DAS BUCH
Anno 1348: Am Hafen von Melcombe ist die Pest an Land gekrochen, nun wütet sie schon seit Monaten in Südengland. Lady Anne hat zwar durch ihr beherztes Handeln ihre Leute in Sicherheit bringen können. Doch nun gehen die Vorräte im Anwesen von Develish zur Neige. Annes ganze Hoffnung ruht auf Thaddeus Thurkell, dem Bastardsohn eines Leibeigenen, den sie zu ihrem Verwalter erhoben hat. Thaddeus zieht mit wenigen Begleitern durch das von der Pest schwer gezeichnete Land: Ein Großteil der Bevölkerung ist gestorben, niemand bringt die Ernte ein, es regieren Chaos und Anarchie. Ohne Titel kann Thaddeus allerdings kaum etwas bewirken. Um andere Überlebende und die Gemeinschaft von Develish retten zu können, schmiedet er daher einen hochriskanten Plan: Er gibt sich mit Lady Annes Billigung als »Milord of Athelstan« aus. Allerdings steht auf eine derartige Titelanmaßung eine eindeutige Strafe: der Tod. Und der frühere Verwalter Hugh de Courtesmain sinnt schon seit Langem auf Rache …
DIE AUTORIN
Seit ihrem Debüt »Im Eishaus« zählt Minette Walters zu den Lieblingsautoren von Millionen Leserinnen und Lesern in aller Welt. Alle ihre Romane wurden mit wichtigen Preisen ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. »Die letzte Stunde« und »In der Mitte der Nacht« sind ihre ersten historischen Romane. Sie spielen in Dorset, wo die Autorin auch seit Langem mit ihrem Ehemann lebt.
HISTORISCHER ROMAN
Aus dem Englischen von
Sabine Lohmann und Peter Pfaffinger
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE TURN OF MIDNIGHT
bei Allen & Unwin/Atlantic Books, UK
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Copyright © 2018 by Minette Walters
Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Übersetzung: Sabine Lohmann bis einschl. Kap. 14;
Peter Pfaffinger Kap. 15 bis Ende
Karten im Innenteil: Janet Hunt
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik · Design, München,
unter Verwendung von Abbildungen aus dem Archiv
der Universitätsbibliothek Heidelberg, deckorator/Shutterstock,
sabelskaya/Bigstock und Gessner, Conrad:
Schlangenbuoch/Zentralbibliothek Zürich, NNN 45 | F,
http://doi.org/10.3931/e-rara-4134/Public Domain Mark
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-22674-9
V003
www.heyne.de
Für meine großartigen Durham-Freunde in Dorset: Amber, David, Geoffrey, Huw, Isobel, Jill, Josh, Les, Mike C, Mike W, Richard
und für Patrick und Lynden in Australien
Eine solch vernichtende Heimsuchung hatte es von Anbeginn der Welt bis zum heutigen Tage nicht gegeben … Die Seuche befiel die Menschen allenthalben … und verbreitete solches Grauen, dass Kinder sich nicht zu den sterbenden Eltern hinwagten, noch Eltern zu ihren Kindern, sondern aus Angst vor Ansteckung flüchteten.
John of Fordun, Scotichronicon
Städte, die einst voller Menschen waren, entleerten sich ihrer Einwohner, und die Pest breitete sich mit einer solchen Macht aus, dass die Lebenden kaum fähig waren, die Toten zu begraben. In einigen Klöstern überlebten nicht mehr als zwei von zwanzig. Von manchen wurde berechnet, dass kaum ein Zehntel der Menschheit am Leben blieb … Zinszahlungen schwanden, und Ackerland blieb unbestellt, aus Mangel an Pächtern (die nirgends mehr zu finden waren). Und so unermessliches Elend folgte auf diese Übel, dass die Welt danach nie mehr die gleiche sein konnte wie zuvor.
Thomas Walsingham, St. Albans Abbey, Chronicle
Viele Dörfer und Weiler wurden menschenleer … Schafe und Rinder streiften über die Felder und das Ackerland, und es war niemand mehr da, sie zu hüten … In dem Herbst [der auf die Pest folgte] war kein Schnitter für weniger als 8 Pence zu bekommen oder ein Mäher für weniger als 12 Pence. So gingen vielerorts die Feldfrüchte zugrunde, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte ernten können.
