Buch
Die gebürtige Schwedin Elin Boals scheint ein perfektes Leben zu führen. Sie ist erfolgreiche Fotografin in New York, glücklich verheiratet und hat eine Tochter, Alice, die sie über alles liebt. Ihre Arbeit, das Stehen hinter der Kamera, die emotionale Distanz zum Objekt und somit zu ihrer Außenwelt geben ihr Halt. Und diesen hat sie dringend nötig, denn ihr Leben, wie sie es kennt, droht auseinanderzubrechen. Sie arbeitet zu viel, ist emotional abwesend, Mann und Tochter sind dabei, sich von ihr abzuwenden, und Elin merkt es gar nicht. Eines Tages jedoch erhält sie einen Brief von Fredrik, ihrem besten Freund und Rettungsanker während ihrer von Armut gezeichneten Kindheit auf der schwedischen Insel Gotland. Und mit diesem unerwarteten Lebenszeichen kehren die Erinnerungen zurück – obwohl Elin alles dafür getan hat, ihre Vergangenheit zu vergessen. Denn sie hat ein dunkles Geheimnis, eines, das sie damals dazu trieb, die Insel zu verlassen und nie wieder zurückzublicken. Doch nun spürt sie, dass sie sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen muss, wenn sie jemals wirklich glücklich werden will …
Autorin
Sofia Lundberg wurde 1974 geboren und arbeitete als Journalistin in Stockholm, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Büchern widmete. Mit ihrem Debütroman »Das rote Adressbuch« eroberte sie die schwedische Literatur- und Bloggerszene im Sturm, woraufhin die Rechte in über 30 Länder verkauft wurden. »Ein halbes Herz«, ihr zweiter Roman, war in Schweden ein Nr.-1-Bestseller.
Sofia Lundberg im Goldmann Verlag:
Das rote Adressbuch. Roman
Ein halbes Herz. Roman
Alle auch als E-Book erhältlich.
Sofia Lundberg
Ein halbes Herz
Roman
Aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps
Die schwedische Originalausgabe erschien 2018
unter dem Titel »Ett frågetecken är ett halvt hjärta«
bei Forum, Stockholm.
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Deutsche Erstveröffentlichung März 2020
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Sofia Lundberg
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: buxdesign GbR
Umschlagmotiv: Mark Owen /Trevillion
AG · Herstellung: Han
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-22564-3
V005
www.goldmann-verlag.de
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»We are all in the gutter,
but some of us are looking at the stars.«
Oscar Wilde
Dämmerung. Die Sonne geht hinter den Hochhäusern unter, die man durch die hohen Loftfenster sehen kann. Ein paar hartnäckige Sonnenstrahlen stehlen sich zwischen den Fassaden hindurch, wie goldene Speerspitzen zerteilen sie die herannahende Dunkelheit. Ein weiterer Abend. Seit Wochen hat Elin nicht mehr zuhause Abendbrot gegessen. Und auch heute wird sie es nicht tun. Sie sieht aus dem Fenster, sieht ihre üppig bewachsene Dachterrasse nur ein paar Straßenzüge entfernt, den roten Sonnenschirm und den Grill, der bereits angezündet wurde. Eine schmale Rauchsäule steigt in den Himmel auf.
Sie sieht die undeutlichen Umrisse einer Person, das wird Sam sein, oder Alice. Oder ein Freund, der zu Besuch gekommen ist. Sie kann nur eine Gestalt erkennen, die sich zwischen den Sträuchern bewegt.
Sie warten zuhause bestimmt auf sie. Vergeblich.
Hinter ihr im Studio ist auch Bewegung, die Leute laufen kreuz und quer. An einem Stahlgestell hängt eine Leinwand aus graublauem Fond, die weich zwischen Wand und Boden abschließt. Davor steht mittig eine mit Goldbrokat bezogene Chaiselongue. Auf der liegt eine schöne Frau mit mehreren Perlenketten um den Hals. Sie trägt einen fließenden weißen Rock aus Tüll, der sich auf den Boden ergießt. Ihr Oberkörper ist mit glänzendem Öl eingerieben, die Perlenketten bedecken ihre nackte Brust. Die Lippen sind dunkelrot. Ihre Gesichtszüge und ihre Haut sind bis zur Perfektion von mehreren Schichten Make-up geglättet.
Zwei Assistenten sind mit dem Licht beschäftigt, sie verschieben die großen Strahler mal nach oben, mal nach unten, drücken den Auslöser der Kamera, überprüfen den Belichtungsmesser und fangen wieder von vorn an. Hinter den Assistenten steht ein Team aus Stylisten und Make-up-Artisten. Konzentriert mustern sie jedes kleine Detail der Aufnahme, die im Begriff ist zu entstehen. Sie tragen schwarze Kleidung. Alle tragen schwarze Kleidung. Alle außer Elin. Sie trägt ein rotes Kleid. Rot wie Blut, rot wie das Leben. Rot wie die Abendsonne draußen vor den Fenstern.
Elin wird aus ihren Gedanken gerissen, als die schöne Frau ihren Unmut laut zum Ausdruck bringt.
»Warum dauert das denn so lange? Ich kann die Pose bald nicht mehr halten. Hallo! Können wir jetzt bitte anfangen?«
Die Frau auf der Chaiselongue seufzt und rückt ihren Körper in eine bequemere Stellung, die Ketten verrutschen und entblößen eine ihrer Brustwarzen, die ganz blau und steif sind. Zwei der Stylisten sind sofort zur Stelle und legen alle Perlen geduldig und sorgfältig wieder an ihren Platz, damit sie ihre bedeckende Rolle einnehmen können. Teile der Ketten befestigen sie mit durchsichtigem, doppelseitigem Klebeband auf der Haut. Die Frau verdreht die Augen, ungefähr den einzigen Körperteil, den sie frei bewegen kann.
Ein Mann im Anzug kommt auf Elin zu, er ist der Agent der Frau. Er beugt sich zu ihr herunter und flüstert ihr mit einem freundlichen Lächeln etwas ins Ohr.
»Am besten wäre es, wenn es bald weitergeht. Sie bekommt langsam schlechte Laune, und dann werden die Aufnahmen nichts.«
Elin schüttelt den Kopf und wendet sich wieder der Fassade vor den Loftfenstern zu. »Wir können ruhig aufhören, wenn sie will. Da sind bestimmt schon ein paar Aufnahmen dabei, die wir nehmen können. Es ist ja dieses Mal nur eine Bildstrecke, keine Titelseite.«
Der Agent hebt die Hände und starrt sie entgeistert an. »Kommt nicht infrage. Wir machen auch diese Serie noch.«
Elin reißt sich von dem Anblick ihrer Dachterrasse los und kehrt zurück ans Stativ und hinter die Kamera. Ihr Handy brummt in der Jackentasche, sie weiß genau, von wem die Nachricht ist, aber antwortet nicht. Sie weiß, dass die SMS nur ihr schlechtes Gewissen verstärken wird. Sie weiß, dass die zuhause enttäuscht sind.
