Zum Roman
Wisconsin, USA, 1960. Angie führt eine glückliche Ehe mit Paul Glass. Doch ein einziger Anruf von Pauls Nichte Ruby zerstört ihre heile Welt unwiderruflich. Pauls Bruder Henry wurde tot im Wald gefunden, seine Frau Silja ist spurlos verschwunden. Sofort reisen Angie und Paul in das Haus am Waldrand, um Ruby beizustehen. Doch die Siebzehnjährige wirkt seltsam gefasst. Was geschah wirklich hinter der Fassade der Familie Glass? Trauert tatsächlich jeder um den toten Henry? Und kann Angie ihrem Mann vertrauen? Die Frauen der Familie Glass scheinen von dunklen Geheimnissen umgeben …
Zur Autorin
Cynthia Swanson ist Designerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Denver, Colorado. Nach ihrem Debüt, dem New-York-Times-Bestseller Als ich erwachte, ist Im Wald der Lügen ihr zweiter Roman.
CYNTHIA SWANSON
IM
WALD
DER
LÜGEN
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Ute Brammertz
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Von Cynthia Swanson im Diana Verlag erschienen
Als ich erwachte
Im Wald der Lügen
Deutsche Erstausgabe 09/2019
Copyright © 2019 by Cynthia Swanson
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
The Glass Forest, bei Touchstone/Simon & Schuster,
New York/London/Toronto/Sydney/New Delhi.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
nach einem Entwurf von Lucy Kim
Umschlagmotiv: © Getty Images/Willem Douven/EyeEm;
Getty Images/Diana Lee Angstadt; Shutterstock/OSTILL
in Franck Camhi; Shutterstock/Benoit Daoust
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-22117-1
V001
www.diana-verlag.de
Den Brussats und den Fishers –
aus vergangenen Tagen,
Gegenwart und Zukunft
1
ANGIE
Door County, Wisconsin 1960
Der Tag begann klar und frisch – ein perfekter Septembermorgen ohne jede düstere Vorahnung dessen, was kommen sollte. Nachdem PJ von seinem Nickerchen aufgewacht war, packte ich ihn in einen Pulli und eine elastische Strickhose und setzte ihm eine farblich passende Mütze auf – abgelegte Sachen von den Kindern meiner Schwester Dorrie. Das Baby auf der Hüfte, trat ich aus dem Cottage. Die Nacht zuvor hatte es geregnet, und ich atmete den feuchten Duft von trägem Seewasser und den kargen Wäldern Wisconsins ein, vertraut wie der Geruch meiner eigenen Haut.
Meine Füße knirschten auf unserem Sandpfad, der über die ungepflasterte Straße zur North Bay führte. Wie alle Anwohner des North Bay Drive hatten Paul und ich einen Pfad aus Sand über die Schotter-Öl-Straße angelegt, um so wenig Öl wie möglich an die Schuhe zu bekommen. Als ich auf der morschen Holztreppe zur Bucht hinunterstieg, gab ich auf den Schlamm acht, der nach starkem Regen immer an den Stufen klebte. Unten stieg ich durch das hohe, schlammige Gras zum Ufer und wendete mit einer Hand das leichte Segeltuchkanu um, das mein Großvater vor Jahrzehnten gebaut hatte. Am Wochenende hatte Paul einen kleinen Holzsitz für PJ quer über der mittleren Bank des Kanus angebracht, gepolstert und mit Lehne. Ich wollte ihn unbedingt ausprobieren.
Leise summend schnallte ich das Baby mit den Lederriemen fest, die Paul zu beiden Seiten an die Bank gehämmert hatte. Ich dachte an die Nacht zuvor. Ich erinnerte mich, wie Regen auf das Blechdach des Cottage geprasselt war und in meinen Ohren getrommelt hatte, während Paul und ich, ins Bettzeug gewickelt und ineinander verschlungen, uns im selben Rhythmus bewegten. Am Ende hatte ich Pauls Namen geschrien, die Stimme lauter als das Geräusch der Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben peitschten. Anschließend lagen wir reglos da und lauschten dem gelegentlichen Donnergrollen, während das Unwetter über den Michigansee ostwärts zog. Dankbarkeit – für meine Ehe, mein Leben, meine Zukunft – legte sich so fest um mein Herz, wie Pauls Körper den meinen umschlang.
Jetzt, zwölf Stunden später, stockte mir bei der Erinnerung der Atem. Ich paddelte in die Bucht hinaus, die PJ und ich für uns allein hatten, abgesehen von einer Entenversammlung, die gelassen in Ufernähe trieb, und einem Möwenpaar weiter draußen. All die Stechmücken und die meisten Moskitos waren für die Saison verschwunden. Nur gelegentlich summte eine Libelle übers Wasser, mit im Sonnenschein violett und blau glänzenden Flügeln.
Ich holte das Paddel hoch und ließ das Kanu treiben. Von dem sanften Schaukeln eingelullt, brabbelte PJ vergnügt vor sich hin, während er die über uns hinwegfliegenden Vögel beobachtete.
Ich schaute nach oben, schirmte die Augen vor der Sonne ab. Da spritzte auf einmal rechts von mir eine Wasserfontäne in die Höhe. Ich fuhr herum und sah gerade noch die Forelle, die aus dem Wasser schoss und kleine Wellen über die Oberfläche schickte, als sie wieder eintauchte.
Meine jähe Bewegung brachte mich aus dem Gleichgewicht, und ich spürte, dass das Kanu heftig kippte. PJ stieß einen Schrei aus. Ich drehte mich um und sah, wie das Baby zur Seite rollte und sein Kopf das Wasser berührte, dann die Schultern und der Oberkörper. Die Lederriemen hatten sich von der Bank gelöst – Paul hatte sie wohl nicht sorgfältig genug festgenagelt.
Schnell griff ich nach vorne und packte das Baby an den Fußknöcheln, rechtzeitig, bevor es im Wasser verschwand. Das Kanu neigte sich weiter zur Seite, und ich ließ mich hastig nieder, schrammte mit der Hüfte an der Bank entlang, bis ich wieder aufrecht saß. Das Baby jammerte überrascht, das Haar triefend, Seewasser tropfte ihm in die Augen und vermischte sich mit seinen Tränen. Ich drückte es an mich und fuhr mit den Fingern über seinen klitschnassen Kopf. »Alles ist gut, mein Kleiner«, murmelte ich. »Du bist in Sicherheit.«
Ich gab PJ einen Kuss auf die Stirn, legte seinen Kopf an meine Brust und bekreuzigte mich mit der freien Hand. Danke, Mutter Gottes, betete ich stumm. Danke, dass du über uns wachst.
