem letzten Highschooljahr an der Amerikanischen Schule in Paris kennengelernt. Karolina war dort gewesen, um zu modeln und nebenbei Englisch zu lernen, und Miriams Eltern waren wegen einer Anstellung mit ihr dorthin gezogen. »So etwas würde Karolina niemals tun.«

»Aber hier steht es schwarz auf weiß. Sie hat den Alkoholtest bei der Polizeikontrolle nicht bestanden. Auf dem Rücksitz lagen leere Flaschen. Sie hat sich geweigert, in den Promilletester zu pusten. Außerdem hatte sie fünf Kinder im Auto bei sich, darunter ihr eigenes.«

»Das kann auf keinen Fall stimmen«, beharrte Miriam und überflog den Artikel. »Die Karolina, die ich kenne, macht so etwas nicht.«

»Wie lange ist es her, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt? Vielleicht hat sie sich verändert. Das Leben im Scheinwerferlicht, das die beiden jetzt führen, ist vermutlich nicht einfach.«

»Sie war zehn Jahre lang das Aushängeschild für L’Oréal! Der Megastar unter den Supermodels! Ich glaube kaum, dass sie Probleme mit dem Leben im Rampenlicht hat.«

»Ja, aber das Leben als Ehefrau eines Senators ist eine ganz andere Geschichte. Erst recht, wenn besagter Senator als Präsident kandidieren will. Da ist sie der Öffentlichkeit auf eine völlig andere Art und Weise ausgeliefert.«

»Kann sein, keine Ahnung. Weißt du was, ich rufe sie einfach an. Das kann nicht wahr sein.«

»Ihr habt seit Monaten nichts voneinander gehört.« Paul trank einen Schluck von seinem Kaffee.

»Was spielt denn das für eine Rolle!« Miriam bemerkte, dass sie laut geworden war, und senkte die Stimme. »Wir kennen uns seit unserer Teenagerzeit.«

Paul hob beschwichtigend die Hände. »Grüß sie von mir, okay? Ich schau mal nach den kleinen Monstern.«

Es klingelte fünf Mal auf Karolinas Handy, bevor der Anruf auf die Mailbox umgeleitet wurde. »Hi. Dies ist die Nummer von Karolina. Ich kann Ihren Anruf derzeit leider nicht entgegennehmen, aber wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie schnellstmöglich zurück. Danke!«

»Lina? Ich bin’s, Miriam. Ich habe diesen grässlichen Artikel gesehen und wollte mit dir sprechen. Ich glaube keine Sekunde lang, was da in der Zeitung steht, und das gilt auch für alle anderen, die dich kennen. Ruf mich zurück, sobald du diese Nachricht abhörst, okay? Pass gut auf dich auf, meine Liebe. Mach’s gut.«

Miriam drückte auf die rote Taste und starrte dann aufs Display, als könnte sie Karolinas Anruf telepathisch herbeizaubern. Doch dann hörte sie einen Schrei aus dem Keller – einen echten Schmerzensschrei – keinen Ich-hasse-meine-Geschwister-Schrei oder einen Ich-bin-jetzt-dran-Schrei –, daher holte sie tief Luft und stand auf, um nachzusehen.

Das Jahr war noch nicht mal zweiundsiebzig Stunden alt, und schon deutete sich an, dass es ein Loser-Jahr werden würde. Auf dem Weg zum Keller schnappte sie sich einen inzwischen kalten Pancake vom Teller: 2018 konnte sich seine Neujahrsvorsätze sonst wohin stecken.