Kaum hat Elin ihren Platz hinter der Kamera eingenommen, gehen in den Augen des Models tausend kleine Sterne auf, sie streckt ihren Rücken und schürzt die Lippen. Ihr Haar fällt nach hinten, als sie den Kopf neigt, es flattert sanft im Windzug des Ventilators. Sie ist ein Star, und das ist Elin auch. Nur sie beide existieren in diesem Universum, sie verschlingen einander förmlich. Elin fotografiert, gibt Anweisungen, die Frau lacht, flirtet mit ihr. Das Team im Hintergrund applaudiert. Der Rausch der Kreativität pulsiert durch Elins Adern.
Stunden später erst zwingt sich Elin, das Studio und die vielen Fotos auf dem Rechner, die eigentlich noch bearbeitet werden müssten, zu verlassen. Ihr Handy ist voller verpasster Anrufe und genervter SMS. Von Sam und von Alice. Wann kommst du? Wo bist du, Mama? Sie scrollt sich durch die Nachrichten, liest nicht jedes Wort, hat keine Kraft dazu. Sie lässt die Taxis an sich vorbeifahren. Die Straßen von New York sind voller Menschen. Der Asphalt ist noch ganz warm, es ist ein heißer Tag gewesen. Sie schlendert nach Hause, kommt an schönen jungen Menschen vorbei, die laut lachen, angetrunken sind. Und an anderen, verdreckten, ausgestoßenen, die am Straßenrand sitzen. Sie ist schon lange nicht mehr zu Fuß nach Hause gegangen, obwohl es so nah ist. Überhaupt ist es lange her, dass sie sich außerhalb der vier Wände ihrer Wohnung, ihres Arbeitsplatzes oder ihres Fitnessstudios bewegt hat. Die Steinplatten unter ihren Absätzen sind uneben. Sie registriert jedes Detail auf ihrem Weg. Ihre Straße, die Orchard Street, ist leer, keine Menschen und keine Autos. Sie ist heruntergekommen und baufällig, so wie die Straßen in der Lower East Side eben aussehen. Sie liebt den Kontrast, zwischen außen und innen, zwischen Patina und Luxus. Sie öffnet die Haustür, geht unbemerkt an dem schlafenden Portier vorbei und drückt auf den Fahrstuhlknopf. Aber als die Türen aufgehen, zögert sie und dreht sich um. Sie will wieder raus, in die pulsierende Nacht dort draußen. Die oben schlafen bestimmt schon längst.
Sie leert ihr Postfach und nimmt den Stapel Briefe mit in das kleine Restaurant ein paar Häuser weiter. Ihr Stammlokal, in das sie oft geht, wenn sie lange arbeitet. Sie bestellt ein Glas Bordeaux, 1982er.
Der Kellner schüttelt den Kopf. »Den 1982er haben wir nicht offen, wir haben nur ein paar Flaschen davon. Das ist ganz feiner Scheiß, 1982 war ein gutes Jahr.«
Elin schließt kurz die Augen. »Das liegt im Auge des Betrachters. Aber ich zahle gerne die ganze Flasche. Ich will den Wein haben, das bin ich mir wert. Es muss der 1982er sein.«
»Alright, Sie sind es sich wert.« Der Kellner verdreht die Augen. »Allerdings schließen wir bald.«
Elin nickt. »Keine Sorge, ich trinke schnell.«
Sie nimmt den ersten Brief in die Hand, fingert daran herum, legt ihn ungeöffnet wieder beiseite, greift nach einem Umschlag, der ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Der Poststempel ist schwedisch, aus Visby auf Gotland. Die Briefmarke ist auch schwedisch. Ihr Name ist sorgfältig mit blauer Tinte und in Großbuchstaben geschrieben worden. Sie öffnet den Brief und faltet das Papier auf. Es ist eine Art Sternenkarte, auf der ihr Name steht, groß und verschnörkelt. Sie hält die Luft an und liest die schwedischen Worte, die darüberstehen.
Heute wurde ein Stern auf den Namen Elin getauft.
Sie liest den Satz in der nicht mehr vertrauten Sprache immer und immer wieder. Eine lange Reihe aus Koordinaten verrät, wo sich der Stern am Himmelszelt befindet.
Jemand hat einen Stern für sie gekauft. Einen ganz und gar eigenen Stern, der ihren Namen trägt. Das muss von … Ist das überhaupt möglich … Hat er ihr den Stern geschenkt? Sie bremst sich, will seinen Namen nicht aussprechen, nicht einmal in Gedanken. Aber sein Gesicht hat sie sofort vor Augen, und auch sein Lächeln.
Das Herz pocht laut in ihrer Brust. Sie schiebt die Sternenkarte von sich weg. Starrt darauf. Dann steht sie auf, läuft auf die Straße und sieht hoch in den Himmel, aber dort erstreckt sich nur eine dunkelblaue, konturlose Masse über den Dächern. In New York wird es nie richtig dunkel, zumindest nicht so dunkel, dass man das wilde Durcheinander der Sterne sehen kann. Die höchsten Gebäude in Manhattan berühren fast den Himmel, aber unten auf der Straße ist er unendlich weit weg.
Sie geht zurück ins Restaurant. Der Kellner steht an ihrem Tisch und wartet, die Flasche in der Hand. Er gießt ihr einen Schluck ein, sie kippt ihn hinunter, ohne ihn zu schmecken. Ungeduldig gibt sie dem Kellner zu verstehen, dass er das Glas auffüllen soll, dann nimmt sie noch zwei große Schlucke. Sie greift nach der Sternenkarte und dreht das glänzende Papier um. Ganz unten in der Ecke hat jemand etwas mit einem goldenen Stift geschrieben:
Ich habe dein Foto in der Zeitung gesehen. Du hast dich nicht verändert. Long time, no see. Lass von dir hören!
F
Darunter steht eine Adresse. Elin spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht, als sie das liest. Sie kann den Blick nicht abwenden, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie streicht mit dem Zeigefinger über die Konturen des Buchstabens F und flüstert seinen Namen, Fredrik.
Ihr Mund ist ganz trocken. Sie nimmt das Glas und leert es in einem Zug. Dann ruft sie laut nach dem Kellner.
»Hallo. Kann ich bitte ein großes Glas Milch bekommen. Ich bin auf einmal schrecklich durstig.«
»Für jeden zweihundert Milliliter. Und hört jetzt auf zu streiten.«
Kleine Hände griffen nach dem rotweißen Tetra Pak, den Elin auf den Tisch gestellt hatte. Zwei Paar Kinderhände mit schwarzen Fingernägeln. Elin versuchte, ihnen die Packung wieder zu entreißen, aber ihre Brüder stießen sie mit spitzen Ellenbogen in die Seite. Und redeten beide gleichzeitig aufeinander ein.
