Zum Buch
»Das Leben ist als Abenteuer und Entdeckungsfahrt gedacht.«
Cornelia Funke
Wagen wir als Eltern zu wenig?
Was ist wichtig für Kinder?
Wo finden sie Orientierung angesichts einer immer komplexeren Welt?
Die Journalistin Bernadette Conrad geht mit der Starautorin Cornelia Funke ins Gespräch darüber, wie wir unsere Kinder fördern können, »groß und stark« zu werden. Gibt es Kindheit heute überhaupt noch? Versagt der alte Zauber freien Spielens in der Natur vor der Magie von Youtube und Instagram?
Ein thematisch vielfältiger Austausch unter Müttern – und ein Streifzug durch die Erzählwelt von Cornelia Funke.
Zu den Autorinnen
BERNADETTE CONRAD arbeitet als Literatur- und Reisejournalistin für DIE ZEIT, das Schweizer Radio SRF2 Kultur u. a.. Zuletzt erschienen von ihr »Die vielen Leben der Paula Fox« (C. H. Beck) sowie »Die kleinste Familie der Welt« (btb). Bernadette Conrad lebt in Berlin.
CORNELIA FUNKE ist eine der erfolgreichsten Jugendbuchautoren aller Zeiten. In ihren millionenfach verkauften Büchern hat sie sich als visionäre Erzählerin erwiesen – und dem Mutigen, Aufbruchsbereiten stets einen wichtigen Platz eingeräumt.
Bernadette Conrad
Groß und stark werden
Kinder unterwegs ins Leben
Gespräche mit Cornelia Funke
Mit Dank (für ganz Unterschiedliches)
an Euch, die Ihr mir eine Lebensrunde voraus seid:
Ola, Mutter, Traudl, Gundl, Imma und Hans-Ruedi,
meine lieben New Yorker Martin Greenberg und
Ruth Schwarzhaupt.
Inhalt
1. Den Kindern auch durch den Spiegel folgen. So fing es an
2. Im Zug. Am Saum des Himmels. So ging es weiter
3. »Manche Schritte muss man gehen – trotz der Angst und mit der Angst«
4. Dahinter ist die Freiheit
5. »Zu sehr beschützen kann gefährlich sein«
6. Was ist Kindheit? Gibt es sie noch?
7. »Ein Kind muss im Schlamm stehen und die Welt entdecken können«
8. Gemeinschaft in Freiheit – zerbrechlich und stark
9. »Frei sein wollte ich als Kind immer mehr als alles andere«
10. Und deswegen haben wir uns nie gefürchtet. Vom Schützen und den Grenzen von Schutz
11. »Findet heraus, welches Werkzeug ihr seid!«
12. Mutter sein: von guter und von schlechter Nähe
13. »Ich liebe es, dass meine Kinder ganz anders sind als ich«
14. Vom Zutrauen zum Selbstvertrauen. Vertrauenswürdig erziehen
15. »Sie müssen anders sein als wir, weil sie in einer anderen Welt leben werden«
16. Computer, Spiele, Serien: Fluchtorte und Glücklichmacher
17. »Ich habe immer diesen Buchstabenhunger gehabt«
18. Bist du smart – oder noch phone? Oder: Was sind unsere wahren Schätze?
19. »Schule darf nicht alles dominieren. Kindheit entfaltet sich in unverplanten Räumen«
20. Schule, Lernen, Leben: Sollen wir ihnen den gnadenlosen Wettbewerb als erstrebenswertes Leben verkaufen?
21. »Es macht das Leben so viel reicher, wenn man Fremde anlächelt«
22. Verschieden, aber gemeinsam. In großer Mission unterwegs
23. »Schreiben ist mit dem Universum reden«
24. Kreativität ist ein Prozess. Oder: Fehlstarts und Sackgassen gehören dazu
25. »Finden wir wirklich, dieser Planet gehört nur den Menschen?«
26. Natur ist der Raum, in dem Blumen und Kinder gedeihen
27. »Seltsamerweise lernen wir durch Schmerz vermutlich am besten«
28. Dunkle Dinge und eine Brücke aus Licht
29. »Das Leben ist als Abenteuer und Entdeckungsfahrt gedacht«
30. Eine Feuerprobe und ein gutes Ende
Dank
Bibliographie
Anmerkungen
Ich hatte vor dem überdachten Gartentor gestanden und sie vom Haus herkommen sehen, ein offenes Lächeln im Gesicht. Cornelia Funke hatte das Tor aufgeschlossen, und dass ich von da an in einer anderen Welt stand, hing sicher nicht nur mit dem bunt blühenden Garten und der Intensität der kalifornischen Frühlingssonne zusammen, die den Rasen unter den Bäumen mit Licht sprenkelte.
An Korbstühlen, die um einen runden Tisch standen, und mit Sonne im Rücken hatte unser Gespräch begonnen. Ein Interview für eine Zeitung war verabredet. In diesem Frühjahr 2015 war gerade »Das goldene Garn« erschienen, der dritte Band ihrer Jugendbuch-Reihe »Reckless«, in deren Mittelpunkt ein mutiger junger Mann namens Jacob Reckless steht. In einer Notsituation seines Lebens – sein Vater war verschwunden – hatte Jacob eine andere Welt entdeckt: die »hinter unserer wirklichen Welt« liegende Spiegelwelt.
