Buch
Kristy Tucker arbeitet im Todestrakt eines nahe gelegenen Hochsicherheitsgefängnisses. Kein Traumjob, aber als alleinstehende Mutter muss Kristy nicht nur für ihren Sohn, sondern auch für ihren kranken Vater sorgen. Kristys Schicksal scheint sich zu wenden, als sie Lance Dobson kennenlernt, den Sportlehrer ihres Sohnes. Einen attraktiven, interessanten Mann. Schließlich bittet er sie, seine Frau zu werden, und Kristy sagt überglücklich ja. Doch ihr Glück ist trügerisch, denn Lance entpuppt sich als perfider Sadist, der von allen anderen unbemerkt seiner Frau das Leben zur Hölle macht. Aber als er ihren Sohn und ihren Vater bedroht, geht er zu weit. In ihrem Job hört Kristy jeden Tag von Mord und Totschlag – und sie würde alles tun, um ihre Familie zu schützen. Wirklich alles …
Autorin
Hollie Overton wuchs zusammen mit ihrer Zwillingsschwester bei ihrer Mutter auf. Erst spät erfuhr sie, dass ihr Vater Mitglied einer kriminellen Gang war und sogar mehrere Jahre wegen Totschlags im Gefängnis saß. Die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend haben sie stark geprägt und fließen stets auch in ihr Schreiben ein. Hollie Overton lebt in Los Angeles.
Hollie Overton
The Wife
Schütze, wen du liebst
Roman
Deutsch von
Karin Diemerling
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»The Walls« bei Redhook Books/Orbit, Hachette Book Group, New York.
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1. Auflage
Taschenbuchausgabe Mai 2019
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Hollie Overton
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
All rights reserved.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Ring: Arcangel/Eva Creel; Papier: FinePic®, München
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
An · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-22798-2
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Mom, immer und ewig »auf meiner Liste«.
Liebe und Tod sind die zwei Achsen,
um die sich alle menschliche Anteilnahme dreht.
BENJAMIN ROBERT HAYDON
Liebe Ms Tucker,
ich hoffe, Sie und Ihre Familie sind wohlauf. Ich wende mich noch einmal wegen meiner Anfrage bezüglich des Termins für mein Interview mit 48 Hours an Sie. Debbie, die verantwortliche Redakteurin, mit der ich in Kontakt bin, sagte, dass sie noch nichts von Ihrer Stelle gehört hätte. Ich weiß, ich habe es Ihnen gegenüber schon oft beteuert, aber ich will es weiterhin allen sagen, die mir zuhören: Ich bin unschuldig. Ich habe meine Kinder nicht umgebracht. Und ich kann und werde nicht aufhören, für den Beweis meiner Unschuld zu kämpfen. Aber die Uhr tickt. Der Staat Texas ist entschlossen, mich hinzurichten. Meine Anwälte sind davon überzeugt, dass die Leute die Wahrheit erkennen würden, wenn sie von den tatsächlichen Umständen meines Falls erführen. Alles, was ich will, ist ein neues Gerichtsverfahren, und ich setze darauf, dass die Interviews für genug öffentliche Aufmerksamkeit und Druck sorgen, um das Berufungsgericht zur Einsicht zu bewegen. Ich freue mich darauf, Sie diese Woche zu sehen und mit Ihnen persönlich über meine anstehenden Interviews zu sprechen.
Herzliche Grüße
Clifton Harris
Erstes Kapitel
»Mom, beweg deinen Hintern, sonst kommen wir zu spät.«
Kristy Tucker hörte ihrem Sohn die Genervtheit an, sie troff aus jeder Silbe. Mit einem Blick auf die Uhr fluchte sie leise.
»Komme schon, Ry«, rief sie und band ihre brünetten Haare rasch zu einem lockeren Knoten hoch. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und hastete aus dem Schlafzimmer, wobei sie beinahe über die Kante des ausgefransten grauen Teppichs stolperte. Sie fing sich gerade noch und lief hinunter in die Küche. Was sie auch tat – den Wecker eine halbe Stunde früher stellen, ihre Haare schon am Abend vorher waschen –, sie kriegte morgens einfach nie die Kurve. Besonders nicht an den Hinrichtungstagen.
Ryan dagegen war vermutlich schon seit Stunden auf. Mit seinen vierzehn Jahren war er erstaunlich adrett, ordentlich und ehrgeizig, also das genaue Gegenteil von ihr. Er saß am Küchentisch und aß gerade seine Schüssel Haferbrei auf, die hellbraunen Haare säuberlich gekämmt und mit seiner üblichen Uniform bekleidet: gebügelte Jeans, ein schwarzes Oberhemd mit einer rot-schwarz gestreiften Krawatte und ausgelatschte, schwarze Rindslederstiefel. »Texas-Hipster«, nannte sie dieses Standard-Outfit. Sie fand es toll, dass er so viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, aber es machte ihn in seiner Klasse nicht sonderlich beliebt, weder bei den Bauerntrampeln noch bei den Sportskanonen. Das Getuschel und die spöttischen Bemerkungen der anderen Kinder und deren Eltern waren ihr nicht entgangen. »Der Junge benimmt sich, als wäre er was Besseres«, hatte sie bei mehr als einer Gelegenheit gehört. Kristy gab sich zum Teil selbst die Schuld. Bei Ryans Geburt war sie erst siebzehn gewesen, »ein Baby, das ein Baby großzieht«, wie Pops zu sagen pflegte. Doch sie bestärkte ihren Sohn in seinen Eigenarten und wollte, dass er all das erreichte, was ihr versagt geblieben war.
»Hey, Pops, du schuldest mir fünf Mäuse«, sagte Ryan grinsend.
»Schreib’s an«, entgegnete Pops.
»Ich trau mich kaum zu fragen: Worum habt ihr gewettet?«, sagte Kristy, während sie ihren Thermobecher mit Kaffee füllte.
»Wie lange du heute Morgen brauchen würdest«, antwortete Ryan.
»Ich war doch tatsächlich auf deiner Seite.« Kristys Vater, Frank Tucker, schüttelte betrübt den Kopf. Dann stieß er ein röchelndes Lachen aus und zog an der Kanüle, die sich aus seiner Nase und an seinem Oberkörper hinunter zu einer großen Sauerstoffflasche schlängelte. Damit wurde der O2-Gehalt seines Bluts konstant gehalten. Er war achtundsechzig, sah aber viel älter aus mit seinen zerzausten, selten gekämmten grauen Haaren. Lebenslanges Ketterauchen hatte seinen Tribut gefordert und seine Lunge stark angegriffen, weshalb er jetzt mehr oder weniger ein Gefangener in den eigenen vier Wänden war. Seinem Humor hatte das jedoch keinen Abbruch getan.
