Cover

Buch

Gerade hat Maklerin Emma ihre Scheidung hinter sich gebracht, da hat das Leben schon eine neue Herausforderung parat: Sie soll eine Pension in der Lüneburger Heide aufkaufen. Eigentlich ein Klacks für die 36-Jährige, wäre da nicht ein Haken: Das Gebäude steht in Emmas Heimatort – und gehört ihrer Jugendliebe Mark. Widerwillig reist Emma zurück nach Hause und wird mit alten Gefühlen konfrontiert. Und dann lernt sie auch noch Pferdewirt Leo kennen, zu dem sie eine besondere Verbindung spürt. Inmitten der idyllischen Heidelandschaft muss sich Emma nun die Frage stellen, was – und vor allem wer – ihr im Leben wirklich wichtig ist.

Autorin

Silvia Konnerth, geboren 1980 in Frechen bei Köln, war als Disponentin und später im Import tätig. Sie lebt mit ihrer Familie am nördlichen Rand der Lüneburger Heide und schreibt romantische Komödien, von denen sie bereits mehrere sehr erfolgreich als Selfpublisherin veröffentlicht hat. »Heideblütenküsse« ist ihr erster Heideroman.

Weitere Informationen unter:
https://www.silviakonnerth.de/;
www.facebook.com/silviakonnerthautorin/

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Silvia Konnerth

Heideblütenküsse

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.





1. Auflage

Copyright © 2019 by Silvia Konnerth

Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Michael Gaeb.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Julia Sudnitskaya/Shutterstock.com und Antranias/pixabay.com

DN · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-22679-4
V002

www.blanvalet.de

Für Ani, Jenny, Katja, Marion, Sarah,
Sigrid und Silke.
Danke.

Anteilnehmende Freundschaft macht das Glück strahlender und erleichtert das Unglück.

Marcus Tullius Cicero

Prolog

August 1989

Es war der Sommer, in dem die Heide am Himmel blühte.

Zumindest für Emmi, die kopfüber am dicksten Ast der Buche am Wiesenrand baumelte, während die Heidschnucken genüsslich Blüten und Wildkräuter naschten – sie schnökerten, wie der Schäfer es nannte.

Emmi hatte bereits bis zu Schnucke Nummer achtunddreißig gezählt, als von unten jemand fragte: »Was machst du da?«

Den Blick auf Nummer neununddreißig geheftet, erwiderte sie: »Rumhängen. Siehste doch.«

Ihre beste Freundin Insa zupfte am Spitzensaum ihres Sommerkleides, während sie zu Emmi hinaufblickte, die nun gemächlich vor und zurück pendelte.

»Lass das, Emmi.«

»Ich kann die Schnucken am Himmel sehen! Los, komm rauf!«

Insa schüttelte den Kopf.

»Bist wohl zu feige.«

»Und du bist doof. Außerdem haben Schnucken schwarze Köpfe, keine Ahnung, was du da siehst.«

Beleidigt wandte sich Insa zum Gehen, doch Emmi streckte die Hand nach ihr aus. »Wenn du ein bisschen mithilfst, kriegen wir dich schon hoch.«

»Für Kleinkinder ist Bäumeklettern vielleicht cool, für mich nicht mehr«, gab Insa patzig zurück.

»Hier oben gibt’s übrigens Gummibärchen«, sagte Emmi beiläufig und schaukelte etwas schwungvoller. Als Insa innehielt, fügte sie hinzu: »Und die roten würde ich alle dir überlassen.«

Während sich Emmi zurück auf den Ast schwang und flink wie ein Eichhörnchen den Stamm hinabkletterte, scharrte Insa unschlüssig im sandigen Boden, bis ihre weißen Lacksandalen gelbgrau waren.

»Du kannst zuerst auf die Bank steigen und dich dann an den Zweigen festhalten. Ich schiebe dich von unten an und passe auf, dass du nicht fällst.«

»Man klettert nicht mit Kleidern auf Bäume. Und mit Sandalen schon gar nicht.«

Emmi neigte leicht den Kopf. »Man klaut auch keine Birnen, trotzdem machen wir’s. Weißt du noch, wie wir letzten Sommer einen ganzen Eimer voll gepflückt haben?«

»Die alle steinhart waren«, erinnerte Insa sich, und die Mädchen begannen zu kichern.

»Mark hatte drei Tage lang Bauchweh.«

»Und geheult hat er.« Insa linste unsicher zu dem Ast empor und flüsterte: »Ich trau mich nicht.«

Doch Emmi schien sie gar nicht zu hören. Scheinbar gedankenverloren starrte sie zu den Bienenkästen und den Wacholderreihen dahinter, deren dunkles Grün sich vom lilafarbenen Heidebett abhob, das sich in immer größer werdenden Wellen Richtung Horizont erstreckte.

»Ich hol meinen Rucksack. Hab keinen Bock mehr auf klettern«, murmelte sie schließlich und trat einen Schritt zurück zum Baum, aber bevor sie hinaufklettern konnte, packte Insa ihren Arm. »Du hast doch was.«

Für eine Weile sahen sich die Mädchen schweigend an, dann setzte sich Emmi im Schneidersitz auf die morsche Holzbank, deren Rückenlehne halb weggebrochen war. Insa nahm neben ihr Platz, den Oberkörper artig aufgerichtet, die Knie zusammengepresst.

»Mein Opa findet, Jungs dürfen nicht heulen«, stieß Emmi zusammenhanglos hervor.

Insa blinzelte verwirrt, wusste offensichtlich nicht, worauf Emmi hinauswollte, und antwortete aufs Geratewohl: »Wenn die Birnen halt unreif waren …«

»Mark hat nicht mal geheult, als Berta ihm den Arm gebrochen hat. Du kennst die Schnucke ja, die ist echt gefährlich.« Nachdenklich zwirbelte sie den Zopf um den Zeigefinger. »Was würdest du tun, wenn dein Freund, der eigentlich nie weint, heulend aus dem Haus rennt und brüllt: ›Ich will aber hierbleiben!‹?«

Ratlos blickte Insa von ihrer Freundin zu den Schafen und von dort wieder zurück zu Emmi, bevor sie ebenfalls die Bienenkästen anstarrte.

Es war also so weit: Marks Eltern würden die Pension verkaufen und Moorbach verlassen. Nach Hamburg wollten sie ziehen, weil das Leben auf dem Land zu beschwerlich sei, hatte Marks Mutter einmal zu Emmis Mama gesagt. Doch wer, bitte schön, sollte künftig die Bauleitung beim Baumhausbau in Insas Garten übernehmen, wenn Mark fort war? Was würde aus den Bienen werden? Aus der Pension? Und vor allem aus Mark?

»Er ist doch unser bester Freund«, rief Emmi aufgebracht in das Schnuckengeblöke hinein. Dann sprang sie ohne Vorwarnung auf, kraxelte die Buche hoch, um ihren Rucksack zu schnappen, der zwischen zwei Ästen klemmte, und landete kurz darauf wieder neben Insa im Sand. Anschließend fischte sie Papier und einen Stift aus dem Eastpak und kritzelte in Druckbuchstaben eine Nachricht. »Wir berufen eine Notfallsitzung ein. Du, Mark und ich«, erklärte sie. »Wir drei. Auf der Baumhausbaustelle.«

»Schreibst du etwa Einladungen?« Neugierig beugte sich Insa zu Emmi hinüber und spähte ihr über die Schulter, um zu lesen, was ihre Freundin geschrieben hatte.

