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Ein Sommer im Osten. Was passiert dem, der sich hier treiben lässt, von einem Ort zum nächsten? Cornelius Pollmer macht sich auf den Weg, das zu erkunden, was vor der Haustür liegt. Seine Reise beginnt als Wallfahrt auf Fontanes Spuren und führt bis in den Himmel, wo er vielleicht sogar aus einem Flugzeug springt. Er trifft den sehr adligen Freiherrn von dem Knesebeck und den unvergleichlichen Imbiss-Inhaber Schniepa. Er hört zu bei Gabi und Reinhard, die das Schicksal verwundet hat, und bei einem alten Kapitän, der den Meeren nachtrauert. Er feiert Richtfest und Reiterball, Schlosshochzeit und die Fontanefestspiele in Neuruppin. Manche Tage verstreichen ereignislos, andere laufen über vor Gegenwart, vor Begegnungen, Gesprächen, Geschehen. Ein Country-Road-Movie zwischen Gestern und Morgen, Seen und Kleingartenkolonien.

Cornelius Pollmer, geboren 1984 in Dresden, studierte Volkswirtschaft und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Seit 2013 schreibt er als Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung über Ostdeutschland.

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CORNELIUS POLLMER

Heut ist irgendwie
ein komischer Tag

Meine Wanderungen durch die Mark Brandenburg



Für meine Familie



»Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht recht gelten lasse.«

Theodor Fontane

Inhalt

Abenteuer Heimat

Gloria in excelsis Theo

Mo. Wurstgulasch, Di. ­Paprikaschote, Mi. Gyros, Do. ­Möhreneintopf, Fr. Dicke Rippe

Reisestreiflicht I: Freie Körperkultur

Adel berichtet

Reisestreiflicht II: Keiner von hier

Schnuffelchen, uns jeht es jut

Verschwörung im Naturschutzgebiet

All You Can Read

Reisestreiflicht III: Nie wieder Astra

Good Vibrations

Der alte Mann ohne das Meer

Heavy Wedding

Theocashing

Kleingarten Eden

Dank

Zitathinweis

Abenteuer Heimat

Was ist Abenteuer und wo lässt es sich finden? Ich hatte als Kind ein Buch über Dinosaurier, es war das erste Buch, das ich wirklich geliebt habe. Ich verbrachte ganze Nachmittage damit und besonders lange blieb mein Blick immer auf der Doppelseite mit dem Brontosaurus kleben. Der Brontosaurus war viel größer als die anderen Saurier und zugleich schien er viel friedlicher zu sein. Er hatte ein liebes Gesicht und wirkte ein bisschen tollpatschig. Wie könnte jemand auch nicht tollpatschig wirken, der einen Wendekreis hat so groß wie das Saarland? Ich stellte mir vor, wie ich mich mit dem Brontosaurus anfreunden würde, in einem Land vor unserer Zeit, und wie ich mich dann auf seinen Kopf setzen würde, um auf ihm und mit ihm durch die Gegend zu spazieren. Ein größeres Abenteuer konnte ich mir nicht vorstellen. Und ich dachte, wenn mir nach drölf Milliarden Jahren auf dem Kopf des Brontosaurus irgendwann doch langweilig würde, würde ich ihn fragen, ob ich zur Abwechslung mal seinen Rücken runterrutschen dürfte. Später irgendwann sah ich den Film Jurassic World. Er spielt auf der fiktiven Insel Isla Nublar, in einem Vergnügungspark voller Dinosaurier. Die Leiterin der Jurassic World sagt im Film, sie müsse alle paar Jahre neue Attraktionen züchten und auffahren, um das Interesse der Öffentlichkeit nicht zu verlieren. Die immer gleichen Ansprüche an den Park und an seine neuen Mitbewohner lauteten: »Bigger, louder, more teeth«. Größer, lauter, mehr Zähne. Lässt sich Abenteuer wirklich auf Messwerte reduzieren?

