Cover

Das Buch

»Dieser Pageturner handelt von Korruption, Vertuschung und kriminellen Verschwörungen. Die Handlung ist ebenso bewegend wie rasant.« Daily Mail

»Irland erlebt momentan eine Welle von neuen und unglaublich guten Krimiautorinnen. Dervla McTiernan ist eine großartige Ergänzung dieser wachsenden Szene.« Lit Hub

»Todesstrom erschafft die düstere und fesselnde Atmosphäre eines Schauerromans und zeigt dabei gut konstruierte Polizeiarbeit. Die Atmosphäre hat mich gefesselt, genauso wie die komplex und genial ausgearbeiteten Charaktere Aisling und Maude.« Flynn Berry

Die Autorin

Dervla McTiernan wurde in Cork, Irland, in eine siebenköpfige Familie geboren. Sie hat Firmenrecht an der National University of Ireland, in Galway, und bei der Anwaltskammer von Irland studiert und zwölf Jahre lang als Anwältin gearbeitet. 2015 hat sie eine Geschichte für den »Sisters in Crime Scarlet Stiletto«-Wettbewerb eingeschickt und wurde dabei in die engere Wahl genommen. Dies inspirierte sie, die Geschichte zu dem Roman Todesstrom auszubauen. Sie lebt mit ihrem Ehemann und zwei Kindern im australischen Perth.

DERVLA McTIERNAN

TODES-
STROM

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Heike Holtsch

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die englische Originalausgabe The Ruin erschien 2018 bei HarperCollins Publishers Australia Pty Ltd.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2019

Copyright © 2018 by Dervla McTiernan

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Gisela Klemt, lüra – Klemt Mues GbR, Wuppertal

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

nach einer Vorlage von Ervin Serrano,

unter Verwendung von Motiven von © Arcangel/Silas Manhood; fredmartos/Bigstock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22387-8
V001

www.heyne.de

Mayo, Irland
Februar 1993

PROLOG

Cormac spähte durch die Windschutzscheibe und beugte sich so weit nach vorn, dass er sich beim nächsten Schlagloch fast den Kopf gestoßen hätte. Mist! Weit und breit kein Haus zu sehen. Dabei suchte er jetzt schon seit über einer Stunde. Es war fast dunkel, und er konnte die Hausnummern oder Namen der Häuser kaum noch erkennen. War das etwa nur die übliche Schikane, die man als Neuling über sich ergehen lassen musste? Wäre Dwyer derjenige gewesen, der ihn losgeschickt hatte, hätte er sich da wohl sicher sein können. Dwyer war einer dieser Scherzkekse, die ständig Witze rissen, immer geschmacklos und auf Kosten anderer. Aber es war Marcus Tully gewesen, der Cormac von der Streife abgezogen hatte. Ohne von seiner Zeitung aufzusehen, hatte er ihm einen Post-it-Zettel in die Hand gedrückt, der nun am Armaturenbrett klebte.

Altes Landhaus, Monagaraun Road, Kilmore. Maude Blake. Eine so gestochene Handschrift hätte man Tully gar nicht zugetraut. Er hatte ein paar Anweisungen vor sich hin gemurmelt, und wenn Cormac es richtig verstanden hatte, war schon vormittags ein Notruf eingegangen, wegen eines minderschweren Falls von häuslicher Gewalt. Cormac war so sehr damit beschäftigt gewesen, sich den Anschein zu geben, als wisse er, was zu tun war, dass er nicht weiter nachgefragt hatte. Wie sich herausstellte, war Kilmore ein Kaff, das man nicht unbedingt auf dem Schirm haben musste: Kirche, Marktplatz, Zwergenschule und zwei Pubs. Die Monagaraun Road erstreckte sich über vierzig Meilen. Hier und da stand ein Gehöft oder ein einzelnes Wohnhaus, aber nichts, was nach einem alten Landhaus aussah.

An der nächsten Haltebucht zwischen den hohen Hecken fuhr Cormac rechts ran. Er schwitzte. Die Heizung war kaputt. Man konnte sie nur ganz ausstellen oder volles Rohr laufen lassen, und wegen der Kälte draußen hatte er sie auf volles Rohr gestellt. Dieses Auto war sowieso ein Albtraum. Jedes Mal, wenn er in den nächsten Gang schaltete, machte die Kupplung bedrohliche Geräusche, und von der Rückbank ging ein leichter, aber unverkennbarer Gestank nach Erbrochenem aus. Man hatte ihm den beschissensten Wagen des gesamten Fuhrparks zugeteilt. Nicht einmal das Funkgerät funktionierte. Die Drähte hingen lose herum und warteten darauf, dass sich jemand ihrer erbarmte und sie wieder anschloss.

Vielleicht war dieser Einsatz tatsächlich nur ein Scherz. Mit einem Streifenwagen, der fast auseinanderfiel. Dann sollte er jetzt vielleicht lieber umkehren. Einfach zurückfahren und so tun, als hätte er stundenlang Pause gemacht, anstatt auf diese Nummer reinzufallen. Aber was, wenn es sich doch um einen echten Notruf handelte? Da konnte er nicht zu seiner Dienststelle zurückkommen und sagen, dass er die Adresse nicht gefunden hatte. Nein. Er musste dieses dämliche Landhaus ausfindig machen oder zumindest sichergehen, dass es nicht existierte. Das Beste wäre, in einem der Pubs nachzufragen. Da standen die Chancen immerhin fifty-fifty, eine anständige Wegbeschreibung zu bekommen und nicht irgendwo im Sumpf zu landen.

Cormac löste die Handbremse, drehte und ließ den Wagen langsam zurück Richtung Kilmore rollen. Etwa einen Kilometer vor dem Ortseingang entdeckte er plötzlich zwei steinerne Torpfosten, so dicht mit Efeu bewachsen, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Das Tor, das einmal dazwischen gehangen hatte, gab es nicht mehr. Cormac bog ab und fuhr mit Fernlicht die Zufahrt entlang.

Die kahlen Äste der hohen, überwucherten Ahornbäume bildeten einen Hohlweg. Der Boden bestand nur noch aus Morast und Unkraut, und ein Traktor hatte tiefe Furchen hinterlassen. Cormac war vorhin schon an diesem Weg vorbeigefahren, aber er hatte die Torpfosten nicht gesehen und deshalb gedacht, der Weg würde nur zu den dahinterliegenden Feldern führen. Doch die alten Bäume und diese Pfosten ließen darauf schließen, dass es sich um die Zufahrt zu einem ehemals herrschaftlichen Anwesen handelte. Zu einem alten Landsitz. Vielleicht zu dem Landhaus, das er suchte.