Mark, keine Sorge, wir helfen dir. Du bleibst für immer in Moorbach. Ich verspreche dir, dass du nie von deinem Zuhause getrennt wirst. Deine Emmi

Ohne es zu ahnen, besiegelte Emmi mit diesem Zettelchen ihr Schicksal, was sie allerdings erst viel, viel später herausfinden sollte. Nach Jahren, in denen sie selbst fern der Heimat leben würde – Jahre, die tiefe Wunden hinterlassen würden und in denen niemand sie mehr Emmi nannte. Doch an diesem Sommertag, an dem die Heide nach Honig duftete, war Freundschaft das Einzige, was zählte.

Kapitel 1

August 2017

Als Emma Matthies aus dem Kerpener Amtsgerichtsgebäude trat – einem rechteckigen Klotz aus roten Ziegeln, der so nüchtern und zweckmäßig wirkte, wie man sich ein Gerichtsgebäude eben vorstellte – , wehte ihr ein schwüler Lufthauch durch die brünetten Locken, der sich so gar nicht nach dem anfühlte, was sie erwartet hatte: Freiheit, Erleichterung. Als wollte sich das Wetter über sie lustig machen, blies der Wind dunkle Gewitterwolken über die Stadt, die ersten seit Beginn der Hitzewelle vor über zwei Wochen. Unschlüssig, was sie mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte, an dem sich alles und nichts für sie geändert hatte, strich Emma über das Sommerkleid mit dem tiefen V-Ausschnitt. Beim Kauf hatte sich das sündhaft teure Teil genau richtig angefühlt, um Jan zu zeigen, was er in Zukunft verpasste. Während sie sich in der Umkleidekabine vor dem Spiegel hin- und hergedreht hatte, war der Wunsch in ihr aufgekeimt, er möge die Trennung bereuen. Sollte er doch sehen, was er nie wieder anfassen durfte – ihren Po zum Beispiel, der in diesem Kleid besonders gut zur Geltung kam. Aber für Reue hatte Jan neuerdings selten etwas übrig, sonst wäre er wohl kaum völlig unverfroren mit seiner Neuen zur Scheidung aufgekreuzt, dem letzten offiziellen Termin, den er und Emma miteinander teilten. Ein klitzekleines bisschen Wehmut war eigentlich nicht zu viel verlangt, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, dachte Emma.

Anscheinend doch. »Geschafft«, hörte sie Jan nämlich in diesem Augenblick hinter sich erleichtert sagen.

Um sich nichts anmerken zu lassen, zauberte sie das professionelle Lächeln auf ihr Gesicht, das in ihrem Beruf als Immobilienmaklerin über Erfolg oder Misserfolg entscheiden konnte. Immerhin hatte sie all das überstanden, was Jans Neue noch vor sich hatte. Sie war den Mann los, der irgendwo auf ihrem gemeinsamen Weg seinen Familiensinn verloren und die Lust auf andere Frauen entdeckt hatte. Ihre Nachfolgerin stöckelte geradewegs ins Unglück hinein. Als Jan und Wie-war-noch-mal-ihr-Name sich zu ihr gesellten, wagte Emma zum ersten Mal, das neue Traumpaar genauer zu betrachten.

Die elf Jahre jüngere Frau lächelte verlegen, ihre Augen strahlten jene Zuversicht aus, die Emma mit fünfundzwanzig auch noch gespürt hatte. Damals, als sie, die frischgebackene Maklerin, Jan eine Wohnung im Kölner Severinsviertel vermittelt und er sie aus Dank zum Essen eingeladen hatte. In den darauffolgenden Wochen hatte er ihr Blumen geschickt, sie in teure Restaurants ausgeführt und seiner Familie vorgestellt, womit er Emma bewiesen hatte, dass er es ernst mit ihr meinte. Lediglich drei Monate hatte Jan gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass er der Eine war, ohne den sie nicht mehr leben mochte.

Sie räusperte sich. Der Drang, das arme Mädchen zu warnen, verflüchtigte sich und ließ ein eigentümliches Gewirr aus Mitleid, Gewissensbissen und Schadenfreude zurück.

»Bleibt nur noch eines. Meinen Wohnungsschlüssel, bitte.« Fordernd hielt sie Jan die geöffnete Hand hin.

»Wohnungsschlüssel?« Er kratzte sich verwirrt am Kinn.

»Du hast schon richtig verstanden. Ich möchte meinen Schlüssel zurückhaben«, erwiderte Emma, und mit einem Mal stieg Wut in ihr auf – ein Gefühl, das sie bisher erfolgreich verdrängt hatte. Sie atmete tief durch. »Gib mir den Schlüssel, und du bist mich für immer los.«

Jan schnippte mit Daumen und Mittelfinger. An seine Freundin gewandt, sagte er: »Ich wusste doch, irgendetwas hatte ich vergessen.« Er zuckte die Achseln. »Sorry, Ems.«

Sorry, Ems, äffte Emma ihn in Gedanken nach. Sie konnte den Spitznamen, den er ihr verpasst hatte, nicht mehr hören. Wer wollte schon genannt werden wie ein Fluss? Sie musterte Jan unverhohlen. Zugegeben, er sah ganz passabel aus mit seinen einundvierzig, fast genauso wie damals vor elf Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Sein blondes Haar war voll und ohne jeden Grauschimmer, er wirkte jung und dynamisch. Ein Herzensbrecher. Denn genau das hatte er getan, als er sich zum ersten Mal in einem fremden Bett Schrägstrich auf einer fremden Autorückbank herumgetrieben hatte: Er hatte Emmas Herz gebrochen. Und es war seitdem nicht wieder verheilt, sosehr sie es sich auch gewünscht hätte.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, reckte stolz das Kinn und sagte: »Fahren wir also rasch bei dir vorbei, dann haben wir es hinter uns.«

»Lisa und ich wollten zur Feier des Tages jetzt eigentlich essen gehen«, entgegnete Jan mit einem leichten Anflug von Unsicherheit in der Stimme, die Emma sofort ausnutzte.

»Erst den Schlüssel, dann kannst du machen, was du willst. Du wolltest doch frei sein.«

»Frei«, wiederholte er und schien, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, die Bedeutung dieser kleinen Silbe erst jetzt zu begreifen. Er setzte das provokante Grinsen auf, das sie früher so sexy an ihm gefunden hatte – bis zu seinem ersten Seitensprung. Kurz überschlug sie im Geiste, wie hoch die Strafe wohl ausfallen würde, wenn sie ihren Exgatten im Brunnen am Fuße der Treppe ertränkte. Oder ihn an Ort und Stelle vor den nächsten Bus schubste. Vielleicht half es auch, auf ein Wunder in Form eines Blitzschlags zu hoffen – zack bum!, Problem gelöst.

Emma seufzte und schüttelte den Kopf. Dann fiel ihr etwas Besseres ein.