»Wenn du deinen Wecker ein paar Minuten früher gestellt hättest …«, begann er. Kristy schnitt ihm das Wort ab, bevor Pops und Ryan ihre morgendliche Trödelei wieder zum Fluch ihrer Existenz hochstilisierten. Sie konnte ihre Neckerei jetzt einfach nicht ertragen.
»Nicht heute, ihr zwei. Ich bin nicht in der Stimmung. Los, Ry, gehen wir.«
Sie nahm ihre Schlüssel und wandte sich noch mal an Pops: »Denk dran: keine Drogen, keine Nutten.«
»Ich kann nichts versprechen«, antwortete er glucksend.
Kristy lächelte. »Ich komme heute spät. Gib mir Bescheid, wenn ich dir auf dem Heimweg was aus dem Laden mitbringen soll.«
»Ich hab alles, Kristy-Girl«, sagte er. »Kümmer du dich mal um dich selbst.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging zur Tür, Ryan im Schlepptau. Draußen schlug ihr die schwüle Hitze entgegen – noch nicht mal März und schon über dreißig Grad.
Sie fuhr den Highway 105 ostwärts, auf die Conroe Highschool zu. Ein Arm des langen und verzweigten Lake Conroe funkelte in der Morgensonne, als sie daran vorbeisausten. Streifen aus weißen Holzzäunen und grünem Rasen geleiteten sie zur Stadt. Ryan auf dem Beifahrersitz hatte seine Ohrstöpsel drin und beugte sich über sein aufgepepptes altes iPhone, hörte zugleich Musik und schrieb Textnachrichten. Kristys lange Arbeitstage im Gefängnis bedeuteten, dass die morgendliche Fahrt zur Schule oft die einzige Gelegenheit war, mit ihrem Sohn zu sprechen, weshalb normalerweise striktes Handyverbot im Auto galt.
Heute jedoch war ihr die Stille ganz recht, denn sie musste sich innerlich für das wappnen, was vor ihr lag: Interviews mit Insassen des Todestrakts und die Hinrichtung eines brutalen Mörders und Serienvergewaltigers. Ein Tag wie jeder andere. Jahr für Jahr wohnte sie dem staatlich sanktionierten gewaltsamen Tod von Menschen bei. Sicher, es waren alles überführte Mörder, aber normal konnte sie das trotzdem nicht finden. Außerdem war es nicht nur die Arbeit, die sie bedrückte. Ihr Leben schien zu stagnieren, die verstreichenden Monate unterschieden sich nur noch durch Ryans jüngste Lernerfolge oder Pops neueste Beschwerden in ihrem Einerlei. An manchen Tagen wachte sie mit dem Gefühl auf, dass etwas Schreckliches passieren würde, und heute war es schlimmer als sonst. Solche düsteren Vorahnungen hatten sich bislang vor jedem tragischen Ereignis in ihrem Leben eingestellt. Kristy seufzte. Noch mehr Negatives konnte sie jetzt wirklich nicht verkraften.
Eine Viertelstunde später hielt sie anderthalb Häuserblocks von Ryans Schule entfernt. In letzter Zeit wollte er nicht mehr, dass sie ihn direkt vor dem Eingang absetzte. Kristy vermutete, dass ihm ihr zerbeulter alter Pick-up peinlich war, aber vielleicht wollte er auch nur seine Unabhängigkeit geltend machen. Obwohl sie das vom Kopf her verstand, tat ihr doch das Herz weh, wenn sie daran dachte, dass er sich ihr immer mehr entzog. Das war der Nachteil davon, praktisch miteinander aufgewachsen zu sein.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ryan mit besorgtem Blick. Er war schon immer ein sensibles Kind gewesen, übermäßig mit den Gedanken und Gefühlen seiner Mutter beschäftigt.
»Natürlich. Wieso denn nicht?«, erwiderte sie lächelnd.
»Du könntest was anderes machen. Dir eine neue Stelle suchen.«
Sie wurde ernst. »Ry, fang nicht wieder damit an. Ich verdiene gutes Geld und bekomme anständige Zusatzleistungen.«
»Aber du hasst es.«
»Na und? Die meisten Leute mögen ihre Jobs nicht. Deshalb heißt es ›Arbeit‹.«
»Die meisten Leute begehen aber keine Morde«, sagte Ryan spitz, und Kristy musste sich sehr zusammennehmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
Als Zuständige für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Justizvollzugsbehörde Texas fungierte sie als Mittlerin zwischen den Gefangenen, den Medien und der Gefängnisverwaltung. Das brachte schon genug Stress und Druck mit sich, doch die Stelle erforderte obendrein, dass sie bei den Hinrichtungen als Zeugin zugegen war.
Ryan hatte schon immer unter ihrem Beruf gelitten. Sie hatte sich bemüht, ihm das Justizsystem von Texas zu erklären: Es gab Gesetze, und die Männer und Frauen im Todestrakt hatten auf die schlimmstmögliche Weise dagegen verstoßen und verdienten daher die schlimmste Strafe. Doch Ryan besaß ein weiches Herz und einen wissbegierigen Verstand. Je älter er wurde, desto mehr verabscheute er es, seine Mutter vor die Fernsehkameras treten und über Hinrichtungen sprechen zu hören, als seien sie etwas ganz Normales und würden nicht von einem Großteil der Welt als barbarisch betrachtet. Kristy hörte sich die leidenschaftlichen Argumente ihres Sohns schon seit Jahren immer wieder an. Anfangs war sie davon ausgegangen, dass es sich nur um eine Phase handelte, bis sie ihn im vergangenen Jahr auf dem Weg zur Hinrichtungskammer zufällig in der Menge der Demonstranten entdeckt hatte. Sie hatte ihn mit offenem Mund angestarrt, während er stolz ein Plakat schwenkte, auf dem stand: Seid Richter, keine Henker. Am liebsten hätte sie ihn an den Haaren nach Hause geschleift, aber das ging nicht, sie hatte ihren Pflichten nachzukommen.