Cormac ließ den Wagen im Leerlauf weiterrollen und versuchte, durch die Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Es war kein Gebäude zu sehen, und die Traktorspuren verloren sich im Licht der Scheinwerfer auf der Hälfte des Weges. Befand sich dort zwischen den Bäumen ein Gatter? Richtig. Dahinter verlief die Zufahrt in einer Biegung, doch durch die Bäume konnte man nicht erkennen, wohin sie führte. Cormac legte einen Gang ein und achtete darauf, nicht mit den Reifen in die Furchen zu geraten. Ohne sich festzufahren schaffte er es, dem Weg zu folgen, bis dieser plötzlich nach rechts zu einem Parkplatz vor einer alten klassizistischen Villa führte.

Auf den ersten Blick schien alles dunkel, und es war eindeutig zu erkennen, dass das Gebäude ziemlich baufällig war. Schmutziges Wasser lief aus der kaputten Regenrinne an der Hauswand hinunter, von der die fleckige Farbe schon abblätterte. In der oberen Etage waren alle Fenster bis auf ein einziges vernagelt. Die Fenster im Erdgeschoss waren in besserem Zustand, und links der Eingangstür glaubte Cormac hinter einer der Scheiben einen schwachen Lichtschein auszumachen. Na bitte! Er brauchte also nicht mit dem Kopf unter dem Arm auf die Polizeiwache zurückzukehren und sich das Gelächter der Kollegen anzuhören. Cormac stieg aus dem Wagen und ging durch den strömenden Regen auf das Haus zu. Plötzlich öffnete sich die Eingangstür einen Spaltbreit. Ein Mädchen spähte heraus. Ein Teenager von etwa vierzehn Jahren, höchstens fünfzehn. Dunkelhaarig. Zierlich.

»Warum sind Sie allein?«, fragte das Mädchen, bevor Cormac selbst etwas sagen konnte.

»Wie bitte?«

»Ich dachte, Sie kommen immer zu zweit. Sie wissen schon, mit einem Partner.«

»Nicht immer«, war alles, was Cormac darauf einfiel. Er konnte ihr ja wohl schlecht erzählen, dass Marcus Tully lieber mit einer Tüte Chips auf seinem fetten Hintern saß und den Daily Star las, als in einen Streifenwagen zu steigen und bei strömendem Regen hier rauszufahren. Er zog seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn hoch. »Ich bin Cormac Reilly.«

Das Mädchen warf einen Blick auf den Dienstausweis und dann wieder auf ihn. »Sie sind ziemlich jung«, bemerkte es skeptisch.

»Da hast du recht«, gab er schmunzelnd zurück. Dieses Mädchen redete in einem Tonfall mit ihm, der ihn an seine Mutter erinnerte.

»Bei dem Regen sollten Sie lieber reinkommen«, sagte es, während sich das Wasser auf Cormacs Polizeimütze sammelte und ihm in den Kragen tropfte.

Kurz darauf stand er in einer riesigen Empfangshalle mit holzvertäfelten Wänden von mindestens vier Metern Höhe. Eine verschnörkelte Treppe führte über mehrere Absätze in die obere Etage. Bestimmt war das Gebäude früher ein prächtiges Herrenhaus gewesen. Doch was Cormac irritierte, war der Geruch. Es roch nach feuchter Luft, aber auch nach etwas Strengerem. Und es war klirrend kalt. Das Mädchen wartete mit ernstem Gesicht, bis er ihm folgte.

»Sind deine Eltern zu Hause?«, fragte Cormac.

»Mein kleiner Bruder ist im Wohnzimmer«, antwortete das Mädchen nur und zeigte auf eine geöffnete Tür. Cormac warf einen kurzen Blick in den Raum. Er konnte ein Kaminfeuer ausmachen, vor dem ein Junge auf dem Holzfußboden hockte und in einem Buch blätterte.

»Wo ist denn deine Mutter?«, fragte er noch einmal.

»Oben«, antwortete das Mädchen und zeigte auf die Treppe. Es drehte sich um und ging auf das Wohnzimmer zu. »Du bleibst hier, Jack«, sagte es zu dem kleinen Jungen. »Ich gehe mal mit dem Detective nach oben, aber ich bin gleich wieder da, okay?« Der Junge hob den Kopf, aber er sagte nichts. Das Mädchen schloss die Tür und ging voraus.

Auf dem Weg in die obere Etage wurde der modrige Geruch noch stärker. Die Tapeten hingen in langen Bahnen von den feuchten Wänden. Auf dem oberen Treppenabsatz war es fast vollkommen dunkel. Instinktiv tastete Cormac nach dem Lichtschalter. Aber nichts passierte.

»Strom abgestellt«, sagte das Mädchen und ging weiter. »Aber das macht nichts. In Mutters Zimmer brennen Kerzen.«

Das Mädchen führte Cormac durch einen langen Flur zu einem Raum, unter dessen Türschwelle Licht hindurchschimmerte. Ohne anzuklopfen, öffnete es die Tür und hielt sie für Cormac auf. Der Raum war spärlich möbliert, mit nicht viel mehr als einem Doppelbett und einem antiken Kleiderschrank. Keine Teppiche auf den Bodendielen, kein Feuer im Kamin. Und es war furchtbar kalt. Auf dem Bett lag eine Frau, mit einer Decke über den Beinen, unter der die nackten Füße herausragten. Aber die Decke brauchte sie ohnehin nicht mehr, denn sie war tot. Ganz offensichtlich tot. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie an die Decke.

»Lieber Himmel!« Zögernd näherte sich Cormac dem Bett. Er drehte sich kurz zu dem Mädchen um, dann richtete er den Blick wieder auf die Tote. »Lieber Himmel!«, entfuhr es ihm noch einmal. Obwohl er sehen konnte, dass die Frau tot war, legte er zwei Finger an ihren Hals, um zu prüfen, ob sie nicht doch noch Puls hatte. Ihre Haut war eiskalt, und er wischte sich hastig die Hand an seiner Hose ab. Als ihm dieser Reflex bewusst wurde, hoffte er, das Mädchen habe es nicht gesehen. »Das ist deine Mutter?« vergewisserte er sich.

Auch das Mädchen hatte nun den Raum betreten. Ohne den Blick auf das Bett zu richten, nickte es.