Das Holzpaddel schwamm in der Nähe. Zitternd starrte ich es an. Ich nahm das Baby unter meinen linken Arm, tauchte den rechten Unterarm ins Wasser und trieb das Kanu mit der Hand an, bis ich das Paddel erreichte. Ich fischte es aus dem Wasser und presste das Baby noch fester an meinen Körper. Unbeholfen paddelte ich einhändig aufs Ufer zu – mühsam, aber unbeirrbar.
Gerade als ich zur Tür hereinkam, begann das Telefon zu klingeln – die zwei kurzen Klingeltöne bedeuteten, dass der Anruf, der über den Gemeinschaftsanschluss kam, uns galt. Immer noch bibbernd schlüpfte ich aus meinen dreckigen Überschuhen. Ich stürzte ins Bad, wickelte das Baby in ein Handtuch und legte es auf das Sofa.
Ich durchquerte das winzige Wohnzimmer des Cottage und griff nach dem Hörer des Telefons auf dem Schreibtisch, während ich mit der anderen Hand das Radio leiser stellte. Bevor ich zur Bucht aufgebrochen war, hatte ich vergessen, es auszuschalten. Am frühen Vormittag hatten die Radiosprecher von WDOR die Präsidentschaftsdebatte des vorangegangenen Abends diskutiert. Während Vizepräsident Nixon über den Äther positiv abgeschnitten habe, hätten die Leute, die die Fernsehübertragung gesehen hätten, das Gefühl gehabt, Senator Kennedy habe einen überwältigenden Sieg davongetragen, hieß es. Als ich diese Worte am Morgen zum ersten Mal hörte, hatte ich die Faust zu einem leisen Jubel gehoben. In weniger als zwei Monaten würde ich bei meiner ersten Präsidentschaftswahl abstimmen. Der Senator aus Massachusetts hatte meine volle Unterstützung.
»Tante Angie?« Die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung war mir nicht vertraut. Ich habe über ein Dutzend Nichten und Neffen – ich bin die Jüngste von sechs, und alle meine Geschwister haben jeweils mehrere Kinder –, doch nur eine Handvoll von ihnen war alt genug zum Telefonieren. Und von den wenigen hatte keiner eine reife Stimme wie diese. Nicht ganz die Intonation einer Erwachsenen, aber bestimmt auch kein Kind mehr.
Nur ein Mensch konnte mich auf diese Weise Tante nennen.
»Ruby?«, fragte ich. »Bist du’s? Alles in Ordnung?«
Es kam keine Antwort. Ich ließ meinen Blick durchs Zimmer gleiten und beobachtete, wie PJ vor sich hin brabbelte, während er nach den losen Fäden eines Sofakissens schlug. Angesichts dessen, was PJ in der Bucht durchgemacht hatte, war er wunderbar ruhig. Was für ein Glück ich hatte, so ein pflegeleichtes Baby zu haben, wohingegen ich von meinen Schwestern und Schwägerinnen nur Klagen über Koliken und Übellaunigkeit zu hören bekam.
»Wir haben einen Champion«, sagte Paul jedes Mal, wenn ich mich darüber wunderte. »Der Junge ist ein Champion, Angel.«
Und ich lächelte dann, über seine Worte, aber auch über seinen Kosenamen für mich. Angel.
Ich vernahm ein fast nicht hörbares Geräusch in der Leitung – kein gesprochenes Wort und auch nicht ganz ein Räuspern. Ich hoffte, dass es Ruby war, doch ich hatte den Verdacht, es war die alte Mrs. Bates ein paar Häuser weiter, die den Gemeinschaftsanschluss nutzte, um Klatsch einzufangen, wie man ein Wiesel in einer mit Köder präparierten Lebendfalle fängt.
»Ruby?«, fragte ich noch einmal. »Bist du das? Alles in Ordnung?«
»Nein«, antwortete Ruby mit ihrer beherrschten Stimme, emotionslos und kühl wie das Wasser in der Bucht. »Nein, Tante Angie, es ist nicht alles in Ordnung.«
Es entstand eine weitere Pause, dann sagte Ruby: »Tante Angie, mein Vater ist tot. Und meine Mutter ist auf und davon.«
2
RUBY
Stonekill, New York 1960
»Meine Mutter hat eine Nachricht hinterlassen«, sagt Ruby am Telefon zu Tante Angie. »In der sie meinem Vater und mir erklärt, dass sie uns verlässt.« Mit zum Flüstern gesenkter Stimme fährt Ruby fort. »Sie hat geschrieben, dass es ihr leidtut. Aber das Leben ist zu kurz, um zu warten.«
»Das ist furchtbar, Ruby«, sagt Tante Angie. »Einfach furchtbar.«
Ruby antwortet nicht. Nach einem Moment fragt Tante Angie: »Und dein Vater …?«
Während Ruby die Telefonschnur um den Daumen wickelt, erzählt sie Tante Angie den Rest der Geschichte: Der Körper ihres Vaters sei zusammengesunken auf dem Waldboden entdeckt worden, nur ein paar Meter weiter im Wald ihrer Familie hinter dem Haus. »Er ist vor einer Eiche gefunden worden. In der Nähe lag eine leere Teetasse«, sagt Ruby. »Die Tasse wird auf Gift untersucht. Die Polizei meinte, der Gerichtsmediziner kommt wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass es Selbstmord war.«
Rubys Stimme ist sachlich. Denn schließlich ist es eine sachliche Angelegenheit … das hier sind die Tatsachen.
»Oh, du meine Güte!«, sagt Tante Angie. »Es tut mir so leid.« Sie hält inne und fügt dann hinzu: »Wo bist du jetzt, meine Süße?«
Ruby schweigt. Sie lässt das Wort auf sich wirken, das Tante Angie benutzt hat. Süße.
Niemand nennt Ruby so. Nicht mehr.
»Ich bin zu Hause«, sagt Ruby. »Würdest du Onkel Paul ausrichten, dass er mich so bald wie möglich zurückrufen soll?«
Nachdem sie aufgelegt haben, dreht Ruby sich um und öffnet die Terrassentür, durchquert den Garten hinter dem Haus und betritt den dichten Wald ihrer Familie. Alles, was sie hört, sind Vögel und Insekten und gelegentlich ein Eichhörnchen, das durchs Unterholz huscht. Als sie an einer mächtigen Eiche vorbeikommt, klopft sie sanft auf den Stamm und geht dann weiter.
Ruby stapft den schmalen, kaum sichtbaren Pfad entlang. Sie drückt ihre abgetragenen, grau-weißen Tennisschuhe in weiche Erde und durchnässtes Laub.