Henry Knighton, Chronicle
Orte, Menschen und Ereignisse aus »Die letzte Stunde«
ORTE
Melcombe, der Hafen in Dorseteshire, wo der Schwarze Tod am 24. Juni 1348 zum ersten Mal auf englischen Boden traf. Innerhalb kürzester Zeit waren viele der Einwohner verstorben; in kaum mehr als ein paar Wochen hatte die Seuche sich über den Rest des Landes ausgebreitet. Ein Chronist beschrieb sie als »eine Pestilenz, die sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes voranbewegte«. Alle, die sich ansteckten, starben.
Bradmayne, ein Landsitz mit etwa vierhundertfünfzig Bewohnern, einen halben Tagesritt von Melcombe ent-fernt und frühzeitig von der Pest erfasst. Mehr als hundert Menschen erlagen ihr in der zweiten Juliwoche 1348, unter ihnen Lord Peter, der Verlobte von Lady Eleanor of Develish.
Develish, ein Landsitz mit etwa zweihundert Bewohnern in Mittel-Dorseteshire, Lehnsgut von Sir Richard, einem Tyrannen, der es bis zu seinem Pesttod im Juli 1348 beherrschte. Um Develish mächtiger erscheinen zu lassen, als es war, ließ Sir Richard im Jahr 1338 von seinen Leibeigenen einen Burggraben rings um sein Anwesen ausheben. Dieser ermöglichte es, das Haus und ein paar Morgen Umland von dem restlichen Gebiet abzuriegeln, als die Pest kam.
DIE ADLIGEN
Sir Richard of Develish (48), ein ungebildeter Normanne, von Schulden erdrückt und von seiner Familie verstoßen. Um sich zu sanieren, heiratete er 1334 eine vierzehnjährige Angelsächsin mit großzügiger Mitgift. Zwanzig Jahre älter als sie und seiner Braut wenig zugetan, behandelt er sie – die selbst von adliger Herkunft ist – so schlecht wie seine Leibeigenen. Um einer Entschädigungszahlung für Notzucht zu entgehen, zwang er seine junge Braut nach den ersten Ehemonaten, ein neugeborenes Mädchen, das er mit der dreizehnjährigen Halbschwester seines Schwagers gezeugt hatte, als ihr eigenes Kind anzunehmen. Lady Eleanor genannt, ist dies sein einziges Kind. Auf Besuch in Bradmayne, um Eleanors Verlobung mit Lord Peter vertraglich abzusichern, steckt Sir Richard sich mit der Pest an.
Lady Anne of Develish (28), gebildet und heilkundig, wurde aus der Klosterschule heraus verheiratet und befolgt die Weisungen des Heilands, nicht der Kirche. Seit sie als junge Braut nach Develish kam, wirkt sie in aller Stille darauf hin, Gesundheit, Lebensbedingungen und Wissensstand ihrer Leibeigenen durch Unterweisung und Pflege zu verbessern. Um sie vor der Pest zu bewahren – und in Zuwiderhandlung zu den Lehren der Kirche –, versammelt sie ihre Leute innerhalb des Burggrabens und verbrennt die Zugbrücke, damit niemand mehr herüberkommt. Auch ihr pestbefallener Gemahl muss draußen bleiben und im Bauerndorf außerhalb der Einfriedung sterben. Dadurch macht Lady Anne sich Sir Richards Verwalter, seine Tochter und den Priester zu Feinden, sichert sich aber die Loyalität und Dankbarkeit ihrer Leute. Nach Sir Richards Ableben übernimmt sie die Herrschaft über Develish.
Lady Eleanor of Develish (14), einziges Kind von Sir Richard und Adoptivtochter von Lady Anne. In Unkenntnis ihrer wahren Herkunft vergöttert sie ihren Vater, der sie verwöhnt, und hasst ihre Mutter, die versucht, sie zu erziehen. Böswillig und grausam, neigt sie nach dem Tod ihres Vaters mehr und mehr zu Tobsuchtsanfällen und bezichtigt Lady Anne der Ketzerei, nachdem sie erfahren hat, dass diese nicht ihre leibliche Mutter ist.
Lord Bourne (Mitte 60), ein königlicher Schatzmeister aus Wiltshire, der die Goldreserven von Dorseteshire mithilfe von elf Gardesoldaten plündert. Bei seinem ersten Besuch in Develish brennt er das Bauerndorf nieder; bei seinem zweiten wird sein Überfall auf das Anwesen vereitelt, und er schwört, Rache zu nehmen.