Cormac sah sich die Tote genauer an. Ihre Arme und Beine waren abgemagert, das fettige Haar strähnig. Unter dem speckigen, dünnen Laken zeichneten sich die Umrisse ihres Körpers ab. Zwischen den Beinen war ein dunkler Fleck, da sich bei Eintritt des Todes ihre Gedärme entleert hatten. Ein säuerlicher Geruch und der Gestank nach Fäkalien hingen in der eiskalten Luft. Die Todesursache schien offensichtlich. Neben der flackernden Kerze auf dem Nachttisch stand eine leere Wodkaflasche. Der linke Arm der Toten war mit einem Schnürsenkel abgebunden, und auf dem Fußboden lag eine benutzte Spritze. Beide Arme waren übersät mit verkrusteten Kratzern. Einstichnarben? Cormac hatte so etwas noch nie gesehen. An einer Einstichstelle in der linken Armbeuge war eine Spur geronnenen Bluts zu erkennen.

Mit drei großen Schritten war Cormac wieder bei dem Mädchen. Er nahm es am Arm und zog es über die Türschwelle. »Komm!« Er schloss die Tür und ging mit ihm zurück zur Treppe.

»Das ist also deine Mutter?«

Abermals antwortete das Mädchen mit einem Kopfnicken. Seine Augen waren auffallend dunkel, was in dem blassen, verängstigten Gesicht umso mehr hervorstach.

»Und hier ist niemand sonst? Keiner, der sich um euch kümmern könnte? Wer hat die Polizei gerufen?«

»Ich. Vom Dorf aus, heute Morgen. Als ich Jack zur Schule gebracht habe.«

»Heute Morgen schon?«

Das Mädchen antwortete nicht. Unschlüssig stand Cormac da und wusste nicht, was er machen sollte. Erst jetzt bemerkte er, dass es zitterte. Der Schock. Vielleicht auch die Kälte. Es war dick angezogen, mit Jeans, Stiefeln und mehreren Pullovern übereinander. Kein Wunder, in dem Haus war es genauso kalt wie draußen.

»Lass uns runtergehen«, sagte Cormac, und diesmal ging das Mädchen hinter ihm her. Als sie das Wohnzimmer betraten, stand der kleine Junge zögernd auf. Nachdem seine Schwester sich gesetzt hatte, kletterte er auf ihren Schoß, und nun richteten sich zwei dunkle Augenpaare auf Cormac. Er setzte sich ebenfalls, beugte sich zu den beiden hinüber und gab sich Mühe, so beruhigend wie möglich zu klingen.

»Wie heißt ihr denn?«, fragte er und kam sich vor wie ein Idiot. Er war wohl der Falscheste, den man hierher hatte schicken können. Wie ging man mit traumatisierten Kindern um? Darauf war er in den zwei Jahren auf der Polizeihochschule in Templemore nicht vorbereitet worden.

»Ich heiße Maude, und das ist Jack.«

Der Junge wirkte noch sehr jung, aber wenn er schon zur Schule ging, musste er mindestens fünf Jahre alt sein. Er hatte sandfarbenes Haar und ein ernstes Gesicht. Cormac fiel ein verblassender Bluterguss an einer Wange auf. Beide Kinder wirkten unterernährt, besonders das Mädchen.

»Maude«, begann Cormac in sanftem Tonfall. »Weißt du, wie deine Mutter gestorben ist?«

Mit gesenktem Kopf starrte das Mädchen auf den Boden.

»Okay«, sagte Cormac. »Ist schon gut.«

Maude zog den Jungen näher zu sich heran, und er lehnte sich an sie. Dabei fielen ihm allmählich die Augen zu.

»Ich muss ein paar Leute anrufen, verstehst du? Die kommen dann hierher und kümmern sich um deine Mutter. Und um dich und Jack.«

Maudes Gesicht wirkte angespannt vor Angst. Sie starrte aus dem Fenster. »Aber Sie wollen uns doch nicht hierlassen? Es ist schon spät. Am besten wäre es, wenn Sie uns mitnehmen. Sie können uns in ein Krankenhaus bringen. Nach Castlebar.«

»Ins Krankenhaus?«

Sie nickte beklommen. »Jack muss von einem Arzt untersucht werden.«

Der kleine Junge war mit dem Kopf an ihrer Schulter eingeschlafen.

»Ist er krank?«, fragte Cormac.

»Er ist verletzt.«

»Also gut, Maude. Natürlich kann ich euch zu einem Arzt bringen. Aber ich muss einen Sozialarbeiter anrufen, der mitkommt. Habt ihr einen Hausarzt? In Kilmore vielleicht?«

Maude schüttelte so vehement den Kopf, dass ihr Bruder wach wurde. »Jack muss zu einem richtigen Arzt. Zu einem Arzt im Krankenhaus.« Offenbar konnte sie Cormac seine Bedenken vom Gesicht ablesen. »Um diese Zeit kriegen Sie in Kilmore sowieso keinen Sozialarbeiter mehr. Die sind abends nicht zu erreichen. Erst morgen wieder. Und was wollen Sie so lange mit uns machen? Die Leute aus der Klinik in Castlebar kennen so was. Wenn Sie uns da hinbringen, wird Jack richtig untersucht.«

Cormac wusste nicht recht, was er sagen sollte. Das Mädchen hatte Angst, so viel war klar. Maude war noch fast ein Kind, und eine Etage über ihnen lag ihre tote Mutter. Für die meisten Kinder wäre das mehr als genug gewesen. Was sollte er jetzt machen? Er konnte doch nicht einfach zwei Kinder auf die Rückbank seines Streifenwagens verfrachten. Andererseits hatte das Mädchen vermutlich recht. So spät abends waren in Kilmore bestimmt keine Sozialarbeiter mehr zu erreichen.

»Ich melde mich über Funk auf der Polizeiwache«, sagte Cormac schließlich. »Ich frage mal, was mein Sergeant dazu meint.«

Maude starrte ihn nur an, und echte Besorgnis sprach aus ihrem Blick. In dem Moment fiel Cormac ein, dass das Funkgerät ja kaputt war. Mist! Das Mädchen sah ihn an, als hinge das Schicksal der beiden einzig und allein von seiner Antwort ab, und als hätte es sich auf das Schlimmste eingerichtet. Meine Güte, Maude war wirklich total abgemagert. Und noch so jung. Sie hatte sich die Ärmel ihres Pullovers bis halb über die Hände gezogen und zupfte mit der rechten Hand an einem Wollfaden herum. Cormac brachte es nicht fertig, die beiden Kinder einfach zurückzulassen.

»Dann fahren wir also nach Castlebar«, sagte er.

Maude lächelte nicht. Sie sagte oder tat auch nichts. Aber die Erleichterung war ihr so deutlich anzusehen, dass Cormac sich mit seiner Entscheidung schon ein wenig wohler fühlte.

»Möchtet ihr irgendetwas mitnehmen? Schlafanzüge vielleicht? Oder ein Stofftier von Jack, das er besonders gern mag?«

Maude zeigte auf etwas hinter ihm. Cormac drehte sich um, und erst jetzt fielen ihm die beiden Schultaschen auf, die neben der Tür an der Wand lehnten.