Schließlich erreicht sie eine kleine Lichtung. Sie setzt sich auf einen Felsen. Ein schwerer, von Furchen durchzogener Felsblock, sechzig Zentimeter im Durchmesser, sechzig Zentimeter hoch. Ein Felsen, der rutschig vom Tau ist; die Quarzsplitter glitzern im Sonnenlicht des späten Vormittags, das durch die Baumwipfel dringt.
Die Felsen sind die Erde, alles um sie herum ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Diese Felsen waren vor den Algonquin hier, die wiederum diesen Wald schon lange bewohnten, bevor die Holländer sich vor gerade mal dreihundert Jahren in New York State niederließen. Felsblöcke wie der, auf dem Ruby sitzt, haben Bäume, Tiere und Menschen kommen und gehen sehen. Sie kennen die umstehenden Eichen und Kiefern noch nicht einmal so lang wie die Lebensspanne einer Schildkröte.
Sie legt den linken Fußknöchel über das rechte Knie. Behutsam zupft sie an dem kleinen blauen Gummietikett an der Ferse ihres linken Schuhs. Auf dem früher einmal KEDS gestanden hat, aber auf dem jetzt, weil sie so viel daran herumgezupft hat, nur noch KE zu lesen ist.
Ruby senkt die Fingerspitzen und erwartet die Kälte des Felses.
Und dann zieht sie – blitzschnell – die Hand weg. Denn statt hartem Gestein hat sie etwas Ledriges gespürt, das sich bewegt.
Sie blickt nach unten. Auf dem Fels liegt aufgerollt eine Schlange mit dicker Mitte, keine fünfzehn Zentimeter von ihrem Sitzplatz entfernt.
Das Tier zischt, und Ruby springt auf. Sie weicht zurück und starrt die Schlange an. Die blickt wütend drein, ihre Knopfaugen funkeln, und die gespaltene Zunge schnalzt rasch hin und her. Ihre Haut ist dunkelgrün – die Farbe des Waldes – mit schmalen gelben Streifen, die längs an ihrem Körper verlaufen.
Zum Beweis, dass Ruby keine Angst hat, hält sie ihr die Hand hin.
Die Schlange zögert. Sie streckt sich und rollt sich dann wieder ein.
Ruby wackelt mit den Fingern.
Mehr braucht es nicht. Die Schlange reißt den Kopf zurück, um kraftvoll Schwung zu holen. Mit einem vulgären Zischen schnellt ihr offenes Maul auf die ausgestreckte Hand zu.
Sie könnte schreien. Doch niemand würde Ruby hören, wenn sie es täte.
3
ANGIE
Ich legte PJ in sein Gitterbett, zog noch einmal die Überschuhe an und stürzte aus der Tür. So schnell wie möglich watete ich durch den matschigen Hof.
Meine Gedanken überschlugen sich, während ich begriff, was Ruby gesagt hatte. Selbstmord – wie furchtbar! Ich hatte keine Ahnung, wie ich die richtigen Worte finden sollte, um Paul diese Nachricht über seinen Bruder zu überbringen. Er würde am Boden zerstört sein.
Und Ruby! Was für eine Situation für ein junges Mädchen. Von der Mutter verlassen. Und auch vom Vater – offenbar mit gebrochenem Herzen, hatte er sich doch lieber umgebracht, als der Realität ins Auge zu sehen. Wie konnten Eltern ihrem Kind so etwas antun?
Ich dachte über den Kosenamen nach, bei dem ich Ruby genannt hatte, und wie sie auf einmal ganz schweigsam geworden war, als ich ihn aussprach. Süße. Das war das Kosewort, das ich für alle meine kleinen Nichten verwendete, und es war mir spontan herausgerutscht.
Doch Ruby war siebzehn, und ich war einundzwanzig. Ruby würde sich sicher nicht als meine Süße sehen. Ich hätte es besser wissen müssen.
Am Waldrand schlug ich den Weg zu Pauls Atelier ein und folgte dem breiten, schlammigen Pfad. Gesprenkelter Sonnenschein fiel durch die schmalen Baumgruppen von Zedern und Birken auf meine Schultern. Nach der intensiven Abholzung Ende des neunzehnten Jahrhunderts wuchsen in den Wäldern von Wisconsins Halbinsel Door County erst langsam wieder ältere Bäume heran. Der spärliche Wald hatte die eigenartige Wirkung, mich gleichzeitig einzuhüllen und den Blicken preiszugeben.
Das Grundstück – zwei Morgen an einer Schotterstraße mit Blick auf die North Bay, östlich von Door – gehörte früher einmal meinen Großeltern väterlicherseits. Paul und ich lebten seit unserer Hochzeit im Jahr zuvor in dem Cottage. Pauls Atelier, das sich etwa zehn Meter hinter dem Haus im Wald befand, hatte Puppenstubengröße. Meine Großeltern hatten es in der Vergangenheit als Lagerschuppen benutzt.
»Paul!«, rief ich und riss polternd die Tür auf.
Paul blickte von dem zur Hälfte bemalten Leinen auf, das an seiner Staffelei befestigt war. Der Tisch neben ihm war übersät mit Kisten voller Aquarellfarben, Pinseln in verschiedenen Größen, Wasserbechern und ein paar Lumpen. Auf einer halbhohen Leiste, die Paul an den Schuppenwänden angebracht hatte, lehnten Bilder in unterschiedlichen Phasen der Fertigstellung – Szenen von der North Bay, vom Michigansee und vom Sonnenuntergang über der Green Bay auf der anderen Seite der Halbinsel.
»Was ist los, Angel?« Paul stand auf und wandte sich mir zu.
»Ich weiß nicht … ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll.« Ich betrat das Atelier. »Es geht um Henry. Und Silja.«
»Was ist mit ihnen?«
Ich schluckte heftig. »Ruby hat angerufen. Sie hat gesagt … oh, Paul!« Ich schlang die Arme um ihn. »Henry ist … tot.«
Paul entzog sich meiner Umarmung und sank schwer auf seinem Hocker nieder. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich eigentlich auch nicht«, erwiderte ich. »Aber Ruby sagt …« Ich biss mir auf die Lippe. »Sie sagt, Henry wurde im Wald in der Nähe des Hauses gefunden. Seine Leiche, meine ich. Die Polizei geht davon aus, dass es … dass es Selbstmord war.« Tränen brannten in meinen Augen. »Und Silja ist verschwunden.« Nach einem Zögern fügte ich hinzu: »Ruby hat gesagt, Silja hat die beiden verlassen.«
Ich erzählte ihm von der Nachricht, die Silja hinterlassen hatte. Und dann verstummte ich und ließ ihn die Puzzleteile selbst zusammensetzen.
Paul sagte gar nichts. »Bist du sicher?«, fragte er dann. »Du bist sicher, dass sie das so gesagt hat?«
Ich nickte. Er sah aus dem Fenster des Ateliers, blinzelte, drehte sich dann wieder zu mir.