»Ich schreibe nicht über Phantasiewelten, damit man sich in ihnen vor dieser versteckt«, hatte Cornelia Funke in diesem Gespräch gesagt, kurz in ihre Teetasse geschaut, und dann in die weiß und rot blühenden Büsche ringsum. »Es sind Welten, die hoffentlich helfen, diese Welt etwas klarer zu sehen. Und Mut und Kraft geben, in ihr zu bestehen.«
Ich hatte die Bücher von Cornelia Funke zu lesen begonnen, als meine Tochter neun oder zehn war. Wir lasen »Herr der Diebe« zusammen, in dem Kinder zwischen Verzweiflung und Abenteuerlust ein zerbrechliches Notzuhause in den verwinkelten Gassen Venedigs finden. Die Filme über die Mädchenbande der »Wilden Hühner« hatten wir geschaut und dann auch die Bücher gelesen: über die fünf ganz unterschiedlichen Mädchen aus ganz verschiedenen Familien, die es mit ihrer Bande der »Wilden Hühner« schaffen, gemeinsam stark und füreinander da zu sein.
Es war das Wilde, Mutige und Aufbruchsbereite an ihren Figuren, das mich interessierte – und wie Cornelia Funke es jeweils verschränkte mit der Not, die es in vielen Kinderleben gibt. Schweren Kinderschicksalen. Unerträglichen Lebenssituationen.
Ihre kindlichen Helden sind Grenzgänger und Grenzgängerinnen, nicht selten auch Einzelgänger. Leidenschaftliche Wesen wie Jacob, wie die 12-jährige Meggie aus der Tintenwelt oder der ebenfalls 12-jährige Prosper aus »Herr der Diebe«, die sich von keiner Kraft der Welt von sehr gewagten Aufbrüchen abhalten lassen. Für sie sind diese Aufbrüche alternativlos. Sie wachsen an ihnen – aber gehen an den Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen sie nicht rechnen konnten, auch mal in die Knie. Sie kennen das Leben in Parallelwelten, liebäugeln mit Grenzübertritten, sind »Gestaltwandler« und Wanderer zwischen den Welten.
Die Herausforderungen, vor denen diese jungen Abenteurer stehen, sind selten schnell erledigt. Alles andere als das. Die meisten von ihnen bewohnen nicht nur eine Geschichte oder ein Buch, sondern eine ganze Welt, die sich dann über etliche Bücher erstreckt: die Tintenwelt mit Meggie, die Spiegelwelt mit Jacob Reckless und die Drachenreiterwelt mit dem Drachen Lung und seinem Gefährten, dem Jungen Ben. Sie alle haben weite Wege zu gehen und müssen Stärke beweisen, immer wieder, bevor ihr Leben wirklich besser wird. Sie müssen an zahlreichen Prüfungen wachsen.
Und dabei sind sie vollkommen verschiedene Persönlichkeiten. Möglicherweise haben sie nur dies gemeinsam: die unbedingte Entschlossenheit, nach vorne zu gehen. Aus Not wie Prosper. Aus unbezwingbarer Neugier wie Meggie. Aus Liebe und Solidarität wie Drachenreiter Ben: Sie betreten neues Land, lassen Altes hinter sich, weil nichts anderes ihnen so wichtig oder auch nur möglich erscheint wie dieser Aufbruch.
Auch Cornelia Funkes eigener künstlerischer Weg hatte mit einer Prüfung und einem Aufbruch begonnen. Oft nicht glücklich über die Bücher, die man ihr als Illustratorin vorlegte, hatte sie sich dann selbst ans Bücherschreiben gewagt. Sie hatte sich andere Bücher gewünscht – solche, die besser zu ihren eigenen inneren Bildern passen würden. Ihrem ersten Titel »Die große Drachensuche, oder Ben und Lisa fliegen aufs Dach der Welt« aus dem Jahr 1988 sind mittlerweile fast 60 Titel gefolgt. Mit »Herr der Diebe« 2000 und den Tintenwelt-Büchern ist sie weltberühmt geworden.
Nun, während unserer Stunden am Gartentisch, begegnete ich einem Menschen von spontaner Offenheit. Neugierig darauf, wer da durch ihr Gartentor kam. Von ihr selbst als Person ging etwas Fröhliches, fast Übermütiges aus. Sie erzählte von ihrem Traum vom Fliegen und davon, wie sie mittlerweile auch mal selbst am Steuerknüppel einer Cessna gesessen habe. »Eine andere Art von Fliegen erlebe ich ja im Schreiben«, sagte sie. Vor allem sprachen wir an diesem Interview-Nachmittag über »Reckless«, diese »Welt«, die sie nach der berühmten Tintenwelt erschaffen hatte. Im Zentrum stehen der wilde Junge Jacob Reckless und die abenteuerliche Gegenwelt, die er findet, als er nach seinem Vater sucht. Cornelia Funke beschrieb, welche Herausforderung es für sie auch bedeutet hatte, die »Reckless«-Reihe durchzusetzen gegenüber einem großen Publikum, das nach den berühmten Bänden »Tintenherz«, »Tintenblut« und »Tintentod« immer mehr von der Tintenwelt wollte. Eine Herausforderung zunächst ganz für sie persönlich, die gewusst hatte, dass sie Erwartungen enttäuschte.
