Cover

Buch

Annie ist schon so lange traurig, dass sie schon gar nicht mehr weiß, wie es ist, glücklich zu sein. Bis sie Polly kennenlernt.

Polly ist alles, was Annie nicht ist. Sie ist bunt, voller Freude, glücklich. Denn die letzten Ereignisse in ihrem Leben haben sie eins gelehrt: Das Leben ist zu kurz, um auch nur einen einzigen Tag zu verschwenden.

Polly hat einhundert Tage, um Annie zu helfen, das Glück wiederzufinden. Annie ist überzeugt, dass das unmöglich ist, aber sie findet es ebenso unmöglich, Polly etwas abzuschlagen. Auf einer unvergesslichen Reise beginnt Annie zu verstehen, dass vielleicht, ganz vielleicht, das Leben doch wieder schön werden kann.

Doch dann wird klar: Auch Polly braucht ihre neue Freundin mehr, als man sich vorstellen kann …

Autorin

Eva Woods lebt in London, wo sie schreibt und Creative Writing unterrichtet. Sie liebt Wein, Popmusik und Urlaub, und sie ist sich sicher, dass Onlinedating das schlechteste Spiel ist, das je erfunden wurde. Nach Die Glücksliste und Gib mir deinen Ex, ich geb dir meinen ist Und mit Polly kam das Glück Eva Woods’ dritter Roman bei Blanvalet.

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Eva Woods

Und mit Polly kam das Glück

Roman

Deutsch von

Ivana Marinović

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »How to be Happy« bei Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group, an Hachette UK Company, London.

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Copyright © der Originalausgabe 2018 by Eva Woods

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by

Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

LH · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21852-2
V002

www.blanvalet.de

Für Scott, mit all meiner Liebe

Prolog

Es ist nicht immer möglich, den genauen Moment auszumachen, an dem das Leben die falsche Richtung nimmt. Meist geschieht es beinahe unmerklich – Jahr für Jahr, Stunde für Stunde –, bis man sich eines Tages umsieht und einem bewusst wird, wie weit man sich von dem Menschen entfernt hat, der man einst war. So weit, dass man das Gefühl hat, nicht mehr derselbe zu sein. Für gewöhnlich ist es ein schleichender Verfall, ganz allmählich – ein Steinchen hier, ein Kiesel da –, eine langsam fortschreitende Erosion der Person, die man ist … Nach und nach, Stück für Stück.

Dann wiederum gibt es diese Momente, bei denen du ganz genau sagen kannst, wann dein Leben in die Brüche ging. Momente, in denen all deine achtsam gelegten Karten heruntersegelten, dein Haus zusammenfiel und du wusstest, dass nichts je wieder so sein würde wie zuvor. Es war dieser Augenblick, in dem du dir nicht einmal mehr sicher warst, ob du überleben oder für immer untergehen würdest.

Aber du überlebtest. Irgendwie.

Tag 1: Finde eine neue Freundin

»Verzeihung?«

Keine Antwort. Die Schwester in dem kleinen Büro hackte unbeirrt weiter auf ihre Computertastatur ein.

Annie versuchte es noch einmal. »Entschuldigen Sie.«

Das war Stufe zwei auf ihrer Empörungsskala, die etwas ungehaltener ausfiel als jene, mit der sie Touristen bedachte, die die Rolltreppe blockierten, etwas nachsichtiger jedoch als jene, die sie sich für Leute aufsparte, die in der U-Bahn freie Sitzplätze mit ihren Taschen blockierten.

»Hören Sie mal!«, schaltete sie jetzt auf Stufe drei: Parkplatz wegschnappen, Regenschirm ins Gesicht schlagen und so weiter. »Könnten Sie mir bitte helfen? Wie lange soll ich noch warten?«

Die Frau tippte unbeirrt weiter. »Wie bitte?«

»Ich muss die Adresse auf einer Patientenakte ändern lassen. Man hat mich mittlerweile zu vier verschiedenen Stellen geschickt.«

Die Schwester hinter dem Empfangstresen streckte die Hand aus, ohne aufzublicken, um von Annie das Formular entgegenzunehmen. »Geht es um Sie?«

»Nein.«

»Die Patientin muss die Anschrift selbst ändern.«

»Das kann sie leider nicht«, gab Annie ungehalten zurück und fügte spitz hinzu: »Was mehr als ersichtlich wäre, wenn jemand in diesem Krankenhaus sich die Mühe machen würde, einen Blick in die Akte zu werfen.«

Das Formular segelte auf die Theke. »Ich darf sie nicht von einer anderen Person ändern lassen. Datenschutz, Sie verstehen.«

»Aber …« Entsetzt spürte Annie, dass sie drauf und dran war, in Tränen auszubrechen. »Sie muss geändert werden, damit die Post an mich geschickt wird. Die Betroffene selbst ist nicht mehr geschäftsfähig. Deswegen bin ich hier. Bitte! Sie müssen nur die Adresse ändern. Ich verstehe nicht, was daran so schwierig sein soll.«

»Tut mir leid.« Die Schwester rümpfte die Nase und zupfte an einem ihrer Fingernägel.

Annie griff nach dem Blatt Papier. »Hören Sie, ich bin inzwischen seit Stunden in diesem Krankenhaus, wurde von einer Stelle zur anderen geschickt. Patientenarchiv. Neurologie. Ambulanz. Empfang beim Eingang. Verwaltung. Zurück in die Neurologie. Keiner hier scheint einen blassen Schimmer zu haben, wie man diese simple Angelegenheit erledigt. Ich habe heute noch nichts gegessen, habe nicht geduscht, und ich kann nicht nach Hause, bis Sie nicht ein paar Zeilen in Ihren Computer getippt haben. Mehr müssen Sie nicht tun.«

Die Frau mittleren Alters schaute immer noch nicht auf. Klack, klack, klack. Annie spürte Wut in sich aufwallen, Schmerz, Verzweiflung.

»Würden Sie mir vielleicht endlich zuhören?«

Sie streckte den Arm aus und drehte abrupt den Monitor herum. Die Augenbrauen im Gesicht der strengen Schwester verschwanden empört unter ihrem toupierten Haar.

»Ma’am, wenn Sie das nicht sofort unterlassen, werde ich den Sicherheitsdienst rufen …«

»Und ich verlange, dass Sie mich anschauen, wenn ich mit Ihnen spreche. Ist das denn zu viel verlangt? Bitte, helfen Sie mir.« Jetzt weinte sie wirklich, bittere, salzige Tränen. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich möchte ja nur, dass Sie diese Adresse für mich ändern.«

»Hören Sie, Ma’am …«

Die mürrische Frau plusterte sich schon zur Abwehr auf, und ihr Mund öffnete sich – vermutlich um Annie mitzuteilen, wo sie sich ihre Adresse hinstecken konnte. Doch in dem Moment passierte etwas Seltsames: Statt sie anzuschnauzen, verzog sich ihr faltiges Gesicht zu einem Lächeln.