»Ich habe unsere Sachen schon gepackt«, sagte Maude. »Mehr brauchen wir nicht.«

Lieber Himmel. Cormac musste schlucken. Diese beiden kläglichen Schultaschen hatten etwas zutiefst Anrührendes.

»Dann fahren wir jetzt los«, sagte er und erhob sich. »Soll ich deinen Bruder zum Auto tragen?«

Maude schüttelte den Kopf. Sie stand auf und nahm den kleinen Jungen auf den Arm, sodass seine Beine an ihren Hüften herabbaumelten. Sie war kräftiger, als sie aussah, und hatte keine Mühe damit, ihn zu tragen. Cormac nahm eine alte Decke von der Rückenlehne des Stuhls, auf dem er gesessen hatte, und die beiden Schultaschen. Dann ging er voraus zu seinem Streifenwagen. Er breitete die Decke auf der stinkenden Rückbank aus, und nachdem Maude ihren Bruder daraufgelegt hatte, setzte sie sich neben ihn und legte ihm beschützend eine Hand auf die Schulter. Vorsichtig fuhr Cormac zurück zur Hauptstraße, auf jedes Schlagloch bedacht, um Jack keinen zusätzlichen Schaden zuzufügen.

Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas.

»Was sind das für Verletzungen, die Jack hat, Maude?«, fragte Cormac schließlich.

Maude hielt ihren Bruder vorsichtig fest, damit er im Schlaf nicht von der Rückbank rutschte. Sie strich ihm das sandfarbene Haar aus dem Gesicht. »Er hat ein paar Blutergüsse«, antwortete sie nach einer Weile.

»Hat jemand ihm die Verletzungen zugefügt? Und hast du auch welche?«

»Ich habe keine. Ich kann auf mich aufpassen.«

Mehr sagte sie nicht. Cormac überlegte, ob er genauer nachfragen sollte. Nein. Vielleicht würde er alles nur noch schlimmer machen, wenn er irgendetwas Falsches sagte. Ihr Angst machen, ein weiteres Trauma hervorrufen. Aber wie konnte das passiert sein? Wie war es so weit gekommen, dass zwei Kinder in einem eiskalten, verfallenen Haus ganz allein waren, mit einer Mutter, die scheinbar zu nichts mehr in der Lage gewesen war? Cormac sah Maude im Rückspiegel an.

»Jack hat keinen Dad«, sagte Maude erschöpft. »Auf seiner Geburtsurkunde steht kein Name. Können Sie denen im Krankenhaus das bitte sagen? Wenn sie wissen, dass er ein Waisenkind ist, kann er adoptiert werden. Es wäre schön, wenn er eine richtige Familie hätte.«

»Ihr könnt bestimmt zusammenbleiben«, sagte Cormac und verfluchte sich sofort dafür. Ein Fünfjähriger würde leicht ein neues Zuhause finden. Für eine Fünfzehnjährige hingegen standen die Chancen deutlich schlechter. Die beiden Kinder zusammenbleiben lassen? Das wäre ein Wunder.

Im Rückspiegel sah er Maudes zaghaftes Lächeln. Ein trauriges Lächeln. Die Fahrt nach Castlebar dauerte eine Weile, aber Maude sagte nichts mehr. Als Cormac in die Zufahrt zur Notaufnahme abbog, weckte sie Jack und redete ihm beruhigend zu. Jack fing an zu weinen, und sie nahm ihn wieder auf den Arm und trug ihn zum Eingang, wo sich die Türen automatisch öffneten.

Im Wartebereich saß die übliche Mischung aus Kranken, Betrunkenen und Idioten. Drei Jugendliche, die den Eindruck machten, als fielen sie unter mindestens zwei der drei Kategorien, hatten sich auf den Sitzplätzen breitgemacht. Die Heizung lief auf Hochtouren, und die Luft war stickig. Die Krankenschwester, die für die Erstaufnahme zuständig war, schien mit irgendwelchen Formularen beschäftigt, doch Cormacs Dienstmarke und die Erklärung, die er sich bereits zurechtgelegt hatte, verschafften ihnen sofort Zutritt zur Notfallambulanz.

Maude folgte der Krankenschwester zu einem Bereich, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Vorsichtig setzte sie Jack auf einer Liege ab, aber er wollte ihre Hand nicht loslassen.

»Gibt es hier eine Toilette?«, fragte Maude die Schwester.

»Den Gang dort entlang. Dann links, erste Tür rechts.«

Jack fing wieder an zu weinen, als Maude seine Hand losließ.

»Du bist bestimmt ein ganz tapferer Junge«, sagte die Krankenschwester. »Und deine Schwester kommt doch gleich wieder.« Aber Jack hielt den Kopf gesenkt und weinte vor sich hin, furchtbar lautlose Tränen. Cormac nahm eine seiner kleinen Hände und drückte sie beruhigend. So gut er konnte, versuchte er, den Jungen abzulenken. Erzählte ihm Geschichten, redete über Hockey und sprach von tapferen Superhelden, während die Krankenschwester Jack auszog und ihm ein Krankenhaushemd überstreifte. Cormac versuchte, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen, als er die Schwellung oberhalb von Jacks Hüfte und die schwarzblauen Prellungen sah, die sich entlang der Wirbelsäule seinen Rücken hinaufzogen. Als der Arzt erschien, machte Cormac ihm Platz, damit er Jack untersuchen konnte. Mit verschränkten Armen und elendem Blick stand Cormac daneben, derweil Jack weiterhin stumme Tränen weinte und teilnahmslos alles über sich ergehen ließ.

Es dauerte lange, bis Cormac klar wurde, dass Maude nicht wiederkommen würde. Es dauerte noch länger, bis er auf die Idee kam, nach ihr zu suchen. Und zwei volle Stunden vergingen, bis Tully im Polizeirevier unruhig wurde und Cormac ausfindig machte. Erneut suchten sie das gesamte Erdgeschoss ab – die Toiletten, die Cafeteria, die Untersuchungsräume –, bis sie einsehen mussten, dass sie Maude dort nicht finden würden. Es war die einzige Suchaktion, die für die fünfzehnjährige Maude Blake jemals unternommen wurde. Sie wurde als Ausreißerin zu den Akten gelegt, und da es keine Angehörigen gab, die nach ihr hätten fragen können, geriet sie innerhalb des Systems in Vergessenheit. Irgendwann auch bei Cormac Reilly.

