Buch
Auf einer nebeligen, sturmgepeitschten Insel vor der Küste Bohusläns hat sich eine New-Age-Bewegung in einem alten Landsitz niedergelassen. Der charismatische Anführer Franz Oswald hat eine Lehre entwickelt, ViaTerra, die das natürliche Gleichgewicht des Körpers wiederherstellen soll. Sofia Bauman, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, ist fasziniert von dem Mann und dem Ort, und als man ihr einen Job bei ViaTerra anbietet, greift sie zu. Zunächst läuft alles gut, Sofia ist erfolgreich und arbeitet sich hoch. In ihrer Freizeit forscht sie nach der Geschichte des geheimnisvollen Landsitzes, jenen angeblich verfluchten Ort, der schon so viel Leid über seine Besitzer gebracht haben soll.
Doch bald schon hat sie keine Zeit mehr für Recherchen, denn Oswald verändert sich. Das Personal muss immer härter arbeiten und wird beim kleinsten Fehltritt hart bestraft. Die Bedingungen werden immer schwieriger, schließlich kommt es sogar zu einem tödlichen Unfall. Sofia erkennt, dass sie fliehen muss, doch das ist leichter gesagt als getan, denn sie kann niemandem trauen …
Autorin
Mariette Lindstein ist in Halmstad, an der Westküste Schwedens, geboren und aufgewachsen. Mit zwanzig wurde sie Mitglied bei Scientology. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre arbeitete Mariette für die Organisation, unter anderem auch im Hauptquartier in Los Angeles, bis sie die Gemeinschaft 2004 verließ. Heute ist sie mit dem Autor und Künstler Dan Koon verheiratet. Die beiden leben mit ihren drei Hunden in einem Wald außerhalb von Halmstad. »Die Sekte – Es gibt kein Entkommen« ist ihr erster Roman und wurde in Schweden mit dem Crimetime Specsavers Award für das beste Debüt ausgezeichnet. Neben dem Schreiben hält Mariette Vorträge über die Gefahren von Sekten.
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MARIETTE LINDSTEIN
DIE SEKTE
ES GIBT KEIN ENTKOMMEN
ROMAN
Aus dem Schwedischen
von Stefanie Werner
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Sekten på Dimön« bei Mörkersdottir förlag, Rättvik.
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Copyright der Originalausgabe © 2015 by Mariette Lindstein,
by Agreement with Enberg Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018
by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Bitzer
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage
Umschlagdesign: Wil Immink
Umschlagmotiv Frau: Silas Manhood
JaB · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-21460-9
V003
www.blanvalet.de
Prolog
Sie liegt schon lange wach, da im Dunkeln. Zählt ihre Atemzüge, um ihr Zeitgefühl nicht zu verlieren. Einmal einatmen, drei Sekunden. Ausatmen, noch mal drei. Sekunden werden zu Minuten. Bald eine Stunde. Dann ist es so weit.
Es herrscht Dunkelheit. Man sieht keine Schatten, keine Konturen oder die Ziffern des Radioweckers. Wie sie so daliegt, fühlt sie sich federleicht, als schwebte sie. Doch das Rechnen hält sie wach, und sie ist jetzt sowieso viel zu angespannt, um einzunicken. Zweifel machen sich in ihr breit. Die Angst zu scheitern lässt ihre Nerven quietschen wie die Saiten einer ungestimmten Violine. Panik hat sich wie ein schmieriger Film über ihre Gedanken gelegt. Am besten nur atmen, nichts denken, einfach nur aushalten, bis es an der Zeit ist.
Erste zaghafte Regentropfen, die gegen das Fenster prasseln, wachsen zu einem anhaltenden Trommelwirbel an.
Regen, entgegen allen Vorhersagen. Sie verflucht den Wetterbericht, ahnt, wie schwierig es sein wird, bei diesem Wetter durch den Wald zu rennen.
Dann ist es so weit. Vorsichtig kriecht sie unter der Decke hervor und kniet sich auf den Boden. Schiebt die Hände unters Bett und tastet herum. Findet ein Bündel, ihren Rucksack, in dem alles ist, was sie braucht. Fast nichts. Da stehen auch ihre Turnschuhe, solche, in die man einfach hineinschlüpft. Zum Binden der Schnürsenkel ist keine Zeit. Mit ruhigen Bewegungen zieht sie ihre Jacke, die über dem Rucksack liegt, und die Schuhe an. Sie macht lautlose, kleine, zaghafte Schritte auf dem Boden. Ihr Körper fühlt sich mit einem Mal klobig und bleischwer an.
Aus einem der Betten hört sie Gemurmel und erstarrt. Jemand dreht sich um, der Lattenrost knarrt. Sie wartet ab, bis die Atemzüge wieder ruhiger werden. Die letzten Meter. Sie tastet nach der Türklinke, findet sie. Als sie die Tür öffnet, schlägt ihr ein Hauch kühler Luft vom Gang entgegen. Die Nachtbeleuchtung taucht die weißen Wände in schwach gelbes Licht. Ein Gefühl, als ob sie den Flur entlangglitte, ergreift von ihr Besitz. Sie zieht an der schweren Eisenklappe vor dem Hauptsicherungskasten. Das ist der entscheidende Moment. Jetzt oder nie. Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten hat sie höchstens, mehr nicht. Wenn sich die erste Aufregung gelegt hat, versammeln sie sich und zählen durch. Dann beginnt sie, die Menschenjagd.
Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst.