Während sie sich noch über den Ungehorsam ihres Sohns ärgerte, hatte sie der Hinrichtung von Mitchell Hastings beigewohnt, einem dreißigjährigen Herumtreiber, der wegen Mordes an seiner Schwester und deren bester Freundin zum Tode verurteilt worden war. Derweil hatte Ryan draußen vorm Gefängnistor skandiert: »Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!«
Im Grunde war sie stolz auf ihn, weil er für seine Überzeugungen eintrat. Doch wenn auch nur einer der Reporter Wind davon bekommen hätte, dass ihr eigener Sohn ein erklärter Gegner der Todesstrafe war … was für ein PR-Albtraum! Es könnte sie ihren Job kosten. Abends, auf der Fahrt nach Hause, hatte sie Ryan erklärt, dass er zwar ein Recht auf eine eigene Meinung hatte, ein solches Verhalten aber nicht akzeptabel war. Schließlich lebten sie von ihrer Arbeit. Sie sorgte für ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch. Ryan respektierte das, wollte aber trotzdem, dass sie sich nach einem anderen Job umsah. Auch jetzt noch mailte er ihr regelmäßig Stellenanzeigen mit Betreffzeilen wie: Neue Perspektiven. Ohne Hinrichtungen. Heute allerdings würde sie sich auf keine Diskussion einlassen.
»Du kommst zu spät«, sagte sie. Ausnahmsweise hörte sie keine Widerrede von Ryan.
»Schon gut, Mama Bär, bis später«, sagte er nur und nahm seinen Rucksack.
»Hab dich lieb, Ry.«
Ohne zu antworten, sprang er aus dem Pick-up und schlug die Tür zu. Kristy sah ihm nach, wie er die Straße hinunterlief und um die Ecke verschwand. Gott, was vermisste sie die Zeit, als er ihr morgens vor der Schule noch die Arme um den Hals geworfen und gesagt hatte: »Mama, ich hab dich noch doller lieb als den Mond und die Sterne und alle Planeten im Universum.« Damit war jetzt Schluss. Vierzehnjährige trugen ihr Herz nicht gerade auf der Zunge.
Kristy lenkte den Pick-up über eine lange Highwaystrecke; die Kilometer tickten vorbei, im Radio lief Countrypop. Sie schaltete es aus, nicht in der Stimmung für überarrangierte Melodien. Schließlich bog sie scharf nach links ab, die Hände am Steuer, und fuhr auf das Tor des Gefängnisses zu, in dem ihr Arbeitstag beginnen würde. Die Polunsky-Vollzugsanstalt in Livingston, Texas, befand sich auf einem fast zwanzig Quadratkilometer großen, von Wäldern und Wiesen umgebenen Gelände. Es war ein weitläufiger Gebäudekomplex mit Fußwegen dazwischen und zwei Einfassungszäunen aus Stacheldraht mit Wachtürmen an den Ecken drum herum. Die Gebäude, in denen die männlichen Todeskandidaten des Staates Texas untergebracht waren, lagen etwas abseits der anderen: drei Betonquader mit weißen Dächern, jeder mit einer kreisförmigen Erholungsfläche im Mittelteil. Insgesamt saßen 2936 Gefangene im Polunsky ein, 279 davon im Todestrakt.
Kristy fuhr einmal pro Woche hierher, traf jeden Mittwochmorgen pünktlich und zuverlässig ein, hatte sich jedoch nie mit ihrer Arbeit anfreunden können. Weder hatte sie sich an die finsteren Wachen mit den Gewehren im Anschlag im Turm oben gewöhnt, noch an die Gefangenen, von denen manche verzweifelt ihre Unschuld beteuerten und sie um Hilfe anflehten, andere dagegen sich ohne eine Spur von Reue zu ihren Taten bekannten.
Das war nicht ihr Traumjob. Nicht einmal annähernd. Als sie mit sechzehn ungewollt schwanger geworden war, hatte sie sich geschworen, dass sie zwar eine Teeniemutter, aber keine Ziffer in der Schulabbrecherstatistik werden würde. Sie würde etwas mit ihrem Leben anfangen. Sie hatte die allgemeine Hochschulreife geschafft und anschließend, ermutigt von ihrem Vater, Abendseminare an der Sam Houston State University belegt. Sie hatte Kommunikationswissenschaft und Psychologie studiert und Teilzeit in verschiedenen Verwaltungsjobs im Gefängnis gearbeitet, um etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Pops war Vollzugsbeamter gewesen wie auch schon sein Vater vor ihm. Obwohl sie darauf beharrte, sich auf eigene Faust eine Stelle suchen zu wollen, hatte er dem Leiter der Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit so lange zugesetzt, bis sie noch vor ihrem Studienabschluss einen Job als Assistentin der leitenden Pressesprecherin bekommen hatte.
Der Gedanke, ständig von Kriminellen umgeben zu sein, Männern und Frauen, die furchtbare Taten begangen hatten, hatte ihr zwar widerstrebt, aber sie hatte sich gesagt, dass es ja nur vorübergehend war. Sie hatte geplant, ein Graduiertenstudium in Psychologie zu absolvieren und Sozialarbeiterin zu werden. Ihre Erfahrungen in der Gefängnisverwaltung würden einen Pluspunkt in ihrem Lebenslauf darstellen. Tatsächlich hatte die Arbeit mit den Häftlingen ihren Entschluss bestätigt und ihren Wunsch noch bekräftigt, Bedürftigen zu helfen, bevor sie hinter Gittern landeten.
Doch ein Kind großzuziehen war eine Aufgabe, die sie jeden Tag rund um die Uhr in Anspruch nahm. Dann hatte auch noch Pops’ Gesundheit stark nachgelassen, und sie war befördert worden und hatte eine Gehaltserhöhung bekommen und dann die nächste. Neun Jahre später war sie immer noch hier, und die Bewerbungsbogen für das Graduiertenprogramm sammelten in ihrer Schreibtischschublade Staub an.
So sah nun also ihr Leben aus, Woche für Woche – sich mit gewalttätigen Häftlingen auseinandersetzen und abgehalfterte, frustrierte Reporter bei Laune halten, die unbedingt etwas von Bedeutung schreiben wollten. In letzter Zeit ertappte sie sich dabei, dass sie ausweichend antwortete, wenn man sie nach ihrem Beruf fragte. »Ich arbeite im PR-Bereich«, sagte sie meistens und hoffte, dass keine Nachfragen kamen, hoffte, dass es prestigeträchtiger klang, als es war.
Sie musste ihre Weltuntergangsstimmung abschütteln. Ein langer Tag voller Pressetermine mit Insassen des Todestrakts lag vor ihr und würde sie jedes Quäntchen Kraft und Nerven kosten.
Die Strafvollzugsanstalten ermöglichten es Medienvertretern einmal pro Woche, mit den zum Tode verurteilten Häftlingen persönlich in Kontakt zu treten. Die Montage waren den Frauen vorbehalten, die in »Mountain View« inhaftiert waren, während mittwochs die männlichen Gefangenen im Polunsky-Komplex interviewt werden konnten. Alle Insassen, welche die Genehmigung der Anstaltsleitung erhalten hatten, durften zwei Stunden lang von Journalisten besucht werden.