Samstag, 16. März 2013

Kapitel eins

Erst zwei Stunden nach Beginn der Tagschicht füllte Aisling das letzte Krankenblatt aus und meldete sich ab. Aber immerhin hatte sie nun die Umkleideräume für sich allein. Sie duschte ausgiebig, bis sich die Verspannungen in den Schultern und im Rücken unter dem warmen Wasser lösten. Auch beim Anziehen ließ sie sich Zeit. Allein zu sein tat gut, und ausnahmsweise hatte sie es nicht eilig, die Klinik zu verlassen. Sie setzte sich auf eine der Bänke, vollständig angezogen, aber noch mit einem Handtuch um das nasse Haar gewickelt. Doch im nächsten Moment riss Mary Dooley die Tür auf, rief jemandem auf dem Gang noch etwas zu, und schon war es mit der Ruhe vorbei. Als Mary Aisling bemerkte, ließ sie die Tür zufallen, drehte sich um und zeigte auf ihren Rücken. Ihr blonder Pferdeschwanz war blutverschmiert und klebte mit Erbrochenem an ihrem Kittel. Ein säuerlich metallischer Geruch wehte Aisling entgegen, und augenblicklich wurde ihr übel. Das durfte doch nicht wahr sein! Das letzte Mal, als ihr von Erbrochenem schlecht geworden war, war in ihrem ersten Jahr als Ärztin im Praktikum gewesen.

»Niemals jemandem den Rücken zukehren!«, sagte Mary. »Das habe ich jetzt endlich kapiert.«

Mit spitzen Fingern streifte sie den Kittel ab und ließ ihn in den Wäschekorb fallen. Das langärmelige T-Shirt, das sie darunter getragen hatte, warf sie in den Mülleimer. Alle Ärztinnen, die Aisling kannte, kauften diese T-Shirts in Fünferpackungen. Sie waren preiswert, hielten warm, und wenn man eine Ladung Erbrochenes oder Kot abbekam (was häufiger passierte, als man glauben mochte – so ein Einlauf war eben nicht zu unterschätzen), oder wenn ein Blutbeutel platzte (was weniger häufig vorkam, aber einmal reichte schon), dann wollte man das T-Shirt nie wieder anziehen, auch wenn es noch so oft gewaschen worden war.

»Wärst du mal lieber in der Chirurgie geblieben«, sagte Aisling. »Dann hättest du mit so was jetzt nichts mehr zu tun.«

»Mit was?«, fragte Mary. »Mit dem, wozu die Medizin eigentlich gedacht ist, nämlich Menschen zu helfen?« Sie fischte Handtuch und Shampoo aus ihrem Spind und streifte sich mit den Füßen die Turnschuhe ab.

»Genau damit.«

»Ich bin froh, da raus zu sein. Endlich Schluss mit dem ganzen Theater um Noten und Bewertungen. Am besten stopft man sich auch noch Socken in den Slip, damit es nicht auffällt, dass man eine Frau ist.« Grinsend fügte sie hinzu: »Dagegen sind ein paar nette Nachtschichten in der Notaufnahme doch die reinste Erholung.«

Aisling ließ die Schultern kreisen, um die Verspannung weiter zu lösen. »Wie war es denn heute?«

»Scheiße«, gab Mary zurück und verzog das Gesicht. Sie rollte ihre Hose zusammen und warf sie in den Wäschekorb. »Abgesehen von den üblichen Verdächtigen hatten wir zwei Selbstmordversuche. Einer war erst vierzehn.« Nur noch in Unterwäsche machte sie sich auf den Weg zu den Duschen. Ihr Rücken war nass, die Träger des BHs dunkel verfärbt.

Aisling ging zum Spiegel und ergriff den einzigen verfügbaren Föhn, der aber nur leidlich funktionierte. Sie wollte noch nicht nach Hause, aber ewig konnte sie es nicht mehr hinauszögern. Nachdem sie sich das Haar geföhnt hatte, schlüpfte sie in ihre wattierte Jacke und zog die Stiefel an. In dem Moment kam Mary aus der Dusche.

»Kommst du heute Abend?«, fragte sie. »Mit den Nachtschichten bist du doch erst mal durch, oder?«

Aisling brauchte einen Moment, bis ihr wieder einfiel, wovon die Rede war. Marys Freund Derek, tagsüber Student der Zahnmedizin und abends Mitglied in einer Band, spielte jeden zweiten Samstag im Róisín Dubh. Verdammt!

»Ich habe am Wochenende zwar keinen Dienst«, sagte Aisling, »und eigentlich wollten wir mal vorbeikommen. Aber ich glaube, Jack hat gesagt, dass er arbeiten muss.« Das Róisín’s war jetzt absolut nicht das Richtige – Alkohol, laute Musik, und man konnte sein eigenes Wort kaum verstehen –, jedenfalls nicht angesichts dessen, was sie mit Jack zu besprechen hatte. Sie brauchten Zeit zum Nachdenken, darüber, wie es weitergehen sollte.

Mary drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Die Band ist richtig gut«, sagte sie. »Du weißt gar nicht, was du da verpasst.« Dann wechselte sie das Thema und ließ sich über die Patienten aus, darunter diverse Arschlöcher, denen sie im Verlauf von vierzehn Stunden Nachtschicht in der Notfallambulanz der Uniklinik von Galway Benehmen beigebracht hatte. Aisling lehnte sich an ihren Spind und hörte amüsiert zu, obwohl sie Marys Sprüche längst kannte. Aber ihr war immer noch nicht danach, in die Kälte hinauszugehen.

Eigentlich hätte sie bester Laune sein müssen, nach dieser anstrengenden Woche mit Doppelschichten und all dem organisatorischen Drumherum. Sie wusste, sie hatte gute Arbeit geleistet, und es hätte ein schönes Gefühl sein sollen, nach Hause zu gehen und nichts weiter vorzuhaben, als sich auf Jack zu freuen.

Als Aisling sich schließlich auf den Weg machte, war die Sonne längst aufgegangen. Der Himmel war ausnahmsweise wolkenlos und strahlte in eiskaltem Blau. Die tieferen Pfützen waren noch gefroren, und Aisling musste aufpassen, nicht auszurutschen. Auf der University Road lief eine Gruppe Studenten Richtung Innenstadt an ihr vorbei. Überhaupt waren eine Menge Fußgänger unterwegs – jedenfalls mehr als an einem Samstagmorgen sonst üblich.

Aber klar, morgen, am Sonntag, war Paddy’s Day. Das hatte sie ganz vergessen. Da würde es in der Stadt richtig voll werden. Für dieses Jahr war eine Abendparade geplant. Die Türen sämtlicher Pubs in der Quay Street würden offen stehen und die Straßen so überfüllt sein, dass die Leute – eine angetrunkene, johlende Menschenmenge aus Studenten und Touristen – kaum noch merkten, wie unterkühlt sie waren. Schon der Gedanke ließ Aisling schaudern. Sie wollte nur noch nach Hause.