Still wiederholt sie die Worte, nur in ihrem Kopf, wie ein Mantra. Holt einige Male ganz tief Luft. Noch kann sie zurück. Sich anders entscheiden. Ins noch warme Bett zurückschlüpfen. Doch wenn sie jetzt nicht flieht, wird sie es nie mehr tun, und dieser Gedanke quält sie so unerträglich, dass er ihr neuen Mut gibt.
Als sie den Schalter im Sicherungskasten umlegt, hört sie ein Knacken, dann ein Knistern. Von der totalen Dunkelheit wird ihr so schwindlig, dass sie ins Leere wankt. Sie sucht Halt an der Wand, tastet sich vorwärts bis zum Notausgang und öffnet die Tür. Kalte, klamme Luft schlägt ihr entgegen. Der Regen liegt wie eine schwere Decke über dem Hof und durchtränkt den Rasen, der gierig nach ihren Füßen greift.
Das Gras quietscht, als sie losrennt. Jetzt ist sie dem Zufall erbarmungslos ausgeliefert. Wenn sie Pech hat, entdeckt sie jemand, der im Herrenhaus aus dem Fenster sieht. Doch nichts tut sich. Alles, was sie hört, ist das Trommeln des Regens auf dem Dach, das Wasser, das aus den Fallrohren stürzt, und das Schmatzen ihrer Schritte auf dem Rasen.
Die Gartenleiter steht noch an der Mauer. Gott sei Dank.
Sie muss ganz schnell rüberklettern, denn schon bald wird der Notfallgenerator anspringen. Dann wird der Hof wieder taghell erleuchtet sein und der Stacheldraht oben an der Mauerkante heftige Stromstöße verteilen.
Sie klettert die Leiter hinauf, findet mit den Füßen Halt zwischen den spitzen Stacheln des Elektrozauns und stellt sich auf die glitschige Mauer.
Das ist der Augenblick, den sie sich so oft ausgemalt hat. Herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet. Ist sie erst einmal unten angekommen, auf der anderen Seite, gibt es kein Zurück mehr. Für einen Moment überkommt sie ein Gefühl unbändiger Freude, bis die Angst wieder die Oberhand gewinnt.
Zuerst wirft sie den Rucksack hinunter, dann stößt sie sich mit aller Kraft von der Mauer ab. Über den Stacheldraht, fort von der Gefahr in ihrem Rücken, fällt sie hinein in die Dunkelheit. Als sie aufkommt, knackst es in ihrem Fuß. Sie fährt mit der Hand darüber, und der Schmerz lässt nach. Verzweifelt sucht sie nach dem Weg. Dort ist er. Sie rennt wie eine Wahnsinnige den schmalen Pfad entlang. Manchmal verpasst sie eine Kurve und rast fast direkt ins Gebüsch, doch sie findet immer wieder zurück auf den Weg. Das Adrenalin treibt sie an. Vorwärts. Vorwärts, das ist alles, was zählt.
Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst.
Sie versucht, den Untergrund zu erkennen, auf dem sie läuft. Springt über verschlungene Wurzeln, die den kleinen Pfad kreuzen. Ihr Herz pocht, es brennt in ihrer Brust. Hinter ihr geht der Alarm auf dem Landsitz los. Die schwankenden Lichtkegel der Sucher spiegeln sich im Laub. Es wird heilloses Durcheinander ausbrechen. Sie suchen nach ihr.
Ihre Kleider sind schwer vom Regenwasser, und die Rucksackriemen schneiden ihr in die Schultern. Endlich erkennt sie ein Licht zwischen den Bäumen. Jetzt ist sie nah an ihrem Versteck. Ganz, ganz nah.
Sie wird langsamer. Hält an.
Schaut sich nach dem Ende des Weges um.
Da ist ein Geräusch im Wald.
Ihr bleibt fast das Herz stehen. Ihre Muskeln verkrampfen sich. Panik steigt in ihr auf.
Er taucht plötzlich zwischen den Bäumen auf und bleibt ein paar Meter entfernt von ihr stehen. Sie ist chancenlos, kann nirgendwohin fliehen. Das Gelände ist auf beiden Seiten des Weges undurchdringlich und voller Dickicht.
Ihre Enttäuschung ist unbeschreiblich groß. Ihre Eingeweide ziehen sich zu einem großen, harten Klumpen zusammen.
Das ist doch völlig unmöglich.
Wie konnte das geschehen?
Jetzt steht er hier.
Irgendwo bellt ein Hund.
Der Alarm heult.
Ihr letzter Gedanke ist die Erinnerung an eine Stimme. Die zwar leise, aber so deutlich spricht, dass sie jedes Wort versteht.
Von hier entkommst du nie. Nur dass du es weißt.
Das Blut pulsiert in ihren Schläfen.
Gewaltsame Schläge, und unter ihren Lidern flimmert ein Funkenregen.
Dann kommt der Schwindel, und alles wird schwarz.
Ich lasse die Hummel eine Weile durch das kleine Aquarium fliegen. Sie versucht auszubrechen, summt wütend, prallt aber nur gegen die Wände ringsum.
Dann sitzt sie ein paar Minuten lang ruhig und entmutigt auf dem Korkboden.
Ich hebe den Glasdeckel hoch, langsam und vorsichtig. Halte die Luft an, während ich die Hand mit der Stecknadel sachte nach unten führe. Nur ein Bruchteil einer Sekunde, und die Hummel sitzt aufgespießt auf dem Boden fest. Jetzt summt sie wie verrückt, dreht sich in einem wahnsinnigen, aber aussichtslosen Tanz im Kreis um die Nadel. Die Flügel arbeiten ununterbrochen, doch sie bewegt sich nicht vom Fleck. Ich hebe den Korkboden aus dem Aquarium, lege ihn vor mich und greife zur Pinzette.