»Hey, Polly. Alles in Ordnung?«

Annie wirbelte herum. In der Tür des schäbigen Kabuffs stand eine große, schlanke junge Frau, die in sämtliche Regenbogenfarben gehüllt war. Rote Schuhe. Lila Strumpfhose. Ein Kleid im leuchtenden Gelb sizilianischer Zitronen. Dazu eine grüne Strickmütze. Ihr Bernsteinschmuck schimmerte in einem warmen Orange, und ihre Augen waren von einem intensiven Blau. Eine derart wilde Farbkombination hätte eigentlich nicht aufgehen dürfen, dennoch passte es aber irgendwie.

Die Papageienbunte beugte sich vor und berührte Annie, die unwillkürlich zusammenzuckte, am Arm. »Tut mir leid, ich muss lediglich einen klitzekleinen Termin ausmachen.«

»Nächste Woche, passt das?«, antwortete die vorher so ungnädige Schwester beflissen, bevor sie wieder auf ihre Tastatur einhackte, diesmal indes in einem beschwingten Rhythmus.

»Danke, du bist ein Schatz, Denise«, sagte die Besucherin. »Ist die nette junge Dame hier noch nicht versorgt?«

Es war eine Ewigkeit her, seit irgendwer Annie nett oder jung genannt hatte. Sie blinzelte ihre Tränen weg und gab sich Mühe, gefasst zu klingen.

»Nein, anscheinend ist es zu schwierig, die Adresse auf einer Patientenakte zu ändern. Ich war bereits in vier verschiedenen Abteilungen.«

»Oh, Denise kann das bestimmt im Handumdrehen für Sie erledigen – sie hütet sämtliche Geheimnisse dieses Krankenhauses.«

Wie um das zu unterstreichen, vollführte sie tippende Fingerbewegungen in der Luft. Auf ihrem Handrücken schaute ein großer lila Fleck unter einem Verband hervor.

Tatsächlich nickte Denise, wenngleich widerwillig. »Na schön. Geben Sie her.«

Annie reichte ihr das Formular. »Könnten Sie die Post bitte zu meinen Händen schicken lassen? Annie Hebden ist mein Name.« Denise gab rasch etwas ein, und innerhalb von Sekunden war erledigt, worauf Annie seit Stunden gewartet hatte. »Äh, danke schön.«

»Gern geschehen, Ma’am«, entgegnete Denise, aber Annie konnte ihre Missbilligung spüren.

Sie war unhöflich gewesen, das war ihr klar. Bloß war alles so schrecklich frustrierend und so verdammt schwierig.

»Genial! Tschau, Denise.« Die bunt Gekleidete winkte der Schwester zu, berührte dann erneut Annies Arm. »Hören Sie, tut mir echt leid, dass Sie einen miesen Tag hatten.«

»Wie bitte?«

»Na ja, Sie scheinen wirklich einen schlimmen Tag hinter sich zu haben.«

Annie war einen Moment sprachlos. »Ich befinde mich in einem Krankenhaus. Meinen Sie, irgendwer hier hat einen guten Tag?«, meinte sie spöttisch, während sie Denise und ihr Büro verließen.

Die Regenbogenfrau blickte sich im angrenzenden Wartebereich der Ambulanz um – Gehbehinderte mit Krücken, etwa die Hälfte der Anwesenden, andere mit kahl rasierten Schädeln und bleichen Gesichtern, eine zusammengeschrumpfte Frau im Krankenhauskittel, die kraftlos in einem Rollstuhl hing, gelangweilte Kinder, die die Handtaschen ihrer Mütter durchwühlten, während diese stumpf über ihre Handydisplays wischten.

»Ich sehe keinen Grund, warum nicht.«

Annie trat entnervt einen Schritt zurück. »Hören Sie, danke für Ihre Hilfe, obwohl ich sie eigentlich nicht hätte brauchen sollen. Dieses Krankenhaus ist eine echte Schande. Egal, Sie können ja nicht wissen, warum ich hier bin.«

»Stimmt auch wieder.«

»Dann werde ich jetzt mal gehen.«

»Mögen Sie Kuchen?«, fragte die andere.

»Was? Natürlich mag ich … Warum?«

»Warten Sie einen Moment«, erwiderte sie und flitzte davon.

Annie sah noch einmal zurück zu Denise in dem winzigen Büro, die erneut ihren ausdruckslosen Monitorblick aufgesetzt hatte und den nächsten Bittsteller unfreundlich abfertigte.

Sie zählte bis zehn und ging dann, weil die seltsame Fremde nicht zurück war, den trostlosen Flur mit seiner Farbgebung aus majestätischem Blau und galligem Grün hinunter, begleitet von den Geräuschen rollender Krankenbetten, zufallender Türen und entferntem Weinen. Ein alter Mann lag winzig und grau auf einer Liege. Gott sei Dank war sie hier endlich fertig. Sie musste unbedingt nach Hause, sich vom Fernseher ablenken lassen, sich unter der Bettdecke verkriechen und …

»Annie Hebden! Warten Sie!« Annie drehte sich um. Die nervige Frau kam atemlos auf sie zugeeilt und hielt einen Cupcake mit welligem Schokotopping hoch. »Für Sie«, keuchte sie und drückte ihn Annie in die Hand.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war Annie von der Rolle. »Warum?«

»Einfach so. Weil Cupcakes alles ein bisschen besser machen. Na ja, außer man hat Typ-2-Diabetes vielleicht.«

Annie betrachtete den kleinen, leicht angematschten Kuchen in ihrer Hand. »Danke.«

»Gern geschehen.« Die freundliche Spenderin schleckte ein bisschen zerlaufene Schokocreme von der Hand, wobei Annie zum ersten Mal bemerkte, dass jeder Fingernagel in einer anderen Farbe lackiert war. »Igitt, ich hoffe, ich fang mir keinen multiresistenten Krankenhauskeim ein. Nicht dass es einen Unterschied machen würde. Ich bin übrigens Polly. Darfst gerne Du zu mir sagen. Und du, du bist Annie.«

»Äh, ja.«

»Schönen Tag noch, Annie Hebden. Oder zumindest einen etwas besseren. Und denk immer dran: Wenn du den Regenbogen willst, musst du mit dem Regen leben.«

Fröhlich winkend hüpfte sie beschwingt davon. War das womöglich das erste Mal, dass jemand diesen Flur der Verdammnis entlanghüpfte?