Kristy parkte und ging durch das Haupttor des Polunsky-Gefängnisses. Aufseher winkten ihr zu und riefen hallo, während sie Päckchen öffneten und Briefe sortierten, wobei das Gewöhnliche ihrer Tätigkeit in einem krassen Gegensatz zu den Empfängern dieser Post und deren Lebensumständen stand.
Sie passierte die Metalldetektoren und nahm ihre Tasche auf der anderen Seite in Empfang. Dort wurde sie von Bruce begrüßt, einem ihrer Lieblingswärter, einem Hillbilly in den Dreißigern mit liberalen Ansichten, der gern über den Kult-Statistiker Nate Silver, die Dating-Show The Bachelorette und, sein Favorit, Real Housewives plauderte. Bei aller Freundlichkeit waren sie sich doch sämtlich der Gefahren bewusst, denen sie sich aussetzten, wenn sie durch diese Türen traten. Es kostete große Anstrengung, die schleichende Angst und die dunklen Gedanken von sich fernzuhalten, ein fortdauernder Kampf, von dem Kristy nicht wusste, ob sie ihn je gewinnen würde.
Bruce begleitete sie zum Büro der Gefängnisdirektorin. Kristy betrat den eigentlichen Todestrakt nur selten, doch die Journalisten hatten sich in letzter Zeit über die schlechte Qualität ihrer Pressefotos beklagt, und sie hatte es satt, sich ihr Gemecker anzuhören. Gina Solomon schüttelte ihr herzlich die Hand.
»Direktorin Solomon, wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Kristy.
Die Anstaltsleiterin, Ende vierzig mit einem strengen Bob und grauen Augen, nickte lächelnd. »Wie geht’s der Familie?«, fragte sie zurück.
»Kann nicht klagen. Mein Sohn ist gerade in den Debattierclub aufgenommen worden. Als jüngster Schüler seit zehn Jahren«, prahlte sie mit rückhaltlosem Mutterstolz.
Direktorin Solomon nickte wieder. »Wie schön.«
Kristy hörte das Bemühte ihres Lobs heraus. Solomons Sohn war ein Star-Quarterback an der Montgomery-Highschool. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie die Reaktion wurmte. Was spielte es schon für eine Rolle, ob andere von Ryan beeindruckt waren oder nicht?
»Wollen wir anfangen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln und sich die Schwärmerei der Direktorin über die Playoff-Spiele der Woche und die Großtaten ihres Sohns auf dem Feld zu ersparen.
Eskortiert von Bruce gingen sie durch die labyrinthischen Gefängniskorridore und unterhielten sich über die angekündigte Kaltfront. Das Wetter war ein beliebtes Gesprächsthema beim Wachpersonal, denn alle sehnten sich danach, ins Freie zu kommen, weg von diesen dunklen, deprimierenden Zellen. Sie bogen in einen weiteren langen Gang ein, in dem eine automatische Gittertür sich summend öffnete. Der Eingang zum Todestrakt.
Kristy warf einen Blick auf das Schild an der Tür des Zellenblocks. Achtung: Im Falle einer Geiselnahme wird der Ausgang nicht geöffnet. Eine Warnung davor, dass den Häftlingen hier nicht zu trauen war, dass man sich möglicherweise in Lebensgefahr begab.
Auf dem Weg durch den Gang wurde sie von einem Gestank überfallen, auf den keine noch so gründliche Ausbildung einen vorbereiten konnte: Pisse, Scheiße, Schweiß, vermischt mit den Ausdünstungen einer so tiefen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, dass es einem in die Knochen zu kriechen schien.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte die Anstaltsleiterin. Kristy nickte, gedachte aber, ihre Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Hastig schoss sie ein paar Fotos von den Gängen und den endlosen Zellenreihen. Hier und da lugten die Gesichter von Gefangenen durch die winzigen, bruchsicheren Fenster in den Zellentüren. Einige der Männer kannten sie.
»Yo, Miz Tucker, mein Anwalt hat da ein paar Fragen an Sie.«
Manche standen unter starkem Medikamenteneinfluss und waren halb wahnsinnig.
»Diese Arschlöcher hier foltern mich. Sie müssen mir helfen!«
Andere waren hoffnungslose Fälle.
»Das ist aber mal ein schöner Arsch. Komm rein, Schätzchen, dann zeig ich dir, was ein echter Kerl ist.«
»Ich bring dich um, du dreckige Fotze. Ich bring euch alle um!«
Kristy konnte nicht mehr viel erschüttern. Sie war an solche Sprüche gewöhnt; Häftlinge unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht sehr von den Männern dort draußen. Manche waren nett und höflich. Andere waren geisteskrank und gehörten nicht in den Todestrakt. Wieder andere waren verlorene, gequälte Seelen ohne Aussicht auf Erlösung. Manchmal fiel es schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Kristy hatte Jahre gebraucht, um mit alldem umgehen zu können, aber jetzt brachten die Rufe sie nicht mehr aus der Ruhe. Als Pressefrau hatte sie stets souverän und ungerührt zu wirken.
Sie betrat eine leere Zelle und machte noch ein paar Bilder. Das Polunsky galt als »der härteste Knast in Texas«, und dem konnte sie nicht widersprechen. Die Häftlinge waren zweiundzwanzig Stunden pro Tag in ihren kleinen Einzelzellen eingesperrt, und selbst während der einen Stunde Hofgang waren sie wie in einem Käfig isoliert und durften keinen Kontakt zu Mitgefangenen haben. Da sie außerdem keinen Zugang zu Telefon oder Fernsehen hatten und keinen Privatbesuch erhielten, waren sie praktisch lebendig begraben. Wahrlich die Hölle auf Erden. Kristy konnte sich kaum vorstellen, wie es war, tagein, tagaus zwischen diesen Mauern gefangen zu sein.
Rasch prüfte sie, ob die Aufnahmen der Digitalkamera, die sie sich von Ryan geborgt hatte, etwas taugten. Doch, das genügte. Nichts wie raus hier, sie lechzte nach Sonne und frischer Luft. Sie ging zurück in den Flur, wo Solomon und Bruce auf sie warteten, und folgte ihnen zum Ausgang.
Kurz vor der Gangtür blickte sie aus irgendeinem Grund zu einer der Zellen hin, wie magnetisch davon angezogen. Durch die schmale Scheibe sah sie einen Häftling lang ausgestreckt auf dem Boden neben seiner Pritsche liegen. Babykiller Harris. So nannten ihn die Medien und auch einige der Aufseher. Kristy kannte ihn als Clifton Harris. Er war vor acht Jahren wegen Mordes an seinen beiden kleinen Kindern zum Tod verurteilt worden.