»Ich will mir zuerst nehmen.«
»Du nimmst dir immer zu viel.«
»Gib das her!«
Eine strenge Stimme übertönte das Geschrei. »Hört auf zu streiten, ich halte das nicht mehr aus. Der Älteste darf immer zuerst. Ihr kennt die Regeln. Für jeden zweihundert Milliliter. Und ihr gehorcht Elin!« Marianne stand mit dem Rücken zu ihnen an der Spüle.
»Ihr habt gehört, was Mama gesagt hat!« Elin schubste Erik und Edvin weg. Die beiden fielen von der Küchenbank, ohne aber die Milchpackung loszulassen, an der sie sich festgeklammert hatten. Es wurde mucksmäuschenstill, als sie in ihrem Fall noch einen braunen Teller aus Porzellan mit sich rissen. Als würde die Luft plötzlich ganz zäh und sämig werden und die Zeit stillstehen. Das Klirren und Platschen, das folgte, als alles auf dem Boden landete, wurde von lautem Gebrüll begleitet.
Dann plötzlich wieder Stille. Und weit aufgerissene Augen.
Auf der Plastiktischdecke breitete sich eine weiße Milchpfütze aus, es tropfte vom Tisch auf den Boden, und weiße Rinnsale liefen an den kräftigen Tischbeinen hinunter. Dann wieder Gebrüll. Die Wut zerschnitt die Luft.
»Ihr verdammten Gören. Zu nichts seid ihr nutze. Raus! Raus aus meiner Küche!«
Elin und ihre Brüder gehorchten ohne Widerworte, sie stürmten aus dem Haus und rannten über den Hof, verfolgt von den Flüchen, die jede Ecke der Küche erfüllten. Sie kauerten sich hinter einem Haufen Gerümpel an die Wand des Kuhstalls, dicht aneinandergedrängt.
»Elin, bekommen wir jetzt kein Essen mehr?« Der jüngere der Brüder flüsterte mit kaum hörbarer Stimme.
»Sie beruhigt sich schon wieder, Edvin, das weißt du doch. Mach dir keine Sorgen. Es war meine Schuld, dass der Teller kaputtgegangen ist.«
Sie strich ihm zärtlich über den Kopf, nahm ihn in den Arm und wiegte ihn hin und her.
Nach einer Weile stand sie auf und ging mit zögernden Schritten zurück zum Haus. Sie sah die gebückte Gestalt ihrer Mutter, sah, wie sie die klebrigen Scherben vom Boden sammelte, zwischen Zeigefinger und Daumen. In ihrer Hand wuchs ein kleiner Turm aus Scherben.
Die Tür zur Küche war angelehnt, die Scharniere quietschten im Wind. Von der Dachrinne tropfte der Regen. Plopp, plopp. Elin lauschte dem Geräusch. Im Haus war es ganz still. Marianne blieb mit hängendem Kopf in der Hocke sitzen, auch nachdem alle Scherben aufgesammelt waren. Blanka kam angerannt und schnüffelte auf dem Boden, leckte die verschüttete Milch auf. Marianne kümmerte das nicht.
Elin wollte gerade zu ihrer Mutter in die Küche gehen, als sich die krumme Gestalt aufrichtete. Die Bewegung ließ Elin zusammenzucken. Sie drehte sich um und stürmte über den Hof zu ihren Brüdern in den Stall. Kauerte sich hinter den Stapel aus Gerümpel. Marianne stand in der Küchentür und warf die Scherben wie Projektile über den Hof.
»Bleibt, wo ihr seid, ich will euch nicht mehr sehen! Habt ihr gehört? Ich will euch nicht mehr sehen!«
Dann hatte sie keine Geschosse mehr. Marianne sah sich suchend nach den Kindern um. Elin machte sich so klein wie möglich, legte ihre Arme um die beiden Jungen, die ihre Köpfe in ihrem Schoß verbargen. Keiner von ihnen wagte es zu atmen, sie lauschten angestrengt nach dem geringsten Geräusch.
»Kein Essen mehr für euch, bis Ende des Monats. Habt ihr gehört? Kein Essen mehr! Verdammte Gören! Verdammte Rotzgören!«
Ihre Arme fuhren durch die Luft, obwohl sie keine Scherben mehr hatte. Niedergeschlagen beobachtete Elin sie durch die Spalte im Gerümpel. Alte Möbel, Holzbretter, Blumenkästen und Zeug, das schon längst hätte entsorgt werden müssen. Marianne griff sich an die Brust, als hätte sie Schmerzen, drehte sich um und ging zurück in die Küche. Durch das Fenster sah Elin, wie sie in ihrer Handtasche wühlte und Schubladen aufriss, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Eine Zigarette. Sie zündete sie an, nahm ein paar tiefe Züge und blies Ringe in die Luft. Runde, perfekte Ringe, die sich verformten, oval wurden und sich schließlich auflösten. Die Ringe beruhigten sie, das wusste Elin. Wenn sie die Zigarette bis auf den Filter heruntergeraucht hatte, würde er in der Spüle landen, und dann war alles überstanden.
Die Geschwister blieben in ihrem Versteck sitzen. Dicht aneinandergedrängt. Edvin mit gesenktem Kopf. Er zeichnete mit einem Stock Striche und Ringe in den Boden. Elin ließ das Haus nicht aus den Augen. Als Marianne endlich, nach langem, schweigendem Warten, das ungeputzte Küchenfenster weit öffnete, kletterte Elin aus dem Versteck und sah zu ihr hinüber. Sie lächelte verlegen und hob die Hand zum Gruß. Marianne erwiderte das Lächeln verhalten, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Alles war wieder wie vorher. Es war überstanden und vorbei.
Auf dem Fensterbrett standen zwei Primeln im Topf mit kleinen, verschrumpelten Blüten. Marianne knipste die trockensten ab und warf sie hinaus ins Beet.
»Ihr könnt wieder reinkommen. Tut mir leid. Ich bin einfach so wütend geworden«, rief sie. Dann drehte sie ihnen wieder den Rücken zu und setzte sich an den Küchentisch.
Elin ging in die Hocke, nahm eine Handvoll Steine in die Hand, warf sie in die Luft und drehte die Handfläche nach oben. Ein Stein blieb zunächst darauf liegen, rutschte dann aber auch hinunter und fiel wie die anderen zu Boden.
»Du bekommst keine Kinder«, rief Edvin übermütig.
Elin sah ihn wütend an. »Halt den Mund.«
»Doch, eins bekommt sie, ein Stein ist doch liegen geblieben, ganz kurz«, versuchte Erik sie zu trösten.