Eine halbe Stunde später schloss sie die Haustür auf. Seit zwei Jahren wohnten sie zur Miete in dem zweistöckigen Reihenhäuschen in dem Vorort Claddagh, einem ehemaligen Fischerdorf. Trotz der unzuverlässigen Heizung und der veralteten Ausstattung fühlte sich Aisling hier wohl. Es war nicht weit bis in die Stadt, zum Meer auch nicht, und sie konnte zu Fuß zur Arbeit gehen. Abgesehen davon waren die gemütlichen kleinen Zimmer nach der sterilen Krankenhaus-Atmosphäre eine Wohltat.

Es duftete nach Kaffee und geröstetem Speck, und die Heizung lief bereits. Also war Jack schon aufgestanden.

»Jack?«

»Bin in der Küche!«, rief er.

Er war dabei, Frühstück zu machen. Speckstreifen brutzelten in der Pfanne, und Toastscheiben steckten im Toaster.

»Wie war es bei der Arbeit?«, fragte er lächelnd, als Aisling die Küche betrat.

Sie lehnte sich an den Türrahmen und sah ihm zu. Die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, kamen ihr nur schwer über die Lippen und wurden immer zäher, bis sie einfach herausplatzte:

»Ich bin schwanger.«

»Ha, ha, sehr witzig!« Jack durchwühlte gerade eine der Küchenschubladen und hob nicht einmal den Kopf. »Weißt du, wo die Alufolie abgeblieben ist? Wahrscheinlich hinten über den Rand der Schublade gefallen.« Er kniete sich vor den Küchenschrank und wollte die Schublade herausziehen.

»Jack!«

Angesichts ihres Tonfalls drehte er sich um.

»Du bist schwanger!« Vor Schreck riss er Augen und Mund auf, sodass er ihr plötzlich fremd vorkam.

Noch immer gegen den Türrahmen gelehnt, nickte Aisling zögernd.

Jack schloss die Augen. »Großer Gott, Ash.«

Aisling verließ die Küche. Wie ferngesteuert ging sie hinauf ins Schlafzimmer. Das Bett war noch nicht gemacht. Sie strich die Laken glatt. Nie machte er das Bett! Nicht ein einziges Mal. Und überhaupt! War er, seit sie zusammengezogen waren, jemals auf die Idee gekommen, die Bettwäsche zu waschen?

»Aisling.« Jack stand in der Tür.

»Du hast das Bett wieder mal nicht gemacht«, fuhr sie ihn an. »Wie immer!«

»Aisling, im Ernst. Wie konnte das passieren?«

Aisling konzentrierte sich darauf, die Decke zurechtzuziehen und glatt zu streichen. Dann drehte sie sich um. »Komm mir jetzt nicht damit.« Wenn Jack über sie beide sprach, klang es immer, als wären sie etwas Besonderes. Als hätte ihre Beziehung eine ganz besondere Bedeutung. Ihre Worte hatten gesessen, und sogleich wurde ihr flau im Magen.

Jacks Gesicht schien aschfahl. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und sagte: »Aber du nimmst doch die Pille.«

Aisling schob sich an ihm vorbei und stieß die Badezimmertür auf. Sie durchwühlte ihren Kulturbeutel und nahm die Schachtel mit den Antibabypillen heraus. Für jeden vorgegebenen Tag des letzten Zyklus fehlte eine, ebenso die ersten des neuen Zyklus, der vor drei Tagen begonnen hatte.

Sie hielt Jack die Packung hin. »Glaubst du etwa, ich habe eine davon weggeworfen? Vielleicht liegt sie ja noch im Mülleimer. Den kannst du gern durchwühlen. Ich hätte sie natürlich auch in der Toilette runterspülen können. Denn wie du ja weißt, war es von jeher mein sehnlichster Wunsch, mit fünfundzwanzig schwanger zu werden. Darauf habe ich die ganze Zeit hingearbeitet, oder etwa nicht?« Sie ließ ihn stehen, legte sich auf das frisch gemachte Bett und drehte ihm den Rücken zu.

»Herrgott noch mal, Aisling! Damit wollte ich doch nicht sagen, dass du mit Absicht schwanger geworden bist! Ich versuche nur zu verstehen, wie das passieren konnte. Ich weiß, wie gewissenhaft du bist. Also ich meine, wie sehr wir aufpassen. Ash!« Er setzte sich neben sie auf das Bett und wollte sie an sich ziehen.

Aber sie rührte sich nicht, schüttelte den Kopf und hielt die Augen geschlossen. Sie rief sich all die Doppelschichten ins Gedächtnis, besonders die, nach denen sie direkt am nächsten Tag Bereitschaftsdienst gehabt hatte oder mit ein paar Freunden noch etwas trinken oder essen gegangen war. Jedes Mal hatte sie die Pille genommen, das wusste sie genau. Aber wie oft war es vorgekommen, dass mehr als vierundzwanzig Stunden dazwischen gelegen hatten? Das konnte schon etwas ausmachen, besonders am Anfang des Zyklus. Sie vermochte Jack nicht in die Augen zu sehen. Aber er legte sich zu ihr, nahm sie in die Arme und strich ihr eine Träne von der Wange.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, flüsterte sie und wagte noch immer nicht, die Augen zu öffnen.

Schweigend zog er sie fester an sich.

Dann sagte er: »Bist du denn absolut sicher?«

»Ich habe einen Test gemacht. Im Krankenhaus. Ich hatte meine Periode nicht bekommen. Es ist mir erst heute Morgen aufgefallen, dass ich drei Tage drüber bin. Also habe ich diesen Test gemacht. Zunächst nur mit Urin, und der war positiv. Aber auf die Krankenhaustests kann man sich nicht immer verlassen. Deshalb habe ich noch einen Bluttest gemacht. Habe ihn unter einem anderen Namen durch das System laufen lassen. Der war auch positiv. Ich bin schwanger, Jack. Noch ganz am Anfang, aber trotzdem schwanger. Verflucht noch mal, was machen wir denn jetzt?«

Er berührte mit den Lippen ihre Wange. »Dann müssen wir uns eben überlegen, wie es funktionieren kann. Wir sind sicher nicht die Ersten, denen das passiert. Bestimmt auch nicht die Letzten. Und wir lieben uns. Das ist doch schon mal etwas.« Seine Stimme klang bereits sicherer. »Wir sind keine Kinder mehr. Lieber Himmel, in Amerika sind eine Menge Leute mit fünfundzwanzig schon verheiratet. Diese Verrückten!« Jetzt lachte er sogar wieder, sein typisches Jack-Lachen, das sie so sehr an ihm mochte. »Wir haben gute Jobs. Du kannst in Mutterschutz gehen. Wir wohnen weiter in diesem Häuschen hier. Oder wir mieten uns etwas Größeres. Wir schaffen das schon.«