Beim Rundgang durch ihr malerisches, luftiges Holzhaus – Räume in leuchtendem Rot, Licht, krächzende Papageien auf einem Ast – erzählte sie, wie die Figur ihres Jacob Reckless ihr regelrecht von hinten auf die Schulter getippt hatte. An jenem Teich mit Seerosen, an dem wir gerade standen, hätte sie gekniet und Blätter aus dem Teich gefischt, da sei er plötzlich präsent gewesen wie ein wirklicher Mensch, der sagte, »mach mal voran.« Das war im Jahr 2008 gewesen.
* * *
Als wir uns kennenlernten, war ich ein großer Fan der Tintenwelt.
Auch mir war der Eintritt in die Spiegelwelt schwerer gefallen als der in Cornelia Funkes andere Welten. Lag es an Jacob, dem spröden, schweigsamen Jungen, der sich in der anderen Welt so eigenwillig seinen Weg in eine Existenz als Schatzsucher bahnt und andere gar nicht zu brauchen scheint? Wer ist dieser Junge überhaupt?
Verzweifelt sucht er – so erzählt es der Buchanfang – im Zimmer seines plötzlich verschwundenen Vaters nach irgendwelchen Zeichen. Aus einem Buch fällt ein Zettel: »DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT« – und als Jacob im Spiegel sein Gesicht mit der Hand verdeckt, steht er im Turmzimmer in einer vollkommen anderen Welt. Größer als seine Angst ist seine Faszination. Und da »Angst ein Gefühl war, das ihm schon immer gefallen hatte«, wird er von nun an den Schlüssel in die andere Welt benutzen, um sich dort ein Leben aufzubauen.
Nur wegen Will, dem kleinen Bruder, kehrt Jacob überhaupt noch zurück. Dass die Mutter mit der Fürsorge droht, dass sie weint und fleht, hält ihn nicht zurück.
In der Welt hinter dem Spiegel gibt es Däumlinge und Zwerge, Wassermänner und Goldraben. Es gibt einander erbittert bekämpfende Armeen, und es gibt Orte mit windschiefen, von Gaslicht beleuchteten Straßen, in denen man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt fühlt. Wird Jacob dort seinen Vater finden? Und wird dies überhaupt die wichtigste Frage seiner Suche bleiben?
Wie schwer dieser Jacob sich tat, Verbindungen zu halten. Sie tat mir leid – die Mutter, die einfach ihren Sohn verschwinden sah.
Fast ohne es zu merken, kamen Cornelia Funke und ich an diesem ersten Nachmittag unserer Bekanntschaft bei einem Gespräch unter Müttern an. Damit hatte ich nicht gerechnet – obwohl es so nahelag. Cornelia Funke, die Schriftstellerin, ist ja Cornelia Funke, die Mutter, gewesen, seit sie und ihr Mann Rolf Frahm 1989 ihr erstes Kind Anna bekommen hatten.
Kinder zu haben hätte ihr Schreiben noch einmal deutlich verändert, sagte Cornelia Funke. Vor allem ihre erwachsenen Figuren wären sonst anders geworden. Als Mutter lerne man auf andere Weise. Muttersein definiere einen noch mal neu. Seit sie selbst Mutter sei, gebe es diese zusätzliche innere Schicht, die mitwirke beim Schreiben. »Eine wesentliche Schicht.«
In unserem Gespräch kommen wir auch auf die Lebenssituation, in der sich die Schriftstellerin befand, als Jacob Reckless so unvorhersehbar am Teich auftauchte. Damals hatte sie gerade drei Jahre in Los Angeles gelebt. 2005 waren sie, ihr Mann Rolf Frahm und die beiden Kinder Anna, 15, und Ben, 10, hierhergezogen, hatten den Hausstand in Hamburg aufgelöst. Ein Jahr später wurde Rolf Frahm schwer krank und starb. Cornelia Funke war nun allein mit den Kindern.
»Die vor dem Spiegel wartende Mutter – vielleicht sind wir die alle manchmal?«, formuliert sie an diesem Nachmittag. »Wenn ich über Jacobs Mutter schreibe, frage ich natürlich: Warum bist du nicht durch den Spiegel gegangen, Rosamund, sondern davor stehen geblieben? Warum hast du nicht hartnäckig nach deinem Sohn gesucht, als er sich auf die Suche nach seinem Vater begab? Ich glaube, dass man seinen Kindern ›durch den Spiegel‹ nachgehen muss.«
Dieser Satz hatte mich verblüfft – auch deshalb, weil er ein Rätsel enthielt. Cornelia Funke, die große Verfechterin kindlicher Stärke, ja, Autonomie, betonte hier vehement eine elterliche Aufgabe, die lautete: einem Kind nachgehen, das nicht mehr klein und hilflos ist, sondern im Gegenteil einen autonomen Schritt versuchte. Wieso da folgen? Hieße das nicht, die Autonomie nicht ernst nehmen, nicht zutrauen? Liegt da nicht ein Widerspruch?