»Erzähl mir alles«, sagte er. »Wort für Wort, Angel, wiederhole genau, was Ruby gesagt hat.«
Pauls Bruder Henry lebte mit seiner Frau Silja und ihrer gemeinsamen Tochter Ruby in New York State. Ich war ihnen nur einmal begegnet, als sie letzten September zu unserer Hochzeit nach Door County gekommen waren.
Henry und seine Familie sollten spät am Vorabend der Hochzeit eintreffen. Als sie in Door County ankamen, hatte ich Paul längst an der Türschwelle meiner Eltern eine gute Nacht gewünscht und war nach oben gegangen, um die letzte Nacht in meinem Kinderzimmer zu schlafen. Am nächsten Tag sah ich Paul erst, als ich den Mittelgang von St. Mary of the Lake entlangschritt und zu ihm vor den Altar trat, wo Henry neben ihm stand.
Als der Priester seine Stimme erhob, um die Begrüßungsworte zu sprechen, warf ich Henry einen Seitenblick zu, überrascht von seiner frappierenden Ähnlichkeit mit Paul. Auch ich sehe aus wie alle anderen in meiner Familie – wir alle sechs, von meinem ältesten Bruder George bis hin zu mir, haben mausbraune Haare, Sommersprossen auf der Nase und runde blaue Augen unter gewölbten Brauen. Doch Paul und Henry – beide groß, dünn, mit schmalem Gesicht, einem dunklen Haarschopf und funkelnden, schokoladenbraunen Augen – sahen fast wie Zwillinge aus.
Praktisch waren sie es, hatte Paul mir bei unserer ersten Verabredung erzählt. Da die Brüder nur ein Jahr trennte, waren sie als Kinder unzertrennlich gewesen. »Wir hatten nicht viele Freunde«, sagte Paul. »Wir brauchten sie nicht. Wir hatten einander.« Sie waren im kalifornischen Weinland aufgewachsen. Ihre Eltern waren die Verwalter eines Weinguts gewesen, und Paul und Henry wuchsen inmitten der Reben auf und halfen, die empfindlichen Pflanzen zu hegen, die Trauben zu ernten und sie zu Wein zu verarbeiten.
»Habt ihr sie mit den Füßen in einem großen Holzbottich zerquetscht wie die Römer?«, fragte ich ihn damals und beugte mich vor, um den Ansatz meiner Brüste zu offenbaren, der aus dem Ausschnitt meines Lieblingspünktchenkleides hervorblitzte.
»Jeden Herbst«, versicherte Paul mir mit einem Grinsen. Mein Herz klopfte.
Tja, wer konnte es mir verübeln? Mit seinem breiten Lächeln und den funkelnden Augen sah er aus wie Cary Grant. Ich war machtlos gewesen gegen den Charme von Paul Glass – dieses betörenden Künstlers noch nicht ganz mittleren Alters, der scheinbar aus dem Nichts in Door County aufgetaucht war.
Als ich ihm begegnete, hatte ich gerade meinen alljährlichen Sommerjob als Zimmermädchen in der Gordon Lodge angetreten. Es war eine schweißtreibende, anstrengende Arbeit, die Gästecottages und Zimmer der Lodge zu putzen, während man das türkise Nylonkleid und die Strumpfhose trug, die die Direktion den Zimmermädchen vorschrieb. Eines Nachmittags spazierte ich nach meiner Schicht ins Top Deck, die Lounge von Gordon’s, um ein Glas Wasser zu trinken. Ein Barkeeper, den ich nicht kannte, spülte pfeifend Gläser ab. Die oberen zwei Knöpfe seines Hemdes standen offen, und aus dem Nest aus schwarzem Haar auf seiner Brust lugte eine Christophorus-Medaille hervor. Als ich mich an die Bar setzte, überkam mich ein beinahe unwiderstehlicher Drang, die Hand auszustrecken und die Medaille zu berühren. Der Barkeeper lächelte mir zu, ließ die dunklen Augen aufblitzen und stellte mir ein Glas Eiswasser hin, bevor ich ihn überhaupt darum gebeten hatte.
An eben jenem Abend hatten wir unsere erste Verabredung – die im Grunde einfach darin bestand, dass ich nach Hause ging, duschte und mich umzog, dann zur Lodge zurückkehrte, um an der Bar zu sitzen und darauf zu warten, dass er Feierabend machte.
Paul erzählte mir, sowohl er als auch Henry seien im Krieg gewesen. Mir war bewusst, dass das damals auf jeden jungen Mann zutraf, auch wenn ich noch ein Kleinkind gewesen war, als die Japaner Pearl Harbor bombardierten. Pauls Einsatzgebiet war der Pazifik, und Henry wurde an die Front nach Europa geschickt. Vor dem Auslaufen hatte Henrys Kompanie Ausgang in New York, wo er Silja kennenlernte.
»Was für ein Name ist Silja?«, fragte ich Paul. »Ist er italienisch wie in ›heilige Cäcilia‹?«
»Nein. Es wird ähnlich ausgesprochen, aber anders geschrieben«, erwiderte Paul. »S-i-l-j-a. Das ist finnisch. Silja ist in irgendeiner kleinen finnischen Genossenschaft in Brooklyn aufgewachsen. Alle für einen, einer für alle – die Art Unsinn.« Er lachte spöttisch. »Aber sie lebt nicht mehr so.«
»Wie lebt sie jetzt?«
Paul schnitt eine Grimasse. »Feudal«, erklärte er mir. »Silja lebt feudal.«
Jenes erste Date führte zu einem Sommer gemeinsamer Abende. Auch zu Treffen untertags, wenn ich mich zu dem Zimmer schlich, das Paul in der Stadt gemietet hatte – und mich verstohlen umsah, bevor ich das Haus betrat, um sicherzugehen, dass mich niemand sah, der mich bei meinen Eltern oder Brüdern verpetzen konnte. So etwas hatte ich noch nie zuvor getan – aber ich hatte auch noch nie jemanden wie Paul kennengelernt. Er war anders als die Jungen, mit denen ich aufgewachsen war, wie ein Pfau inmitten der Möwenscharen, die vor der Lodge herumschwärmten und um Essensabfälle bettelten.
Es lag nicht nur an seinem Charme, es lag auch an seiner Reife. Er war schon überall gewesen, er hatte alles gesehen. Nichts brachte ihn aus der Fassung – weder ein Wetterumschwung noch scharfe Worte von einem Gast noch eine Reifenpanne auf einer einsamen Straße. Er war handwerklich geschickter als jeder andere Mann – natürlich mit Ausnahme meines Vaters. Ich konnte Paul alles anvertrauen.