Lily starrt mich mit offenem Mund an. Fährt mit der Zunge über die Unterlippe. Ich schaue ihr in die Augen, um etwas wie Angst oder Ekel in ihrem Blick zu finden, doch da ist nur ein Abgrund, tiefes Dunkel, das mich aufsaugt und anzieht.
Aber erst einmal die Hummel.
Zuerst reiße ich ihr die Flügel aus, dann die Beine. Ich lasse mir Zeit. Lege alle Teile in eine Reihe vor Lily auf den Tisch. Ununterbrochen summt die blöde Hummel und dreht sich um die Nadel, inzwischen nur noch der Körper, als hätte sie irgendeine Chance.
»Warum tust du das?«, fragt Lily.
»Weil es mir Spaß macht«, antworte ich.
»Was? Sie zu quälen?«
»Nein. Dein Gesicht zu sehen, während du mir dabei zuschaust.«
Mir bleibt fast die Luft weg, als ich merke, dass sie leicht zittert.
So hat alles begonnen. Mit einer kleinen Hummel.
1
Die kleine Fähre lehnte sich auf dem dunklen Wasser in den Seegang. Sie waren jetzt nicht mehr weit entfernt, konnten die Insel aber immer noch nicht sehen, Frühnebel lag wie eine dicke Decke über dem Meer. Kein Horizont in Sicht.
Sofia war erleichtert gewesen, als das Festland auf der anderen Seite hinter dem Nebelvorhang verschwand. Der Abstand zu Ellis war immer größer geworden. Es war schön, sich zusehends von ihm zu entfernen, wenn auch nur für den Moment.
Die Beziehung mit Ellis war irgendwie schon immer eine Achterbahn gewesen, und das mit einer Intensität, dass sie eigentlich nur in einer Katastrophe hatte enden können. Seine miese Laune hätte bei ihr schon am Anfang alle Alarmglocken in Gang setzen müssen, aber da hatte sie ausgerechnet das besonders reizvoll an ihm gefunden. Sie hatten sich im Prinzip über alles gestritten, und am Ende hatte er sie im Internet öffentlich verunglimpft. Das hatte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie bei ihrer letzten Prüfung an der Universität fast durchgefallen wäre. Mit Müh und Not hatte sie dann doch noch die Kurve gekriegt.
Genau zu diesem Zeitpunkt war die Einladung zu einem Vortrag von Franz Oswald eingetrudelt. Nur deshalb befand sie sich nun auf dieser Fähre und reiste zu einer fremden Insel weit draußen in den Schären.
Wilma, Sofias beste Freundin, saß neben ihr und starrte ebenfalls in den Nebel. Die leichte Anspannung war ihnen beiden anzumerken, die Unruhe, weil sie nicht wussten, was sie auf der Insel erwartete.
Bevor die Einladung zu dem Vortrag gekommen war, hatte Sofia den ganzen Morgen damit verbracht, am Computer Worte wie »Zukunftsvision« und »Berufswahl« zu googeln. Doch am Ende hatte sie einsehen müssen, dass sie im Internet keine Hilfe finden würde und nach wie vor nicht wusste, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Als sie die Mail entdeckte, wunderte sie sich erst, dass die Nachricht nicht im Spamordner gelandet war.
Ein Vortrag von Franz Oswald über ViaTerra. So lernst du, wie du auf dem Weg der Erde wanderst, stand da.
Was bitte hatte das zu bedeuten? Sie fand, dass die Sache merkwürdig klang, aber von Franz Oswald hatte sie schon gehört. An der Universität sprach man über ihn. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und hielt Vorträge über seine Lehre vom reinen Leben, die er ViaTerra nannte. Unter den Studentinnen wurde gemunkelt, er sei attraktiv und habe etwas Geheimnisvolles an sich.
Sie las die Mail noch einmal und vergewisserte sich, dass der Vortrag kostenlos war. Schaden konnte es nicht, sich anzuhören, was dieser Oswald zu sagen hatte. Sie schickte Wilma eine SMS. Die Freundin war schnell überredet. Zurzeit unternahmen sie fast alles gemeinsam.
Sie waren spät dran und setzten sich in dem bereits voll besetzten Saal in die erste Reihe. Über der Bühne hing ein großes Banner, auf dem in riesigen grünen Buchstaben stand: ViaTerra: Wir wandern auf dem Weg der Erde! Ansonsten war der Saal eher kalt und steril, und in der Luft hing der durchdringende Geruch von Putzmittel.
Ein verwundertes Raunen ging durch das Publikum, als Oswald mit einer Schubkarre auf der Bühne auftauchte. Sie war bis zum Rand mit etwas Weißem beladen. Mehl oder Zucker. Sofia konnte nicht genau erkennen, was es war, denn das Licht war auf das Podium ausgerichtet, doch ausgerechnet dort, wo Oswald stehen blieb, war es schummrig. Die Frau, die neben Sofia saß, stöhnte leise. Hinter ihr flüsterte jemand: »Was soll das denn?«
Oswald stellte die Schubkarre ab und hielt einen Moment inne, bevor er nach vorn aufs Podium ging.