»Mein Gott, er blutet«, sagte sie zu der Direktorin und hasste es, wie hoch und piepsig ihre Stimme klang, als hätte der Mann nur eine Papierschnittwunde und keine aufgeschlitzten Pulsadern. Solomon trat an das Sichtfenster.
»Rufen Sie mehr Wachen, sofort!«, befahl sie Bruce. Er drückte eine Taste an seinem Funkgerät, dessen Gekrächze durch den Flur hallte.
»Treten Sie zurück!«, schrie die Gefängnisleiterin Kristy an. Der Summer ertönte, und die Zellentür wurde entriegelt. Kristy, die den Blick nicht von Cliftons bleichem Gesicht, seinen blauen Lippen und den nach oben verdrehten Augen abwenden konnte, stürzte an der Direktorin vorbei, stieß die Tür auf und kniete sich neben ihn, um am Hals nach seinem Puls zu fühlen.
»Halten Sie durch, Clifton. Bitte halten Sie durch.«
Cliftons Augen öffneten sich flatternd und gepeinigt, der Lebensfunke war schon am Erlöschen. Er streckte eine blutbeschmierte Hand aus und packte sie am Arm.
»Ms Tucker, ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr«, flüsterte er, nun ihr Schlüsselbein umklammernd. »Lassen Sie mich einfach gehen«, flehte er und drückte dabei fester zu.
Kristy rang nach Luft. Sie musste an die Tafel am Eingang denken. Im Falle einer Geiselnahme wird der Ausgang nicht geöffnet. Sie war, ohne zu überlegen, hier hereingestürmt, aus Angst, dass Clifton sterben könnte, aus dem Wunsch heraus, endlich einmal jemandem zu helfen, etwas Aktives zu tun, statt immer nur Zuschauerin zu sein. Doch in diesem Moment begriff sie, dass ihr ungutes Gefühl, diese dunkle Vorahnung, tatsächlich eine Warnung gewesen war. Mit der Hand dieses verurteilten Mörders um ihre Kehle fragte sie sich plötzlich, ob Ryan nicht die ganze Zeit recht gehabt hatte: dass es ein fataler Fehler gewesen war, in dieser Anstellung zu bleiben und damit hinzunehmen, was hier geschah.
Zweites Kapitel
Überall war Blut, zäh, klebrig und dunkelrot, und es befleckte Kristys Hände, ihre Khakihose. Sie wusste nicht, wie lange sie schon neben Clifton kniete. Sekunden. Minuten. Eine Ewigkeit und doch nur einen Augenblick lang. Für jemanden, der ständig Menschen hinter einer Glaswand sterben sah, der fast jeden Monat einer Hinrichtung beiwohnte, war sie schlecht darauf vorbereitet, dem Tod so nahe zu sein.
»Lassen Sie los, Clifton. Bitte«, sagte sie, woraufhin er seine Hand wegnahm und die Augen schloss. Vielleicht dachte er, dass sie ihm erlaubte aufzugeben. Tränen brannten in ihren Augen. Noch nie hatte sie sich einer solch abgrundtiefen Verzweiflung gegenübergesehen. Männerhände rissen sie auf die Beine und schoben sie hinaus in den Gang, während mehrere Aufseher in Cliftons Zelle stürmten.
»Verdammt noch mal, Kristy, bist du lebensmüde?«, schimpfte Mac Gonzalez und funkelte sie an. Mac war einer ihrer besten Freunde, ein Vollzugsbeamter, der schon viele Jahre im Todestrakt arbeitete. Mit seinen fast zwei Metern und hundertzehn Kilo ragte er wie ein Riese über ihr auf. Er machte gern Witze über seine Größe. »Mexikaner sind nie so groß. Ich hab Mama Gonzalez schon gefragt, ob sie nicht was nebenbei laufen hatte.« Doch jetzt scherzte er nicht; sein Gesicht war vor Missbilligung verzerrt.
Kristy erwachte aus ihrer Trance. Sie hörte das Heulen der Alarmsirenen, das aufgebrachte Geschrei der Häftlinge, weil ein Mitgefangener in Gefahr war, ein kakophonisches Durcheinander aus Wut, Ärger und Schmerz, das wie in Zeitlupe um sie herumwirbelte.
»Du müsstest es doch wirklich besser wissen. Tritt zurück und beweg dich nicht«, bellte Mac.
Gehorsam drückte Kristy sich an die Wand wie ein gescholtenes Kind. Unwillkürlich sah sie wieder zu Clifton hin, der immer noch ausgestreckt auf dem Zellenboden lag. Wärter umgaben ihn und suchten nach der Waffe, mit der er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Kristy hatte gegen die Vorschriften verstoßen und sich selbst in Gefahr gebracht. Clifton hätte diesen Selbstmordversuch auch nur vortäuschen und sie als Geisel nehmen können. Sie zitterte unkontrollierbar und starrte auf ihre nun blutrote Hose hinunter.
Selbstmordversuche in den Todeszellen, ob erfolgreich oder nicht, lösten im Allgemeinen Unmut beim Gefängnispersonal aus. Die Journalisten stellten die Vollzugsbeamten gern als inkompetent hin und überhäuften sie mit Kritik und Hohn, weil sie nicht einmal auf jemanden aufpassen konnten, der doch eigentlich unter ständiger Bewachung stand. Menschenrechtsaktivisten schlugen in dieselbe Kerbe und sorgten für Geschrei und Empörung über die Unmenschlichkeit der Todesstrafe und das Leid der Gefangenen, die in Isolationshaft auf die Vollstreckung ihres Todesurteils warten mussten. Kristy selbst fand Suizidversuche meist ebenso lästig wie ihre Kollegen. Sie zogen einen Haufen Arbeit nach sich, weil ihr unweigerlich die Aufgabe zufiel, die Medien und die Öffentlichkeit über den Vorfall zu informieren, und die Fragen kein Ende nahmen.