»Ach, Jack«, brachte Aisling mit tränenerstickter Stimme heraus. Sie drehte sich zu ihm um und rückte ein Stück von ihm ab, um ihm nun doch in die Augen zu sehen. »Ich will noch nicht Mutter werden.« Mit seinen dunklen Augen erwiderte er ihren Blick. An seinem Kinn waren ein paar Bartstoppeln stehen geblieben. Aisling lag noch immer mit dem Kopf auf seinem Arm und spürte, wie die warme Wolle seines Pullovers an ihrer Wange kratzte. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust. »Ich will Chirurgin werden. Ich muss einfach Chirurgin werden. Wenn ich jetzt schwanger bin, kann ich mir das aus dem Kopf schlagen. Wenn man schwanger ist oder ein Kind hat, bekommt man niemals eine Stelle als Assistenzärztin in der Chirurgie.«

»Aber das kann man dir doch gar nicht verweigern. Du stehst ganz weit oben auf der Liste. Auf Platz drei, oder? Die können dich nicht einfach ablehnen.«

»Doch, das können sie. Ich habe ja das Bewerbungsgespräch noch vor mir. Sie können einfach behaupten, ich sei aus psychologischer Sicht nicht geeignet. Damit hätte sich das Ganze erledigt.«

»Das werden sie nicht tun. Du könntest sie doch verklagen.«

Aisling schüttelte den Kopf. »Einen medizinischen Gutachter in Irland verklagen? Dann bekommt man nie wieder einen Job im Krankenhaus. Das weißt du genauso gut wie ich.«

Jack drehte sich auf den Rücken, den linken Arm noch immer unter ihrem Kopf. Mit der rechten Hand fuhr er sich durchs Haar. »Verdammt!«

»Genau.«

Eine Weile lang sagten sie beide nichts. Gedämpft vernahm Aisling die vorbeifahrenden Autos am Ende der Straße. Draußen vor dem Haus hätte sie hören können, wie sich die Wellen am Strand brachen, aber nach hier oben drangen nur die Geräusche der Stadt. Im Schlafzimmer war es kühl, und allmählich zog ihr die Kälte in den Rücken, dort, wo ihr Pullover hochgerutscht war, zwischen Jeans und T-Shirt. Am liebsten hätte sie sich an Jack geschmiegt, sich die Decke über den Kopf gezogen und die Augen wieder zugemacht, um alles andere auszublenden.

»Wir müssen uns mit den verschiedenen Möglichkeiten auseinandersetzen«, sagte sie.

»Ja.« Jacks Stimme klang matt.

Aisling holte tief Luft. »Mit einem Kind kann ich nicht Chirurgin werden. Selbst wenn ich nächstes Jahr eine Assistenzstelle bekommen würde, könnte ich sie nicht antreten. Drei Jahre ständig wechselnde Schichten, immer für drei oder sechs Monate an einer anderen Klinik. Dann wärst du hier allein mit … mit dem Baby, und ich könnte nur ab und zu am Wochenende nach Hause kommen.« Seufzend hielt sie inne. »Wenn ich mich von dem Gedanken verabschiede, Chirurgin zu werden, könnte ich auf Allgemeinmedizin umsatteln. Das ist familienfreundlicher. Wenn ich eine Assistenzstelle bekomme, würde man mir die Zeit im Krankenhaus anrechnen. Dann müsste ich zusehen, dass ich in einer Praxis in Galway unterkomme. Vielleicht könnte ich die Zeit als Assistenzärztin von zwei auf drei Jahre verlängern und in Teilzeit arbeiten.«

Jack drehte sich wieder auf die Seite und hörte ihr schweigend zu. Aisling fühlte sich wie blockiert. Alles, was sie sagte, kam ihr fremd vor. Sie war einfach noch nicht so weit.

»Oder ich fahre nach Liverpool.«

»Da lässt sich das regeln?«, fragte Jack.

»In Liverpool oder in Manchester. Ich glaube, die meisten Frauen fahren da hin.«

»Ja.« Jack strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wäre das schlimm? Also, ist es mit Risiken verbunden?«

Abermals schloss Aisling die Augen. Sie versuchte so sehr, nicht in Tränen auszubrechen, bis ihr der Kopf schmerzte. Sie wollte diese Verantwortung nicht. Und sie wollte sich nicht mit diesen Details auseinandersetzen. Musste sie diese Entscheidung treffen? Und wenn sie es tat, würde Jack ihr das jemals verzeihen?

»Ich bin ja noch ganz am Anfang. Wahrscheinlich müsste ich nur ein paar Tabletten nehmen. Mifepriston. Ich müsste eine Nacht in England bleiben, nur für den Fall, dass es Komplikationen gibt. Dann fahren wir wieder nach Hause. Später müsste ich mich noch mal untersuchen lassen, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist.«

»Könntest du diese Untersuchung hier machen lassen, oder müsstest du dafür noch mal nach England?«

»Himmel, Jack, das weiß ich doch nicht! Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt.«

»Ja, klar. Tut mir leid. Ich will doch nur …« Er brach ab.

Noch immer hielt er sie in den Armen, aber Aisling löste sich von ihm und stand auf. Sie nahm eins seiner alten Sweatshirts aus dem Schrank und streifte es über. Es war ihr zu groß, aber es wärmte.

»Vielleicht mache ich uns erst mal einen Tee.«

»Gut«, sagte Jack.

Doch Aisling ging nicht sofort in die Küche, sondern blieb mit gesenktem Kopf im Türrahmen stehen.

Jack schloss für einen Moment die Augen. Dann sah er sie wieder an, und Aislings Erkenntnis, dass er sie aufrichtig liebte, brach ihr fast das Herz.

»Ich weiß, was ich jetzt eigentlich sagen sollte: Es ist deine Entscheidung, und ich akzeptiere sie, egal, wie sie ausfällt. Vielleicht wäre das richtig. Aber es kommt mir so falsch vor. Es kommt mir einfach total falsch vor, Aisling. Ich kann mich nicht zurücklehnen, den schwierigen Teil dir überlassen und dir anschließend auf die Schulter klopfen und sagen: ›Ich stehe hinter dir, Schatz‹. Eine solche Entscheidung müssen wir gemeinsam treffen.«

Sie lächelte ihn an. Nur zaghaft, und dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst.

So war Jack eben. Er hatte schon immer ein Gespür dafür gehabt, wie es in ihr aussah. Weitaus mehr als sie umgekehrt bei ihm. »Was machen wir denn, wenn ich das Kind will und du nicht?«, fragte er.