»Zucker«, sagte er. »Hier seht ihr die Menge, die eine durchschnittliche Familie in drei Monaten zu sich nimmt.«
Mit einem Mal ärgerte sich Sofia, dass sie gekommen waren. Sie spürte den deutlichen Impuls, einfach aufzustehen und zu gehen – so stark, dass ihre Beine schon zuckten. Sie sollte lieber Bewerbungen schreiben, schoss ihr durch den Kopf, statt sich Vorträge anzuhören. Außerdem machte Oswald sie nervös.
Er war groß, athletisch und trug ein graues Sakko über einem schwarzen T-Shirt. Das dunkle Haar hatte er sich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das Gesicht war gebräunt, vermutlich künstlich, aber es stand ihm gut. Oswald sah gepflegt und kultiviert aus, gleichzeitig hatte er etwas Primitives, fast Animalisches an sich. Aber vor allem war es seine ungewöhnliche Autorität, die die Luft zum Flimmern brachte, weil alle vor Erwartung ganz unruhig waren.
Eine Weile stand er schweigend da. Die Stimmung im Publikum wurde ruhiger, verhaltener. Dann begann er in schwindelerregendem Tempo mit seinen Ausführungen und steigerte das Tempo des Vortrags in den folgenden Minuten zusätzlich. Die Worte kamen nur so aus ihm herausgeschossen, wie aus einem Maschinengewehr. Mithilfe einer PowerPoint-Präsentation demonstrierte er, wie Gehirne, Nervensysteme, Lungen und fettleibige Körper Giften und Stress zum Opfer fielen.
Allmählich konnte Sofia seine Position erahnen. Eine Art Zurück-zu-Mutter-Erde-Philosophie, in der alles Künstliche der Anfang vom Ende war.
»Machen wir eine Pause«, verkündete Oswald unvermittelt. »Und danach werde ich euch die Lösung für dieses Debakel präsentieren.«
Den zweiten Teil seines Vortrags bestritt er deutlich ruhiger und entspannt. Er pries an, in vollständiger Dunkelheit zu schlafen, sauberes Wasser zu trinken und ökologisch angebaute Lebensmittel zu essen. Nichts Neues, keine Sensation. Dennoch klang es aus seinem Mund wie eine bahnbrechende Erkenntnis.
»Zu unserem Programm gehört auch eine besondere Geisteshaltung«, erklärte er. »Aber nicht das, was ihr jetzt vielleicht glaubt. Daher folgt mir jetzt bitte aufmerksam.«
Er legte eine Kunstpause ein. Plötzlich war Sofia, als starrte er sie direkt an. Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Während er weitersprach, ließ er sie nicht aus den Augen.
»Seid ihr es nicht leid, euch immer anzuhören, man müsse im Hier und Jetzt leben? Wir sollten aufhören, auf diese religiösen Spinner zu hören, die predigen, dass nur die Gegenwart zähle. Hören wir auf, ihre Bücher zu kaufen und ihre Kurse zu belegen, und lernen wir lieber, still dazusitzen, ins Leere zu schauen und tief einzuatmen. Bei ViaTerra wird die Vergangenheit nicht totgeschwiegen. Wir ziehen Energie aus ihr.«
Sofias Hand schoss wie von allein in die Höhe.
»Und wie tun wir das?«
Oswald lächelte milde.
»Dein Name ist …?«
»Sofia.«
»Sofia. Gut, dass du nachfragst. Die Antwort findest du in unseren Thesen. Das physische Programm versorgt den Körper. Die Thesen sind die Nahrung für den Geist. Aber, kurz gesagt, ist es so, dass du aus allem Kraft schöpfst, was in deinem Leben geschehen ist. Auch aus den negativen Erinnerungen.«
»Und wie soll das gehen?«
»Das versteht man, wenn man die Thesen studiert. Es hat mit Intuition zu tun. Wenn man beginnt, seine Vergangenheit anzunehmen, verschwinden die Hemmungen. Unsere Fähigkeiten werden dann nicht mehr blockiert, und man kann wieder ganz auf seine Intuition vertrauen.«
»Kann man diese Thesen irgendwo nachlesen?«, hakte sie nach.
»Natürlich kann man das, aber dafür muss man das komplette Programm absolvieren. Wir haben auf Västra Dimö vor der Küste von Bohuslän ein Zentrum, eine Art Herberge, wo wir unseren Gästen helfen, die Balance in ihrem Leben wiederzufinden. Nur in einer ungestörten Umgebung kann man unsere Thesen wirklich verinnerlichen. Genau deshalb befindet sich unser Zentrum auf einer Insel.«
Hinter Sofia meldete sich ein Mann.
»Ist ViaTerra eine Religion?«
»Nein, wir sind vielmehr die erste Antireligion.«
»Antireligion? Was soll das sein?«
»All das, was euch an einer Religion am meisten missfällt, gibt bei uns nicht«, erklärte Oswald.
»Dass man beispielsweise in den meisten Religionen zu einem Gott beten muss«, ging der Mann dazwischen.
»Richtig. Und bei ViaTerra beten wir zu keinem Gott. Wir sind Realisten und stehen mit beiden Füßen fest auf dem Boden.«
Eine kräftige, rothaarige Frau aus der ersten Reihe sprang auf.
»Oder diese blöden Bücher und Texte, die man lesen muss! Und dann soll man diesen Mist auch noch glauben!«
Die meisten Zuhörer lachten.
»Wir bei ViaTerra haben keine Bücher. Nur ein paar simple Thesen, mit denen wir arbeiten. Aber das ist freiwillig.«
So ging es noch eine Weile. Oswald konterte die Fragen und Zwischenrufe sehr geschickt. Er war in seinem Element.