»Also bitte, glaubt ihr wirklich, dass ein Haufen Kieselsteine die Zukunft vorhersagen kann?« Elin seufzte und ging zurück zum Haus. Auf halber Strecke blieb sie stehen und winkte ihre Brüder zu sich. »Kommt mit, wir essen jetzt, ich bin hungrig.«
Marianne saß am Küchenfenster, tief in Gedanken versunken. In der Hand hielt sie eine weitere Zigarette, deren Asche darauf wartete, abgeklopft zu werden. Der Aschenbecher auf dem Tisch war voll. Stummel um Stummel war im Sand an seinem Boden ausgedrückt worden. Marianne war blass, ihre Augen starrten ins Leere. Sie reagierte nicht einmal, als ihre Kinder sich auf die Bank setzten.
Elin, Erik und Edvin aßen schweigend. Es gab Fleischwurst, für jeden zwei Scheiben, und dazu kalte Makkaroni, die mittlerweile zu großen Klumpen verklebt waren. Ein kräftiger Klacks Ketchup half, die Masse zu trennen. Die Gläser waren leer, Elin stand auf, um Wasser zu holen. Marianne sah ihr zu, wie sie drei Gläser mit Wasser füllte und auf den Tisch stellte.
»Seid ihr jetzt wieder lieb?« Ihre Stimme klang schleppend, als wäre sie gerade erst aufgewacht.
Elin atmete tief aus, ihre Brüder versteckten sich hinter ihrem Rücken.
»Es war ein Versehen, Mama, wir wollten das nicht.«
»Willst du jetzt auch noch frech werden?«
Elin schüttelte den Kopf. »Nein, das will ich nicht, aber …«
»Sei still. Einfach nur still. Ich will kein Wort mehr darüber hören. Iss auf.«
»Tut mir leid, Mama, es war keine Absicht. Wir haben nur ein bisschen verschüttet, und es war meine Schuld, dass der Teller kaputtgegangen ist. Sei auf Erik und Edvin nicht böse.«
»Ständig streitet ihr, muss das denn sein? Die ganze Zeit. Ich halte das nicht mehr aus.« Marianne stöhnte laut auf.
»Wir brauchen heute keine Milch. Wasser geht auch.«
»Ich bin so furchtbar müde.«
»Entschuldige, Mama. Es tut uns leid. Oder? Erik? Edvin?«
Die Brüder nickten stumm. Marianne beugte sich über den Topf mit den Makkaroni, kratzte darin herum und schob sich einen Löffel Nudeln in den Mund.
»Willst du auch einen Teller haben, Mama?« Elin stand auf und ging zum Küchenschrank, aber Marianne hielt sie zurück.
»Nein, esst ihr fertig. Ihr müsst mir nur versprechen, mit dem Streiten aufzuhören. Außerdem müsst ihr bis zum Monatsende Wasser trinken. Wir haben kein Geld mehr.«
Erik und Edvin stocherten auf ihren Tellern herum, und kratzten mit den Gabeln über das braune Porzellan.
»Esst ordentlich.«
»Aber Mama, wir müssen das doch vermischen, die Nudeln sind kalt und kleben zusammen.«
»Das würden sie nicht, wenn ihr nicht gestritten hättet. Ihr sollt ordentlich essen, habe ich gesagt.«
Edvin hörte auf zu essen, Erik hatte seinen Kopf gesenkt und pikste ganz vorsichtig die Nudeln einzeln auf. Eine auf jeden Zinken.
»Warum bist du immer so wütend?«, flüsterte Erik und schielte ängstlich zu Marianne.
»Ihr sollt am Tisch des Königs essen können. Habt ihr das verstanden? Meine Kinder sollen so gute Tischmanieren haben, dass sie jederzeit mit dem König am Tisch sitzen können.«
»Hör bitte auf damit. Das hat Papa immer gesagt, wenn er betrunken war. Wir werden niemals mit dem König an einem Tisch sitzen. Wie soll das gehen?« Elin seufzte und wandte den Blick ab.
Marianne riss ihr das Besteck aus den Händen und schleuderte es auf den Tisch, wo es abprallte und auf den Boden fiel. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich halte es einfach nicht mehr aus. Habt ihr das verstanden?« Sie räumte ihren Teller ab, warf ihn in die Spüle und begann, lautstark abzuwaschen.
Elin wusste, dass sie immer so unbeherrscht und wütend wurde, wenn sie hungrig war. Darum hielt sie ihre Brüder zurück, als die sich noch mehr Nudeln aus dem Topf nehmen wollten. »Wir sind fertig, Mama, es ist noch was für dich übrig.«
Elin schielte zu ihren Brüdern, die stumm und bedrückt am Tisch saßen. Edvin mit seinen weizenblonden Locken, die noch nie geschnitten worden waren, obwohl er schon sieben Jahre alt und gerade eingeschult worden war. Sie kringelten sich an den Ohren und im Nacken, wie ein Wasserfall aus Gold. Und daneben Erik, der nur ein Jahr älter, aber so viel größer und reifer war, auch in seinem Verhalten. Seine Haare hatten noch nie auch nur den Hauch einer Locke aufgewiesen. Marianne rasierte es ihm regelmäßig ganz kurz. Der fast kahle Kopf betonte seine etwas abstehenden Ohren.
»Ihr seid satt.« Elin sah die beiden streng an. Sie nickten widerwillig und ließen sich dann zu Boden gleiten.
»Dürfen wir aufstehen?«
Elin nickte, und sie verschwanden schnell im ersten Stock des Hauses. Sie blieb sitzen und hörte dem Klappern des Geschirrs zu, betrachtete den krummen Rücken, der sich tief über die viel zu niedrige Spüle beugte. Und plötzlich innehielt.
»Uns geht es doch eigentlich ganz gut, oder?«
Elin antwortete nicht. Marianne drehte sich nicht um. Sie sahen sich nicht an. Das Klappern ging weiter.
»Was würde ich nur ohne dich machen? Ohne deine Brüder? Ihr seid doch mein Trio mit E.«
»Du wärst weniger wütend?«
Da drehte sich Marianne um. Die Sonne schien durch das geöffnete Küchenfenster, ihre Brillengläser sahen ganz beschlagen aus. Sie sah Elin in die Augen, schluckte und trat an den Nudeltopf. Schaufelte sich einen Löffel kalte Nudeln nach dem anderen in den Mund.
»Seid ihr satt geworden? Bist du sicher?« Marianne schob sich neben sie auf die Bank, strich ihr mit der Hand übers Haar. »Du bist mir eine große Hilfe, ohne dich würde ich das alles gar nicht schaffen.«
»Haben wir wirklich kein Geld mehr? Nicht einmal für Milch? Du hast dir doch auch Zigaretten gekauft?« Elin hatte die letzten Worte nur gemurmelt und dabei den Blick gesenkt.
»Nein. In diesem Monat nicht mehr. Die Zigaretten sind auch bald alle, ich kann mir keine neuen kaufen. Ich musste das Auto reparieren lassen, darauf sind wir angewiesen. Wir müssen das essen, was wir noch in der Vorratskammer haben, da sind noch ein paar Dosen. Und es gibt ja Wasser aus dem Hahn. Trink das, wenn du hungrig bist.«
»Du kannst doch Oma anrufen und sie um Hilfe bitten.« Elin sah sie flehend an.