Ich wollte mehr wissen von der Gedankenwelt hinter ihren Büchern. Was dachte Cornelia Funke über kindliche und jugendliche Entwicklung – und über die Bedingungen, die Kinder brauchen, um gut ins Leben zu starten? Welche Überzeugungen hatte sie, was elterliche Begleitung betraf? Was war ihr selbst als Mutter wichtig – oder gar heilig? Wie ging sie mit den Aufbrüchen ihrer eigenen Kinder um?
Ein knappes Jahr später war ich unterwegs im Zug von Süddeutschland nach Berlin, als sich ein junger Mann in Radlerkluft auf den Platz mir gegenüber setzte. Gerade hatte er im überfüllten Wagen nach einer Möglichkeit gesucht, sein erstaunlich klein zusammengefaltetes Rad im Gepäckfach unterzubringen, nun grüßte er mich kurz, freundliches Lächeln, blitzende Augen. Er sei unterwegs zum Probelauf für ein Langstrecken-Radrennen in Leipzig, 400 Kilometer in 24 Stunden, erzählte er. Dass er außerdem Student der Umweltwissenschaften sei, und es nur dank genau getaktetem Tagesablauf schaffe, neben dem Studium die Trainingszeiten – und ein soziales Leben mit Freundin und Freunden – unterzubringen.
»Ich will eben alles«, sagte er fröhlich. Wir waren ins Gespräch gekommen. Er erzählte von seiner anderen sportlichen Leidenschaft: dem Gladiatorkampf, einer ungewöhnlichen und risikoreichen Sportart, die ihn auch wegen ihrer emotionalen Dimension interessiere. »Die feste Struktur und die Kampfregeln helfen einem, Aggressionen auszudrücken«, beschrieb er. »Man verliert das Bedürfnis, im Alltag aggressiv zu sein«. Er sei als Kind ein »Wüterich« gewesen. Weil es für Jungen so wenig Orte gebe, auf kreative Art ihre aggressiven Energien zu leben, habe seine Mutter sogar ein Projekt mit Künstlern entwickelt.
»Sie haben vieles richtig gemacht«, sagte Leon über seine Eltern – und spätestens jetzt musste ich an das Buch denken, das ich mittlerweile begonnen hatte, zu erdenken und zu strukturieren: über Cornelia Funke und ihren Enthusiasmus für das starke Kind. Ich erzählte ihm auch, dass ich mit der Schriftstellerin im Gespräch war.
»Cornelia Funke?«, fragte er ungläubig, und sein Blick bekam etwas Entrücktes. »Igraine Ohnefurcht! Der Weihnachtsmann, der vom Himmel fiel! Ben, der die rote Wut kriegt … All das war ich als Kind! Cornelia Funke war meine Heldin!«
Igraine habe perfekt in seine Welt aus Drachen und Elfen gepasst. Von ihr habe er lernen können. »Auch für mich waren meine Eltern ja alles! In Igraine musste ich mir vorstellen, wie es wäre, wenn sie plötzlich nicht mehr in Reichweite wären.« Leon schüttelte aufgeregt den Kopf. »Irgendwie weiß man das ja als Kind, dass es Situationen gibt, die man ohne seine Eltern bestehen muss.«
Ich hörte staunend einem jungen Mann zu, dessen Kindheitsfiguren das Zeug gehabt hatten, ihn bis ins Erwachsensein zu begleiten. Er erinnerte sich an Details aus Cornelia Funkes Büchern so genau, als hätte er sie gestern gelesen. Einen Spruch aus »Igraine Ohnefurcht« habe er durch die Jahre des Großwerdens mitgenommen, und wenn ihn wieder mal die Wut packt, funktioniere diese Erinnerung »wie ein Zauberspruch, um wieder die Kontrolle zu bekommen.« Heute habe er andere Wege, um mit Wut umzugehen, aber der Zauberspruch lasse ihn immer wieder die Kraft von damals fühlen und die guten Erinnerungen. Demnächst, sagte er, werde er »Drachenreiter« seiner Freundin vorlesen …
* * *
Cornelia Funkes Welten – so scheint es – ermöglichen es ihren Besuchern, hin und herzuwandern zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Aus der Fantasywelt zurückzukehren und zu Hause zu entdecken, dass sie im Rucksack etwas mitgebracht haben aus der anderen Welt; Schätze – oder auch Werkzeug, das ihnen im Leben hilft. Beim Größerwerden. Fast so, als wären sie Doppelbürger – nicht nur in einer, sondern in zwei Welten zu Hause.
Von dieser Vermittlung von Phantasie und Wirklichkeit hatte der junge Mann im Zug erzählt. Immer wieder während meiner weiteren Recherche fiel er mir ein – und dass er aus Cornelia Funkes Büchern so viel mehr zurückbehalten hatte als Geschichten. Ein Instrumentarium, das für sein Leben taugte.