Dann erhob sich ein Mann in einem eleganten schwarzen Anzug und mit einer runden Brille.
»Hast du für deine Erkenntnisse wissenschaftliche Belege? Vertrittst du eine anerkannte Wissenschaft oder nur eine Sekte?«
»Alles, was wir tun, basiert auf dem gesunden Menschenverstand. Das hat nichts mit Wissenschaft oder Religion zu tun. Und das Wichtigste ist doch, dass es funktioniert, nicht wahr?«
»Und woher weiß man, dass das Konzept funktioniert?«
»Kommt vorbei und probiert es aus. Oder auch nicht.«
»Danke, ich verzichte.«
Der Mann bahnte sich einen Weg durch die Stuhlreihen und verließ den Raum.
»Tja«, sagte Oswald und zuckte mit den Schultern. »Dann fahren wir doch fort mit all denen, die ernsthaft interessiert sind.«
Als der Vortrag zu Ende war, wurden sie von jungen Leuten in grauen Anzügen hinausgeschleust. Sie gelangten in eine geräumige Garderobe, wo vor den Wänden mehrere Tische aufgereiht standen. Fragebögen und Stifte wurden verteilt. Ein dünner Typ mit nach hinten gekämmtem Haar und Kinnbart blieb bei Sofia und Wilma stehen, bis sie ihre Bogen ausgefüllt hatten, und zupfte sie ihnen begierig aus den Händen, kaum dass sie fertig waren. Sie blieben noch ein Weilchen stehen und unterhielten sich mit anderen jungen Frauen in ihrem Alter.
Mit einem Mal stand er da, war direkt hinter Sofia aufgetaucht.
Wilma bemerkte Oswald zuerst und zuckte zusammen. Als Sofia sich umdrehte, stand er direkt neben ihr. Erst aus der Nähe konnte sie erkennen, wie jung er noch war: fünfundzwanzig, maximal dreißig. Seine Haut war glatt, mal abgesehen von ein paar kleinen Fältchen auf der Stirn. Der breite Kiefer und diese Art von Bartstoppeln, die nie ganz verschwanden, verliehen seinen weichen Gesichtszügen etwas überaus Männliches – und dann natürlich die dichten schwarzen Augenbrauen. Doch am faszinierendsten waren seine Augen. Sein Blick war derart stechend, dass ihr die Intensität regelrecht unangenehm war. Und erst der markante Duft seines Rasierwassers, Zitrus und Sandelholz. Er war wirklich eine außergewöhnliche Erscheinung, unmöglich, sich seiner Ausstrahlung zu entziehen, wenn man sich in seiner Nähe befand.
Oswald sagte erst mal nichts, und dieses Schweigen war bedrückend. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen. Lange, schmale Finger mit kurz geschnittenen Nägeln. Er trug keinen Ring.
Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sofia schluckte und überlegte, was sie sagen sollte, brachte aber keinen Ton heraus.
»Sofia …«, sagte er schließlich und ließ ihren Namen eine Weile nachklingen. »Es kam mir vor, als hättest du weitere Fragen.«
»Nicht wirklich. Wir waren nur neugierig.«
Ihre Stimme klang heiser und rau.
Er zog die Augenbrauen nach oben und verzog den Mund, als teilten sie ein Geheimnis miteinander. Er war sich im Klaren darüber, geradezu provozierend bewusst, wie gut er aussah.
»Kommt uns doch mal besuchen. Ich zeig euch unser Zentrum. Keine Verpflichtungen, nur ein Rundgang übers Gelände.«
Er hielt ihr seine Visitenkarte hin. Grün und weiß, die Buchstaben in Prägeschrift.
»Das ist Madeleines Nummer, die meiner Sekretärin. Ruft sie einfach an und vereinbart einen Termin.«
Einen Moment lang hielt er das Kärtchen fest, bevor Sofia es ihm aus den Fingern ziehen konnte. Seine Augen blitzten auf, dann ließ er die Karte los. Sofia wollte noch etwas erwidern, doch da hatte er sich bereits abgewandt und war auf dem Weg in die Menschenmenge.
Wilma zog sie am Ärmel.
»Hör auf, ihm hinterherzustarren. Wir fahren einfach auf diese Insel und schauen uns das Ganze mal an. Schaden kann das doch nichts, oder?«
Sie räuspert sich ein paarmal. Sie weiß offenbar nicht recht, wie sie es sagen soll.
Ich fixiere sie mit dem Blick, ahne, dass ihr das unangenehm ist, und genieße das Gefühl.
»Wir dürfen es nicht übertreiben«, sagt sie. »Ich meine, es könnte lebensgefährlich werden …«
»Ist das nicht gerade der Punkt?«
»Ja schon, aber … Du weißt, was ich meine.«
»Nein, nicht so richtig. Erklär’s mir.«
»Es soll keine Spuren an mir hinterlassen.«
Ich schnaube.
»Du kannst ja obenrum was anziehen. Stell dich nicht so an. Du magst es doch, hab ich recht?«
Jetzt sieht sie unschuldig zu Boden.
Das ist etwas Neues – ihre Angst. Sie sickert langsam aus ihr heraus und macht mich total an, erregt mich unglaublich.
Ich muss ein paarmal tief durchatmen, mich am Riemen reißen, um sie nicht zu packen und heftig durchzuschütteln.
Dieser Mensch gehört mir. Ich habe alle Macht über ihn.
Sie ist so fügsam wie ein Grashalm im Wind.