Wunderbarerweise stellte sich heraus, dass er genauso in mich verliebt war wie ich in ihn. Wenn er mich anlächelte, kam ich mir wie eine Schönheitskönigin vor. Von daher war es keine Überraschung, dass die Hochzeit nur drei Monate nachdem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, stattfand.
Erst bei unserem Hochzeitsempfang im Top Deck konnte ich meine neue Schwägerin genauer unter die Lupe nehmen. Silja hatte eine sinnliche, sehr weibliche Figur: einen vollen Busen, einen prallen Hintern, und sie war hochgewachsen. Ein trägerloses, smaragdgrünes Kleid betonte ihre Kurven. Das aschblonde Haar trug sie hinten hochgesteckt, vorne tief in die Stirn frisiert. Ihr Gesicht war nicht sonderlich hübsch. Sie hatte eine große, rundliche Nase, die ihre Züge dominierte und insbesondere das exquisite Haselnussbraun ihrer Augen nicht recht zur Geltung kommen ließ, die hinter einer Schmetterlingsbrille versteckt waren.
Silja erzählte mir, sie bekleide eine herausragende Stelle in New York City und sei die gastronomische Leiterin im Rutherford Hotel. »Es ist bei Weitem nicht das größte Hotel in New York«, sagte Silja, »oder das berühmteste. Aber wir sind bekannt für herausragenden Service, besonders in unseren Restaurants.«
Ich nickte geistesabwesend und sah mich nach Paul um. Er stand hinter der Bar, mischte Drinks und lachte mit den Gästen, die ihm gegenübersaßen. Der joviale Barkeeper, selbst auf seiner eigenen Hochzeit.
»Also tut es uns leid, dass wir nicht länger bleiben können«, sagte Silja gerade, und widerwillig richtete ich meinen Blick wieder auf sie. »Aber ich werde am Montag in der Arbeit gebraucht.«
Silja griff mit manikürten Fingern in ihre Handtasche und zog ein goldenes Zigarettenetui samt passendem Feuerzeug heraus. Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm einen langen Zug und betrachtete mich. »Und du, meine Liebe?«, fragte sie. »Was machst du?«
Ich umklammerte mein Taschentuch – etwas Blaues, genau wie man es laut der überlieferten Tradition als Braut bei sich tragen soll. »Na ja, ich habe den Sommer über hier in der Lodge gearbeitet«, antwortete ich. »Aber jetzt … als verheiratete Frau …«
Ich schloss den Mund, da ich unsicher war, ob ich mehr sagen sollte. Keiner, abgesehen von meiner Familie und meinen engsten Freundinnen, kannte das große Geheimnis – auch wenn es in Anbetracht unserer übereilten Hochzeit keine große Überraschung wäre, sobald es einmal offensichtlich wurde. Die Schwangerschaft war mir kaum anzusehen, mein runder Bauch ließ sich ohne Weiteres unter dem weiten Rock meines Hochzeitskleids verbergen – das nur wenige Jahre zuvor das Hochzeitskleid meiner Schwester Carol Ann gewesen war. Carol Ann trug eine Nummer größer als ich; es war also kein Problem, den wachsenden Umfang meiner Taille in den üppigen Metern aus Satin und Spitze zu verstecken. Trotzdem – das hier war schließlich Pauls Schwägerin – seine Familie. Hatte Paul Henry von dem Baby erzählt? Und wenn ja, hatte Henry es Silja erzählt? Ich war mir nicht sicher.
Silja nickte. »Ehe ist Arbeit«, sagte sie matt. »Ehe ist …« Sie lächelte wehmütig. »Ach, was weiß ich schon davon, nicht wahr? Nicht mehr und nicht weniger als jede andere Ehefrau.« Sie inhalierte Zigarettenrauch und blies ihn dann von mir weg. »Jede verheiratete Frau hat ihre eigene Geschichte.«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Das ist bestimmt wahr.«
Silja legte den Kopf schräg und betrachtete mich nachdenklich. »Ich kann sehen, wie sehr du Paul anhimmelst. Das ist sehr süß.« Sie lächelte erneut. »Es erinnert mich daran, wie es mir mit Henry ging, als wir uns kennengelernt haben. Damals war ich ungefähr in deinem Alter.« Sie wandte sich ab und starrte versonnen an der Menge der Hochzeitsgäste vorbei zum See hinter den breiten Fensterscheiben des Top Decks. »Das ist nun schon so lange her.«
Ein Klirren erfüllte den Raum – die Leute klopften mit Silberbesteck an Wein- und Biergläser, zum Zeichen, dass Braut und Bräutigam sich küssen sollten. Paul sah mir in die Augen und winkte mich zu sich.
»Verzeihung«, sagte ich zu Silja und eilte zu ihm hinüber. Über die Bar gebeugt empfing ich Pauls warmen Kuss und den begeisterten Applaus unserer Gäste.
4
SILJA
1942
In Brooklyn gab es Liebe auf den ersten Blick nur an einem Ort: im Kino. Es geschah jeden Samstagnachmittag, für all die Mädchen, die ihr Taschengeld jede Woche ausgaben, um auf velourssamtenen Plätzen im Sunset oder im Coliseum zu sitzen, versunken Popcorn zu knabbern und zuzusehen, wie sich Barbara Stanwyck heftig in einen einnehmenden Henry Fonda verliebte, Vivien Leigh hypnotisch in Laurence Oliviers Augen starrte, Irene Dunne sich Cary Grants Charme nicht erwehren konnte.
Und danach gingen die Mädchen durch die zugigen, müllübersäten Straßen nach Hause – nach Hause zu ihren überarbeiteten Müttern, schweigsamen Vätern und den Horden kleiner Brüder und Schwestern. Die verzückten Mädchen schrieben Dinge wie »Mrs. Emma Olivier« in ihre Schulhefte und stellten sich vor, was passieren würde, wenn der traumhafte Laurence vor ihrer Tür auftauchte. Denn gewiss würde er Vivien auf der Stelle vergessen, wenn er stattdessen sie, Emma, lieben könnte.
So ein Mädchen war Silja Takala. Zwanzig Jahre alt, Brillenträgerin und unbeleckt von der Hitze des Feuers wie ein neuer Kupferkessel – Silja war ein Mädchen, dessen einziges Wissen über Liebe aus Filmen stammte.
Doch dann ereignete sich tatsächlich die wahre Liebe. Genau wie im Film.
Silja begegnete ihm an einer Bushaltestelle. Sie war auf dem Weg zu ihrer Freundin Johanna. Es war Freitag, Siljas kurzer Tag am Hunter, der Tag, an dem sie nur Vormittagsunterricht hatte. Übers Wochenende hatte sie zwar eine Menge Hausaufgaben auf, doch sie hatte Johanna seit Monaten nicht gesehen, nicht mehr, seitdem Johannas Familie aus Brooklyns Finntown in New Yorks andere Finntown, die in Harlem, gezogen war.