Was ist das für ein Zauberstab, mit dem Cornelia Funke die Dinge berührt?, fragte ich mich an einem Frühlingstag 2017, als sie mich bei einem nächsten Besuch in Kalifornien an einen »magischen« Ort mitnahm: ihren »Saum des Himmels«. Der liegt in den Santa Monica Mountains, der gebirgigen Wildnis nahe der Stadt Los Angeles, in der Pumas unterwegs sind und Kojoten; zwischen verschlungenen Straßen und endlos weiten Canyons, in denen sich Tiere genauso gut verstecken können wie berühmte Hollywoodstars. Cornelia Funke selbst hatte, nachdem die Kinder auf eigenen Füßen standen, vor Kurzem die Stadt hinter sich gelassen, um näher am Meer zu wohnen.
Wir waren von dem Haus, indem sie zur Zwischenmiete wohnte, losgefahren; ihr Wagen hatte sich von Straße zu Straße weiter ins unwegsame Gelände der Berge gearbeitet. Unmöglich, bei den vielen Kurven die Orientierung zu behalten. Ab und zu, für den Bruchteil einer Sekunde, konnte ich weit unten einen Fetzen Meer sehen. Dann war sie von der Straße abgebogen in einen holprigen Weg, hatte den Wagen geparkt, und ich war ihr gefolgt über den mit Gras bewachsenen, mit felsigem Geröll bedeckten Pfad bis zu einer Art in die Gebirgslandschaft gedrückter Bucht. Felsblöcke hie und da, weißliche Büsche, Steineichen. Alles gesprenkelt mit violetten Frühlingsblumen. Weit und breit kein Geräusch außer dem Gekrächz von kreisenden Raben.
Nach unten fielen in weiten grasigen Terrassen die Berge viele Kilometer weit ab, bis hinunter zum Meer, das man sehr entfernt unten im Dunst liegen sah. Häuser waren nicht zu sehen. Hier fühlte man sich dem Himmel näher; eingespannt zwischen Himmel und Erde.
Cornelia Funke hat dieses Land gekauft, um es zu lassen, wie es ist. »Ein Stück Wildnis beschützen«, nennt sie das. Einen Ort der Inspiration schaffen. Nun stiefelte sie – strahlend, wie so oft – umher; eine jung wirkende Frau von 59 Jahren, die von sich sagt: »Ich bin ein Kind, das so tut, als wäre es erwachsen – und gleichzeitig uralt ist.« Gummistiefel waren wegen der Schlangen angezeigt. Die Vögel mit den enormen Schwingen hoch oben waren Adler. Ich setzte mich auf eine hölzerne Bank – den einzigen Hinweis auf Zivilisation, oder wie Cornelia Funke sagen würde: das einzige »Menschengemachte« hier oben.
Es war nun zwei Jahre her, dass ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Zu den ersten Fragen waren etliche neue hinzugekommen. Was geschah mit Kindern, die sich in eine »Welt hinter dem Spiegel« verabschiedeten? Hätte die Spiegelsymbolik auch Eltern etwas zu sagen, die schwierige Zeiten mit ihren heranwachsenden Kindern erleben?
Als ich mich danach kreuz und quer durch ihr Werk gelesen hatte, erhärtete sich eine Vermutung: dass Cornelia Funke für die Kinder und Jugendlichen dieser Welt nicht nur deshalb so wichtig ist, weil sie so spannend erzählt. Weil sie eine Begabung für Magie hat und ihre Erzählbögen so weit spannen kann, dass sie jenseits von einzelnen Büchern ganze »Buchwelten« erschaffen hat. Sondern weil sie eine Visionärin ist, deren Geschichten und Bilder, Figuren und Sätze in den Kindern wirken; es hie und da schaffen, ihnen taugliche Wege in die Welt hinaus zu bahnen. Sätze, die auch Eltern erreichen können, die mit der Frage beschäftigt sind, in welche Welt wir unsere Kinder entlassen. Was können, was sollten wir ihnen mitgeben, damit sie zwischen Schuldruck, Instagram und Klimawandel einen Platz für sich selbst finden und ihre Aufgabe im Leben? Damit sie diese Welt, so beunruhigend sie ist, dennoch lieben lernen?
Nicht zufällig hat Cornelia Funke ihr letztes Buch »Die Feder eines Greifs« »nicht für die geschrieben, die die Welt regieren wollen. Nicht für die, die ständig beweisen müssen, dass sie stärker, schneller, besser als alle anderen sind. Oder für die, die den Menschen für die Krone der Schöpfung halten. Diese Geschichte ist für all die, die den Mut haben, zu beschützen statt zu beherrschen, zu behüten statt zu plündern und zu erhalten statt zu zerstören«, wie sie in einem Prolog zum Buch schreibt.1
Es ist die hoffnungsvolle Weise auszudrücken, was sie besorgt: eine dramatische Umweltsituation, die sich verschärft dadurch, dass »Kinder, die kein Verhältnis zur Natur haben, sie auch nicht beschützen werden.« So hatte sie es in einem unserer vielen Gespräche gesagt. Auch heute – und gerade heute, in einer Zeit, da Kindheit häufig zu einem teils absurd vorgefertigten, mit unzähligen Sicherheitsvorkehrungen versehenen Raum geworden ist, lohnt sich das Nachdenken darüber, was wir Kindern mitgeben können und sollten, damit sie Lust und Kraft haben, genau diese Welt an ihrer Stelle ein kleines bisschen besser zu machen.