Ich drehe ihr den Rücken zu. Spüre, wie sie in diese Leere gesogen wird. Denke an den Abend und an das, was passieren wird.
2
»Das werte Fräulein sitzt da und träumt?«
Vor ihr stand Edwin Björk, der Fährmann. Er war untersetzt, das Gesicht von Wind und Wetter gegerbt. Er trug Koteletten und roch nach Diesel und Tang. Sofia und Wilma hatten sich schon vor der Überfahrt mit ihm bekannt gemacht.
Sofia versuchte, die Gedanken an den Vortrag beiseitezuschieben, und sah zu Björk hoch.
»Nein … Ich frage mich nur, ob das hier normal ist, dieser Nebel im Sommer.«
»Kann man so sagen«, antwortete Björk. »Die Insel hat ihren Namen nicht ohne Grund. Aber im Herbst ist es am schlimmsten. Da kann der Nebel so dicht werden, dass ich nicht übersetzen kann. Was habt ihr auf der Insel vor?«
»Wir wollen eine Gruppe besuchen, die dort auf einem Landsitz wohnt. ViaTerra.«
Björk rümpfte die Nase.
»Da solltet ihr vorsichtig sein. Der Ort ist verflucht.«
»Im Ernst? Du machst doch Witze«, rief Wilma.
»Nein, mache ich nicht. Dort spukt die alte Gräfin. Ich hab sie schon mit eigenen Augen gesehen.«
»Erzähl!«
Und das tat er. So eindringlich und voller Überzeugung, dass es Sofia kalt den Rücken hinunterlief. Der Nebel kroch unter ihre Kleider und legte sich wie ein kaltes Tuch auf ihre Haut, und vor ihren Augen entstanden Bilder, während er sprach. Unheimliche Bilder, die sie nicht abwehren konnte.
»Der Landsitz wurde zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Hier draußen in den Schären sind solche Anwesen eher die Ausnahme. Auf den Inseln wohnten damals ja hauptsächlich Fischer und Bootsbauer. Aber der Graf von Bärensten wollte unbedingt dorthin ziehen, also ließ er dieses unselige Gut errichten, obwohl seine Frau, die Gräfin, auf der Insel nie Ruhe fand. Wisst ihr, ständig ist sie zurück aufs Festland gefahren. Dort hat sie sich dann in einen Kapitän verliebt und ihn heimlich getroffen. Eines Abends, als der Nebel sehr dicht war, lief das Schiff des Kapitäns auf Grund und sank vor der Insel. Es war Winter und das Wasser eiskalt, und alle Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Es war eine schreckliche Tragödie.«
»Ist das denn wahr oder nur eine Legende?«, fiel Wilma ihm ins Wort.
»Nein, jedes Wort ist wahr. Aber jetzt passt auf, wie es weitergeht, denn gleich haben wir die Insel erreicht, und dann muss ich anlegen.«
Wilma verstummte, und sie lauschten atemlos, als Björk weitersprach.
»Als die Gräfin erfuhr, was dem Kapitän widerfahren war, stieg sie auf eine Klippe, die wir Teufelsfelsen nennen, und stürzte sich ins kalte Wasser, um selbst den Tod zu finden.«
Björk rückte seine Mütze zurecht und schüttelte gedankenverloren den Kopf.
»Und als der Graf das hörte … da muss bei ihm irgendeine Sicherung durchgebrannt sein. Er legte Feuer auf dem Hof und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Wäre nicht das Dienstvolk vor Ort gewesen, wäre das ganze Anwesen niedergebrannt. Es gelang ihnen, den Hof und die Kinder zu retten, doch der Graf selbst war mausetot. Nach dem Schiffsunglück installierte man am Leuchtturm ein Nebelhorn. Wann immer das Nebelhorn heult, steht die Gräfin auf dem Teufelsfelsen und ruft nach ihrem Geliebten – so erzählen es sich die abergläubischen Inselbewohner. Und dann sehen sie sie sogar auf dem Felsen stehen. Immer wenn es neblig ist.«
»Das ist doch sicher pure Einbildung«, warf Sofia ein.
»Oh nein«, antwortete Björk. »Sie taucht dort oben auf, das kannst du mir glauben. Die armen Kinder des Grafen, die überlebt hatten, wurden übrigens nach und nach krank. Das Elend nahm über Jahre kein Ende, bis der Sohn des Grafen irgendwann genug hatte und ins Ausland zog. Der Landsitz stand dann viele Jahre leer.«
»Und dann?«
»Es hörte einfach nicht auf. Ende der Neunzigerjahre kaufte ein Arzt den Hof und zog mit seiner Tochter dort ein. Er hatte große Pläne mit dem Anwesen, es sollte eine Art Erholungsheim werden. Doch dann kam die Tochter bei einem Feuer in der Scheune ums Leben. Ein Unfall, hieß es, aber mir macht keiner etwas vor. Dieser Ort ist verflucht.«
Björk hielt mahnend den Finger hoch.
»Und ich bin noch nicht fertig! Gleichzeitig sprang ein Junge vom Teufelsfelsen, schlug unten auf der Klippe auf und ertrank. Die Flut nahm ihn mit raus. Seitdem ist es an den Klippen strikt verboten, ins Wasser zu springen.«
Sofia fragte sich, ob der alte Mann das alles nur erfand, aber sein Gesichtsausdruck blieb ernst. Warum nur hatte dieser Oswald sein Zentrum an so einem Ort errichtet? Es klang völlig abwegig.
»Kann man den Leuchtturm und den Felsen noch besichtigen?«, fragte Wilma.