Während sie auf einen Bus Richtung Norden wartete, tippte ihr ein großer junger Mann, dünn wie ein Stock und in Uniform – so viele junge Männer trugen in diesen Tagen Uniform –, auf die Schulter.
»Schönen Tag, Miss.« Er grinste verlegen. »Ich möchte zum Zoo in der Bronx. Ist das hier der richtige Bus?«
»Zum Zoo? Warum wollen Sie da denn hin?« Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Mit seinen funkelnden Augen und dem freundlichen Lächeln war er ein Doppelgänger von Cary Grant.
»Ich bin nur ein paar Tage in New York. Ich habe mir gedacht, ich sollte mir die Sehenswürdigkeiten anschauen.« Er blickte hinauf zum klaren, sonnigen Himmel – bemerkenswert wolkenlos für den ersten Freitag im März. »Und es ist ein schöner Tag für den Zoo.«
Was für eine merkwürdige Unternehmung für einen GI, der Ausgang hatte. Varietéklubs und Bars säumten jede Seitenstraße in Manhattan. Es gab Jazzspelunken und Tanzlokale und alle Arten von Restaurants, die man sich nur wünschen konnte. Es gab unzählige Vergnügungen, denen ein junger Mann auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft sicherlich frönen sollte, solange es noch ging. Welcher Verrückte – und dann noch so ein attraktiver – verfiele da ausgerechnet auf den Bronx Zoo?
»Ich heiße Henry«, sagte er, fast als hätte sie ihn gefragt.
»Silja«, antwortete sie. Der Bus neben ihnen heulte auf und spuckte Dieselabgase. »Das hier ist Ihr Bus«, erklärte sie ihm. »Und meiner.«
Zu Johanna schaffte Silja es nicht. Sie traf lange nach dem Abendessen zu Hause ein, die ordentlich eingerollte Frisur vom Wind im Zoo zerzaust. Henry und sie waren an den Löwen, den Robben und den Affen, die an ihren Käfigen rüttelten, vorübergeschlendert. Obwohl Henry behauptet hatte, er wolle sich die Sehenswürdigkeiten anschauen, schien er die Tiere nicht zu bemerken. Seine Augen hingen an Silja.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit nahmen sie einen Bus nach Downtown. Als sie fast ganz hinten auf ihre Sitzplätze glitten, legte Henry den Arm um Siljas Schulter, was sie sowohl beunruhigend als auch aufregend fand. Noch nie zuvor war sie in der Öffentlichkeit Objekt der Begierde gewesen. Doch wegen des Krieges kamen Jungs in Uniform – und die Mädchen in ihrer Begleitung – mit beinahe jeder noch so heftigen Schmuserei ungestraft davon. Als Henry sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, zuckte niemand um sie herum mit der Wimper. Er drückte den Mund sanft, aber beharrlich auf ihren, und seine Zunge zuckte kaum merklich zwischen ihren Lippen. Ihr Herz pochte, als sie sich wieder voneinander lösten.
»Ich muss dich wiedersehen, Silja«, sagte er. »Darf ich dich anrufen?«
Durfte er sie anrufen? Was für eine Frage! Sie stieg in der 68th Street in der Nähe des Hunter College aus und ging in Richtung Subway. Henry ließ sie im Bus zurück – mit einem Zettel in der Hand, auf dem ihre Nummer stand.
Zu Hause funkelte ihre Mutter sie an und fragte Silja, wo sie denn gewesen sei.
»Es tut mir leid, Äiti«, erwiderte Silja. »Die Subway hatte Verspätung.« Sie senkte den Kopf, sodass ihre Mutter ihr leichtes Lächeln nicht sehen konnte.
Liebe auf den ersten Blick?, fragte sich Silja, als sie am Abend ins Bett fiel. Sie griff unter ihr Nachthemd und streichelte geistesabwesend ihre Brüste. Aber Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht, ermahnte sie sich, drückte ihre Brustwarzen und spürte, wie sie sich an der dünnen Baumwolle ihres Nachthemds aufrichteten. So etwas kommt nur in Filmen vor.
Vielleicht, dachte sie und schob die Hände weiter nach unten. Und vielleicht auch nicht.
Sie trafen sich am nächsten Vormittag im Vic’s in der Nähe des Hunter College in der 69th Street – ein Ort, den Silja bewusst gewählt hatte, weil sie hoffte, ein paar Klassenkameradinnen würden sie vielleicht mit diesem Traummann von GI sehen. Doch in dem Café war niemand, den sie kannte.
»New York ist meine Stadt«, erklärte sie Henry, während sie an ihrem Kaffee nippte und er schwarzen Tee trank. »Ich kann dir zeigen, was du willst. Ich habe mein ganzes Leben lang hier gewohnt. Ich weiß alles über diese Stadt.«
Henry lachte glucksend. »Ach ja, du Überfliegerin? Schauen wir mal.«
Da er Interesse an abstrakter Malerei bekundete, brachte sie ihn in das neu eröffnete Museum of Modern Art. Als sie durch die Galerien wandelten, bewunderte Silja die Kandinskys und die Picabias. Doch Henry lachte spöttisch. »Das nenne ich nicht gerade abstrakt«, sagte er mit einer abschätzigen Geste in Richtung eines Holzschnitts von Kandinsky. »Wo ist das Wagnis? Wo ist der Mumm?«
Ein Typ in der Nähe, der ihn hörte, mischte sich ein. »Kennen Sie das Riverside Museum?«
Als sie die Köpfe schüttelten, reichte er ihnen eine Broschüre. »Die haben dort eine tolle Ausstellung über abstrakte amerikanische Künstler. Ist einen Besuch wert.«
Also brachen sie nach Uptown auf. »Das kommt der Sache schon näher«, sagte Henry, als sie die Werke von Rothko, Gottlieb und anderen auf sich wirken ließen. »Diese Amerikaner, die haben’s drauf.«
Er wusste, was ihm gefiel, das musste sie ihm lassen. Am Samstag hatte sie eine eng anliegende grüne Strickjacke mit Perlmuttknöpfen und einen dazu passenden Bleistiftrock getragen. Henry stellte fest, wie großartig ihr die Kleidung stand. »Du solltest immer Grün tragen«, sagte er und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Es bringt deine Augenfarbe zur Geltung.«
Doch in die Augen sah er ihr nicht, als er das sagte.