Schule. Soziale Medien. Aufbrechen wollen und müssen, seinen eigenen Weg finden, seine eigene Spur ziehen. Sich zu der Zeit positionieren, in der man lebt: der Zerstörung von Natur und Umwelt. Dem immer größer werdenden Gefälle zwischen Arm und Reich. Dem immer größeren Druck der Leistungsgesellschaft. Aber auch den in einer internationalen Welt neu entstandenen Möglichkeiten von Austausch und Horizonterweiterung.
Cornelia Funke war offen gewesen für meine Idee eines Buches, für das ich einerseits ihre Bücher befragen und abhorchen würde auf Themen der Kindheit hin, zugleich aber auch mit ihr ins Gespräch gehen wollte und ganz konkret nach ihren Gedanken und Meinungen und Erfahrungen fragen.
Keine Expertengespräche – ganz im Gegenteil würde es immer wieder passieren, dass meine Fragen die Schriftstellerin in thematische Bereiche zogen, zu denen sie gar nicht so ausgiebig befragt werden wollte. Viel lieber, zum Beispiel, wollte sie über das Thema des »Nebenherlernens« sprechen als über schulisches Lernen. Sie hatte mir großzügig und spontan die Tür geöffnet. Was kam, war nicht nur einfach – wie könnte es auch? Es ist nicht einfach, ein Buch über sich und seine Gedanken schreiben zu lassen; es fordert Mut und Vertrauen. Zu denen man sich, auch durch Krisen hindurch, immer wieder neu entschließen muss. Die Tür zum Gespräch hielt sie immer offen.
Nun saß ich also oben an ihrem »Saum des Himmels« und dachte darüber nach, was es – neben Geld, natürlich – braucht, um erträumte und ersehnte Orte Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Talent? Die Entscheidung, mutig zu sein? Entschlossenheit, das ganz sicher. So würde ich sie nun immer wieder erleben: mit Gummistiefeln, um im Garten zu arbeiten. Mit Handschuhen, um Pflanzen zu versetzen oder morgens beim Füttern der Peking-Enten, die sie davor gerettet hatte, in einem China-Restaurant verspeist zu werden. Tatkräftig. Ungemein fleißig. An fünf Projekten gleichzeitig arbeitend. Junge Künstlerinnen und Künstler aktiv unterstützend.
In »Drachenreiter« ist der »Saum des Himmels« die ursprüngliche Heimat der Drachen. Jener magische Ort, den sie verloren haben und wieder suchen, als ihnen klar wird, dass die Menschen ihnen auch ihren aktuellen Lebensraum streitig machen. Denn die Menschen – »sie sind das Gefährlichste auf der Welt.« Und so machen sich der Drache Lung und sein Drachenreiter Ben auf den Weg um die halbe Welt. »Kehrt zurück zum Saum des Himmels«, hatte der älteste, weise Drache ihnen geraten. »Das Davonlaufen muss ein Ende haben.« Es wird Zeit für einen sicheren Ort.
Für uns (gefährliche) Menschen wäre es Zeit – so liest man zwischen den Zeilen –, die wirkliche Welt zu einem weniger unwirtlichen Ort zu machen. Platz für Drachen zu schaffen, sozusagen.
Cornelia Funke, war das nun Wirklichkeit oder Phantasie? Dass Jacob, der Verwegene, eines Tages in Ihrem Garten hinter Ihnen stand und Ihnen auf die Schulter tippte wie ein richtiger Mensch?
Ich halte jede Art von Phantasie für eine Frucht der Wirklichkeit! Für mich sind Phantasie und Wirklichkeit ja nicht Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Ich glaube vielmehr, dass wir uns gar nichts vorstellen, was nicht von der Wirklichkeit inspiriert ist, in der wir leben.
Insofern war Jacob am Teich ein Ausdruck der Wirklichkeit in dem Moment – inspiriert von der Ruhe, die die Natur mit sich bringt. Du hockst da und pflückst Blätter aus dem Teich, dein Geist wird leicht, und du verbindest dich mit allem, was da ist. Die Antennen, die man hat, sind ganz auf Empfang gestellt.
Die Natur macht es also leichter, Zugang zu dieser umfassenderen Wirklichkeit zu bekommen?
Auf jeden Fall. Natur hat immer unglaublich viel ausgelöst bei mir. Ich brauchte immer dies Außen. Zurzeit bedeutet das, ich muss ganz regelmäßig am Strand spazieren gehen. Eine Weihnachtsgeschichte, die ich kürzlich schrieb, habe ich regelrecht empfangen während dieser Strandspaziergänge. Drei große Spaziergänge, und jedes Mal brachte ich ein Stück der Geschichte mit nach Hause. Ganz viel Inspiration geschieht, während man in Bewegung ist.
Man wächst ja in dem Glauben auf, alles käme von innen. Aber ich habe das nie geglaubt, dass die Geschichten alle aus mir kommen. Die endlos vielen Schichten in uns werden von außen inspiriert.
Und jeder macht dann mit diesen Impulsen von außen etwas anderes und Eigenes?
Natürlich, unser Innenleben ist ja ganz unterschiedlich. Innen tragen wir das Werkzeug, das das interpretiert, was man von außen empfängt. Jeder von uns ist eine andere Art von Künstler.
Und für Sie entstehen auf diese Art dann Ihre phantastischen Geschichten, Ihre Fantasybücher?