FREIE
Pater Anselm (Mitte 60), ein trunksüchtiger Priester. Er und Lady Anne misstrauen sich gegenseitig. Sie hält ihn für seines Amtes unwürdig; er hält sie für eine Ketzerin. Lady Anne kann ihm nicht verzeihen, dass er Sir Richard 1338 nach dessen brutaler Vergewaltigung einer Zehnjährigen die Absolution erteilte. Das kleine Mädchen war verblutet.
Hugh de Courtesmain (29), ein doppelzüngiger Normanne, von Sir Richard als Verwalter angeheuert, um den Leibeigenen noch mehr Steuern abzupressen. Nach Develish kam er auf Empfehlung von Sir Richards Schwester, Lady Beatrix of Foxcote, die seinen Eifer beim Auspeitschen Straffälliger lobt. Arrogant und selbstgefällig, ist es ihm bis zu Sir Richards Tod nicht gelungen, seine Autorität durchzusetzen, und nach Lady Annes Herrschaftsübernahme findet er sich ohne Freunde wieder. Seines Postens enthoben und voller Groll auf Thaddeus Thurkell, der an seine Stelle getreten ist, versucht er, Lady Eleanors Hass auf Lady Anne und Thaddeus für seine Zwecke zu nutzen, um wieder an die Macht zu gelangen.
LEIBEIGENE
Thaddeus Thurkell (21), unehelich geborener Sklave, der von seinem Ziehvater gehasst wird. Dunkelhäutig, schwarzhaarig und einen Kopf größer als die anderen Männer, wortkarg und allein Lady Anne Respekt zollend, die ihn mehr als zehn Jahre lang heimlich unterwies und ihn nach Sir Richards Tod zu ihrem Verwalter ernennt. Ebenso gewitzt und kundig wie sie, ist er ihr in unwandelbarer Loyalität und Hochachtung verbunden, und gemeinsam sind sie bestrebt, Develish vor der Pest zu bewahren, die draußen wütet. Ihre Bemühungen drohen zu scheitern, als Thaddeus die Leiche seines jüngeren Halbbruders Jacob entdeckt, der von einem Stich in die Brust getötet wurde. Da er Lady Eleanor für die Schuldige hält und überzeugt ist, dass diese die Söhne von Lady Annes Hauptbauern der Tat bezichtigen will, gibt er Jacobs Tod als Unfall aus und schafft die Jungen heimlich aus dem Anwesen fort. Er hinterlässt einen Brief, in dem er ihr Fehlen damit erklärt, dass sie die schwindenden Vorräte des Anwesens auffüllen müssen, bevor der Winter einsetzt.
Eva Thurkell (37), Thaddeus’ Mutter, die es ihrem Sohn übel nimmt, dass ihr Mann voller Zorn darüber ist, von einem geschwängerten Flittchen als Gatte geködert worden zu sein. Als Lady Anne Thaddeus zu ihrem Verwalter ernennt und Eva erfährt, wie viel ihr Sohn ihr verschwiegen hat – vor allem seine Bewunderung für Lady Anne –, entflammt sie in bitterer Eifersucht.
Will Thurkell (44), ein aggressiver Schläger, dessen größter Verdruss der Erkenntnis entstammt, dass der Bankert eines unbekannten Mannes klüger ist als er. Ebenso wie seine Frau voller Groll wegen der heimlichen Unterweisung, die Thaddeus durch Lady Anne erfahren hat, unterstützt er Eva in ihren Versuchen, ihn aus seinem Posten zu drängen.
Gyles Startout (48), ein englischer Leibeigener, der 1338 zum besoldeten Gardesoldaten in Sir Richards Gefolge befördert wurde, auf Lady Annes Forderung hin, dass ihr Gatte ihn für die Vergewaltigung seiner Tochter Abigail zu entschädigen habe. Diese Vorrangstellung erlaubt es Gyles, seinen verhassten Herrn überallhin zu begleiten, was er bereitwillig tut, um Lady Anne Bericht erstatten zu können. Als einziger Überlebender von Sir Richards unglückseligem Besuch in Bradmayne wartet er vierzehn Tage, um zu beweisen, dass er frei von der Pest ist, bevor Lady Anne ihm erlaubt, den Burggraben zu überqueren. Sie ernennt ihn zu ihrem Gardehauptmann, und er bildet die Männer von Develish in der Waffenkunst aus, damit sie das Anwesen vor Angriffen verteidigen können.