»Ja, der Leuchtturm steht noch, aber das Nebelhorn ist nicht mehr in Gebrauch. Ansonsten ist alles wie früher. Und jetzt ist der Landsitz wieder in der Hand von Dummköpfen, wie ihr feststellen werdet.«
Lautes Lachen sprudelte aus seiner Kehle.
»Kennst du diesen Oswald?«, fragte Wilma.
»Nein, der hält sich für zu vornehm, um sich mit uns Inselbewohnern abzugeben. Bleibt immer im Wagen hocken, wenn er mit der Fähre übersetzt.«
Sofia starrte in den Nebel. Meinte, ganz schwach eine Kontur zu erkennen, dort wo der Horizont hätte sein müssen.
»Und da ist sie auch schon«, rief Björk.
Langsam und majestätisch tauchte die Insel aus dem Nebel auf. Umrisse von Fichten auf den Anhöhen, kleine Boote, die im Hafen lagen, und hier und da Schatten von Häusern. Möwengeschrei drang bis zur Fähre. Der Nebel löste sich langsam auf. Eine blassgelbe Sonne, die noch mit den Wolken kämpfte, hing wie eine helle Kugel am grauen Himmel.
»Dann sehen wir uns auf der Abendfähre«, sagte Björk, während er sein Schiff an die Brücke manövrierte. »Von der Insel gibt es zwei Abfahrten am Tag. Die Morgenfähre um acht und die Abendfähre um fünf.«
Als sie von Bord gingen, lag das Dorf direkt vor ihnen. Es war ein kleines Sommerparadies. Winzige Häuschen mit Zinnen und Türmchen, kleine kopfsteingepflasterte Gassen mit schmucken Lädchen. Kinder spielten am Kai. Sommerurlauber saßen in einem Straßencafé und aßen Kuchen. Es war zwar gerade erst Anfang Juni, doch hier herrschte bereits Urlaubsstimmung.
Etwa fünfzig Meter von der Anlegestelle der Fähre entfernt lag ein Platz mit einem Springbrunnen. Dort wartete eine Frau in einer grauen Uniform auf sie. Sie war schlank und fast genauso groß wie Sofia. Ihr blondes Haar war zu einem Knoten im Nacken gebunden, und ihr blasses Gesicht hatte feine Züge. Sie hatte große, fast farblose Augen und helle Augenbrauen.
»Sofia und Wilma? Ich heiße Madeleine und bin Franz Oswalds Sekretärin. Ich werde euch heute herumführen. Zuerst schauen wir uns kurz die Insel an, dann fahren wir zum Landsitz.«
Sie begleitete sie zu einem Kombi, der am Rand des Marktplatzes stand, und zog die hintere Tür für die beiden auf.
»Rund um die Insel verläuft die Küstenstraße«, erklärte sie. »Im Landesinneren befinden sich hauptsächlich Wald und Heide, deshalb will ich euch gern zuallererst die Küsten zeigen, bevor wir zu ViaTerra fahren. An der nördlichen Inselspitze gibt es einen Aussichtspunkt, von dem man das ganze Skagerrak überblicken kann.«
»Wo liegt denn der Landsitz?«, fragte Sofia.
»In Norden. Vom Aussichtspunkt ist es nur noch ein kleiner Spaziergang.«
Im westlichen Teil der Insel war das Gelände flach, dort entdeckten sie Sandstrände und Wiesen mit Picknicktischen und Grillstellen. Ein paar Stege ragten wie lange Finger in den sonnendurchtränkten Dunst, der über der Wasseroberfläche schwebte. Kleine Schiffe waren an den Anlegern vertäut, Geräteschuppen säumten den Strand.
Im Osten der Insel war die Küste karg und wild. Hier fielen die Klippen direkt neben der Straße steil ins Meer ab.
Sie fuhren bis ans Ende der Straße und ließen das Auto dort stehen. Dann spazierten sie durch die Heidelandschaft zu einem Aussichtspunkt direkt an den Steilklippen.
Der Nebel hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Sonne stand hoch am Himmel. So weit das Auge reichte, nur funkelndes Blau – und ein Leuchtturm auf einer kleinen Schäreninsel, der im Sonnenschein weiß strahlte. Sofia entdeckte einen großen Felsblock, der vor den Klippe übers Wasser ragte.
»Ist das der Felsen, den ihr Teufelsfelsen nennt?«
Madeleine schnaubte.
»Wir nicht. Die Inselbewohner. Sie sind eben abergläubisch. Aber wie ihr sehen könnt, ist es einfach nur ein Felsen.«
»Auf der Anreise wurden wir davor gewarnt. Von Björk, der die Fähre steuert. Er hat uns Schauergeschichten von eurem Landsitz erzählt.«
Madeleine schüttelte den Kopf.
»Der ist nicht ganz bei Trost. Das sagt er nur, um unsere Gäste zu vergraulen. Seit wir hierhergekommen sind, sind die Anwohner schrecklich misstrauisch. Sie reagieren auf jede Veränderung allergisch. Aber das stört uns nicht. Kommt, fahren wir zu ViaTerra!«
Sie fuhren ein Stück an der Küste entlang und bogen dann auf einen breiten Kiesweg ab. Große Eichen standen rechts und links des Weges, über dem sich üppiges Grün zu einer Art Kuppeldach wölbte. Die Fahrt endete vor einem mindestens drei Meter hohen schmiedeeisernen Tor. Es war mit gewundenen Schnörkeleien verziert, mit Engelsfiguren und Dämonen, und hatte ein auffällig großes Schlüsselloch.