»Streiten Sie es ab, dass der Inhaftierte von einem Aufseher getötet wurde?«
»Oder einem Zellengenossen?«
»Oder der mexikanischen Mafia?«
»Wird hier etwas vertuscht?«
Heute jedoch galt ihre Sorge einzig und allein Clifton, dessen Blut sich in Lachen auf dem grauen Betonboden sammelte. Sein zum Medienereignis gewordenes Verbrechen und seine Weigerung zu gestehen hatten ihn zu einer Art Berühmtheit gemacht. Reporter strömten herbei, um ihm zuzuhören, Filmgrößen und Popstars sammelten Geld für seine Verteidigung. Kristy besuchte ihn nun schon seit über acht Jahren jeden Mittwoch. Er beteuerte stets nachdrücklich seine Unschuld, auch wenn manche darin nichts als eine Mitleidsmasche sahen. Das Strafjustizsystem kannte kein Mitleid, schon gar nicht in Texas. Hier gab es mehr Menschen im Todestrakt und mehr Hinrichtungen als in jedem anderen Staat der USA. Stimmten die Geschworenen für schuldig und damit für die Todesstrafe, war es so gut wie sicher, dass man sterben musste.
Kristy sah zu, wie eine Rollbahre herbeigeschafft wurde und die Aufseher Clifton eilig durch den Gang zum Ausgang schoben. Jeder Insasse des Trakts zeigte irgendeine Reaktion auf diesen letzten radikalen Versuch, seiner Hinrichtung zu entgehen; es wurde gebrüllt, geschrien, an die Sichtscheibe gehämmert. Manche riefen ihm ihre Anteilnahme zu.
»Cliff, Alter, halt durch.«
»Lass dich von den Wichsern nicht kleinkriegen.«
Andere waren weniger solidarisch.
»Schmor in der Hölle, Babykiller, du verdammtes Stück Scheiße.«
Der zwischen Leben und Tod schwebende Gefangene würde von einem Trupp bewaffneter Aufseher zu einem draußen wartenden Krankenwagen gebracht und dann ins Saint-Luke-Krankenhaus transportiert werden, der nächstgelegenen Unfallklinik, wo das medizinische Personal alles daransetzen würde, sein Leben zu retten. Kam er nicht durch, würde Kristy eine Presseerklärung zum Tod von Clifton Harris herausgeben müssen. Kam er durch, würde er noch eine Weile ärztlich behandelt und dann in seine Zelle zurückgebracht werden, wo er sein Leben beziehungsweise das, was davon übrig war, wiederaufnehmen würde.
Ihr dumpfes Gefühl, dass der heutige Tag ein Albtraum werden würde, hatte sie nicht getrogen. Als sie zurück durch den langen grauen Flur ging, schloss Mac sich ihr an.
»Du kennst doch die Vorschriften. Du hattest ein Sicherheitstraining«, begann er.
»Er war am Verbluten. Ich hab nicht nachgedacht.«
»Du musst aber nachdenken, bevor du handelst, Kristy. Diese Bestien hier könnten dich umbringen, verdammt noch mal. Ehrlich, du hast mir einen Scheißschreck eingejagt.«
Er blieb abrupt stehen und zog sie in eine Umarmung. Sie ließ ihn einen Moment gewähren, bevor sie sich von ihm löste. Im vergangenen Jahr hatte sie den Fehler begangen, sich mit Mac einzulassen; da war sie nach der besonders brutalen Hinrichtung eines Mannes, der die ganze Zeit nach seiner Mutter gerufen hatte, extrem dünnhäutig gewesen. Sie hatte miterlebt, wie die alte Frau von Mitte siebzig, gebeugt und gebrochen, wimmernd um Gnade gefleht hatte. »Bitte bringen Sie meinen Jungen nicht um. Er ist alles, was ich habe.«
An jenem Abend hatte sie nur daran denken können, wie diese Frau ihrem Sohn einst Gutenachtgeschichten vorgelesen und ihm einen Gutenachtkuss gegeben hatte, und nun hatte sie mitansehen müssen, wie er starb. Nach dieser schlimmen Vollstreckung hatte sie Gesellschaft gebraucht, und Mac, der schon lange eine Schwäche für sie hegte, war gerade zur Hand gewesen. Er ging mit ihr tanzen, spendierte ihr Tequila-Shots und nahm sie in die Arme, und als sie ihn geküsst und gefragt hatte, ob sie bei ihm übernachten könne, hatte er ja gesagt. Sie waren miteinander ins Bett gegangen, zärtlich und ein bisschen unbeholfen. Ein netter Abend, hatte sie sich hinterher gesagt. Irgendwie waren darauf gemeinsame Abendessen bei TGI Fridays gefolgt, Ausflüge zu den Batting Cages, um ein paar Bälle zu schlagen, Knutschereien im Pick-up, aber es hatte einfach die Leidenschaft gefehlt, das Feuerwerk. Sie hatte versucht, es sich schönzureden. Sich zu sagen, dass es genügte, wenn es nur nett und gemütlich war, dass das bei all dem Schlimmen, das sie tagtäglich erlebte, schon viel wert war. Doch nach ein paar Monaten wurde ihr klar, dass sie Mac nie richtig lieben würde. Nicht so, wie er es verdiente. Als sie ihm mit »Lass uns lieber nur Freunde sein« gekommen war, hatte er es ziemlich gut aufgenommen, als hätte er quasi schon damit gerechnet.
»Kein Problem, Tucker. Du bist eigentlich sowieso nicht mein Typ. Ein bisschen zu sehr die Klugscheißerin«, hatte er grinsend geantwortet.
Trotz seiner Lockerheit hatte sie seine Enttäuschung gespürt. Irgendwann war er dann darüber hinweggekommen und hatte etwas mit Vera angefangen, einer bezaubernden Krankenschwester. Sie hatte sich für ihn gefreut – aber manchmal, besonders spätabends, wenn sie fix und fertig war und sich furchtbar gern an jemanden kuscheln wollte, nachdem sie hatte mitansehen müssen, wie ein Angehöriger eines Opfers weinend zusammengebrochen war, oder wenn ihre Sorgen wegen Pops’ Arztrechnungen oder der bald anstehenden Finanzierung von Ryans Studium überhandnahmen, wünschte sie, sie hätte sich mit »nett und gemütlich« zufriedengegeben.
»Kristy, so was machst du doch sonst nicht. Du musst besser aufpassen«, insistierte Mac.
»Dem kann ich nur zustimmen«, pflichtete Direktorin Solomon bei, als sie zum Ausgang kamen. »Ich möchte Sie in meinem Büro sprechen, Ms Tucker.« Mac klopfte Kristy aufmunternd auf die Schulter, als sie Solomon notgedrungen folgte.