»Niemals!« Marianne schüttelte den Kopf. »Womit sollte sie uns helfen? Die sind doch genauso arm wie wir. Ich werde nicht klagen und jammern.«
Elin stand auf und bohrte ihre Hand tief in die Hosentasche ihrer engen Jeans. Sie bekam zwei Kronkorken, einen gelben Bleistiftstummel, zwei schmutzige Kronen und zwei Fünfzigörestücke zu fassen.
»Ich habe noch das hier.« Sie stapelte die Geldstücke übereinander.
»Das reicht für einen Liter Milch. Geh morgen in den Laden und kauf einen, wenn du willst. Danke. Du bekommst vier Kronen zurück, wenn ich wieder Geld habe. Versprochen.«
Elin schlich sich aus dem Haus. Hinaus in die kühle Dämmerung. Marianne saß noch am Küchentisch. Mit einer neuen Zigarette in der Hand.
* * *
Elin zählte die Tropfen, die von der Regenrinne fielen. Sie drängten sich an den Kiefernadeln vorbei, die das Loch verstopften. Es gluckerte, wenn sie in dem blauen Fass landeten, das Marianne von einem der Nachbarhöfe nach Hause geschleppt hatte. In ihm war Vernichtungsmittel aufbewahrt worden. Vernichtung. Elin gefiel das Wort und wofür es stand. Sie wünschte sich, dass noch ein bisschen von dem Vernichtungsmittel übrig war, das sie bei Bedarf einsetzen konnte. Mit zischender Stimme sprach sie einen Zauberspruch: »Vernichte! Jetzt! Komm schon, vernichte alles. Alles, was böse ist.«
Dort, hinter der Hausecke, war ihr geheimer Platz. Auf der Rückseite, wo sich nie jemand aufhielt, wo die Wacholderbüsche bis an die Hauswand wuchsen und ihr die Kiefernnadeln in die Fußsohlen stachen, wenn sie barfuß war. Ihr halbes Leben lang war das schon ihr Versteck, seit sie fünf Jahre alt war. Wenn sie ihre Ruhe brauchte. Oder jemand sauer auf sie war. Wenn Papa lallte. Wenn Mama weinte.
Sie hatte Äste und Zweige aus dem Wald geholt und sich einen Stuhl daraus gebaut, der stand immer dort an die Wand gelehnt und wartete auf sie. Dort saß sie und dachte nach, sie konnte ihre Gedanken besser hören, wenn sie allein war. Das Dach und die Plastikregenrinne schützten ihren Kopf vor dem Regen, aber nur wenn sie sich dicht an die Wand drückte. Sie lehnte den Kopf nach hinten und spürte die Regentropfen, die ihre zerschlissene Jeans tränkten. Es wurden immer mehr dunkle Punkte, und gleichzeitig wurde es ganz kalt auf ihren Oberschenkeln, als wäre da eine Decke aus Eis. Aber sie zog die Beine nicht aus dem stärker werdenden Regen, ließ sie immer nasser und nasser und immer kälter und kälter werden. Die Tropfen fielen in immer kürzeren Abständen. Sie konzentrierte sich auf das Geräusch, zählte und kam nicht durcheinander bei den Zahlen. In der Schule war das viel schwerer. Dort waren die Geräusche nie rein, so wie hier. Es gab immer auch andere Geräusche, die störten; Geschrei, Gerede, Rascheln, Körpergeräusche. Elins Gehirn registrierte alles, hörte alles gleichzeitig. Die Zahlen flossen in ihrem Kopf zusammen, sie verlor den Faden, konnte sich nicht mehr konzentrieren. Ein hoffnungsloser Fall, hatte die Lehrerin Marianne im Elterngespräch gesagt. Hoffnungslos in Mathematik. Und hoffnungslos in Schönschrift, die Lehrerin konnte nicht lesen, was in ihren Heften stand. Hoffnungslos in fast allem. Außerdem war sie die Tochter eines Kriminellen. Darüber redeten alle Kinder in der Schule und auch die Lehrerin, wenn sie annahm, dass Elin es nicht hörte. Sie flüsterten sich das Wort hinter ihrem Rücken zu. Elin wusste nicht einmal, was es bedeutete.
Der Einzige, der sie verteidigte, war Fredrik. Er war der stärkste und klügste Junge an der Schule. Er legte schützend seinen Arm um sie, zog sie weg und schnaubte die an, die was Doofes gesagt hatten. Sie hatte ihn gefragt, was das Wort Krimineller eigentlich bedeutete, aber er hatte sie angelacht und gesagt, sie solle lieber an etwas anderes denken. Etwas, das sie froh mache.
Sie vermutete, dass es mit der Polizei zu tun hatte, die ihn eines Tages abholte. Und damit, dass er auch nicht mehr zuhause wohnte. Sie vermisste ihn, jeden Tag. Er hatte in ihr nie einen hoffnungslosen Fall gesehen, denn für ihn hatte es gar keinen Sinn, gut in der Schule zu sein. Sie hatte ihm in seiner Werkstatt geholfen und es gut gemacht. Zumindest hatte er das immer gesagt.
Aber die Zeiten in der Werkstatt waren wohl vorbei. Für immer.
Es tat ihr gut, hinter dem Haus in ihrem Versteck zu sitzen. Nur das dumpfe, platschende Geräusch der Regentropfen, die auf der Wasseroberfläche im Fass aufschlugen, und das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Kiefern zu hören. Und endlich ihre eigenen Gedanken.
Sie brauchte diese Zeit. Diese Stille. Um nachzudenken. Um zu verstehen. Am meisten dachte sie über Gefängnisse nach. Dort wohnte ihr Papa. Sie fragte sich, wie die Geräusche dort wohl klangen. Ob er ganz allein mit seinen Gedanken war, dort hinter den Gittern, die ihre Umwelt vor ihm schützen sollten? Und ob es tatsächlich Gitter gab oder ganz normale Türen? Vielleicht waren die ja aus dickem undurchdringlichem Stahl. Sodass keine Bombe der Welt sie jemals sprengen könnte. Türen, die auch dann noch standen, wenn alles drum herum in Trümmern lag. Sie fragte sich, was mit ihnen passieren würde, wenn ihr Papa wütend werden würde und mit der Faust dagegenschlug. Tat es weh, gab es Löcher, wie zuhause?
Sonntags war Besuchszeit, das hatte sie aus dem Brief erfahren, den Marianne geschickt bekommen hatte. Darum wartete sie jeden Sonntag darauf, dass sie mit dem Schiff dorthin fahren würden. Dass sie zum Festland übersetzen würden und ihn in dem Gefängnis auf der anderen Seite des Sundes besuchen würden. Dass die Wachen mit ihren riesigen Schlüsselbunden rasseln und die schweren Türen aufschließen würden, um Papa rauszulassen. Dann würde sie ihm in die Arme springen und seine großen, warmen Hände auf ihrem Rücken spüren, wenn er sie streichelte und mit seiner heiseren Raucherstimme flüsterte Hallo, meine Große.