Annie musste im Regen auf den Bus warten, in der grauen Brühe, auf die sich Lewisham, dieses triste Londoner Viertel, spezialisiert zu haben schien. Sie dachte daran, was für einen Unsinn die junge Frau von sich gegeben hatte – Regen hatte schließlich nicht automatisch einen Regenbogen zur Folge. Normalerweise führte er lediglich zu durchnässten Socken und strähnigem Haar. Aber immerhin hatte Annie einen trockenen Ort, an den sie heimkehren konnte. Anders als der Obdachlose, der unter dem schmalen Dach der Bushaltestelle saß, das ihn nicht mal notdürftig zu schützen vermochte – das Wasser tropfte ihm erbarmungslos vom Kopf und sammelte sich in einer Pfütze um seine dreckige Hose.

Bei seinem Anblick fühlte sich Annie erbärmlich, doch was konnte sie dagegen tun? Nichts. Schließlich war sie nicht mal in der Lage, sich selbst zu helfen.

Der Bus war rappelvoll, und sie musste sich zwischen einen Kinderwagen und einen Haufen Einkaufstüten quetschen, die in jeder Kurve gegen ihre Waden stießen. Eine ältere Dame mit Einkaufstrolley stieg ebenfalls ein und bahnte sich auf wackligen Beinen ihren Weg durch den Bus. Keiner der Fahrgäste auf ihren Sitzen löste den Blick vom Handy, um ihr einen Platz anzubieten. Annie riss der Geduldsfaden. Was war nur los mit diesen Menschen? Gab es denn kein Fünkchen Anstand mehr in dieser Stadt?

»Herrgott noch mal!«, entfuhr es ihr. »Könnte bitte jemand für die Dame hier aufstehen?«

Immerhin rappelte sich ein junger Mann mit riesigen Kopfhörern verlegen von seinem Platz auf.

»Kein Grund, den Namen des Herrn zu missbrauchen«, bemerkte die alte Dame mit einem missbilligenden Schnalzen in Annies Richtung, während sie sich setzte.

Das hatte sie nun davon. Betreten starrte Annie zu Boden, bis sie ihre Haltestelle erreichte.

Wie hatte sie in ihrem Leben so tief sinken können, fragte sie sich. Wegen einer Adressänderung in aller Öffentlichkeit die Nerven zu verlieren? Vor wildfremden Leuten zu heulen? Früher wäre sie diejenige gewesen, die lediglich eine Augenbraue gehoben hätte, wenn jemand anders ausgerastet wäre. Sie hätte Taschentücher angeboten und besänftigend den Arm getätschelt. Was um Himmels willen war mit dieser Person passiert, die sie einst gewesen war?

Annie wusste es nicht. Manchmal kam es ihr vor, als hätte ihr Leben sich mit einem einzigen Wimpernschlag verändert.

Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich wieder an jenem letzten sonnigen Morgen im Schlafzimmer ihres hübschen Hauses liegen, glücklich und zufrieden und auf einen weiteren perfekten Tag in ihrem perfekten Leben hoffend. Jetzt hingegen würde sie sich in eine schreckliche Wohnung schleppen und stundenlang deprimiert und frustriert wach liegen, ohne etwas zu haben, woran sie sich aufrichten konnte.

Ein Wimpernschlag, alles gut. Zwei Wimpernschläge, alles kaputt. Egal, wie oft sie ihre Augen schloss und wieder öffnete, nie würde es so sein, wie es einmal war.

Tag 2: Lächle eine Fremde an

Es klingelte an der Wohnungstür. Annie wurde aus dem Schlaf gerissen, ihr Herz machte einen erschrockenen Satz. Was war das? Schon wieder die Polizei, der Notarzt? Aber nein, das Schlimmste war ja bereits passiert.

Sie setzte sich auf und bemerkte, dass sie mal wieder auf dem Sofa eingeschlafen war, in den Klamotten, die sie im Krankenhaus angehabt hatte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, was sie sich gestern Abend im Fernsehen angeschaut hatte. Tattoo Fixers vielleicht? Das mochte sie gerne. Es war immer tröstlich zu sehen, dass es Leute gab, die noch schlechtere Entscheidungen in ihrem Leben getroffen hatten als sie.

Das Klingeln wurde aufdringlicher. Sie schob die Decke beiseite, die Costas über sie gelegt haben musste, und als sie aufstand, fielen Krümel, Taschentücher und eine Fernbedienung zu Boden. Es sah aus, als wäre sie betrunken heimgekommen – betrunken von Kummer, Trauer und Zorn.

»Herrgott noch mal, ich komme.«

Wie spät war es überhaupt? Die Uhr am Fernseher zeigte kurz vor halb zehn. Sie musste sich beeilen, sonst würde sie die Besuchszeit verpassen. Costas war längst aus dem Haus, um die Frühstücksschicht in der Kaffeebar zu übernehmen – jedenfalls war nichts mehr von ihm zu sehen. Sie verspürte einen Anflug von Scham – die alte Annie wäre nie in ihren Klamotten eingeschlafen.

»Annie Hebden! Bist du da?«

Oh nein! Hinter der Milchglasscheibe machte sie eine smaragdgrüne Gestalt aus, die seltsame Frau aus dem Krankenhaus. Polly irgendwer.

»Äh, ja?«, sagte sie und öffnete die Tür einen Spalt.

»Ich habe hier einen Brief vom Krankenhaus für dich.« Eine Hand tauchte auf, diesmal mit silbernen Fingernägeln, und wedelte mit einem Umschlag vor Annies Nase herum. Darauf stand zwar ihr Name, jedoch eine falsche Adresse – eine in einem schöneren Teil der Stadt. »Du hast wahrscheinlich meinen bekommen«, flötete die frühe Besucherin gut gelaunt.

Annie warf einen Blick auf den Stapel Post zu ihren Füßen. Rechnungen. Eine Ausgabe des Gardening-Monthly, dessen Abo sie längst hätte kündigen sollen. Und ein weißer Umschlag, der an eine gewisse Polly Leonard adressiert war.

»Wie ist das denn passiert?«

»Denise ist bei der Adressenänderung offenbar durcheinandergekommen. Ich habe sie gleich angerufen, um es korrigieren zu lassen, also halb so wild.«

Durfte das Krankenhaus überhaupt ihre Adresse herausgeben?

»Und du bist den ganzen Weg hier rausgefahren, um mir das zu geben?«

Es musste über eine halbe Stunde gedauert haben, um von Pollys Zuhause in Greenwich zu Annies Wohnung nach Lewisham zu gelangen, vor allem im Berufsverkehr.

»Klar. Ich war noch nie in diesem Teil der Stadt, deshalb dachte ich mir, warum nicht.«

Es gab Millionen Gründe, warum man nicht in diese Gegend fuhr. Die schwindelerregende Kriminalitätsrate beispielsweise. Das monströs hässliche Einkaufszentrum im Stil der Siebzigerjahre. Die Tatsache, dass die Stadt seit Jahren dabei war, das Zentrum des Viertels umzugestalten und dabei ein verkehrstechnisches Höllenloch aus dröhnenden Pressluftbohrern und geschmolzenem Asphalt geschaffen hatte.