John Trueblood, James Buckler, Adam Catchpole und Alleyn Startout (Bruder von Gyles), Hauptbauern unter den Leibeigenen und Mitglieder von Lady Annes Ältestenrat.
Martha Startout (Frau von Gyles) und Clara Trueblood (Frau von John), Vorsteherinnen der Hausmägde.
Isabella Startout (13), Tochter von Gyles und Martha Startout und jüngere Schwester von Abigail, Zofe von Lady Anne und Lady Eleanor. Da sie ihre Intelligenz erkennt, lehrt Lady Anne das Mädchen lesen und schreiben, und Isabella bringt diese Fertigkeiten dann der restlichen Dienerschaft bei. Lady Annes Zuneigung für sie macht Eleanor eifersüchtig. Am Ende von »Die letzte Stunde« nimmt Eleanor Isabella gefangen und quält die Magd, bevor Lady Anne sie schließlich retten kann.
Robert Startout (11), Sohn von Alleyn und Susan Startout, Vetter von Isabella und Neffe von Gyles. Weil sie ihm gefällt, setzt er sich für Eleanor ein, als die Leute sie wegen der Quälerei von Isabella zur Verantwortung ziehen. Seine Fürsprache wird von Isabella gutgeheißen, da sie versteht, warum ihre junge Herrin so verstört ist.
DIE FÜNF JUNGEN MÄNNER, DIE MIT THADDEUS DAS ANWESEN VERLASSEN
Naiv und gelangweilt, lassen sie sich alle von Eleanor zu einem heimlichen Stelldichein in der Kirche verführen. Ohne deren Motive zu hinterfragen, lassen sie sich auf ihre sexuellen Spielchen ein und finden sich kurz darauf in die Suche nach dem Schuldigen an Jacobs Tod hineingezogen. Zunächst nur widerwillig bereit, Thaddeus zu begleiten, machen sie es sich schließlich zur Aufgabe, Vorräte für Develish aufzutreiben.
Ian und Olyver Startout (15), Zwillingssöhne von Gyles und Martha Startout und ältere Brüder von Isabella. Ian ist der geborene Anführer, Olyver der Mitläufer.
Edmund Trueblood (15), Sohn von John und Clara True-blood. Am Ende von »Die letzte Stunde« verrät er Thaddeus das Geheimnis um Eleanors Geburt, das er von seiner Mutter erfahren hat, die damals als Eleanors Amme fungierte.
Peter Catchpole (16), Sohn von Adam und Rosa Catchpole. Von Natur aus träge, kann er Thaddeus’ Autorität besser akzeptieren als die seines Vaters, obwohl er sich nie ganz als so zuverlässig erweist wie seine Freunde.
Joshua Buckler (15), Sohn von James und Jenny Buckler, hat von den Jugendlichen am wenigsten Selbstvertrauen. Er gewinnt an Sicherheit, als Thaddeus ihm sieben Jagdhunde anvertraut, die ihnen zuvor beim Streunen über menschenleeres Land begegneten.
HERBST UND WINTER 1348
(AUSZUG AUS DEM TAGEBUCH VON LADY ANNE OF DEVELISH)
Die Nacht des elften Tages im September 1348
Wenn das Stundenglas umschlägt, wird Mitternacht vorüber und ein neuer Tag angebrochen sein. Und noch immer kann ich mich nicht überwinden, es anzugehen. Wenn es erst getan ist, gibt es kein Zurück mehr, und ich werde die Schuld tragen müssen. Ich hätte Eleanor eine bessere Mutter sein sollen, wusste ich doch mehr als jeder andere um die Bösartigkeit ihres Vaters. Aber hätte sie denn auf mich gehört, wenn ich sie gewarnt hätte, dass seine Liebe zu ihr widernatürlich sei? Wird sie jetzt auf mich hören?
Ich muss meine Unentschlossenheit abschütteln. Trotz der grausamen Verletzungen, die Eleanor ihr zufügte, suchte Isabella Startout ihr zu helfen, und die milde Großmut der Magd sollte mir ein Vorbild sein. Tief im Innersten weiß ich, dass ich handeln muss. Nichts zu tun käme einem Verrat an dem Mädchen gleich, das ich all diese Jahre Tochter geheißen habe.
Gott vergebe mir. Gewiss kann ich Eleanors Hass besser ertragen als sie den schändlichen Inzestvorwurf, wenn dieses in Sünde gezeugte Kind geboren wird.
Mea culpa.