Aber sie wartete vergeblich.
Sie fuhren nicht. Marianne hatte die Nase voll, das sagte sie jedem, der sie fragte. Sie sagte auch, dass sie ihn nicht vermisste, nicht im Geringsten. Einmal sagte sie sogar auf die Frage einer Nachbarin, dass er im Gefängnis verrotten sollte. Damit sie ihn nie wiedersehen musste. In Elin löste das schreckliche Bilder aus, die sie einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam. Sie sah seinen Körper mit grünem Schimmel bedeckt und langsam auf dem kalten Betonboden dahinsiechen.
Was für ein Glück, dass sie ihren magischen Ort hatte. Dort saß sie jeden Tag, in Gesellschaft der Regentropfen, des Windes, der Sonne, der Wolken, der Bäume und der Ameisen, die sie in die Füße bissen. Sie fragte sich, was für eine schreckliche Tat ihr Vater begangen hatte, dass sie ihn einsperren mussten. Ob er wirklich ein richtiger Schurke war.
Tropf, tropf, tropf. Vierhundertsieben, vierhundertacht, vierhundertneun. Sie zählte und dachte dabei nach. Die Zeit blieb dabei fast stehen. Vielleicht war das für Papa im Gefängnis auch so. Was er wohl mit der ganzen Zeit anstellte? Vielleicht zählte er ja auch die Tropfen, die von der Regenrinne fielen.
Die kalte weiße Flüssigkeit schmeckt fast pelzig zusammen mit dem Wein, der kurz zuvor ihre Zunge berührt hat. Sie fährt ihren Gaumen entlang. Eine zähe Haut hat sich in ihrer Mundhöhle gebildet. Die Milch ist so fett, so anders. Nicht so frisch wie das Vertraute, auf das sie Lust gehabt hat. Sie schiebt das halbvolle Glas beiseite und legt die Finger um den Fuß des Weinglases. Zieht es näher heran, lässt es aber auf dem Tisch stehen. Vor ihr liegt der Brief, sie hat die Sternenkarte zurück in den Umschlag gesteckt. Sie streicht über die Buchstaben, mit der ihre Adresse geschrieben wurde.
Einatmen. Ausatmen.
Er steckt in diesem Schriftzug, seine Finger haben die Buchstaben ihres Namens geformt. Er hat sie nicht vergessen. Ihr Atem geht immer schneller. Ihr Herz unter dem roten Kleid pocht wild. Gleichzeitig friert sie, sie spürt die Gänsehaut auf den Armen.
»Wir schließen bald.«
Der Kellner ist schon wieder da. Er erzwingt ihre Aufmerksamkeit, zeigt auf die noch halbvolle Weinflasche.
»Ich bitte Sie. Wir sind doch in New York. Und Sie kennen mich. Lassen Sie mich noch ein bisschen hier sitzen, ich will noch nicht nach Hause gehen«, murmelt sie, ohne ihn anzusehen.
Sie trinkt das Glas mit zwei großen Schlucken aus und füllt es wieder auf. Die Hand, in der sie die Flasche hält, zittert, und es fallen ein paar rote Tropfen auf die weiße Tischdecke aus Papier. Die Flüssigkeit breitet sich sofort aus, wird aufgesogen. Sie betrachtet das Muster, das dadurch entsteht.
»War wieder ein harter Tag heute, was?« Der Kellner schnaubt kaum hörbar, während er das Geschirr vom Nachbartisch abräumt.
Sie nickt und dreht den Umschlag um. Dort steht nichts, aber sie sieht den Namen vor sich, den sie seit so vielen Jahren nicht ausgesprochen, fast nicht einmal gedacht hat. Fredrik Grinde. Fredrik. Sie wiederholt ihn immer und immer wieder, spürt ihre Unterlippe an ihren Schneidezähnen.
»Okay, bleiben Sie einfach sitzen, ich schließe schon mal und fange an zu putzen. Ich werde Sie nicht rausschmeißen. Aber nur, weil Sie es sind.«
Der Kellner verschwindet hinterm Tresen. Er legt andere Musik auf. Ein einsames Saxophon begleitet das Klappern aus der Küche. Die Lampen an der Decke gehen an, es wird fast gleißend hell im Restaurant. Elin schlägt sich die Hände vors Gesicht. Eine Träne fällt auf den Tisch, sie trifft einen der roten Flecken, der noch größer wird.
Ihr Handy vibriert. Eine weitere Nachricht. Wieder von Sam, sie besteht nur aus zwei Worten.
Gute Nacht.
Als sie heirateten, haben sie sich versprochen, sich immer eine Gute Nacht zu wünschen und nie im Unfrieden ins Bett zu gehen. Sie hat dieses Versprechen schon oft gebrochen. Er noch nie. Es ist immer er, der im Stich gelassen wird, nie sie. Immer war es ihr Job, der ihr die Zeit geraubt hat.
Auch heute Abend bricht sie das Versprechen. Es wäre ein Leichtes zu antworten. Schlaf schön. Aber sie tut es nicht. Sie drückt seine Worte weg und öffnet stattdessen die Suchmaschine, ihre Gedanken sind bei etwas anderem, bei jemand anderem. Sie tippt Fredriks Vornamen ein, ist darauf vorbereitet, sein sommersprossiges Gesicht und sein Lachen zu sehen, so wie sie sich daran erinnert. Aber das Display füllt sich nur mit Namensvettern in Anzügen.
Sie lacht über ihre Einfältigkeit, wagt es aber nicht, ihn mit seinem vollen Namen zu suchen. Stattdessen tippt sie etwas anderes ein, findet Fotos von dem Ort, den sie vor langer Zeit verlassen hat. An dem sie einen Freund gehabt hat, der für die Ewigkeit bestimmt war. Fredrik, wo bist du all die Jahre gewesen? Sie drückt sich die Sternenkarte an die Brust.
Kurz darauf steht der Kellner wieder an ihrem Tisch. Hebt die Flasche hoch und inspiziert ihren Inhalt. Dann gibt er sie ihr.
»Das ist eigentlich nicht erlaubt«, sagt er, »aber nehmen Sie die jetzt einfach mit nach Hause. Das ist zu teures Zeug, um es wegzuschütten. Aber Sie müssen jetzt leider gehen.«
Elin schüttelt den Kopf, steht auf und geht zur Tür.
»Hey, hallo, Sie müssen aber trotzdem noch bezahlen!« Er packt sie am Arm und hält sie zurück.
Sie nickt eifrig. »Verzeihen Sie …«
Sie sucht in ihrer Tasche nach ihrer Kreditkarte.