»Danke fürs Vorbeibringen, und hier ist dein Brief.« Sie schob den Umschlag durch den Türspalt. »Also dann, einen schönen Tag.«

Polly rührte sich nicht vom Fleck. »Gehst du heute wieder ins Krankenhaus?«

Sämtliche Alarmglocken schrillten, sämtliche Instinkte signalisierten Annie zu lügen, aber aus irgendeinem Grund tat sie es nicht.

»Ja, ich gehe, allerdings …«

»Termin?«

Sie zuckte die Schultern, war nicht in der Stimmung, die Situation zu erklären.

»Ich muss auf jeden Fall hin. Da dachte ich mir, wir könnten vielleicht zusammen fahren.«

Annie war eher für ihr mangelndes Interesse an sozialen Kontakten bekannt. Manchmal blieb sie sogar eine Viertelstunde länger im Büro, um ja nicht mit ihren Kollegen denselben Bus nehmen zu müssen.

»Ich bin noch nicht angezogen«, wandte sie ein.

»Macht nichts, ich kann warten.«

Mit ihrem benommenen Kopf fiel ihr irgendwie keine einzige Ausrede ein, um diese nervige, viel zu bunte Fremde nicht in ihre Wohnung zu lassen. »Na gut … komm rein.«

»Hier wohnst du also.«

Polly stand in Annies tristem Wohnzimmer wie ein üppig dekorierter, glitzernder Weihnachtsbaum. Heute trug sie ein knöchellanges pfefferminzgrünes Cocktailkleid aus Satin und dazu klobige Bikerboots und allerlei Geklimper um Hals und Arme. Eine Kunstpelzjacke und eine grellbunte Strickmütze vervollkommneten den Look. Der Saum ihres Kleides war nass und schmutzig, als hätte sie Lewisham zu Fuß im Regen durchquert. Sie sah aus wie ein Model bei einem schrägen Subkulturfotoshooting.

»Ich darf hier nichts ändern, der Vermieter erlaubt es nicht«, entschuldigte sie sich fast. Die Wohnung im zehnten Stock hatte immer noch die deprimierenden Laminatböden und die Raufasertapeten einer längst vergangenen Epoche. Die Luft war feucht und muffig und vermengte sich mit den penetranten Küchengerüchen der Nachbarn. »Ich müsste rasch duschen. Willst du einen Tee … oder etwas anderes?«

»Lass mal. Ich warte einfach hier und lese oder so.« Sie sah sich in dem schäbigen Zimmer um, in dem auf einem Wäscheständer einige nicht weniger schäbige Leggins und Shirts hingen. Ihr Blick fiel auf den staubigen Beistelltisch, auf dem eine Broschüre lag. »Wie Sie eine Patientenvollmacht beantragen. Klingt interessant.«

War das ironisch gemeint? überlegte Annie. Auf der Vorderseite waren zwei Personen abgebildet, wobei die jüngere die Hand der älteren hielt. Dabei ging es bei einer Vollmacht im Grunde eher darum, ebendiese Hand zu packen und sie ans Bett zu fesseln, bevor der alte Mensch sich – oder jemand anderem – etwas antun konnte.

»Okay. Ich brauche nicht lange.«

Annie ging ins Badezimmer – Spiegel mit Rostflecken, vergammelter Duschvorhang – und fragte sich, ob sie jetzt vollends übergeschnappt war. Eine Wildfremde in ihre Wohnung zu lassen! Eine Frau, von der sie rein gar nichts wusste und die genauso gut geistesgestört sein konnte, was sie in Anbetracht ihrer Aufmachung höchstwahrscheinlich war.

Vielleicht waren sie sich ja nicht zufällig auf der neurologischen Station begegnet. Vielleicht hatte die Gute ja einen Schlag auf den Kopf bekommen, der zu einer Persönlichkeitsstörung geführt hatte. Und vielleicht fehlte ihr ja deswegen jegliches Gespür für Grenzen, sodass sie einfach zu einem in die Wohnung spaziert kam und sich dort deprimierende Broschüren über Dinge reinzog, die sie nichts angingen.

Annie nahm die schnellste Dusche ihres Lebens, die ihre Mutter zweifelsohne als Katzenwäsche bezeichnet hätte. Nachdem ihr gesamtes Leben zusammengebrochen war, hatte das kleine Bad ihr monatelang als Rückzugsort zum Weinen gedient, hier hatte sie die Faust in den Mund gestopft, um das Heulen zu dämpfen. Heute hingegen war keine Zeit dafür, heute saß in ihrem Wohnzimmer ein pfefferminzgrünes Wesen und wartete auf sie. Also beeilte sie sich und zog irgendwas an, das beinahe identisch war mit ihrem gestrigen Outfit.

Warum sollte sie sich hübsch machen? Nicht für einen Ort, an dem die Menschen entweder starben oder sich wünschten tot zu sein.

Noch bevor sie das Bad verließ – kein Make-up, das feuchte Haar achtlos zusammengebunden –, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer. Auch das noch. Costas war früher als erwartet zurück.

»Annie!« Polly strahlte sie an, als sie ins Zimmer trat. »Ich habe gerade deinen charmanten Freund kennengelernt.«

»Hey, Annie!« Costas, ein gut aussehender Grieche mit brettharten Bauchmuskeln, auf denen man Eier hätte aufschlagen können, winkte ihr zu. Er war sehr jung, erst zweiundzwanzig Jahre alt, und hatte Annies Gästezimmer in einen gärenden Müllberg verwandelt. Witzig genug, arbeitete er bei Costa Coffee.

»Er ist mein Mitbewohner, nicht mein Freund«, stellte Annie richtig. »Ich muss jetzt los.«

»Einen Moment noch«, bat Polly. »Costas hat uns was Süßes mitgebracht!«

»Mein Boss meinte, ich soll sie mitnehmen. Sind von gestern, trotzdem noch frisch!« Lächelnd hielt er Polly eine braune Papiertüte voller Croissants und Plundergebäck hin. »Komm mal bei Costa vorbei. Ich dir mache griechischen Spezialkaffee. So stark, dass Kopf explodiert!«

Annie wurde wütend. Wie konnte diese Frau es wagen, hier einfach so hereinzuspazieren und den Deckel von Annies Leben zu heben, die schäbige Wohnung zu betrachten einschließlich der Berge schmutzigen Geschirrs?

»Ich gehe jetzt«, verkündete sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und bitte, Costas, spül endlich dein Kochzeug ab. Du hast gestern Abend lauter grüne Pampe in der Auflaufform gelassen.«

»Spanakopita, muss einweichen.«

»Oh, ich liebe Spanakopita!«, rief Polly enthusiastisch. »Mit achtzehn war ich mit dem Rucksack in Griechenland unterwegs. Jassu

»Jassu!« Costas reckte den Daumen und schenkte ihr sein breitestes Grinsen. »Sehr gut, Polly!«

Annie, die sein ständiges Gegrinse ätzend fand, zog betont genervt ihren Mantel an. »Ich komme noch zu spät.«

»Oh, stimmt! Lass uns gehen. Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Costas, Annies Freund.«

»Er ist mein Mitbewohner«, wiederholte Annie und öffnete verärgert die Tür.