Falls sie geglaubt hatte, Clifton halb tot aufzufinden sei schon der Tiefpunkt ihres Vormittags gewesen, so hatte sie sich getäuscht. Im Büro der Direktorin musste sie sich einen halbstündigen, detaillierten Vortrag über die Regeln und Vorschriften anhören, die sie als Angestellte der Justizvollzugsbehörde Texas zu befolgen hatte. Kristy nickte und murmelte an den richtigen Stellen und versprach, beim nächsten Mal, wenn sie einen Häftling verbluten sah, keinen Finger zu rühren. Zum Glück entging der Direktorin ihr Sarkasmus, oder sie überhörte ihn zumindest. Nach dieser Strafpredigt stand als neuer Punkt auf ihrer Tagesordnung, die für heute anberaumten Interviews mit den Häftlingen abzusagen. Manche von ihnen würden aggressiv sein und Streit suchen, andere verlangen, ihre Anwälte zu sehen, und Cliftons Suizidversuch als weiteren Beleg für die psychischen Qualen anführen, die sie hier erlitten. Auch mussten die Aufseher den Zellenblock gründlich durchsuchen, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sonst noch irgendeine Waffe versteckte und jede Zelle sicher war.
All das bedeutete, dass Kristy es nun selbst mit einer Art Exekutionskommando aufnehmen musste – dem halben Dutzend Journalisten, die aus dem ganzen Land herbeigefahren oder -geflogen waren. Natürlich waren sie stinksauer und stampften schnaubend davon, um ihren Ressortleitern mitzuteilen, dass sie den Redaktionsschluss nicht einhalten konnten, oder ihnen eine neue Story schmackhaft zu machen. Ein korpulenter Reporter mit Halbglatze schäumte regelrecht vor Wut und bespritzte sie mit seiner Spucke.
»Ihr Verwaltungstypen schert euch doch einen feuchten Scheiß um unsere Deadlines!«
Kristy musste sich eine scharfe Erwiderung verbeißen. Richtig, diese Reporter und ihre Deadlines kümmerten sie tatsächlich einen Dreck. Zumindest heute, nachdem sie Zeugin solchen Elends geworden war. Und unter den Gefangenen Aufruhr und Kampfesstimmung herrschten. Sie konnten ihr alle gestohlen bleiben.
Als der Reporter murrend davonstapfte, fragte sie sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie selbst jedes menschliche Mitgefühl verlor. Bis sie diese Männer nur als eine weitere Story ansah, das Leid anderer sie kaum noch berührte. Manchmal befürchtete sie, dass es schon so weit war.
Endlich, gegen Mittag, konnte sie das Polunsky-Gefängnis hinter sich lassen, zumindest bis zur nächsten Woche. Allerdings graute ihr schon vor dem Donnerwetter, das sie erwartete, wenn Gus, ihr Chef, von ihrer »Übertretung« erfuhr.
Kristy lenkte ihren alten Chevy zurück in die Stadt und schaltete die Klimaanlage ein, nur um festzustellen, dass nichts als feuchtwarme Luft aus den Schlitzen kam. Wütend versuchte sie, das Gebläse zu regulieren. Sie hatte gerade sechshundert Dollar für die Reparatur ausgegeben. Typisch, dachte sie, irgendwas war immer kaputt.
Während sie auf der I45 dahinfuhr, blickte sie durch die schmutzige Windschutzscheibe in die Landschaft. Im Osten und im Süden sah sie die weite Ebene der Coastal Plains, im Westen dagegen die sanften Hügelketten, die sich durch ganz Hill Country erstreckten.
Der Verkehr wurde spärlicher, als sie sich Huntsville näherte, und an Bäumen gab es jetzt nur noch die hohen, stoischen Kiefern des Kieferngürtels, der sich durch den tiefen Süden zog. Nach dem, was sie heute schon erlebt hatte, und in Anbetracht dessen, dass sie immer noch eine Hinrichtung durchzustehen hatte, konzentrierte sie sich bewusst auf das Schöne, wo sie es nur finden konnte, und bewahrte es für später auf, wenn das Scheußliche ihres Jobs sie wieder zu überwältigen drohte.
Jedes Mal, wenn sie an dem malerischen Courthouse Square vorbeifuhr, dachte sie, dass Huntsville dem Klischee eines Städtchens entsprach, das dunkle Geheimnisse hinter seiner idyllischen, geruhsamen Fassade verbarg. Die Hauptstraße mit ihren gut erhaltenen historischen Gebäuden war einladend, und doch starben ständig Menschen einen gewaltsamen Tod in dieser Stadt. Sie malte sich aus, wie deren Geister durch die Straßen streiften, Seite an Seite mit den Einheimischen in ihren Cowboystiefeln und strassbesetzten Jeans, von denen viele ebenfalls bei der Justizvollzugsbehörde angestellt waren.
Ihr Ziel war das Staatsgefängnis von Huntsville. »The Walls« – die Festung –, wie es im Volksmund auch genannt wurde, war eine riesige, abweisend wirkende Anlage, mit Stacheldraht bewehrt und von einer langen, hohen Ziegelsteinmauer umschlossen. Die Todeskandidaten waren zwar im Polunsky-Gefängnis untergebracht, doch hier in der Festung würden sie ihren letzten Atemzug tun, im meistgenutzten Hinrichtungsraum des ganzen Landes. Kristy fuhr auf den Parkplatz und ging zu ihrem Büro in dem gegenüber der Todeskammer gelegenen Verwaltungstrakt. Heute würde der langen Liste der Hingerichteten ein weiterer Name hinzugefügt werden: Tyler Watkins, ein Serienvergewaltiger und -mörder, sollte durch die Giftspritze sterben.
Vor dem Büro lungerte schon eine frühe Gruppe von Reportern herum, die »Aasgeier«, wie Kristy sie nannte. Die Stimmung war aufgeräumt, manche schrieben Textnachrichten oder surften im Internet, andere rissen derbe Witze über Watkins’ zu erwartende letzte Worte. »Ich wette, der heult wie eine Memme nach seiner Mutter«, hörte sie einen sagen. Ein anderer ging mit einem Becher herum und sammelte Geld für die Wetten darauf ein, wie lange es dauern würde, bis der Mann tot war. Kristy kannte das alles, es gehörte zur normalen Routine. Ihr Job erforderte, dass sie ruhig und emotionslos blieb, aber nach dem, was sie gerade erlebt hatte, wollte sie den Haufen am liebsten anschreien: Hört auf damit! Gönnt mir verdammt noch mal ein bisschen Frieden!