»Geht es Ihnen gut? Ist was passiert? Ist mit Sam alles in Ordnung?«
»Ja, ich glaube schon. Ist gerade alles so … turbulent. Wahrscheinlich sollte ich jetzt schlafen gehen.«
Der Kellner nickt und lacht. »Das sollten wir alle. Selbst hier in New York. Ab nach Hause mit Ihnen, morgen ist ein neuer Tag. The sun will come out, tomorrow, so you gotta hang on ’til tomorrow.« Den letzten Satz singt er lauthals.
Elin lächelt verkrampft. Sie bleibt draußen vor der Tür stehen, umgeben von den vielen Gedanken, die ihr durch den Kopf schwirren. Sie holt ihr Handy aus der Tasche, tippt erneut etwas in das Suchfeld ein, ihre Finger zittern, schnell drückt sie auf Enter.
Verjährungsfrist Totschlag Schweden.
»Sie war gestern auch schon hier.«
Gerd, die Kassiererin des Geschäfts, stand auf, als Marianne und Elin den Laden durch die Glastür betraten. Elin erstarrte und blieb in der Tür stehen. Marianne ging weiter.
»Ja, und? Ich hatte sie geschickt. Es war doch nicht das erste Mal, dass sie allein hier war«, murmelte Marianne und nahm sich einen Einkaufskorb vom Stapel.
Gerd ging auf Elin zu und legte ihr liebevoll den Arm um die Schulter.
»Willst du es erzählen, oder soll ich es tun?«, flüsterte sie ihr ins Ohr, ihr Atem roch nach Kaffee.
Elin schüttelte den Kopf und sah sie flehend an, aber Gerd tat so, als hätte sie es nicht gesehen.
»Das Fräulein wollte einen Liter Milch stehlen.«
»Elin? Das würde sie niemals tun, außerdem hatte sie Geld dabei.«
»Richtig, den einen Liter hat sie auch bezahlt. Aber nicht den anderen, den sie unter ihrem Pullover versteckt hatte.«
Elin sah, wie Mariannes Kiefermuskeln arbeiteten. Sie lief durch das Geschäft und legte bedächtig und konzentriert die Waren in ihren Korb. Man konnte an ihren Lippen sehen, dass sie die Preise im Kopf zusammenrechnete. Ihr Mund bewegte sich mit jeder Ziffer, die dazukam. Elin stand in Gerds Arm, dicht an ihrem Körper. Sie war warm und weich und atmete tief und langsam. Gerd duftete nach Haarspray, die grauen Locken saßen wie eine perfekt geschwungene Haube auf ihrem Kopf. Sie beobachteten Marianne bei ihrem Einkauf. Als sie ihre Runde beendet hatte, kam sie zurück und stellte den Korb mit den Einkäufen auf den Boden. Eine Packung Makkaroni, Brot, Karotten und Zwiebeln.
»Verdammtes Gör«, fauchte sie und sah Elin wütend an. »Wir sind arm, aber wir stehlen nicht. Wir reden zuhause darüber.«
»Wie geht es euch denn? Ist es schwer, allein zu sein? Habt ihr genug zu essen?« Gerd strich mit ihrer Hand sanft über Elins lange Haare.
Marianne wandte das Gesicht ab. »Das war nur eine dumme Idee, oder, Elin? Was hinter die Ohren solltest du bekommen. Und das wirst du auch«, knurrte sie.
Elin nickte und sah beschämt zu Boden. Die Frauen redeten über ihren Kopf hinweg weiter.
»Pass gut auf das Mädchen auf, Marianne. Damit sie nicht wird wie er.«
»Wie er? Wie meinst du das?«
»Na ja, ein Krimineller. Das kann vererbt werden.«
»Elin ist keine Kriminelle. Sie hat einen Fehler gemacht, aber deswegen ist sie nicht kriminell. Wovon redest du da? Hör auf, dir so viele Gedanken zu machen.«
Schweigend tippte Gerd die Einkäufe in die Kasse ein. Marianne hatte ihren Blick auf die wachsende Summe geheftet und zählte die Münzen in ihrem Portemonnaie. Verlegen schob sie das Brot beiseite.
»Ich habe vergessen, dass wir ja noch Brot zuhause haben. Das müssen wir zuerst aufessen. Das kannst du wieder abziehen.«
»Wie du möchtest.« Gerd lächelte und korrigierte die Summe.
Marianne gab ihr den abgezählten Haufen Münzen. »Wenn das noch mal passiert, mit Elin, dann ruf mich bitte gleich an. Damit ich mich darum kümmern kann.«
»Ja, ich hätte anrufen sollen. Aber ich habe es vergessen. Es war ja auch nur ein Liter Milch. Aber du hast Recht, stehlen soll sie nicht.«
Elin packte mit gesenktem Kopf die Sachen in den Stoffbeutel. Gerd reichte ihr einen Lolli, sie zögerte zuerst, aber als sie Mariannes Nicken sah, nahm sie ihn.
»Wie läuft es in der Liebe? Suchst du dir einen Neuen, jetzt wo Lasse weg ist? Es ist bestimmt nicht gesund, allein zu bleiben.«
»Suchen? Bitte wo soll ich denn nach einem suchen?«
»Es wird schon jemand vorbeikommen, du wirst sehen. Sonst nimmst du eben Lasse wieder zurück, wenn er rauskommt.«
»Den zurücknehmen? Der ist doch nicht ganz …« Marianne unterbrach sich und zeigte zur Tür. »Elin, geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«
Bevor die Tür hinter ihr zuschlug, konnte Elin die beiden Frauen aufgeregt flüstern hören.
»Der ist doch nicht ganz bei Trost, er ist nichts als ein erbärmlicher Räuber, der die Leute zu Tode erschreckt. Sie ist fast daran gestorben, darum sitzt er auch im Gefängnis. Und kann da auch gerne bleiben.« Marianne klang außer sich.
»Ja, du hast ja Recht. Er war ziemlich betrunken, Männer machen so dumme Sachen, wenn sie trinken«, versuchte Gerd sie zu beruhigen.
»Uns geht es jetzt viel besser, das kann ich dir sagen, ohne einen, der lallend durch die Gegend rennt und uns allen Angst einjagt.«
Es schepperte, als die Tür hinter Elin ins Schloss fiel. Die Stimmen waren nicht mehr zu hören. Sie setzte sich auf die oberste Stufe des Hauses, in dessen Erdgeschoss sich der Einkaufsladen befand. Der Mörtel der Stufen hatte sich an einigen Stellen gelöst und den roten Backstein darunter freigelegt. Sie pulte zwei größere Brocken ab und warf sie in eine Pfütze auf dem Weg. Hinter den Pfützen lagen die Felder und der Wald, und dahinter stand der größte Bauernhof der Gegend. Die Bewohner waren so reich, dass sie in einem Flügel des Anwesens sogar einen Pool hatten.