Sie wusste selbst nicht so genau, warum sie derart sauer war.

»Meine Damen und Herren, aufgrund eines Fahrerwechsels wird unser Bus eine Weile hier halten. Es wird etwa … Äh, wir wissen leider noch nicht, wie lange es dauern wird.«

Ein Schwall an Seufzern füllte das Wageninnere. »Tja, jetzt komme ich definitiv zu spät«, beschwerte sich Annie.

»Ein Haufen Nichtsnutze«, brummte ein älterer Herr in fusseligem Tweedanzug, der einen penetranten Geruch nach Mottenkugeln verströmte. »Zwei Pfund die Fahrt und dann so was. Sich die Taschen vollstopfen, das können sie hingegen.«

»Na ja, immerhin haben wir so die Gelegenheit, uns ein bisschen umzusehen«, erwiderte Polly vergnügt.

Annie und der Mann wechselten einen kurzen, ungläubigen Blick. Vor dem Busfenster bot sich ihnen die Aussicht auf einen riesigen Tesco-Supermarkt und ein brachliegendes Gelände, auf dem ein ausgebranntes Auto stand.

»Oder um zu plaudern«, fuhr Polly fort. »Wohin fahren Sie, Sir?«

»Zu einer Beerdigung«, brummte der auf seinen Gehstock gestützte Alte.

»Mein Beileid. Ein Freund von Ihnen?«

Annie schrumpfte auf ihrem Sitz zusammen, und sie sah, dass ein junger Mann in fleckiger Jeans die Augen verdrehte. Was, wenn die Leute dachten, sie würde zu der Irren gehören, die sich im Bus lauthals mit Fremden unterhielt? Die übelste Plage Londons überhaupt, schlimmer noch als Stadtfüchse und Japanischer Staudenknöterich.

»Mein alter Kumpel Jimmy. Hatte immerhin ein erfülltes Leben. Kampfpilot im Blitzkrieg war er.«

»Oh, das klingt ja interessant. Wie haben Sie sich denn kennengelernt?«

Eine Frau mit Kopftuch zog einen Ohrstöpsel heraus und schnalzte genervt mit der Zunge. Annie war das Ganze furchtbar peinlich.

»Sind in derselben Straße aufgewachsen. In Old Bermondsey. Er war bei der Royal Air Force, ich bei der Navy. Ich könnte Ihnen da ein, zwei wilde Geschichten erzählen, Schätzchen.« Er stieß ein anzügliches Kichern aus.

Grundgütiger, das wurde ja immer schlimmer.

Annie griff nach einer Ausgabe der Metro, die jemand hatte liegen lassen, und begann demonstrativ einen Artikel über Messerstechereien zwischen Londoner Gangs zu lesen, tat so, als gehörte sie nicht dazu.

Unterdessen schwadronierte der Mann weiter von glorreichen Zeiten. »Und da versteckte sich Jimmy im Kleiderschrank, bis ihr Mann eingenickt war und er sich durchs Fenster verkrümeln konnte …«

»Wirklich tragisch«, unterbrach Annie ihn und wedelte nachdrücklich mit der Zeitung. »Drei Messerstechereien allein diesen Monat.«

»Ein Haufen Ganoven sind das«, empörte sich der Alte. »Jimmy und ich waren der Schrecken unserer Straße, aber wir waren nie in Messerstechereien verwickelt. Die Faust ins Gesicht, ja, das ist zivilisiert. So erledigt das ein Gentleman.«

Annie schloss die Augen, konnte dieses Geschwätz keine Sekunde länger ertragen. Glücklicherweise setzte der Bus sich wieder in Bewegung, und Jimmys Kumpel stieg an der nächsten Haltestelle aus, nicht jedoch ohne zuvor Pollys Hand zu packen und einen feuchten Schmatzer draufzudrücken.

»War mir eine Freude, mich mit Ihnen zu unterhalten, junge Dame.«

»Ich habe Desinfektionsgel dabei«, bot Annie ihr an.

Polly lachte und winkte ab. »Ach, der wird mich wahrscheinlich überleben.«

Annie griff wieder zu ihrer Zeitschrift, während Polly sich munter umschaute, Babys und Hunden zuwinkte und Blickkontakt mit anderen Fahrgästen suchte, wenngleich die meisten Kopfhörer übergestülpt hatten und sie gar nicht beachteten. Wenn sie so weitermachte, bestand die große Wahrscheinlichkeit, dass sie von der Londoner Verkehrspolizei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet und nie im Krankenhaus ankommen würde.

Wundersamerweise schafften sie es. Der obdachlose Mann hockte wie gestern an der Bushaltestelle vor dem Krankenhaus, und Annie fragte sich unweigerlich, ob er die ganze Nacht dort verbracht hatte. Sein Kopf war nach vorne gesunken. Prompt eilte Polly zu ihm und ging in die Hocke.

»Hallo, wie heißen Sie? Ich bin Polly.«

Er blickte langsam auf und räusperte sich. Seine Stimme war rau wie Sandpapier. »Johnny.«

»Kann ich Ihnen etwas mitbringen, wenn ich wieder rauskomme? Einen schönen heißen Tee oder Kaffee?«

»Ein Kaffee wäre nett. Egal was. Hauptsache heiß.«

»Zucker?«

»Äh, zwei Stück, bitte. Vielen Dank.«

»Dann bis später. Ich muss jetzt erst mal rein.«

»Oh, viel Glück.«

Sobald sie drinnen waren, versuchte Annie, Polly abzuwimmeln, bevor sie weitere peinliche Situationen heraufbeschwor.

»Ich muss da lang, also …«

»Ich auch. Ach ja, die gute alte Neurologie.« Polly hakte sich mit ihrem pelzummantelten Arm bei Annie unter. »Das ist die beste Abteilung überhaupt. Ich meine, es geht um dein Gehirn. Alles, was du bist, steckt da drin. Ist viel interessanter als so ein dämliches Herz oder Bein oder – noch schlimmer – alles, was in den Bereich der Gastroenterologie fällt.«

»Ja, klar«, erwiderte Annie sarkastisch. »Es ist richtig toll, wenn dein Hirn sich langsam zu Brei verwandelt.« Sie blieben am Eingang der Station stehen. »Tja, ich muss da rein.«

Polly machte zu Annies Verdruss trotz dieser Ankündigung keinerlei Anstalten, sich zu schleichen. Warum verschwand dieses wandelnde Pfefferminzbonbon nicht endlich? Wenn sie nicht bald die Fliege machte, würde sie womöglich sehen, wie …

»Hallo? Hallo!«

Annie zuckte beim Klang der hohen, nervösen Stimme zusammen. Sie gehörte zu einer Frau, die in einem Krankenhauskittel auf sie zugehinkt kam und mit ihrem knochigen Finger auf sie deutete.