»Weißt du was? Behalte ihn.«

Überrascht klappte Jans Unterkiefer nach unten, und Wie-auch-immer riss die Augen auf. »Echt jetzt?«

Emma winkte ab. »Ein Schlüssel mehr oder weniger, was macht das schon?«

»Wow, so locker kenne ich dich gar nicht.«

»Du weißt einiges nicht von mir«, gab Emma zurück, setzte ein strahlendes Gewinnergesicht auf, eigentlich Jans Spezialität, und zwinkerte ihm obendrein noch zu.

Die arme Lisa – Mist, jetzt hatte sich Emma den Namen doch gemerkt – wurde weiß wie ihre Rüschenbluse und hakte sich bei Jan unter.

»Meinst du nicht, Emma sollte ihren Schlüssel zurückbekommen? Alles andere wäre doch irgendwie … komisch.« Sie kicherte nervös. Anscheinend hatte die Ahnungslose noch nicht bemerkt, dass die gesamte Situation »irgendwie komisch« war. Emma würde ihrem Partner – gesetzt den Fall, es gäbe irgendwann wieder einen – die Hölle heißmachen, sollte er jemals auf die wahnwitzige Idee kommen, den Wohnungsschlüssel seiner Ex behalten zu wollen. Unvorstellbar!

»Ach, weißt du«, sagte Emma jovial, »Jan sieht das nicht so eng. Meine Wohnung, unsere Wohnung …«

»Du hoffst wohl, dass ich dich überraschend besuche.« Jan lachte, während Lisa sichtlich verstört blinzelte.

»Ich bewundere dich für deine Fantasie«, flötete Emma und hob ihm dabei demonstrativ das Dekolleté entgegen. Eine billige Masche, aber immerhin etwas, mit dem sie Lisa gegenüber punkten konnte. Ziemlich traurig, schoss es ihr durch den Kopf, dass man sich mit sechsunddreißig, also in der viel zitierten Blüte des Lebens, mit derartigen Problemen herumplagen musste. Eigentlich sollte sie in diesem Augenblick das Mittagessen für einen Haufen Kinder zubereiten, die hungrig aus der Schule heimkamen, so wie Jan und sie es sich vor einer Ewigkeit ausgemalt hatten. Zu spät. Geschäftsmäßig hielt sie ihm die Hand hin. »Alles Gute für dich.« Sie nickte Lisa zu. »Für euch.« Kurz erwog sie, Jan um den Hals zu fallen, um Lisa den Rest zu geben, aber die konnte nun wirklich nichts dafür, dass er ein derart schäbiges Exemplar von einem Ehemann abgegeben hatte. Nun war er ihr Ex – der Titel stand ihm, fand Emma.

Souverän schritt sie die Stufen hinunter und bog nach rechts in Richtung Parkplatz ab, als sie jemand plötzlich rücklings am Arm packte. Bereit, den Angreifer mit Händen und Füßen in die Flucht zu schlagen, fuhr Emma ruckartig herum.

»Jan!«, stieß sie atemlos hervor. »Musst du dich um Himmels willen so anschleichen?«

Er hob unschlüssig die Schultern. »Ich wollte nur sichergehen, dass du okay bist.«

»Bisher hatte ich nicht das Gefühl, dass dir mein Wohl sonderlich am Herzen gelegen hätte.«

»Zugegeben, es ist eher … unglücklich mit uns gelaufen.«

»Unglücklich.«

»Na ja, jedenfalls sollst du wissen, dass ich dir niemals wehtun wollte.« Er schluckte. »Dieser Drang nach Ablenkung … Natürlich war es nicht okay, was ich gemacht habe, aber wenn man lange Zeit immer mit derselben Frau zusammen war … Und dann der Druck, endlich ein Kind zu bekommen, und die Enttäuschung – Monat für Monat. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns zu weit voneinander entfernt hatten, und dann die Sache mit dem … Na, du weißt schon. Du hast doch bestimmt auch …«

»Was denkst du eigentlich von mir?«

»Dann hast du also nie mit einem anderen …?«

Sie starrte ihn bitterböse an. Allein die Annahme, sie hätte ihn betrogen, kränkte Emma.

»Oh Mann.« Jan rieb sich den Nacken. »Trotzdem hoffe ich, dass wir noch Freunde bleiben können. Nachdem wir die Scheidung schon so unspektakulär über die Bühne gebracht haben.«

»Ich denke nicht, dass wir uns je wiedersehen sollten.«

Jan senkte kurz den Blick, dann sah er Emma geradewegs in die Augen. »Es tut mir ehrlich leid. Alles. Ich weiß nicht, an welchem Punkt es mit uns schiefgelaufen ist. Und warum. Wir beide, das war immerhin … Und ich wollte dich nie verletzen, das musst du mir glauben«, stammelte er hilflos.

Meine Unfähigkeit, dich zum Vater zu machen, ist der Grund. Aber anstatt mit mir zu kämpfen, hast du dich zurückgezogen und fremde Frauen gevögelt, hätte Emma am liebsten geschrien. Doch all diese Worte würden nichts mehr ändern. Die Ehe war vorbei, der Mann, der versprochen hatte, sie in guten wie in schlechten Zeiten zu lieben, hatte sein Versprechen gebrochen. Und dennoch glaubte sie ihm absurderweise. Selbst wenn Jan kein Musterehemann gewesen war, zumindest nicht während der letzten fünf Jahre, war er kein schlechter Mensch. Seine Ratlosigkeit – vielleicht war es auch Frustration gewesen – hatte sich in Abenteuerlust verwandelt und sich nach und nach verselbstständigt.

»Mir tut es auch leid«, räumte Emma zögernd ein, bevor sie erneut schwiegen.

»Weißt du noch, als mein Bruder sich vor dem Altar übergeben hat?«, fragte Jan schließlich und lächelte bekümmert.

Da war sie, die Wehmut, die Emma bisher vermisst hatte.

»Das Gesicht des Pfarrers – unbezahlbar«, sagte sie leise.

»Du hast Tränen gelacht.«

»Das war bloß Galgenhumor.«

»Und deine Mutter hat lautstark All You Need Is Love angestimmt.«

»Sie hatte schon immer ein Gespür für besondere Momente.«

Nach einer kurzen Pause, in der die Gedanken zwischen ihnen umherflatterten wie Schmetterlinge, brachen Worte aus ihm heraus, die ganz und gar nicht zu einem Scheidungstag passten: »Als Braut hast du wunderschön ausgesehen. Ich habe dich so sehr geliebt.«

Emma schluckte schwer. »Ich sehe immer noch umwerfend aus.«

Er lachte leise. »Das tust du.«

»Aber du stehst jetzt auf Jüngere. Auf viel Jüngere.«

»Das mit Lisa … Ich habe keine Ahnung, was es ist.«

Abwehrend hob Emma die Hand. »Ich will es lieber nicht wissen.«

Jan seufzte. »Pass gut auf dich auf. Du hast es verdient, glücklich zu sein.«

Oh nein, jetzt brachte er sie doch noch zum Weinen. Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Du solltest besser gehen. Lisa wundert sich bestimmt, wo du bleibst.«

Sanft legte er die Hand an ihre Wange, und Emma schmiegte sich ein letztes Mal an sie.