Silja lächelte und bedankte sich. Als sie sich am Montag während ihrer Mittagspause wieder im Vic’s trafen, trug sie eine leger geschnittene rosa Bluse und einen Tellerrock aus grauer Wolle. Es war eines ihrer Lieblingsensembles, und sie dachte, es würde ihm gefallen. Doch bei ihrem Anblick runzelte Henry die Stirn und fragte scharf: »Wo ist das Grün?«
»Das habe ich vergessen«, sagte sie.
»Vergiss es nicht beim nächsten Mal, Baby.« Er führte sie zu einer Sitznische im rückwärtigen Teil des Cafés.
Sie beschloss, sich besondere Mühe zu geben, bei jedem ihrer Treffen etwas Grünes in ihr Ensemble zu integrieren – ein Tuch, einen Hut, Schmuck. Schließlich, so sagte sie sich, war Henry ein GI, der demnächst sein Leben für alle im Land aufs Spiel setzte. Was er von ihr verlangte, war ein Klacks. Es war das Mindeste, was sie tun konnte.
Sie war sich nie sicher, wann genau sie ihn sehen würde. Seine Truppe war in Camp Kilmer in New Jersey stationiert, und es hatte ein Durcheinander mit ihrem Marschbefehl gegeben – was sie nicht verstand, was aber, wie sie wusste, nichts Ungewöhnliches war. Präsident Roosevelt hatte vor drei Monaten den Krieg erklärt; die Armee versuchte, das Ganze auf die Reihe zu bekommen, effizient Truppen auszubilden und an die Front zu schicken. Doch es brauchte Zeit.
Silja, die vor ihrer Bekanntschaft mit Henry mehr oder weniger in der Campusbibliothek des Hunter College gelebt hatte, ging dazu über, in der Wohnung zu lernen, die sie sich mit ihrer Mutter Mikaela in der Alku, der Finntown-Genossenschaft, teilte. Mikaela war abends häufig außer Haus – sie versah mit einer kleinen Gruppe Frauen den Luftschutzdienst in Finntown –, also war sie nicht da, wenn das Telefon läutete und Silja abnahm, ein breites Lächeln im Gesicht, wenn es Henry war, der anrief, um zu sagen, dass er in Manhattan sei.
»Darf ich dich aus deinem düsteren Gefängnis befreien?«, fragte er dann. »Und dich in einen noblen Laden bringen, wo wir es uns gut gehen lassen, Silja, wie wäre es damit?« Sie wusste nie, ob er scherzte oder ob er wirklich das glaubte, was er über die Alku sagte, die er nie gesehen hatte. Ein dunkles Gefängnis? Wohl kaum – ihre Wohnung war hübsch und lichtdurchflutet. So oder so erwiderte sie immer, ja, sie werde in einer halben Stunde dort sein.
Wenn sie aus der Subway und in seine offenen Arme schlüpfte, die sie willkommen hießen, pochte ihr Herz. Jedes Mal, wenn er sie berührte – selbst bei kleinen Berührungen, wenn er ihr etwa nach einem Essen im Restaurant in den Mantel half –, spürte sie, wie ihr Körper erglühte und Wärme sie durchströmte.
Halb hoffte sie jedes Mal, wenn sie ihn sah, dass er vorschlagen würde, sie sollten sich ein Hotelzimmer nehmen. Sie war nie eines der Mädchen gewesen, die so etwas dachten. Bis vor Kurzem waren ihre sexuellen Vorstellungen nebulös und vage gewesen und hauptsächlich um die Vorstellung gekreist, einen schemenhaften, unbestimmten Mann zu küssen.
Doch das war vor Henry. Wenn sie jetzt abends allein im Bett lag und die Augen schloss, sah sie sein Gesicht und stellte sich seine Küsse vor, die sanft auf sie herabregneten. Sie spürte Henrys warme Hände ihre nackte Haut berühren.
Am dritten Montag im März, als sie einander genau zehn Tage kannten, spazierten sie an einem warmen Nachmittag durch den Central Park. Als sie den Bethesda-Brunnen umrundeten, nahm Henry Siljas linke Hand. Er steckte einen bescheidenen Diamantsolitär daran.
»Heirate mich jetzt«, sagte er. »Heirate mich, Silja, und wenn der Krieg vorüber ist, kehre ich zurück, und wir bauen uns gemeinsam ein Leben auf. Ein Leben jenseits deiner kühnsten Träume.« Sanft drückte er ihre Hand. »Ich gehöre für immer dir, wenn du mein sein willst.«
Silja war sprachlos. Redete er wirklich mit ihr? Silja Takala, ein nettes, aber unscheinbares Mädchen aus Brooklyn? Das Mädchen, das Abschiedsrednerin ihrer Highschoolklasse gewesen war, zum Studieren ans Hunter College ging und der ganze Stolz nicht nur ihrer Mutter, sondern von allen in der Alku war? Wie konnte ausgerechnet sie diejenige sein, die diesen Ring erhielt, begleitet von diesem sich jeder Logik entziehenden, aber unglaublich romantischen Antrag? Es war der Stoff, aus dem Hollywoodfilme waren.
Sie konnte es kaum glauben, als sie hörte, wie ihre eigene Stimme mit Ja antwortete.
5
RUBY
Sie dachte, niemand würde sie schreien hören, aber wie sich herausstellt, hat sie sich da wohl geirrt. Denn als Ruby einen Blick nach links wirft, sieht sie Shepherd, der seinen Wagen am Friedhof hinter dem Wald ihrer Familie parkt. Er steigt aus, schließt leise die Wagentür, schaut auf und sieht, dass sie ihn beobachtet. Er schlängelt sich zwischen den Grabsteinen hindurch, steigt über die Steinmauer und stellt sich neben sie, neben den Felsen.
Die Schlange ist ins Dickicht gekrochen. Sie hat Ruby nicht gebissen. Ruby ist zu schnell, um das zuzulassen – und abgesehen davon beißen Ringelnattern gewöhnlich nicht oder greifen gar an. In der Regel bleiben sie für sich und kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten.
Aber die hier hält Ruby für einen Miesepeter. Sie muss ein Miesepeter gewesen sein, wenn sie sich derart über ein oder zwei Finger aufgeregt hat, die sich vor ihrem Gesicht bewegten.