»Sie, Miss. Sind Sie hier die Schwester?«

»Die Ärmste«, murmelte Polly. »Können wir Ihnen weiterhelfen, Ma’am?«

»Ich glaube nicht, dass wir …«, mischte sich Annie ein und bemühte sich, Polly von der Kranken wegzuschieben, die keine sechzig war, aber wie achtzig aussah. Ihr Gesicht war eingefallen, das Haar grau, und die Beine, die unter dem Kittel hervorschauten, waren zerschrammt und abgemagert, einer davon steckte in einem Verband.

»Schwester, ich brauche … Oh, ich weiß nicht mehr, was ich brauche!«

»Ich bin sicher, dass es Ihnen gleich wieder einfällt«, tröstete Polly die verwirrte Patientin und nahm ihren mit Narben übersäten Arm. »Sollen wir Sie auf die Station bringen?«

»Das solltest du lieber lassen«, warnte Annie, die langsam die Nase voll hatte von dieser selbst ernannten Florence Nightingale.

»Ach, komm schon, Annie, sie braucht Hilfe.«

»Dafür ist das Personal da. Warum gehst du nicht zu deinem eigenen Scheißtermin!«

Die alte Frau starrte sie erneut an. »Sie. Ich kenne Sie, nicht wahr? Sind Sie die Schwester?«

Annie fühlte sich überfordert. »Nein, ich bin …«

In diesem Moment erschien eine gehetzt wirkende Krankenschwester. »Maureen! Kommen Sie zurück ins Bett. Sie dürfen mit diesem Bein nicht herumlaufen.«

Doch Maureen machte keine Anstalten, der Aufforderung zu folgen. Stattdessen schaute sie unverwandt Annie an und murmelte monoton: »Ich kenne Sie. Ich kenne Sie!«

Es war zu spät, um irgendwem noch etwas vorzumachen. »Ja. Ich bin’s, Mum. Annie. Ich wollte dich gerade besuchen.«

Charity – eine der netteren Schwestern, die sogar darauf bestand, für die Patienten zu beten – bedachte Annie mit einem mitfühlenden Blick. »Kommen Sie, Maureen. Ihre Tochter schaut gleich bei Ihnen vorbei.«

Als die Stationstür zufiel, sah Polly zu Annie hinüber. »Deswegen warst du gestern also hier? Du bist gar nicht selbst krank?«

Annie holte tief Luft. »Nein. Meine Mutter, sie … Na ja, sie leidet an Demenz. Die präsenile Form. Sie ist am Wochenende gestürzt, als sie versuchte, eine Fritteuse aus dem Küchenschrank zu holen. Dabei besitzt sie seit zehn Jahren keine Fritteuse mehr. Wahrscheinlich wird sie bald entlassen, und dann … Ich weiß nicht, was dann.«

Pollys Miene zeigte keinerlei Veränderung. Interesse, Verständnis, ja. Hingegen kein Mitleid.

»Ich nehme an, das erklärt deinen Hang zu unkontrollierten Wutausbrüchen.«

Irgendwas in Annie fiel in sich zusammen. »Hör zu. Ich kenne dich nicht, und du hast kein Recht, das zu sagen. Meine Mutter ist nicht einmal sechzig und leidet an fortgeschrittener Demenz. Soll ich da nicht wütend sein? Ich denke, dass ich sogar alles Recht der Welt habe, sehr, sehr wütend zu sein. Wie wäre es also, wenn du dich einfach aus meinem Leben raushältst, okay? Du fällst so mir nichts, dir nichts bei mir zu Hause ein und mischst dich in mein Leben …« Der Rest ging in einer plötzlichen Flut unerbetener Tränen unter.

Während Annie noch nach Luft schnappte, packte Polly Annies Hand und zerrte sie den Krankenhausflur entlang.

»Was tust du da? Nein, ich will nicht … Lass mich los!«

»Komm mit. Ich will dir was zeigen.« Sie hatten eine Tür erreicht, auf der ein kleines Schild prangte: DR. MED. MAXIMILIAN FRASER, LEITENDER OBERARZT NEUROLOGIE. Polly riss die Tür auf. »Hey, Dr. McGrummel! Ich bin’s, deine Lieblingspatientin.«

Eine Stimme ertönte aus dem dämmrigen Raum. »Nur herein, Polly. Ist ja nicht so, als säße ich gerade über einem höchst vertraulichen Patientenbericht.«

»Nein, du knabberst an einem Crunchie-Riegel und schaust dir Katzenvideos auf YouTube an«, entgegnete Polly, was zugegebenermaßen der Wahrheit entsprach.

Der winzige Raum, dessen eine Wand komplett aus verdunkeltem Glas bestand, war düster und tatsächlich kaum größer als eine Kammer. Hinter dem Computer saß ein leicht korpulenter Mann im Arztkittel mit dichtem dunklem Haar, das ihm wirr vom Kopf abstand, und einem ausgewachsenen Dreitagebart auf Kinn und Wangen.

»Aye. Was willst du jetzt von mir?«

Aha, ein Schotte, dachte Annie und schaute verlegen zu Boden, weil der Blick des Arztes fast unanständig lange auf ihr verweilte. Musste der sie so anstarren, wo sie schrecklich nachlässig angezogen war?

»Ich will meiner neuen Freundin Annie den Scan zeigen«, erklärte Polly.

»Nicht schon wieder«, stöhnte er. »Glaubst du etwa, ich hätte nichts Besseres zu tun, als für dich den Alleinunterhalter zu spielen?«

»Ach, komm. Immerhin bin ich deine beste Patientin.«

»Das da ist mein bester Patient. Kein Stress. Nie.« Er nickte zu einem großen Einmachglas, in dem ein menschliches Gehirn schwamm. »Aber gut, bitte schön«, sagte er mit einem Seufzen, klickte auf seine Tastatur, und der Bildschirm leuchtete auf, um das geisterhafte Abbild eines Hirns zu enthüllen. Weiß, schwammig. Die eine Hälfte dunkler mit schwarzen Adern, die sich wie Ranken hindurchzogen.

»Das ist mein Gehirn«, verkündete Polly stolz.

»Oh«, sagte Annie etwas ratlos.

Polly tippte gegen die Scheibe des Monitors.

»Das gibt Fettflecken«, brummte der Arzt.

Sie ignorierte ihn. »Das da ist mein Baum. Mein Glioblastom … das bedeutet so viel wie Zweige, siehst du?«

Annie blickte Hilfe suchend zum Arzt.

»Niemand weiß, was das Wort bedeutet, Polly«, belehrte er sie.