Mit den »Wilden Hühnern« habe ich ja auch eine Buchreihe geschrieben, in der ich mich stark mit sozialer Realität auseinandersetze. Aber dort hat mir irgendwann eine Art spiritueller Ebene gefehlt. Zwar konnte ich in den »Hühnern« über die großen Fragen nachdenken – aber es blieb die Sehnsucht, zeitlosere Geschichten zu schreiben. An Orte zu gehen, an denen ich noch nicht war. Diese Sehnsucht nach unbekannten Orten treibt mich stark an beim Schreiben.
So wie in »Reckless« also? Jacob wird ja selbst von dieser Sehnsucht nach dem unbekannten Ort angetrieben … Er steht für Mut und Aufbruchsgeist. Ist das etwas Wichtiges für Sie?
Jacob als Figur hat für mich etwas sehr Befreiendes: Er entdeckt eine neue Welt, ohne zurückzuschauen, rücksichtslos. Er denkt nicht nach, schleppt keine Verantwortung mit. Das ist etwas, was ich nie im Leben gemacht habe und vermutlich auch nicht könnte. Aber es ist wunderbar, mich wenigstens schreibend so benehmen zu dürfen … In diesem Sinne ist mir Jacob sehr nahe.
Und natürlich gibt mir Fantasy da eine andere Freiheit, als ich sie in den »Wilden Hühnern« hatte. Auch da hätte es mich interessiert, die Ebene des Menschengemachten zu verlassen. Was würde mit Sprotte passieren, wenn sie sich tatsächlich in ein Huhn verwandeln würde? Oder wenn die wilden Hühner, also die Mädchen, sich in die Pygmäen, die Jungen, verwandelten?
Ein Mensch der Aufbrüche und Verwandlungen sind Sie ja auch im wirklichen Leben, oder? In den vergangenen 15 Jahren haben Sie viele Aufbrüche und Neuanfänge gewagt.
Das stimmt – wenn man einmal damit angefangen hat, wird jeder nächste Aufbruch leichter. Aber ich bin das eher in meinem späteren Leben geworden.
Ich war eine recht brave Jugendliche, die nicht mal in den Schüleraustausch gehen wollte. Es ist kein Zufall, dass meine Kinder im »Herr der Diebe« wegrennen; ich habe mich als Kind ja selbst nicht weggetraut. Aber im Geist bin ich ständig aufgebrochen, war ich in Büchern unterwegs, von dem Gefühl besessen, woanders hin zu wollen. Ich war völlig fasziniert von »Raumschiff Enterprise« – wollte Astronautin werden, als ich elf war. Weg von der Welt – das war für mich als Kind ein Ziel. Bei Indianern leben zum Beispiel. Oder durch einen Schrank in eine andere Welt gelangen. Ich habe mir ständig Häuser in der Wildnis gebaut. »Tom Sawyer« war mein Lieblingsbuch – aber verliebt war ich in Huckleberry Finn! Er war mein Held.
Aber eben – es waren Aufbrüche, die immer zunächst im Kopf stattfanden.
Sie waren also innerlich immer ein Aufbruchsmensch – haben aber den äußeren wirklich großen Aufbruch erst später im Leben gewagt?
Unseren Aufbruch nach Amerika 2005 haben wir ja zusammen gewagt, als Familie. Und wir sind auch zunächst für eine »Probezeit« gegangen.
Wieso eigentlich Los Angeles?
2003 haben die »Independent Booksellers of America«, eine Vereinigung der unabhängigen Buchhändler Amerikas, mir ihren Booksense Award verliehen, und ich reiste nach L.A., um ihn entgegenzunehmen. Und da ich immer mit Familie gereist bin, waren Rolf, Anna und Ben dabei. Wir wohnten im Loeb Hotel in Santa Monica, es war unsere erste Erfahrung mit Kalifornien, alles schien so fremd und bizarr … So kann doch ein Strand nicht aussehen! Mit Riesenrad und Häusern direkt am Strand! Wir haben das ungemein genossen, es war eine verzauberte Zeit.
Der nächste Schritt war dann ein Sommer hier, Urlaub am Strand in Malibu. Rolf sagte, ich möchte eine Zeit lang in L.A. leben. Wegen der Kinder haben wir es erst mal drei Monate probiert und dann Anna und Ben entscheiden lassen, ob wir für ein Jahr kommen. Aus dem dann viel mehr wurde.
Warum durften die Kinder entscheiden?
Weil die Konsequenzen für die Kinder ja viel grundlegender waren als für uns. Wir waren Freiberufler und hatten schon Freunde in L.A. Die Kinder mussten ihre Schulen und Freundeskreise zurücklassen, und das Englisch war gerade bei Ben noch nicht sehr gut.
Wir wohnten auf der Malibu Road, und nach zwei Monaten haben beide gesagt, ja, wir wollen hierbleiben. Dann haben wir ein Haus gesucht, aber in Malibu nichts gefunden, worauf uns Freunde baten, doch in ihre Nachbarschaft zu ziehen – was Beverly Hills hieß. Wir fanden unser Zuhause im Lindacrest, nachdem es noch ganz aufregend hin und her ging und so aussah, als bekämen wir das Haus nicht. Es war uns ein wunderbares Zuhause, auch wenn ich zum Kaffee immer ins nahe Hollywood gefahren bin, weil ich Beverly Hills nicht leiden konnte.