»Ziehst du jetzt einen Riesenschlüssel aus der Tasche?«, witzelte Wilma.
Madeleine schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, es gibt natürlich einen Wachmann.«
Sofia bemerkte ihn erst jetzt. In der Mauer befand sich in einer Nische ein Wachhäuschen, und dort saß er. Er begrüßte Madeleine, dann öffnete sich das Tor ganz langsam mit einem lauten Quietschen, und er winkte sie durch.
Sofia wusste nicht recht, was sie hinter dem Tor erwartet hatte. Vielleicht eine große, unheimliche, verfallene alte Villa mit Turm und Zinnen? Stattdessen erhob sich vor ihren Augen ein Palast. Das gesamte Anwesen erstreckte sich sicher über einen halben Kilometer. Das Herrenhaus selbst glich einem Schloss und war drei Stockwerke hoch, und offenbar war auch das Dach ausgebaut worden, denn sie konnte ein paar Fenster zwischen den Schindeln sehen. Die Fassade musste erst kürzlich mit einem Sandstrahler gereinigt worden sein, denn sie war schneeweiß. Inmitten der Rasenfläche vor dem Schloss befand sich ein großer Teich, in dem Enten und Schwanenpärchen schwammen. Auf dem Hof war überdies eine Fahnenstange errichtet worden, allerdings wehte dort nicht die schwedische Flagge, sondern eine grün-weiße.
Gen Westen stand eine Reihe kleiner Wohnhäuschen mitten im Gehölz. Hinter dem Herrenhaus konnte man den Giebel einer Scheune erkennen, und noch weiter hinten befand sich ein Gehege, in dem Schafe grasten. Nur wenige Leute waren zu sehen, ein paar saßen vor den Wohnhäuschen im Garten und tranken Kaffee, und zwei Personen in Uniform eilten über den Hof.
Sofia sah erneut an dem Herrenhaus hinauf. Im oberen Teil der Fassade prangten große Buchstaben.
Wir wandern auf dem Weg der Erde!
Reglos bestaunte sie die Pracht. Dann warf sie Wilma einen vielsagenden Blick zu und drehte sich zu Madeleine um.
»Ein beeindruckender Ort!«
»Ja, fantastisch, nicht wahr? Wir haben hart dafür gearbeitet. Franz hatte diesen Traum, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es uns gelungen ist, ihn zu verwirklichen.«
Sofia spürte intuitiv, dass sich hier etwas verbarg. Etwas Wertvolles. Es war nicht nur schön hier. Dieses Schloss, die Umgebung, das Gelände zeugten von viel mehr. Diese ungewöhnliche Stille. Sie hatte das Gefühl, als wären sie in ein Paralleluniversum gereist, wo jeder Fernseher, jedes Handy, jeder PC und jedes Tablet ausgeschaltet waren. Als wäre das ewige Gesurre auf der Erde innerhalb der dicken Mauern ringsum verstummt. Gleichzeitig lag Erwartung in der Luft. Sofia verspürte eine außergewöhnliche Spannung, konnte aber nicht benennen, was es war.
Das alles ist so schön, dachte sie, dass es mir die Sprache verschlägt, und gleichzeitig jagt es mir Schauder über den Rücken.
Sie schob dieses Gefühl beiseite. Bestimmt lag es an Edwin Björks Gruselgeschichten, die immer noch durch ihren Kopf geisterten.
»Zuerst zeige ich euch das Herrenhaus, in dem wir arbeiten«, ergriff Madeleine wieder das Wort. »Dann führe ich euch zu den Wohnhäuschen, wo unsere Gäste untergebracht sind, wenn sie das Programm absolvieren.«
Sofia fragte sich, wo Oswald sich wohl aufhielt. Sie sah verstohlen zu den zahlreichen Fenstern des Anwesens hinauf und stellte sich vor, wie er vielleicht gerade auf sie herunterschaute. Und sie ertappte sich selbst dabei, dass sie sich wünschte, ihn wiederzutreffen.
Das Feuer ist fast erloschen. Die Glut zittert nur noch schwach in den verkohlten Holzscheiten.
Wir sind umgeben von Dunkelheit. Ich kann ihre Gesichtszüge kaum mehr sehen.
Sie legt noch etwas Holz nach, pustet ein bisschen und bringt wieder ein schönes Feuer zustande. Im Schein der Flammen sieht sie aus wie eine Hexe. Das dichte rote Haar. Die Katzenaugen.
»Was macht er mit dir?«, frage ich.
»Du weißt, was er macht«, sagt sie und dreht den Kopf weg.
»Ich will nicht, dass dich der Alte anfasst.«
»Alt? Er ist uralt. Der widerliche Schlappschwanz will nur noch fummeln. Ich krieg alles, was ich will, wenn ich ihn lasse. Das ist so, wenn man adoptiert ist. Sie glauben, sie besitzen dich. Verstehst du?«
»Aber er geht nicht bis zum Äußersten?«
»Nein, natürlich nicht. So einer ist er nicht.«
»Ich dachte, er hätte was mit Mama«, sage ich.
»Keine schlechte Idee. Sie würden gut zusammenpassen.«
Kurz flackert ein Bild vor meinen Augen auf. Sein Kopf auf dem Körper einer Mücke. Eine bescheuerte Mücke, die ins Feuer fliegt und verbrennt.
»Du wirst dich nach ihm sehnen, wenn ich mit dir fertig bin«, sage ich.
Jetzt endlich lacht sie.