»Dann lassen Sie es mich einfach erklären. Das ist mein Hirn, und das hübsche baumähnliche Gewächs da … Nun, das ist mein Gehirntumor.« Polly lächelte. »Ich nenne ihn Bob.«

»Tief durchatmen.«

Annie sog gierig die Luft ein. Sie saß auf dem Bürostuhl des Doktors, der jetzt vor ihr kniete und aufmerksam ihre Augen beobachtete. Die seinen waren braun und klug wie die eines freundlichen Hundes.

»Können Sie meinem Finger folgen?« Er hielt seinen Zeigefinger vor ihre Nase.

»Natürlich kann ich. Mir geht’s gut. Ich bin ja nicht mal richtig ohnmächtig geworden.«

Sie verstand selbst nicht, warum sie schlappgemacht hatte. Schließlich kannte sie Polly kaum – Gehirntumor hin oder her.

Polly war derweil losgegangen, um »einen kräftigen heißen Tee« zu besorgen, weil man das im Krieg genauso gemacht habe.

»Ich schätze mal, dass Sie nicht Bescheid wussten«, wandte sich der Neurologe an sie. »Haben Sie sich denn nie gewundert, warum sie so viele Arzttermine hat?«

»Wir haben uns erst gestern kennengelernt. Doch sie benimmt sich, als wären wir … Ich weiß nicht, Brieffreundinnen aus Jugendtagen.«

Er setzte sich auf seine Fersen zurück. »Aye, klingt ganz nach Polly. Es ist ziemlich schwierig, sich nicht mit ihr anzufreunden.«

Sein schottischer Akzent ließ das R rollen.

»Das heißt, sie ist krank?«

»Sehr krank sogar.«

»Und können Sie was dagegen tun?«

Er stand auf, wobei er schmerzhaft das Gesicht verzog. »Herrje, ich werde wirklich alt. Ich dürfte es Ihnen eigentlich nicht erzählen – von wegen der ärztlichen Schweigepflicht –, doch da sie Ihnen unbedingt ihren Hirnscan zeigen wollte, kann ich das wohl als Patienteneinverständnis betrachten. Der Tumor ist äußerst aggressiv und liegt zudem so ungünstig, dass ich ihn nicht komplett entfernen konnte, ohne ihr Gehirn bleibend zu schädigen. Im Grunde bleibt nicht viel, nachdem OP, Strahlenbehandlung und diverse Chemos nichts gebracht haben. Die letzte läuft gerade aus, sie hat ihr noch mal ein bisschen Zeit verschafft. Falls sich der Tumor allerdings dem Frontalkortex nähert, nun ja, dann ist Schluss.«

»Falls?«

»Nein, das habe ich falsch ausgedrückt – er wird es tun, es ist lediglich eine Frage der Zeit.«

»Wie lange?«

Er zog eine Grimasse. »Um eins klarzustellen: Ärzte hassen diese Frage. Wir sind schließlich keine Hellseher. Okay, wir haben ihr gesagt, dass ihr jetzt, wo sie austherapiert ist und wir bestenfalls auf Zeit spielen können, etwa drei Monate bleiben.«

Annie starrte ihn mit offenem Mund an. So wenig. Ein Trimester. Ein Finanzamtsquartal. Die Staffel einer US-Fernsehserie. Man stelle sich vor, das wäre alle Zeit, die einem bliebe, um ein ganzes Leben hineinzustopfen.

»Oh«, machte sie. Unter diesen Umständen fiel ihr nichts Besseres ein.

Die Tür fiel krachend zu, als Polly mit einem Pappbecher zurückkam.

»Hier, trink das«, sagte sie und reichte Annie den Becher.

Die Brühe sah widerlich aus, wie schlieriges Spülwasser. Plötzlich war Annie alles zu viel – der winzige, dunkle Raum, die fremde Frau mit dem Tumor, ihre eigene Mutter, deren Gehirn dabei war, sich zu verabschieden. Mühsam rappelte sie sich auf, ihr Kopf schwirrte.

»Entschuldigung, es tut mir wirklich leid, dass du krank bist, Polly. Wirklich. Trotzdem muss ich weg, ich kann das hier nicht.«

Sie stürmte hinaus und verschüttete den Tee auf dem Boden.

Tag 3: Nimm dir Zeit fürs Frühstück

»Guten Morgen, Annie Hebden!«

Annie war nie ein Morgenmensch gewesen, nicht einmal damals, als Jacob sie noch in aller Herrgottsfrühe weckte, seinen warmen Körper an ihren schmiegte und sie seinen sanften Atem an ihrem Hals spürte. Seit einiger Zeit war sie nicht einmal mehr ein Nachtmensch. Es gab ein Zeitfenster gegen sechzehn Uhr, in dem sie sich nicht ganz so furchtbar fühlte, weil sie bald ihre langweilige Arbeit zumindest für diesen Tag hinschmeißen konnte. Aber sechs Uhr morgens, das war definitiv übertrieben, egal für wen.

Verschlafen tapste sie zur Wohnungstür, gegen die Polly hämmerte. »Ist überhaupt schon Tag? So zappenduster, wie es noch ist.«

»Es ist total schön draußen.« Polly klang nicht ansatzweise müde.

»Ist es nicht. Wir haben sechs Uhr. An einem Mittwoch mitten im März.«

Warum stand Polly so früh vor ihrer Tür? Was suchte sie überhaupt hier?

»Okay. Doch nicht mehr lange, und es wird total schön sein, glaub mir, und ich habe Kaffee und Croissants mitgebracht. Also lass mich rein.«

Der zweite Morgen in Folge, an dem sie von Polly geweckt wurde, und das, obwohl Annie gestern weggerannt war und sie stehen gelassen hatte. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, so zu tun, als ob das Türschloss durch einen dummen Zufall blockiert wäre. Aber dann seufzte sie und öffnete. Vierundzwanzig Stunden, und sie hatte bereits gelernt, dass man Polly nicht abwimmeln konnte.

Ihre Besucherin war hellwach. Heute trug sie eine Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift Yes We Can. Ihre Füße steckten in kirschroten Cowboystiefeln.

»Na, wie sehe ich aus?« Sie schüttelte ihren Kopf von einer Seite zur anderen. »Hannah Montana mit todschicker Krebsdiagnose?« Noch hatte sie ihre Haare, blonde Locken, die eine kahle Stelle mit roten Narben umrahmten, das Operationsfeld. Nicht mehr lange, und die Chemo würde vermutlich den Rest erledigen.

»Haha.« Annie hatte sich noch nicht an Pollys Krebswitze gewöhnt, hatte sich nicht mal an ihren Krebs gewöhnt.