»Und falls ich doch mal eben vorbeischauen soll … Du weißt schon.« Er zwinkerte ihr zu, und Emma fürchtete beinahe, dass sein Angebot keine leere Floskel war. »Nur ein Scherz, Ems, keine Sorge.«

Sie trat einen Schritt zurück, straffte die Schultern und holte tief Luft, um ihre Rührung niederzukämpfen. »Mach’s gut, Jan.«

Das war es also. Jan und Emma, Emma und Jan existierten nicht mehr. Das einzige Überbleibsel ihrer gemeinsamen Zeit war der Wohnungsschlüssel, den er aus irgendeinem Grund behalten hatte. Mit einem Mal fühlte sich Emma ermattet und traurig. Sie beschloss, sich zu Hause mit einer Flasche Rotwein zu trösten – allerdings erst, nachdem sie den Schlüsseldienst gerufen hatte. Zwar hatte sie viele Niederlagen in ihrem Leben einstecken müssen, aber dies hier war definitiv einer der großen Stolpersteine. Ein Frontalaufprall, bei dem der Airbag nicht alle Verletzungen verhindern konnte. Die gute Nachricht war: Noch übler konnte ihr das Schicksal kaum mitspielen. Tiefer fallen war ausgeschlossen.

Doch dann entdeckte sie am nächsten Morgen im Büro das Exposé zu einem mit Rosen berankten Reetdachhaus auf ihrem Schreibtisch. Und ein Post-it, das auf ihrem Laptop haftete: Herzlichen Glückwunsch zur Scheidung und zum neuen Auftrag. Ein Heimspiel. Gute Reise, M.

Irrtum, es ging noch viel schlimmer.

Die Auftragsmappe in der Hand, stürmte Emma in Michael Bergstedts Büro. Wie immer trug ihr Chef die Brille in den Haaren statt auf der Nase, und sie konnte exakt den Moment abschätzen, in dem er seine Sehhilfe suchen würde.

»Emma, good morning, Miss Frischgeschieden. Du musst der glücklichste Mensch der Welt sein«, begrüßte er sie strahlend und reichte ihr, als hätte er sie erwartet, eine Tasse seines berühmt-berüchtigten Milchkaffees, dessen Zuckeranteil den Bedarf an Kalorien für geschätzt drei Tage abdeckte. Emma nahm ihn entgegen, obwohl sie eigentlich für eine Weile auf Süßes verzichten wollte.

»Warum denken alle, so eine Scheidung sei eine Party?«, beschwerte sie sich, ohne Michaels Aufforderung, sich zu setzen, nachzukommen. Stattdessen warf sie ihm das Exposé vor die Nase.

»›Pension in traumhafter Lage – Lüneburger Heide‹. Was ist das?«

Auf der Suche nach seiner Brille hob Michael vergeblich alle möglichen Dokumente an, die lose auf seinem Schreibtisch verstreut lagen, und öffnete schließlich nacheinander sämtliche Schubladen des Rollcontainers. Nachdem Emma ihn lange genug hatte zappeln lassen, räusperte sie sich vernehmlich und tippte sich an den Kopf. Michael verstand, nahm die Brille herunter und bestaunte sie wie ein kleiner Junge sein neues Matchboxauto.

»Gosh!«, rief er aus.

Emma konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. Aktuell bereitete sich Michael intensiv auf eine Englandreise vor, indem er seiner Belegschaft mit einem schlecht nachgeahmten britischen Akzent und diversen neu erlernten Vokabeln den letzten Nerv raubte. Doch heute war sie überhaupt nicht in der Stimmung für so etwas. Sie wiederholte: »Was ist das, Michael?«

Emmas Chef lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und musterte sie. »Warum so ungehalten? Diese Scheidungssache hat dich wohl mehr aus der Bahn geworfen, als ich befürchtet hatte.«

»Nicht die Scheidung ist das Problem, sondern das da.« Sie tippte nachdrücklich auf die Mappe. »Ich bin nicht die Richtige für diesen Job.« Allein der Gedanke daran, auch nur in die Nähe von Moorbach zu kommen, verursachte ein ungutes Kribbeln in Emmas Magen. Sie würde diesen Auftrag unter keinen Umständen übernehmen. Da konnte Michael einen Kopfstand machen.

Der hingegen sah das völlig anders. »Was soll das Theater? Wenn ich mich recht erinnere, kommst du aus der Lüneburger Heide. Und zwar genau …« Er tippte wild auf seine Tastatur ein und drehte dann den Bildschirm, damit auch Emma die Landkarte darauf sehen konnte. »… von dort. Sieh mal. Moor – bach«, las er langsam und deutlich. »Und – surprise! Das ist zufälligerweise genau das Dorf, in dem diese hübsche Pension auf dich wartet.«

Fieberhaft dachte Emma über Argumente nach, die sie vor diesem Auftrag bewahren könnten, zumal niemand von ihr irgendwelches Gezicke gewohnt war. Vielmehr galt sie als zuverlässige Mitarbeiterin, die immer zur Verfügung stand.

»Erstens kann ich mir nicht vorstellen, dass das Gästehaus zum Verkauf steht. Und zweitens … Michael, vertrau mir bitte und schick nicht mich nach Moorbach.« Allein den Ortsnamen auszusprechen bereitete Emma Bauchschmerzen, und sie kämpfte seit der Sekunde, als sie Marks Zuhause in Hochglanz vor sich hatte liegen sehen, mit wiederaufkeimenden Erinnerungen.

Michael nahm die Brille ab und legte sie neben die Tastatur, während sich Emma nun doch in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen ließ. Normalerweise fand sie ihn gemütlich, allerdings musste sie sonst nicht gegen einen unbequemen Arbeitsauftrag und die damit einhergehenden Gefühle ankämpfen, die sie lieber auf Dauer vergraben hätte. Sie bemerkte den verwunderten Blick ihres Chefs. Klar, eigentlich müsste sie sich freuen, ihre Eltern, Freunde und Bekannte wiederzusehen, oder etwa nicht? Emma wusste, dass jeder so dachte, doch sie konnte und wollte Michael nicht erklären, warum das genau bei ihr nicht der Fall war. Dass sie mit allem da oben in der Heide abgeschlossen hatte. Ein für alle Mal. »Ich werde jedenfalls nicht fahren. Tut mir leid«, stieß sie hervor.

Michael allerdings ließ sich immer noch nicht von seinem Vorhaben abbringen. »Wie wäre es, wenn du erst einmal einen ordentlichen Schluck Kaffee trinkst, my dear«, redete er in einem Tonfall auf sie ein, als wäre sie ein Kleinkind, das man an die Hand nehmen musste. »Ich verstehe wirklich, dass dir der Tag gestern arg zugesetzt haben muss. Vielleicht möchtest du dir heute freinehmen? Kein Problem, ich kümmere mich um deine Termine«, bot Michael gönnerhaft an.

In diesem Augenblich fühlte sich Emma wirklich wie ein kleines Mädchen, das Angst hatte, ohne seine Puppe in den Kindergarten zu gehen.