Gäbe es die Isla Nublar, ich würde nicht hinfahren. Die Idee eines Saurierparks ist mir aus ähnlichen Gründen fremd, wie es das Konzept von sogenannten Sehenswürdigkeiten ist. Als ich das erste und einzige Mal in meinem Leben vor der Oper in Sydney stand, wurde ich schlagartig unfassbar müde. Die Golden Gate Bridge in San Francisco? Kein Interesse – es sei denn, es ist Nebel und man sieht die Brücke eben gerade nicht; eine nicht zu sehende Sehenswürdigkeit, die hat schon wieder ihren Reiz. Zum Glück ist in San Francisco häufig Nebel. Vom Eiffelturm erinnere ich vor allem, ewig lange angestanden zu haben, von der Sagrada Família, dass sie von außen viel spektakulärer anzuschauen ist als von innen, wo die Luft ja auch nicht besser wird. »Sehenswürdigkeiten« berühren mich selten, ich erzähle nicht von ihnen, wenn ich Postkarten schreibe oder daheim von meinem Urlaub berichte. Was hängen bleibt und was Reisen besonders macht, das ist für mich oft das Ungeplante, das Zufällige.

Was ist also Abenteuer und wo kann ich es finden? Eine der schönsten und abenteuerlichsten Nächte meines Lebens habe ich in Mühlhausen verbracht, der Thomas-Müntzer-Stadt im Unstrut-Hainich-Kreis in Thüringen. Kein Dinosaurierfilm der Welt wird je dort spielen, kein Mühlosaurus Rex wie ein zu heiß gelaufener Häckslermotor in die Nacht brüllen. Das ist auch in Ordnung so, Mühlhausen steht nämlich in keiner Konkurrenz zur Isla Nublar und das wiederum habe ich bei Theodor Fontane begriffen, in dessen Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

Diese Wanderungen würde es ohne die schottische Grafschaft Kinross womöglich nicht geben, ohne den Levensee und ohne eine Insel in seiner Mitte. Auf dieser Insel fand Fontane zwar keine Dinosaurier, nicht mal ein Seeungeheuer, aber er fand, immerhin, die Trümmer eines alten Douglas-Schlosses, Loch Leven Castle. Fontane streifte durch Eschen und Schwarztannen und hoch aufgeschossenes Gras und irgendwann ruderte er wieder davon: »… die Insel wurd ein Streifen, endlich schwand sie ganz«. Was aber nicht schwand, das war die Imaginationskraft des Autors im Ruderboot und so geschah es, dass »plötzlich unsre Phantasie weiter in ihre Erinnerungen zurückgriff und ältere Bilder vor die Bilder dieser Stunde schob. Es waren Erinnerungen aus der Heimat, ein unvergessener Tag.«

Konkret waren es Erinnerungen an das Rheinsberger Schloss, die bei Fontane »wie eine Fata Morgana« über dem Levensee ins Licht brachen.

Mir geht es auch so, dass ich unterwegs ständig Bilder und Trugbilder meiner Heimat sehe. Es sind wärmende Bilder, selbst wenn sie einen manchmal in Peinlichkeiten schubsen. Wie zu Beginn des vergangenen Sommers im Norden Australiens, als ich einem Aborigine erklärte, wie sehr mich die herrliche Landschaft an die Sächsische Schweiz erinnere. »Do you know Lilienstein?«

Man bekommt einen Menschen also aus seiner Heimat heraus, aber die Heimat selten ganz aus ihm. Als Theodor Fontane in Schottland von Brandenburg eingeholt wurde, als er vom Levensee zwar tief berührt sich wiederfand und trotzdem an die Heimat denken musste, da fragte er sich: »War jener Tag minder schön, als du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrst, die Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um dich her?« Und er beantwortete seine Frage mit: »Nein.«

In Momenten wie dem auf dem Levensee vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart und es kann, zweitens, eine neue Lust auf das Abenteuer Heimat daraus erwachsen.