Polly hielt einen Papphalter mit Bechern hoch. »Kaffee! Hast du hübsche Tassen da? Es wäre wirklich schade, den aus Plastik trinken zu müssen.«

»Mal sehen, ich schau nach. Setz du dich lieber.«

»Ich sterbe nicht an Ort und Stelle, Annie, selbst wenn ich stehen bleibe. Also, die Tassen?«

Annie deutete zur Küche und ließ sich selbst auf das hässliche Kunstledersofa mit dem Riss an der Armlehne sinken.

»Schläfst du eigentlich nie?«

»Oh, für so etwas habe ich keine Zeit. Nicht wenn man gerade mal noch drei Monate hat!« Sie sagte das so vergnügt, als spräche sie von einer tollen Urlaubsreise. »Zumindest behauptet das Dr. McGrummel. So nenne ich ihn.«

»Er schien mir tatsächlich ein bisschen … griesgrämig zu sein«, stimmte Annie ihr zu.

Polly begutachtete eine Tasse mit Cartman von South Park drauf, um sie sogleich auszumustern. Sie hatte nie eine Folge von South Park gesehen, geschweige denn je das geringste Interesse an der Sendung geäußert.

»Ja, der Ärmste. Er ist mehr so der klassische Warum-kann-ich-nicht-alle-retten-Arzt mit Jesuskomplex und zugleich der Beste, den es gibt.« Pollys Stimme klang so, als würde sie mit dem Kopf im Küchenschrank stecken. »Ganz ehrlich, Annie, wir müssen uns mal ernsthaft über deinen Geschirrgeschmack unterhalten.«

Das klang ganz so, als wären Porzellantassen in Pollys Welt ein echtes Problem, der Krebs hingegen eine Bagatelle. Endlich fand sie zwei altmodische Exemplare mit Blümchenmuster, vermutlich aus Beständen von Annies Eltern. »Oooh, die sind ja echt retro«, rief sie begeistert.

»Nein, nur ziemlich alt und spießig.« Annie gähnte nachdrücklich. »Ich muss heute übrigens zur Arbeit – dass ich morgens meine Mutter besuche, ist eher die Ausnahme.«

»Deswegen bin ich ja so früh gekommen – damit wir einen Plan machen können.«

»Was für einen Plan bitte schön?« So viel Action am frühen Morgen war Annies Sache nicht.

»Ich erkläre es dir gleich … So, das hätten wir.«

Polly hatte den Kaffee in die zierlichen Porzellantässchen umgefüllt und richtete nun die Croissants auf einem geblümten Teller an, wobei Blätterteigflocken auf den Boden rieselten und sich dort zu Staubflocken und Toastkrümeln gesellten. Sie ließ die Dinge wirklich schleifen, dachte Annie. Costas, mit sieben Schwestern aufgewachsen, war in puncto Hausarbeit sowieso ein hoffnungsloser Fall, was ihren Ehrgeiz zusätzlich dämpfte.

»Also«, begann Polly und zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche, knallrosa mit silbernem Rand, »wie du weißt, habe ich noch etwa drei Monate zu leben. Es war ein ziemlicher Schock, als ich es erfuhr. Du kannst dir das ganze Folgeprogramm ja vorstellen … Heulkrämpfe auf dem Badezimmerboden, verzweifelte Leugnungsversuche, eine Woche im Bett verkriechen …«

Und ob Annie das konnte – sie hatte quasi persönlich die Gebrauchsanleitung dazu geschrieben.

»Aber irgendwann begriff ich, dass darin auch eine unglaubliche Chance liegt. Ich muss mich nicht mehr mit so lästigem Krempel herumschlagen wie Rechnungen, Rentenbeitragszahlungen, Fitnessstudiobesuchen. Mein Leben – oder das, was davon übrig ist – wurde dank Bob, meinem guten alten Gehirntumor, auf das Wesentliche eingedampft. Und ich habe vor, das Beste daraus zu machen.«

Annie griff nach einem Croissant. »Jetzt sag mir nicht, dass du eine Liste der Dinge zusammengestellt hast, die du unbedingt noch abhaken willst.«

»Das wäre wohl die übliche Reaktion. Nein, es ist etwas komplizierter. Ich will nicht einfach Dinge abhaken. Mit den Delfinen schwimmen … check. Zum Grand Canyon fahren … check. Ich meine, das habe ich sowieso hinter mir.«

»Klar«, meinte Annie lakonisch, den Mund voll Blätterteig, und nickte. Konnte ja bei Polly gar nicht anders sein.

»Ich will nicht bloß die Phasen des Sterbens durchexerzieren, das haben andere bereits gemacht. Vielmehr möchte ich die Dinge zu ändern versuchen, eine Art Zeichen setzen, bevor ich für immer verschwinde, verstehst du? Ich will zeigen, dass es möglich ist, glücklich zu sein und das Leben zu genießen, selbst wenn einem alles schrecklich erscheint. Wusstest du, dass Lottogewinner nach ein paar Jahren auf dasselbe Glückslevel zurückfallen wie vor ihrem Gewinn? Desgleichen Leute, die sich nach einem schweren Verkehrsunfall an ihr verändertes Leben gewöhnt haben. Glück ist ein Geisteszustand.«

Annie schüttelte den Kopf. Was ihr widerfahren war, vermochte sie nicht als Geisteszustand zu betrachten, das war verdammt real gewesen.

»Und wie sieht dein Plan aus?«

»Hast du schon mal vom Projekt 100HappyDays gehört? Einem dieser kleinen Internethypes?«

»Das Konzept ist wirklich ganz einfach. Man soll lediglich jeden Tag eine Sache tun, die einen glücklich macht. Das können Kleinigkeiten sein. Wie unsere Kaffeezeremonie.«

»Frühstück auf hübschem Geschirr. Mit einer Freundin den Sonnenaufgang betrachten.«

Freundin?

»Ich?«

»Annie, ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber du scheinst mir das komplette Gegenteil von glücklich.«

»Das kann es nicht sein«, erwiderte Polly. »Eine so negative Einstellung braucht Jahre, die kommt nicht von heute auf morgen.«

ja, ich lebe in einer beschissenen Wohnung voller Sper

»Kann sein. Doch da ich ständig über seine dreckigen Hosen stolpere und Käse von meinen Tellern kratzen muss, finde ich das weniger. Schau mal.« Annie tastete unter dem Sofa herum und zauberte eine Pistazienschale hervor. »Die lässt er überall liegen. Es treibt mich in den Wahnsinn. Ganz zu schweigen von meiner Arbeit, die ich hasse und zu der ich zu spät kommen werde, wenn ich nicht bald aufbreche.«

Annie überlegte, was sie darauf antworten sollte. »Nur bin ich nicht sicher, ob ich das glaube.«

Einen Moment lang war Annie kurz davor, ihr alles zu erzählen. Ihr zu erklären, wie viel schlimmer alles war, schlimmer als eine kranke Mutter, schlimmer als ein chaotischer Mitbewohner und eine marode Wohnung, aber sie konnte nicht. Polly war praktisch eine Wildfremde.