Entschlossen richtete sie sich auf. »Glaube mir, ich bin okay. Mit Jan hat all das nichts zu tun. Vielmehr mit … mit Prinzipien. Und deswegen werde ich auf keinen Fall nach all den Jahren wie aus heiterem Himmel in diesem Ort aufkreuzen und so tun, als wäre Mark Rüther immer noch mein bester Freund.«

Michael seufzte. »Darf ich dich daran erinnern, dass Professionalität in unserem Job das A und O ist? Über den Dingen stehen, die alten Geschichten auf sich beruhen lassen – genau das ist der Schlüssel zum Erfolg.«

»Vielleicht bin ich aber zu parteiisch«, wagte Emma einen letzten trotzigen Widerspruch.

»Du hast recht, einer deiner Kollegen wäre vermutlich geeigneter für diesen Auftrag.«

»Na also.«

»Trotzdem wirst genau du hinfahren. Und weißt du, warum? Weil sie dich und keinen anderen als Verhandlungspartner akzeptieren, so einfach ist das.«

Erschrocken sank Emma zurück in den Sessel. »Unmöglich.«

»Glaub mir ruhig. You are the one. Also pack deine Sachen, schmeiß dich in meinen BMW und düse in dieses Kaff.«

Emma verschlug es die Sprache. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Mark ausgerechnet sie …

»Vielleicht tun dir ein paar Tage in der Heimat ja ganz gut«, fuhr Michael fort, der Emmas Problem nicht einmal ansatzweise verstand. »Home, sweet home, sagt man doch.«

»Und Mark hat wirklich mich …? Moment mal, wie kommt jemand aus der Lüneburger Heide überhaupt auf die Idee, einen Kölner Immobilienmakler zu beauftragen?« Emmas Skepsis wuchs. An der Sache war etwas faul, und zwar gewaltig.

»Dein guter Ruf eilt dir wohl voraus. Amazing, nicht wahr?«

Emma hatte Zweifel, ob »amazing« tatsächlich der richtige Begriff für ihre Misere war, »desaströs« würde es ihrer Ansicht nach besser treffen.

Während Michael sie geduldig dabei beobachtete, wie sie einen Schluck Kaffee trank, verschränkte er die Arme vor der Brust, was wegen seines schlaksigen Körpers immer so aussah, als würde er sich selbst umarmen. Emma suchte unterdessen nach einem Haltepunkt an der Wand. Etwas, das dieses Gedankenkarussell in ihrem Kopf stoppen konnte. Doch weder die Zertifikate noch die farbenfrohen Blumenwiesen- und Rennautozeichnungen von Michaels Kindern vermochten Ordnung ins Chaos zu bringen. Vielmehr tauchten erneut Bilder aus den Tiefen ihres Gedächtnisses auf. Die Heidelandschaft mit den dunklen Wacholderbüschen und dem violetten Blütenmeer. Und mittendrin die drei Freunde: Emmi, Insa und Mark. Wie ein Marionettenspieler bewegte Emma die drei Figuren vor der vertrauten Heidekulisse. Sie ließ die Kinder über Sommerwiesen rennen, Heidschnuckenlämmer mit der Milchflasche füttern und im Baumhaus Chips und gestohlene Birnen essen. Aber plötzlich übernahm eine ungeahnte Kraft die Kontrolle, und Emma sah mit an, wie Mark sie küsste. Der erste Kuss, den sie je von einem Jungen bekommen hatte, und der schönste obendrein, denn Mark hatte nach den Brombeeren geschmeckt, die sie zuvor gesammelt hatten. Unvermittelt breitete sich eine lähmende Hitze in ihr aus, fast so wie damals im Schafstall, als sie nur knapp einer Katastrophe entkommen war.

»Es ist lange her«, murmelte Emma zusammenhanglos und kehrte in die Wirklichkeit zurück, in Michaels Büro und in seinen Sessel, wo sie gedankenverloren an ihrem viel zu süßen Kaffee nippte. Sie räusperte sich. »Das wird kein gutes Ende nehmen.«

»Klingt fast so, als hättest du deine Heimat nicht freiwillig verlassen«, hakte ihr Chef nach.

»Kann man so sagen«, entgegnete Emma und lächelte gequält. Michael konnte schließlich nicht ahnen, was damals Schreckliches vorgefallen war.

»Ich hatte nicht erwartet, dass dich dieser Auftrag so sehr mitnimmt, Emma. However …« Er wühlte in seiner Jacketttasche. »Hier sind die Autoschlüssel, du musst nicht mit deinem Privatauto fahren. Ich nehme für die paar Tage den Wagen meiner Frau. Zum Glück stehen keine Termine an, bei denen ein Micra peinlich sein könnte.« Er schob ihr den Schlüsselbund hin und fuhr fort: »Denke daran, Buch über deine Ausgaben und die gefahrenen Kilometer zu führen, ja? Du packst das, da bin ich mir sicher. Hinterher wirst du froh darüber sein, dass du dich überwunden hast.«

Emma kam sich vor wie im falschen Film. »Das soll wohl ein Scherz sein.«

»My dear, du bist eine starke Frau und eine meiner besten Angestellten.« Er grinste breit. »Nun gut, ich habe nur großartige Angestellte. Aber hierfür hast nun mal du die besten connections, weißt, wie die Leute ticken. Schließlich bist du dort aufgewachsen, kennst jeden Stein. Also, mach mich glücklich, Emma.«

In diesem Augenblick wusste sie, dass sie verloren hatte. Langsam, mit Gliedern schwer wie Blei, erhob sie sich, schnappte sich Schlüssel und Arbeitsmappe und wandte sich zum Gehen.

»Im Übrigen weiß ich nicht, ob du dir die Mappe genau angesehen hast«, rief ihr Michael noch hinterher. »Du sollst die Pension nicht verkaufen, sondern kaufen. Und zwar für eine Romantikhotelkette. Die wollen auf dem Grundstück ein Hotel bauen. Und ich bin sicher, du wirst dem Besitzer, diesem Mark, plausibel erklären können, warum sich ein Geschäft mit uns für ihn rentieren wird. Das Budget steht in den Unterlagen. Viel Erfolg und … off you go!«

In ihrem Büro angekommen, fiel Emma erschöpft auf den Schreibtischstuhl. Dann riss sie das Fenster auf, atmete den Verkehrsmief ein, der um diese Uhrzeit besonders penetrant war, weil sich unzählige Berufstätige mit ihren Autos statt mit der Bahn durch die Kölner Innenstadt kämpften. Erst als ihr Hirn betäubt genug war, schloss sie das Fenster wieder. Verglichen mit dem heutigen Tag, war der gestrige tatsächlich die reinste Party gewesen, und sie hatte ihn sich zudem schöntrinken können. Jetzt blieb ihr nur Michaels Kaffeeplörre, da sie noch eine anstrengende Fahrt vor sich hatte. Seufzend schlug Emma das Exposé auf und betrachtete das Foto der Pension. An der Eingangstür hing immer noch das selbst getöpferte Willkommensschild von Marks Oma, fiel Emma auf. Unfassbar, wie viel Zeit seit ihrer Abreise vergangen war, und das Schild gab es immer noch! Sechzehn Jahre waren das. Sie kritzelte die Zahl gedankenverloren auf einen Zettel. Sechzehn Jahre. Ob das reichte, um das Geschehene zu vergessen? Emma seufzte. Sie würde also tatsächlich in die Heimat fahren, um zu versuchen, Mark sein geliebtes Zuhause wegzunehmen. Wie würde sie die Leute dort überhaupt vorfinden? Verändert? Emma wusste es nicht. Früher zumindest hatten die Uhren in Moorbach anders getickt. Langsam, sehr langsam. Aber sechzehn Jahre waren eine lange Zeit, in der sich manches vielleicht trotzdem geändert hatte. Zumindest hoffte sie, dass inzwischen genug Heidekraut über die alte Geschichte gewachsen war.