Die jüngere Vergangenheit, das ist in der öffentlichen Erzählung oft die Zeit, in der noch alles gut war. Die Zeit, in der es eine Zukunft nicht nur gab, in der sich sogar alle darauf freuten. In der die Menschen Sozialsysteme ausbauten und Schutzimpfungen erfanden, in der Wandel nicht als Bedrohung galt, sondern Fortschritt bedeutete. Diese Vergangenheit, das ist die Zeit, in der ich nicht gelebt habe.

Die Gegenwart, das ist die Zeit der Widersprüche. Eine Zeit ohne Krieg in der Heimat, aber auch ohne gesellschaftlichen Frieden. Eine Zeit großen materiellen Wohlstands, aber auch großer Angst, diesen oder auch nur einen Teil davon zu verlieren. Eine Zeit großer individueller Freiheiten, aber auch eine, in der Gemeinschaft und Solidarität drohen, verloren zu gehen. Die Gegenwart, das ist die Zeit, in der ich lebe und in der gar nicht so vieles so schlecht sein kann, wie es manchmal gemacht wird.

Ich weiß nicht, wann genau das begonnen hat, dass ich mich wieder mehr für meine Heimat interessiere als für Fernreisen in kosmopolitische Pflichtbesuchsstädte wie New York oder zu instagramtauglichen Naturschönheiten. Ich weiß aber, warum es so ist. Es ist kein Distinktionsgehabe, so viel ist sicher. Wer auch nur ein einziges Mal an einem heißen Sommertag in der Burgenlandbahn saß und an wirklich jedem Bedarfshalt unterwegs die Türen aufgehen sah, der weiß: Um Distinktion kann es wirklich kaum gehen, wenn jemand sich dem Osten und sich im Osten verschreibt.

Es geht mir vielmehr darum, meine Position zu verstehen, es geht darum, ein System und darin Koordinaten und in diesem Koordinatensystem einen Punkt zu erkennen, von dem ich dann sagen kann: Da ungefähr, da bin ich. Und das ist es auch, was für mich den Begriff der Heimat von dem der Herkunft unterscheidet. Ich fand es immer verwunderlich, den ersten Begriff allein über den zweiten zu definieren. Herkunft ist vorbei. Für mich ist Heimat viel mehr eine Frage nach Zukunft. Heimat sehe ich in dem, was mir bleiben soll, hoffentlich: bleiben wird. So wie Menschen einander in diesem Sinne Heimat geben, so können auch Orte Heimat geben. Nur, welche?

Die Orte, die mir Heimat sind, werden nicht von EasyJet angeflogen. Heimat finde ich im Antizyklischen, im Randständigen, in der Abwesenheit von Mode und Zeitgeist, in der Abwesenheit von Mutmaßungen über Zugehörigkeit in Clubs, Restaurants, bei Premierenpartys. Heimat finde ich auch dort, wo gerade so noch ein Regionalexpress hält oder auch nur die Burgenlandbahn, wenn überhaupt.

Diese Heimat empfinde ich als bedroht. Weil sich ein giftiges Narrativ epidemisch ausgebreitet hat, demnach es gutes Leben nicht überall geben könne. Du kannst was, du willst was vom Leben? Dann bleibe bloß nicht in Mühlhausen, in Weißenfels, in Neuruppin. Wann hat das angefangen? Und stimmt es nur, weil so viele dieses Narrativ gebrauchen? Das wüsste ich gerne.

Denn wann immer ich in solchen Orten bin, durchdringt mich mit aller möglichen Gewalt eine Frage: Wo ist Leben, wo ist Zukunft? Selten sehe ich welches, selten sehe ich welche. Das macht mich traurig. Aber vielleicht gibt es sie ja, vielleicht begreife ich sie nur nicht?