»Du solltest nicht hier sein«, erklärt sie Shepherd. »Die Cops sind vor einer Stunde da gewesen, haben die Eiche vermessen und sich besprochen und Notizen gemacht. Ich habe sie gesehen, aber sie haben mich nicht gesehen. Sie sind weg, aber was, wenn sie zurückkommen?«
Er nickt. »Aber du bist hier, Ruby. Solltest du hier sein?«
»Eigentlich nicht«, gibt sie zu. »Ich sollte eigentlich in der Wohnung von Miss Wells sein. Sie hat gesagt, es ist in Ordnung, dass ich nicht in die Schule gehe und meinen Onkel anrufe, wann immer ich so weit bin, mit ihm zu reden. Und dann ist sie in die Schule gegangen.« Ruby zuckt mit den Schultern. »Ich wollte nicht allein dort sein«, sagt sie. »Und ich wollte nicht Miss Wells’ Telefonrechnung in die Höhe treiben. Also bin ich hierher zurückgekommen. Ich habe versucht, meinen Onkel zu erreichen, aber ich musste bei seiner Frau eine Nachricht für ihn hinterlassen.«
Shepherd nickt erneut. »Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht hier bist«, sagt er. »Willst du spazieren gehen?«
Ruby weiß, dass sie besser ins Haus zurückgehen und auf den Rückruf von Onkel Paul warten sollte. Doch als sie in Shepherds Augen sieht – die trotz des strahlenden Tages wolkenverhangen sind –, kann sie nicht ablehnen.
»Bloß ein paar Minuten.« Sie lenkt ihre Schritte in den Wald, und Shepherd folgt ihr.
Schweigend – denn was gibt es schon zu sagen? – gehen sie hintereinander her, Ruby voran. Sonnenlicht sickert in leuchtenden Rot-, Gelb- und Orangetönen durch das Laub der Bäume. Blätter rascheln unter ihren Füßen. Es ist genau so ein Tag, der Menschen dazu bringt zu sagen, der Herbst sei ihre liebste Jahreszeit.
Sie gehen nach Westen, dann nach Norden. Es gibt keine Zäune oder Markierungen, die die Wälder hier voneinander trennen, aber Ruby weiß, wo der Grund ihrer Familie im Norden an den Besitz der Burkes und im Süden an den der Powells grenzt. Der alte, verlassene Friedhof der Dutch Reformed Church – auf dem niemand mehr begraben wird und wo Shepherd parkt, wenn er zu Besuch kommt – liegt im Osten.
Sie setzen sich auf eine umgestürzte Schwarzbirke, deren modriges Inneres sich weich und bröckelig anfühlt. Ruby lässt die zerbrochenen Stücke durch die Finger rieseln. Kernfäule heißt das – wenn ein Baum von innen zersetzt wird. Shepherd hat ihr das beigebracht.
Er legt ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter, und sie hebt ihr Gesicht zu seinem. Seine Augen sind voll Trauer, wie mit Wasser gefüllte Eimer.
»Willst du darüber reden?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Reden wir über was anderes.«
Und dann erzählt sie ihm eine Geschichte.
»Als wir hierhergezogen sind«, sagt Ruby, »im Sommer, nachdem ich zehn geworden bin, habe ich immer die Kinder aus der Nachbarschaft nach Einbruch der Dunkelheit in den Wald gelockt. Ich hatte keine Angst, denn nichts hier draußen ist schädlicher als das, was sich überall in den Häusern befindet. Wie der Fernseher – schon damals habe ich gewusst, dass das Fernsehen den Kindern mehr Schaden zufügt als alles, was ihnen abends im Wald begegnet.«
Er nickt, weil er weiß, dass es stimmt.
»Ich habe also Folgendes gemacht: Ich saß auf einem niedrigen Baumast hinter dem Haus der Burkes neben unserem, wo sie alle im Garten hinter dem Haus gespielt haben, und habe einen leisen Eulenschrei ausgestoßen. Damals trug ich immer mein marineblaues Kleid, weil es mein Lieblingskleid war. Ich habe es noch lange getragen, auch nachdem ich längst herausgewachsen war, aber ich habe es geliebt, denn wenn ich es mit einer dunklen Strumpfhose anhatte, hat es mich eher wie ein Schatten als wie ein Mädchen aussehen lassen. Ich habe mir ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden, um mein Haar zu verstecken. Ich habe so getan, als wäre ich nicht blond wie meine Mutter, sondern als wäre mein Haar dunkel wie das meines Vaters.«
»Du wolltest also wie dein Vater aussehen?«, fragt Shepherd. »Wolltest ihm ähnlicher sein als deiner Mutter?«
»Nein«, erläutert Ruby. »Ich wollte nicht genau wie mein Vater aussehen. Aber dunkles Haar wäre in der Situation praktisch gewesen.«
»Ach so«, erwidert er. »Ich verstehe, was du meinst.«
»Die Kinder hörten den Schrei, die Gespräche verstummten, und ich stieß noch einen aus. Jemand sagte dann: ›Habt ihr das gehört?‹ Und ein anderer antwortete: ›Das ist bloß eine alte Schreieule. Die kann dir nichts tun.‹ Darauf ein anderer: ›Lasst uns nach ihr suchen gehen.‹ Also trotteten sie in meine Richtung, doch bevor sie nahe genug kommen konnten, um mich zu sehen, bin ich zu einem anderen Baum gelaufen und habe das Ganze wiederholt. Und sie standen dann da, wo ich ursprünglich gewesen war, und jemand sagte: ›Sie ist weggeflogen – wir werden sie nicht finden‹, und ein anderer sagte: ›Wartet mal, seid still!‹ Und dann waren sie alle still und lauschten, und tatsächlich erklang der Schrei erneut, und jemand sagte: ›Da lang!‹ Und sie marschierten in meine Nähe, brachen Äste ab und veranstalteten einen Riesenlärm, und ich habe mich gefragt, ob sie nicht begreifen, dass ich, wenn ich wirklich eine Eule wäre, nichts mit dem ganzen Radau zu tun haben wollte.«
Ruby kann in ihrer eigenen Stimme hören, dass sie gebannt ist. Das Geschichtenerzählen führt dazu, dass sie sich weniger traurig fühlt. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Rubys Mutter festgestellt, wenn man sie erst einmal dazu gebracht habe loszulegen, käme niemand mehr darauf, dass sie ein stilles Mädchen sei. »In der richtigen Gesellschaft, Ruby«, sagte ihre Mutter, »bist du ein anderer Mensch.«
»Du errätst bestimmt, wie es weitergegangen ist. Nachdem wir das Spielchen ein paarmal durchexerziert hatten, sind wir so tief im Wald gewesen, dass keiner außer mir den Weg nach draußen gekannt hat.«
Sie greift nach Shepherds Hand. Er zögert noch nicht einmal eine Sekunde, ihre zu umfassen. Das ist so etwas, das sie an Shepherd liebt – dass er nie zögert.
Sie stehen auf und beginnen durch das Unterholz zu streifen, während Ruby es genießt, seine verlässliche Hand in ihrer zu spüren.
»Diese Kinder waren so dumm«, sagt sie.
»Sie waren noch Kinder, Ruby«, erwidert er, und sie macht sich Sorgen, er könnte ihre Hand vielleicht loslassen. Aber das tut er nicht.