Doch Emma hatte vergessen, dass die Heide mitunter ebenso langsam wuchs, wie die Menschen sich veränderten, und dass sie sich an manchen Stellen, einmal verdorrt, nie wieder erholte.

Kapitel 2

In ihren Träumen hatte sich Emma als glückliche, unabhängige Frau aus dem Gerichtsgebäude treten sehen – eine erfolgreiche Singlefrau, die wusste, was sie vom Leben erwartete beziehungsweise das Leben von ihr, und die noch einmal richtig durchstarten würde. Sie hatte sich vorgenommen, mit Freunden zu feiern, hemmungslos Kohlenhydrate zu essen, zu verreisen – und zwar nicht in die Lüneburger Heide, sondern auf Safari nach Kenia oder ins australische Outback. Doch anstelle des Sonnenhuts, des Fernglases und der Wanderschuhe landeten nun ihre Lieblingspumps, zwei Businesskostüme, das Scheidungskleid, diverse Alltagsklamotten und Spezialhundefutter in ihrem Koffer. Und statt im Jeep neben einem sportlich-heißen Safari-Guide durch die Savanne zu brausen, saß Emma im Schneidersitz auf ihrer Couch im Wohnzimmer, zu ihrer Linken lag, die Beine in die Luft gestreckt, Malteserhündin Lilli und auf dem Tisch vor ihr das Telefon.

»Ich fasse es nicht«, stöhnte Emma. »Morgen zeige ich dir wohl meine Heimat. Aber sei bloß nicht allzu enttäuscht, ja?« Lilli wedelte freudig mit dem Schwanz und umklammerte mit den Vorderpfötchen Emmas Hand. »Was denkst du? Soll ich vorher anrufen?« Jetzt bat sie schon ihren Hund um Rat. Nein, so hatte sie sich ihr wiedergewonnenes Dasein als Emma Matthies ganz und gar nicht vorgestellt. Sie fragte sich, ob die noch verheiratete Emma Falk sich ebenso hätte hängen lassen.

Mit klopfendem Herzen wählte sie die Nummer ihrer Eltern. Freizeichen. Beinahe dankbar, dass niemand ranging, wollte Emma wieder auflegen, doch dann meldete sich eine vertraute Stimme.

»Hallo?«

Emma schluckte, schloss die Augen und sagte: »Hallo, Mama.«

»Emmi, bist du das?«

»Gibt es eine Schwester, die ihr mir verheimlicht?«, versuchte sie zu scherzen.

»Liebe Güte, Emmi. Du bist es wirklich. Es ist ewig her.« Verwundert stellte Emma fest, dass ihre Mutter kein bisschen vorwurfsvoll klang.

»Du übertreibst.« Emma stockte. »Oder?«

»Wie geht es dir? Und Jan?«

Merkwürdig, dass sie es so formulierte und nicht »euch« sagte, fand Emma und hob Lilli auf den Schoß, wo diese sich sogleich vertrauensvoll zusammenrollte. »Jan und ich, wir sind gewissermaßen …«

»Peter, hör mal, Emma ist dran«, unterbrach die Mutter, und es knisterte in der Leitung, als sie die Lautsprecherfunktion aktivierte.

»Hallo, Emma«, drang es aus dem Hintergrund an ihr Ohr.

»Papa, wie geht es dir? Was macht der Garten?«

»Dein Vater kommt gerade vom Holzhacken. Das erledigt er jetzt nämlich selbst«, schaltete sich ihre Mutter erneut ein. »Das ist nicht nur günstiger, die körperliche Arbeit tut ihm auch außerordentlich gut. Du solltest ihn sehen, er hat richtige Muckis bekommen.« Mama kicherte, und Emma stellte sich vor, wie ihre blauen Augen dabei leuchteten und ihr Gesicht lachfaltig wurde.

»Was ich vorhin sagen wollte …«, begann sie.

»Übrigens angelt er neuerdings auch.« Mama hielt einen Moment inne und flüsterte dann: »Sonderlich gut ist er dabei nicht. Ich glaube, er wirft alle Fische hinterher wieder ins Wasser. Aber Hauptsache, er ist glücklich damit.«

Emma lächelte und erinnerte sich an die Gans, die ihr Vater beim Bingo gewonnen hatte, als Emma acht gewesen war. Ein Weihnachtsbraten, der viele Jahre lang den Garten bewacht hatte, weil Papa es nicht übers Herz gebracht hatte, das Tier zu schlachten.

»Spricht deine Mutter wieder über mich? Die Frau macht mich wahnsinnig. Stell dir vor, sie töpfert jetzt!«

»Wer weiß, vielleicht eröffne ich ja noch ein Geschäft«, rief Mama in den Hörer. »Dein Vater kann mir sicher die entsprechende Immobilie dafür besorgen – oder mir einen eurer Kollegen empfehlen.«

»Damit du mich in den Ruin treibst, weil niemand den Plunder kauft?«, grummelte er.

Mama schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Entweder der Laden, oder der ganze ›Plunder‹ steht in deinem Wohnzimmer. Ich könnte Verkaufspartys veranstalten …«

»Hörst du, was ich ertragen muss?«, stöhnte Papa.

»Wie laufen die Immobiliengeschäfte?«, erkundigte sich Emma, während sie aufstand, in die Küche ging und sich einen Kräutertee aufgoss. Innere Ruhe hieß er, wie passend.

»Peter, Finger weg von der Vase!«

»Das soll eine Vase sein? Herrgott, Betti, das sieht aus wie ein Huhn, dem man den Kopf abgeschlagen hat.«

»Ist das zu fassen, der Mann hat null Fantasie. Kein Wunder, dass bei ihm keine Fische anbeißen.«

»Und wie die Fische bei mir anbeißen«, erwiderte er gekränkt.

»Natürlich, mein Schatz. Und dafür liebe ich dich.«

Emma versuchte, sich daran zu erinnern, wann ihre Mutter zuletzt derart fürsorgliche Worte für sie übriggehabt hatte. Zwar hatten ihre Eltern sie mit Herz, Wärme und vielen Freiheiten erzogen, aber verstanden hatten sie ihre Tochter nie. Im Dorf galt sie als frech und wild – böse Zungen beschimpften sie sogar als Rotzgöre, was Emma nur noch mehr angestachelt hatte. Am Ende schien Mama und Papa nur die Kapitulation vor ihrer eigensinnigen Tochter zu bleiben, der untreuen Tomate, die sich seit über einem halben Jahr nicht gemeldet hatte. Überhaupt hatte sie ihre Eltern sträflich vernachlässigt, nachdem sie ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatte.