Die Sorge um Zukunft findet sich allüberall belegt, da muss wirklich niemand lange suchen. Überall gibt es Orte wie Gentzrode, gelegen am nördlichen Rand Neuruppins. Als Fontane Gentzrode erwandert hatte, fand er das Gutshaus, ein Ensemble im neomaurischen Stil, und er befand fast utopistisch ungehalten, wirklich alles hier befinde sich »im Werden«. Heute gibt es in Gentzrode einen betrüblichen Wettlauf mit der Zeit. Vor vielen Jahren hat ein türkischer Investor das Gelände des Gutshauses übernommen, seitdem ist nicht viel passiert. Das Ensemble verfällt, vielleicht endgültig. Und wenn es nicht verfallen sollte, dann weil der Investor doch noch seinen angeblichen Plan umsetzt, über den die Märkische Oderzeitung berichtet hat. Der Geldgeber, heißt es, will »eines der größten Freizeitresorts in ganz Europa« in Gentzrode aufziehen. Bigger, louder, more teeth?

Es ist leicht, an Orten wie Gentzrode vorbeizufahren oder über sie hinwegzufliegen. Sich nach einem kurzen Blick recht zu geben: Ist öde dort, muss ich nicht hin. Es ist interessanter und aufrichtiger, sich diesen Orten in Ausführlichkeit zu widmen, um sie in Ruhe zu befragen.

Theodor Fontane nahm sich dafür 30 Jahre – die Antworten, die er in seinen Wanderungen fand, füllen fünf Bände. Sie sind von einer Romantik, wie wir sie uns heute zu selten erlauben, wie wir sie teilweise womöglich längst verlernt haben. Zu Fontane sprach an manchen Orten die Stille, sie sprach zu ihm dort, wo man heute recht schnell urteilen würde: Ist halt echt nichts los hier. Theodor Fontane forderte von sich selbst, bei der Reise in die Mark »mindestens keine Voreingenommenheit« im Sinn zu haben – und er empfahl dies auch allen möglichen Nachahmern. Unvoreingenommenheit, was für eine schöne Tugend. Fontane schließlich sagte, das Beste, das einem in der Mark begegnen werde, das seien die Menschen, »vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den ›gemeinen Mann‹ zu finden.«

Durchreisende Journalisten verstehen sich heute zuweilen darauf, gemeine Worte für den rechten Mann in Brandenburg zu finden. Vor dem muss und sollte niemand die Augen verschließen. Vor allem anderen aber auch nicht. Theodor Fontane hielt fest: »Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte.« Er schrieb, man solle dieser Heimat mit »Liebe und Anhänglichkeit« begegnen sowie mit »dem guten Willen … das Gute gut zu finden«. Gut. Das mache ich jetzt mal.

Ich möchte also Brandenburg entdecken. Ich möchte dort sein, ich möchte dort wandern, einen Sommer lang. Ich möchte zuhören, Menschen, Gebäuden, der Natur. Ich möchte den guten Willen haben, das Gute gut zu finden. Es geht um eine atmosphärische Vermessung der Gegenwart hauptsächlich dort, wo statistisch gesehen die meisten Menschen ihr Leben führen, nämlich außerhalb der großen Städte. Es geht darum, die Neugier auf das zu lenken, was vor der Haustür liegt. Es geht um den festen Glauben, dass Abenteuer wie von selbst passiert, wenn man einfach mal losgeht, mit einem Rucksack, mit etwas Bargeld, mit keinem Plan außer dem, nicht schon am Abend wieder daheim zu sein.

Marquardt, Karwe, Fehrbellin. Werben, Menz, Hermannswerder. Jeder Ort: ein Versprechen. Fast egal, welches davon eingelöst wird und welches nicht. Der Anspruch ist, keinen Anspruch zu haben. Der Anspruch ist, Freiheit zuzulassen und die Größe kleiner Augenblicke zu sehen. Es geht letztlich darum, der Gegenwart Größe abzuringen. Es geht darum, mögliche Normalitäten der Zeit zu finden, in der ich lebe. Es geht darum, nicht die Vergangenheit oder irgendwelche Klischees das Bild der Heimat bestimmen zu lassen. Es geht darum, sich stattdessen ein eigenes Bild zu machen, hier und dort und am besten zufällig.

Immer dabei ist einer, der mich trägt. Oft trägt er mich friedlich und stumm, manchmal sagt er auch was. Der, der mich trägt, ist Theodor Fontane, sozusagen mein ganz persönlicher Brontosaurus.