Aisling schüttelte nur den Kopf.

»Siehst du? Genau das meine ich. Dann ist es wieder deine Entscheidung.« Für eine Weile herrschte Schweigen. »Aber wie geht es dann mit uns weiter?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie so leise, dass es fast nur ein Flüstern war.

»Können wir uns noch ein wenig Zeit lassen? Noch mal darüber nachdenken und reden?«

Aisling nickte. »Ein bisschen Zeit haben wir noch.«

Beim Frühstück sprachen sie nicht viel, und wenn, nur über Belanglosigkeiten. Jack brauchte nicht zu arbeiten, deshalb wollte er die Einkäufe erledigen. Wenn Aisling ausgeschlafen hatte, wollten sie zu Hause bleiben und etwas kochen. Und noch mal über alles reden. Das sprach er zwar nicht aus, aber es war klar, dass er das Bedürfnis danach hatte. Sie waren kaum fertig mit frühstücken, da fielen Aisling auch schon die Augen zu. Sie musste noch mehr gegen die Müdigkeit ankämpfen als sonst. Nach den Nachtschichten war es immer anstrengend, auf einen normalen Tagesablauf umzuschalten, und sie sagte sich, dass es auch diesmal keinen anderen Grund für ihre Erschöpfung gab. Bevor sie die Treppe hinaufstieg, gab Jack ihr einen Kuss und umarmte sie lange. Aber er sagte nichts.

Aisling ging ins Badezimmer. Sie putzte sich die Zähne und wusch sich flüchtig das Gesicht. Anschließend streifte sie ein T-Shirt über, kroch ins Bett und schlief kurz darauf tief und fest, und so lange, bis sie orientierungslos in der Dunkelheit erwachte.

»Jack?« Keine Antwort.

Es war kalt. Im Haus herrschte Stille. Aisling hob Jacks altes Sweatshirt vom Boden auf, zog es an und ging nach unten. Jack war nicht da. Auf der Uhr des Backofens sah sie, dass es kurz vor neun war. Sie hatte lange geschlafen, viel länger als sonst, den ganzen Tag über. Sie öffnete den Kühlschrank – leer, bis auf ein paar Streifen gerösteten Speck, die noch vom Frühstück übrig waren. Dann war Jack also nicht einkaufen gegangen. Wollte er später vielleicht doch ausgehen? Nach zehn Stunden Schlaf kein sehr verlockender Gedanke. Aisling nahm sich einen Streifen Speck und aß ihn kalt im Stehen. Sie drehte die Heizung an und setzte einen Kessel Wasser auf. Sie machte sich Tee und Toast und hockte sich damit vor den Fernseher. Um zehn Uhr war Jack immer noch nicht da.

Aisling schaltete den Fernseher aus und blieb im Wohnzimmer sitzen, um sie herum nur Stille. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Dann schrieb sie eine Nachricht an Jack.

Bei dir alles in Ordnung?

Sie ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen und betrachtete die Spuren ihres alltäglichen Lebens, all die kleinen Anzeichen dafür, dass in diesem Haus ein Paar ohne Kinder wohnte. Vor dem Kamin lag Erde, weil Jack am Tag zuvor seine Wanderschuhe zum Trocknen dorthin gestellt hatte. Die Asche war längst kalt. Ein Kamingitter gab es nicht. Ein paar Seiten der Zeitung vom letzten Wochenende lagen auf dem Beistelltisch. Den alten Esstisch hatten sie an die Wand geschoben und daneben ein schmales Bücherregal von Ikea aufgestellt. Dort saß Aisling, wenn sie arbeitete. Und eigentlich hätte sie genau jetzt auch dort sitzen müssen. Ihr Laptop stand auf dem Tisch, ein Stapel Lehrbücher daneben. Aisling wandte den Blick ab. Sie legte sich auf das Sofa und starrte an die Decke. In dem winzigen Zimmer war kein Platz für Kinderspielzeug. Und wie sollten sie in dem engen Flur einen Kinderwagen unterbringen? Es gab zwar ein zweites Schlafzimmer, und da stand sogar ein Bett, aber es war begraben unter zwei Wäschekörben und der Skiausrüstung, die sie nach der Reise im Januar dort abgelegt hatten. Was sollten sie nun machen? Alles wegschaffen und ein Kinderbett in dem Zimmer aufstellen? Oder gleich in ein anderes Haus ziehen? Sie strich sich über den Bauch. Wenn sie das taten, war es mit der Aussicht auf ein Stipendium in den USA vorbei. Die Kinderchirurgie konnte sie dann vergessen. Chirurgie konnte sie dann überhaupt vergessen. Nie wieder würde sie das Gefühl dieser absoluten Fokussierung erleben, wenn sie das Skalpell auf die Haut eines Patienten senkte.

Mist!

Zwei Polizeibeamte standen auf der Veranda, ein Mann und eine Frau. Auch dieser Morgen war sonnig, nur vereinzelte Wolken zogen am klaren blauen Himmel vorüber. Der Polizist, im mittleren Alter und etwas übergewichtig, musterte sie von Kopf bis Fuß, als wolle er ihre Bekleidung kritisieren. Die Polizistin war jünger als er und machte ein freundlicheres Gesicht.

Aisling verschränkte die Arme. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Dürfte ich bitte Ihren Namen erfahren?«, fragte der Ältere.

»Äh, ich heiße Aisling Conroy.« Sofort schoss Aisling durch den Kopf, ob es richtig gewesen war, ihren Namen zu nennen, oder ob sie sich zuerst die Dienstausweise der beiden Beamten hätte zeigen lassen sollen.

Der Polizist warf einen Blick in sein Notizbuch. »Jack Blake ist ebenfalls hier wohnhaft?«

»Im Moment ist er nicht da«, erklärte Aisling und spürte einen ersten Anflug von Sorge.

»Sind Sie eine Verwandte von Jack?«

Die Polizistin zitterte vor Kälte, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie sah Aisling in die Augen, als habe sie sich vorgenommen, den Blickkontakt nicht abreißen zu lassen. Aisling wandte sich wieder dem Detective zu.

»Ich bin seine Freundin. Seine Lebensgefährtin. Wir wohnen zusammen hier.« Mit wachsendem Unbehagen warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter in das leere Haus. »Worum geht es?«

Die Detectives schwiegen und tauschten lediglich bedeutungsvolle Blicke, als warte jeder der beiden darauf, dass der andere die Initiative ergriff. Schließlich richtete die Polizistin den Blick wieder auf Aisling. Sie ging einen Schritt auf sie zu und nahm behutsam ihren Arm.

»Es tut mir leid, Aisling. So furchtbar leid.«