»Du siehst, hier ist alles beim Alten«, sagte Mama schließlich.

»Solange ihr das Haus stehen lasst …«

»Papa würde uns bestimmt etwas Hübsches finden, nicht wahr, Peter?«

»Jetzt, wo ich alles renoviert habe? Auf keinen Fall.«

»Dein Vater ist unter die Hobbyhandwerker gegangen, musst du wissen.«

»Wenn du das so sagst, klingt es ziemlich abfällig«, warf der Handwerker ein.

»Er hat dein Zimmer so schön hergerichtet.«

Lilli hatte sich zwischenzeitlich in ihr Körbchen verkrümelt, sodass Emma sich auf dem Sofa ausbreiten konnte. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick, ihren Besuch anzukündigen. »Habt ihr etwa die Nirvana-Poster und die Totenkopftapete heruntergerissen?« Verwundert stellte sie fest, wie geknickt sie klang. Hatte sie wirklich erwartet, ihr Kinderzimmer würde auf ewig unberührt bleiben, und das, nachdem sie sich damals so sang- und klanglos aus dem Staub gemacht hatte?

»Das Poster und die Tapete … nun ja …«, stotterte Mama. »Ehrlich gesagt, haben wir dort ein Fernsehzimmer und einen Fitnessraum eingerichtet.«

»Fernsehzimmer? Fitness?«, echote Emma schrill, sodass Lilli aus ihrem Nickerchen hochschreckte. »Und wo soll ich schlafen?«

Am anderen Ende der Leitung breitete sich betretenes Schweigen aus, das viel schwerer wog als jeder weitere Satz.

»Du warst so lange nicht hier«, setzte Emmas Mutter an.

»Außerdem haben wir ja noch die Schlafcouch im Wohnzimmer«, pflichtete ihr Vater bei.

»Die kommt doch auf den Sperrmüll«, raunte Mama gerade so laut, dass Emma es verstehen konnte. »Wir sind halt davon ausgegangen … Na ja, du hast uns seit sechzehn Jahren nicht besucht. Deswegen …«

Emma begriff. Die Reaktionen ihrer Eltern waren verständlich.

Wieso sollten sie auch ständig auf eine Tochter warten, die nie kam?

»Wenn du uns besuchen möchtest, finden wir schon ein Plätzchen für dich, Schatz«, warf Mama beschwichtigend ein, bevor sie hoffnungsvoll hinzufügte: »Kommst du etwa?«

Emma holte tief Luft. »Ab morgen habe ich beruflich in der Gegend zu tun.«

»Oh, wirklich? Ich kann es gar nicht glauben! Das trifft sich gut, wir haben nämlich etwas Wichtiges mit dir zu besprechen. Und persönlich ist das viel schöner, nicht wahr, Peter?«

»Wir freuen uns sehr, Emmi.«

Unerwartet füllten sich Emmas Augen mit Tränen. Sie unterdrückte ein Schluchzen und wischte sich mit einem Zipfel des Sofakissens übers Gesicht.

»Ich könnte den Buchweizen-Kirschkuchen backen, den du als Kind so gern gegessen hast«, hörte sie ihre Mutter sagen.

Sofort sah Emma Klein-Emmi vor sich, die, angelockt vom goldenen Duft geschlagener Eier, geschmolzener Butter und Zucker, noch im Schlafanzug in die Küche tappte und heimlich den Zeigefinger in die Teigschüssel steckte, obwohl sie von dem rohen Teig immer Bauchschmerzen bekam und hinterher Kamillentee trinken musste.

»Kuchen wäre super«, erwiderte Emma schwach.

»Kommt Jan auch mit?«

Emma wollte gerade die Sache mit der Scheidung anbringen, doch da hörte sie ihren Vater sagen: »Jan mag doch keinen Kirschkuchen.«

Dass er sich dieses Detail von ihren wenigen Besuchen in Köln gemerkt hatte, sah Papa ähnlich. Er war eben ein Schatz. Und in diesem Moment verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihn zu umarmen. Nach langer Zeit mal wieder. So richtig fest, nicht diese oberflächlichen Umarmungen zur Begrüßung und zum Abschied.

Über das Thema Jan verlor Emma an diesem Abend kein Wort mehr, schließlich würde sie in den kommenden Tagen ausreichend Gelegenheit dazu haben.

Nach einer schlaflosen Nacht stand Emma am nächsten Morgen um sechs in der Frühe auf und blickte aus dem Fenster. Draußen türmten sich dunkle Wolken am Himmel, ein schlechtes Zeichen, kam es ihr unwillkürlich in den Sinn. Dennoch wollte sie sich das winzige bisschen Zuversicht, das sie durch das Telefonat mit ihren Eltern gewonnen hatte, nicht nehmen lassen und die Reise antreten. Kaum hatte sie die ersten Kilometer hinter sich gebracht, war von ihrem anfänglichen Mut allerdings nicht mehr viel zu spüren, und die altbekannten Ängste gewannen die Oberhand. Dreimal hielt Emma zwischendurch an und war kurz davor, umzukehren. Erst beim vierten Anlauf schaffte sie es mithilfe von Bruce Springsteens Born To Be Wild tatsächlich, am Wuppertaler Kreuz vorbei- und der grauen Wolkenfront vor ihr entgegenzurasen. Lilli gab während der gesamten Reise keinen Mucks von sich, ebenso wenig wie Emma, die sonst jede Autobahnfahrt nutzte, um lauthals zu singen. Vor allem, seitdem Jan als Beifahrer wegfiel, der ihre Gesangseinlagen zwar ertragen, aber nie für hörbar befunden hatte. Auch am Rastplatz hüpfte Lilli nicht wie sonst umher, als spürte sie, dass Frauchen die Ruhe dringend brauchte. Dabei vermochte Emma nicht einzuschätzen, ob das Dröhnen in ihrem Kopf von den überquellenden Gedanken oder der quälenden Leere herrührte, die sich gegenseitig abwechselten – auf und ab, ab und auf, synchron zu der Fahrt durch das Weser Bergland. Erst als bei Hannover, nach dreistündigem Schweigen, das Autotelefon klingelte und ihren Chef ankündigte, bemerkte Emma, wie trocken ihr Hals in der Zwischenzeit geworden war.

»Hello, my dear. Könnte es sein, dass ich meinen Geheimvorrat an Zigaretten im Auto vergessen habe?«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass deine Frau die Raucherei nicht schon längst bemerkt hätte. Guten Morgen dir auch übrigens. Und bevor du fragst: Nein, ich habe nicht gut geschlafen. Dennoch bin ich seltsamerweise hellwach, was vermutlich an dem Arbeitsauftrag liegt, den du mir aufgebrummt hast, obwohl ich absolut nicht die Richtige dafür bin. Aber es geht eben nichts über connections, was?«

Michael räusperte sich. »Unglaublich, wie viele Worte ihr Frauen von euch geben könnt, ohne einmal zu atmen.«

»Du rufst doch nicht an, um mir das zu sagen, oder? Die Schachtel Zigaretten lag, nebenbei bemerkt, gestern noch auf deinem Schreibtisch«, brachte Emma ihn genervt auf das Thema zurück.