»Na, bereit, diesen Dreckskerl sterben zu sehen?«, fragte Gus Fisher, der Leiter der Presseabteilung und seit knapp einem Jahr ihr Chef. Sie seufzte. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Sie drehte sich zu ihrem Vorgesetzten um, der breitbeinig und mit einem hämischen Grinsen auf seinem dicken roten Gesicht hinter ihr stand. Er war eine kleine Bulldogge von einem Mann, knapp eins siebzig groß und kahl, bis auf ein peinliches schwarzes Haarbüschel mitten auf dem Kopf. Sie hatte sich immer noch nicht an den übermäßigen Eifer gewöhnt, mit dem er an diesen Teil seines Jobs heranging. Wenn es nach ihm ginge, dachte sie manchmal, würde man öffentliches Hängen wieder einführen und Eintritt kassieren. Nicht dass Gus ein großer Verfechter von Opferrechten gewesen wäre. Er interessierte sich nicht für die Verbrechensopfer und wechselte kaum je ein Wort mit den Angehörigen, es sei denn, er glaubte, sich dadurch bei irgendwelchen hohen Tieren oder der Presse beliebt machen zu können. Nein, Gus war ein engstirniger Mann mit einem Gott-Komplex: Er hatte sich die Position nur geangelt, um sich gottgleich fühlen zu können. Ihr war zu Ohren gekommen, dass er dreimal durch die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule gefallen war. Doch seine Cousine war mit dem stellvertretenden Gouverneur von Texas verheiratet, und so war er hier gelandet.
Eigentlich wäre Kristy für seinen Posten an der Reihe gewesen. Als ihr früherer Chef Jack Woefel seinen Eintritt in den Ruhestand angekündigt hatte, waren alle überzeugt gewesen, dass sie auf die Stelle befördert werden würde. Sie hatte über sieben Jahre lang in der Pressestelle gearbeitet, besaß ein gutes Verhältnis zu den Häftlingen und kam mit den verschiedenen, oft schwierigen Charakteren klar, denen man bei der Arbeit mit Medienleuten begegnete. Kaum dass sich die Nachricht von Jacks Pensionierung herumgesprochen hatte, gratulierten ihr die Kolleginnen und Kollegen schon, wenn sie durch den Flur ging. Die Freude war jedoch von kurzer Dauer und letztendlich auch etwas peinlich. Sie erinnerte sich noch gut an ihr bitteres Gefühl der Zurückweisung, als sie von den Entscheidungsträgern erfahren hatte, dass Gus die Leitung der Abteilung übernehmen würde. Eine echte Überraschung war es allerdings nicht. Die texanischen Männerbündler wollten Männer in den Führungspositionen sehen und nicht »irgendein Weibsbild, das uns sagt, was wir zu tun haben«.
Das Ganze würde sie weniger ärgern, wenn Gus nicht so verdammt unfähig wäre. Es mussten immer zwei Vertreter der Öffentlichkeitsabteilung bei einer Hinrichtung zugegen sein, da es zwei getrennte Zeugenräume gab, einen für die Angehörigen der Opfer, einen für die der Verurteilten. Doch gleichgültig und überheblich, wie er war, sprach Gus nie ein Wort mit dem Gefängnisdirektor, den Geistlichen, den Leuten von der Opferbetreuung oder gar den Familienangehörigen. Gott bewahre, dass er einem Gefangenen vor dessen Hinrichtung irgendwie nahekam, das war vollkommen unter seiner Würde. Nur hinterher, nach der Vollstreckung, war er voll dabei und konnte es kaum erwarten, vor die Kameras zu treten und im Rampenlicht zu stehen.
Umgekehrt war Gus auch kein Fan von ihr. Sie merkte, dass er sie hochnäsig fand und es ihn wurmte, dass sie intelligenter war als er und einen lockeren Umgang mit den Journalisten pflegte. Er genoss es, sie in die Schranken zu weisen und ihr jeden kleinsten Fehler, ob tatsächlich oder vermeintlich, unter die Nase zu reiben. Deshalb musste sie immer gute Miene zum bösen Spiel machen. Heute allerdings war es mit ihrer Selbstbeherrschung nicht weit her.
»Gus, würde es Ihnen etwas ausmachen, ein bisschen weniger Blutdurst an den Tag zu legen?«
Gus kniff missbilligend die Augen zusammen und legte ihre ärgerlich gerunzelte Stirn offenbar als Mitgefühl aus.
»Jetzt sagen Sie nicht, dass Watkins Ihnen leidtut. Sie wissen, warum er hier ist, oder? Der Mann hat drei Frauen umgebracht und sie vergewaltigt, bevor und nachdem sie tot waren.«
»Ich weiß, was Watkins getan hat. Schließlich habe ich schon hier gearbeitet, als er verurteilt wurde. Meiner Ansicht nach ist es trotzdem unsere Pflicht, etwas Pietät zu zeigen«, entgegnete Kristy.
Watkins war einer von den eher widerwärtigen Insassen des Todestrakts, der über seine mehrfachen Morde so leichthin redete wie andere über ihre Pläne für den Sonntagsbrunch. Gus schüttelte abfällig den Kopf. Genauso gut hätte er sie tätscheln können wie ein unwissendes Kind.
»Der Typ hat sein Recht auf Pietät verwirkt, als er diese Frauen umgebracht hat.«
Kristy merkte, dass er auf einen Streit aus war, aber sie dachte nicht daran, ihm den Gefallen zu tun.
»Ich wollte Ihnen noch erklären, was heute Vormittag passiert ist. Wegen Clifton.«
»Ja, Gina hat mich angerufen und mir die Ohren vollgenölt. Das war wirklich saublöd von Ihnen.«
An Gus’ Taktlosigkeit gewöhnt, nickte Kristy nur und machte sich auf die nächste Abkanzelung gefasst.
»Kristy, warum gehst du denn nicht ans Handy?«
Carmen, ihre Assistentin, kam auf sie zugeeilt. Mist. Sie hatte ihr Telefon im Handschuhfach liegen lassen. Im Polunsky waren Handys nicht erlaubt, und sie hatte ihres schon unzählige Male an der Sicherheitskontrolle vergessen. Nach dem Vorfall mit Clifton war sie so durcheinander gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatte, es herauszunehmen.
Carmen war normalerweise die Ruhe und Organisiertheit selbst, worum Kristy sie beneidete. Ihre dunklen Haare fielen ihr stets gut frisiert in schimmernden Wellen über die Schultern, und ihre Zähne waren so weiß, dass sie in eine Colgate-Werbung gehörte. Im Moment aber wirkte sie nicht ruhig, sondern zeigte einen ziemlich besorgten Gesichtsausdruck. Irgendwo gab es ein dickes Problem.
»Ist es wegen der Sache im Polunsky? Ist schon alles geklärt«, sagte Kristy.
Gus schnaubte. »Abwarten.«
Carmen machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Gus. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und wandte sich wieder an Kristy.
»Es ist wegen Ryan. In der Schule hat es einen Zwischenfall gegeben. Du musst sofort hin.«