Nebelschwaden zogen über die Felder, der Mähdrescher hatte nur die Stoppeln von dem sich noch vor einer Woche wunderschön im Wind wiegenden Roggenfeld zurückgelassen. Es sah aus, als wären ein paar Wolken vom Himmel gepurzelt und hätten sich in Nebel verwandelt. Der Sonne gelang es aber trotzdem, die Umgebung zum Leuchten zu bringen. Elin versank in dem Anblick dieser Schönheit.
Da hörte sie Schritte hinter sich, und ihr Herz begann wild zu pochen. Sie hörte den Boden des Ladens knarren, obwohl die Tür geschlossen war. Schnell sprang sie auf, rannte die Treppe hinunter und versteckte sich hinterm Haus. Von dort sah sie, wie Marianne das Geschäft verließ und nach Hause ging. Sie trug den nur halb gefüllten Stoffbeutel über der Schulter, den Blick fest auf den Boden gerichtet.
* * *
Gerd hockte vor dem Regal mit den Broten, als Elin wieder in den Laden kam. Sie stapelte gerade Tüten aufeinander, und das Klingeln der Türglocke erschreckte sie so, dass ihr der Turm aus der Hand fiel. Sie lächelte, als sie sah, wer es war.
»Hallo, meine Kleine. Bist du schon wieder hier? Hat deine Mama sehr geschimpft? Entschuldige. Sie hat dich doch nicht geschlagen, oder? Ich musste es ihr erzählen, das verstehst du doch?«
Elin zuckte mit den Schultern. In ihrer Hosentasche steckte der Lolli, den zog sie jetzt raus, machte die Plastikhülle ab und schob ihn sich in den Mund. Dann setzte sie sich neben Gerd auf den Boden und gab ihr die Brotpackungen, damit Gerd sie einsortieren konnte.
»Vielen Dank, wie lieb von dir, dass du mir zur Hand gehst. Das ist genau das, was ich heute brauche. Jetzt haben wir wieder alles da, Roggenbrot für die Grindes und das süße Mischbrot von Skogaholms für die Lindkvists und Petterssons.«
»Woher wissen Sie denn, wer was kaufen will?«
Gerd gluckste vor Vergnügen. »Ich weiß eine ganze Menge. Das süße Hefebrot mochte dein Vater am liebsten. Und du wahrscheinlich auch? Stimmt’s?«
Elin nickte.
Gerd drückte ihr eine Tüte in die Hand. »Nimm das mit, das Haltbarkeitsdatum endet heute. Ich nehme abgelaufenes Brot immer mit nach Hause und friere es ein, so hält es sich noch länger. Ich kann dir jede Woche Brot geben, wenn es bei euch gerade etwas knapp ist.«
»Aber Mama wird doch nur wieder glauben, dass ich es gestohlen habe.«
Gerd streichelte ihre Wange. »Nicht, wenn ich ihr sage, dass wir das Brot sonst wegwerfen würden. Ihr könnt es in Tüten mit je vier Scheiben einfrieren und euch immer so viel herausnehmen, wie ihr braucht.«
Elin hielt sich die Packung unter die Nase. Atmete den Duft des Brotes ein.
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist, seit euer Papa weg ist. Aber er wird bald wiederkommen, du wirst schon sehen«, sagte Gerd.
»Mama sagt, dass er unsere Türschwelle nie wieder betreten wird.« Elin presste die Lippen aufeinander und sah Gerd traurig an.
»Hat sie das gesagt? Ja, dann wird das wohl stimmen. Aber er wird eine eigene Türschwelle haben, die kannst du dann betreten.«
Elin nickte.
»Magst du darüber reden?«
Elin schüttelte den Kopf.
Gerd nahm sie in den Arm und hielt sie fest, bis Elin sich aus der Umarmung löste.
»Die sagen, dass Papa ein Mörder ist und nie wieder zurückkommen wird«, murmelte sie.
»Wer sagt das?«
»Die in der Schule. Sie sagen, dass sie ihn eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen haben. Dass er ein Krimineller ist.«
Gerd schüttelte den Kopf und legte ihre Hand auf Elins Wange. Ganz warm und rau fühlte sich das an.
»Und was glaubst du?«, fragte sie.
Elin wusste nicht, was sie antworten sollte. Von dem Lolli war fast nichts mehr übrig, darum nahm sie ihn aus dem Mund. »Was hat er denn Schreckliches getan? Warum sagt mir das niemand?«
»Auf jeden Fall hat er niemanden ermordet, das steht schon mal fest.«
Gerd lachte und sah nach draußen. Dort hatte gerade ein blauer Volvo mit quietschenden Reifen angehalten. Ein großer Mann mit rotkariertem Hemd und Cowboyhut stieg aus. Mit zwei Schritten sprang er die Treppe hoch und öffnete die Tür mit einem Ruck.
Elin beugte sich zu Gerd und flüsterte: »Stimmt es, dass die bei Grindes jeden Samstag Rinderfilet essen?«
»Das wirst du Micke fragen müssen. Oder Fredrik.«
»Nein, nein, sagen Sie ihm bloß nichts, das habe ich nur mal so gehört. Das kann ja gar nicht stimmen.«
»Man sollte nicht immer alles glauben, was die Leute so reden. Das ist die Lektion des Tages.«
Als Micke in den Laden kam, fing Gerd an zu strahlen. Sie lief ihm auf seinem Weg durch den Laden hinterher und redete unaufhörlich. Elin blieb vor dem Brotregal sitzen und räumte weiter ein. Als er bei ihr vorbeikam, reichte sie ihm eine Tüte mit Roggenbrot.
»Hallo, Würmlein. Woher wusstest du, welches Brot ich haben will?«
Er ging neben ihr in die Hocke und stützte sich mit dem Arm am Regal ab. Der dunkle Schweißfleck unter seiner Achsel roch säuerlich. Elin sah zu Gerd.
»Die Kleine kann eben gut raten«, lachte Gerd.
»Ja, das kann man wohl sagen.« Er schob seine Hand in die Tasche und zog ein Fünfkronenstück heraus. Er drehte es zwischen den Fingern, dann warf er es hoch in die Luft. Elin sah, wie es sich drehte und im Licht der Neonlampe schimmerte. Es fiel in ihre Richtung, sie griff danach und fing es auf.
»Behalte es und kauf dir was Schönes, nur für dich.«
Micke schnappte sich seinen vollen Einkaufskorb und ging zu Gerd an die Kasse. Gerd übergoss ihn mit Bewunderung und hing an seinen Lippen. Elin blieb reglos an ihrem Platz sitzen, bis er gegangen und in seinen Wagen gestiegen war. Kaum hatte er den Motor gestartet, ging sie zum Kühlregal, nahm einen roten Tetra Pak Milch heraus und stellte ihn neben die Kasse.
»Die will ich kaufen. Können Sie mir bitte auf einen Zettel schreiben, dass ich die Milch nicht gestohlen habe? Und das Brot auch nicht?«