»Himmel, bist du heute schlecht gelaunt.«

Emma hupte den LKW an, der unerwartet von rechts ausscherte. »Das kommt dir nur so vor«, erwiderte sie.

»Ich wollte mich mal erkundigen, wie es dir geht.« Nach kurzem Schweigen fügte Michael hinzu: »Ich dachte wirklich, es würde dich ablenken.«

»Wovon bitte? Bevor du mich mit diesem Auftrag überfahren hast, ging es mir eigentlich ganz gut – bis auf das kleine Scheidungstief.«

»Dann wird es dich sicherlich freuen, dass unser Kunde angerufen hat.«

»Zieht er seinen Auftrag etwa zurück?« Eine naive Hoffnung flammte in Emma auf. Damit würden sich ihre Probleme auf einen Streich in Luft auflösen.

»Viel besser«, sagte Michael.

Oh Gott, Emma kannte diesen Tonfall und wusste aus Erfahrung, dass er selten etwas Gutes verhieß, jedenfalls nicht für denjenigen, der sich mit einem überaus heiklen Auftrag abmühen musste. Ihre Finger schlossen sich so fest um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Es scheint einen weiteren Interessenten zu geben.« Michael legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. »Das Budget wird erhöht. Dafür setzt die Romantikhotelkette eine Deadline. Und die endet am Montag.«

Emma stöhnte. »Womit habe ich das verdient? Ich habe wirklich gehofft, jetzt würde alles besser werden.«

»Wenn du erst da bist, wirst du mir bestimmt dankbar sein«, sagte er gönnerhaft. Dabei sah Emma überhaupt keinen Grund, dankbar zu sein. Ganz im Gegenteil: Sie war sauer. Richtig sauer. Für eine Millisekunde erwog sie, den Kopf auf das Lenkrad zu schlagen. Mehrmals, und zwar ganz kräftig. Dann sah sie im Augenwinkel das Parkplatzschild, gab Gas, raste an dem LKW zu ihrer Rechten vorbei und zog in einem riskanten Manöver zwischen zwei Fahrzeugen über die äußere Spur auf den Verzögerungsstreifen. Quer über zwei Parkbuchten kam sie schließlich mit quietschenden Reifen zum Stehen. Lilli, die im Fußraum des Beifahrersitzes lag, sah vorwurfsvoll zu Emma auf, die ein tonloses »Entschuldigung« formte und schließlich erschöpft in den Autositz zurücksank.

»Du gehst gut mit dem BMW um, oder?«, tönte die besorgte Stimme ihres Chefs, dem offenbar ihr wildes Fahrverhalten nicht entgangen war, aus dem Telefon.

»Natürlich«, murmelte Emma. Sie hielt einen Moment inne, bevor sie sich aufraffte, um weiterzusprechen. »Du kannst es ja nicht wissen, aber in Moorbach wurde mein Weggang seinerzeit quasi als Festtag gefeiert, bloß weil ich meine Meinung nie für mich behalten habe und etwas anders war als die übrigen Jugendlichen im Dorf. Deswegen wird mir ein Vorfall, an dem ich indirekt beteiligt war, nicht verziehen. Und jetzt muss ich mich schon wieder unbeliebt machen, indem ich meinem ehemaligen besten Freund, der außerdem noch meine erste große Liebe war, innerhalb von sechs Tagen sein Haus abschwatzen soll. Toll.«

»Ich sehe das so«, setzte Michael nach längerem Schweigen an. »Je schneller du deinem Mark das Haus abknöpfst, desto eher kannst du von dort verschwinden. Mit einer fetten Provision in der Tasche.«

Emma schüttelte den Kopf und beendete kurzerhand das Gespräch. Wie konnte Michael derart gefühllos, kalt und berechnend sein? Das sah ihm gar nicht ähnlich.

Wenn es nicht zurückgeht, muss man eben vorwärtslaufen, hatte ihr Vater oft gesagt. Also trat Emma, nachdem sie sich beruhigt, frisch geschminkt und in der Raststätte mit zwei Milchkaffees, einem Franzbrötchen sowie einer Tafel Vollnussschokolade versorgt hatte, den Rest ihrer Reise an. Zu den Klängen von Staying Alive verputzte sie ihr Frühstück und spürte mit einem Mal, dass es ihr besser ging. Die unwiderstehliche Wirkung von Kohlenhydraten und den Bee Gees hatte sie vollkommen unterschätzt, weswegen sie schon eine halbe Stunde später laut singend und Kopf und Schultern zum Rhythmus der Musik bewegend gen Norden brauste. Die Welt wirkte trotz des dichten Verkehrs auf wundersame Weise friedlicher und überschaubarer, Felder und Tannenwälder wechselten sich ab. Als sie die Aller überquerte, jagte ein Graureiherpärchen nach Fischen, Pferde grasten auf den Flusswiesen. Lilli sah hin und wieder unsicher zu ihrem Frauchen auf, besonders, als sie in den Sendebereich von Rock Antenne Hamburg kamen und Emma aus voller Kehle in Come As You Are einstimmte. Selbst der Himmel zeigte sich inzwischen freundlicher, sodass Emma beinahe glaubte, ihr seelisches Tief überwunden zu haben.

Das

Dann kam der Schock. Nichts war mehr so, wie sie es erwartet hatte. Wo die Bauern früher Zuckerrüben angebaut hatten, wuchs nun ein Gewerbegebiet, in dem auch der an der Autobahn angepriesene Megastore sein Zuhause gefunden hatte. Unwillkürlich fragte sich Emma, was wohl aus dem kleinen Reiterfachgeschäft im urigen Fachwerkhaus von Frau Krüger geworden war, in dem es nach Leder gerochen hatte und wo sich Zaumzeug, Reiterstiefel und Sättel bis an die Decke gestapelt hatten.

Maacks HökerladenFrischemarktSanders Bäckerei

Insas Elternhaus, in dem bereits die Urgroßeltern gelebt hatten und das die Hausnummer eins trug, versteckte sich hinter einer dichten Schicht Efeu, das sogar schon über das Wohnzimmerfenster rankte. Nur der penibel gepflegte Hortensien-Vorgarten ließ darauf schließen, dass hier noch fleißig gegärtnert wurde. Was wohl aus Insa geworden war? Gelegentlich hatte Emma daran gedacht, nach ihr zu suchen, hatte sich aber nie überwinden können – der Schmerz saß einfach zu tief.

»Komm, Lilli«, rief Emma, woraufhin die Hundedame freudig bellend durch die offene Fahrertür ins Freie sprang. Sie flitzte auf den Mann zu, der sofort die Schaufel in den Rindenmulchhügel vor der Garage fallen ließ und sich nach dem Hund bückte.

Emma lächelte und klimperte zögerlich mit den Autoschlüsseln, bis der Mann aufsah, sich das Kinn rieb und schließlich einen Schritt auf sie zumachte. Sie öffnete den Mund, um etwas Unverbindliches wie »Schönes Wetter hier« oder »Viel Verkehr heute« zu sagen, stattdessen warf sie sich in seine Arme und hauchte mit bebender Stimme: »Hallo, Papa, da bin ich endlich.«