Wie leicht oder schwer war der Abschied von Deutschland?
Wir sind im Mai 2005 umgezogen – und haben extra schnell gemacht, weil wir uns sicher waren, dass wir es uns sonst bestimmt noch mal überlegen. Ich kam 2005 auf die »Time Magazine«-Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt und musste zu der Gala, während mein Mann Rolf packte.
Er fuhr mit Hund und meinem Cousin Oliver nach Frankfurt zum Flieger, damit Luna nicht umgeladen werden musste, und ich flog von Hamburg, wodurch ich mit den Kindern einige Stunden eher ankam. Ich erinnere mich, wie ich im Garten am Lindacrest stand und dachte: Himmel, habe ich den Verstand verloren, unser gutes Leben in Hamburg einfach aufzugeben und in der Fremde zu landen?
Möbel mussten wir zunächst mieten, die verschifften Sachen brauchten sechs Wochen, aber wir haben uns dennoch sehr schnell eingelebt. Ich liebe das Haus immer noch, auch wenn ich es inzwischen verkauft habe. Wir werden es alle immer als ein wunderbares Zuhause in Erinnerung behalten, trotz des Schmerzes, der dort ja schon wartete.
Wie war der Neubeginn für Ihre Kinder?
Sie wurden aufs Wärmste aufgenommen. Schnell die richtigen Schulen zu finden war der größte Stress, Anna hatte ein langes Interview an ihrer Wunschschule, an der es ihr bald sehr gut ging. Ben ist sowieso ein geborener Kalifornier, er hatte schon enge Freunde, skatete die Straßen rauf und runter.
Geplant war zunächst ein Jahr, aber wir hatten ein Haus gekauft! In Hamburg lief der Mietvertrag aus … Und nun sind meine Kinder und ich immer noch hier – und ich empfinde, dass ich nicht mehr nur Deutsche bin, sondern auch Amerikanerin.
War es also dieser große Aufbruch, der Sie endgültig zum Aufbruchsmenschen gemacht hat?
Früher war Reisen mir eher lästig. Inzwischen aber bin ich das beste Beispiel dafür, wie Reisen und Leben in der Fremde den Kopf aufmachen. Ich habe so unendlich viel dazugelernt. Das hätten Bücher mir nicht geben können.
Ich hatte immer wagemutige, wilde, ja, tollkühne Menschen in meiner Nähe. Ich bin nie mit jemandem zusammen gewesen, der ängstlicher war als ich. Mein Mann Rolf war so ein Aufbruchsmensch: ein Mensch, der das Risiko nie scheute. Dann kam alles anders, durch seine Krankheit und seinen Tod. Natürlich wächst man dann auf eine Weise, die man nicht erwartet und gewählt hat. Das Gold findet man nur in der Dunkelheit, hat C. G. Jung gesagt; ich hoffe, ich zitiere ihn richtig.
Hat sich mit diesen gewählten Aufbrüchen und auch den Schicksalsschlägen Ihr Verhältnis zur Angst geändert? Haben Sie weniger Angst?
Wenn man Aufbrüche wagt, wird einem ja meist gesagt, dass man mutig sei. Das scheint dann manchmal, als hätte man gar keine Angst gehabt. Aber worum es geht, ist ja, dass man die Schritte, die man gehen muss, dennoch geht – trotz der Angst und mit der Angst.
In diesem Frühjahr 2017 wohnte sie schon an einem neuen Ort; hatte das Zuhause in Beverly Hills verlassen.
Moment, ein neues Zuhause? Ich hatte verblüfft reagiert, als in einer Mail von dieser Veränderung die Rede gewesen war. Die in vielen Farben blühenden Büsche im malerischen Garten; das märchenhafte Haus am Lindacrest Drive, rote Wände, vor denen Papageien geplappert hatten – diese Umgebung, die ich noch lebhaft vor meinem inneren Auge sah, hatte sich mir eingeprägt als eindrucksvolles, über zehn bewegte Jahre hinweg gewachsenes Zuhause. Diesen Ort hatte sie verlassen?
Es war Februar. Cornelia Funke steuerte ihr rotes Auto namens »Rosa« an der Pazifikküste entlang, warme kalifornische Luft wehte durchs Fenster, und ich hörte ihr zu, wie sie von einem Aufbruch erzählte, der ihr Leben noch einmal vollständig durcheinandergewirbelt hatte.
An einem Abend im Jahr zuvor habe sie in ihrem Schreibhaus gesessen, während im Wohnhaus ihr Sohn Ben seine Freunde zu Besuch hatte. Musik lief. Plötzlich hätte sie das Gefühl gehabt, mal »raus« zu müssen. Sie wollte eine Zeit lang richtig nah am Ozean verbringen. Also suchte sie ein Haus am Meer, zur Miete, für einige Monate. Es stellte sich heraus, dass sie nichts finden würde, wenn sie es nicht mindestens für ein Jahr anmietete. Und dann sei schon in dem Moment, als sie zusagte, klar gewesen, dass ihre eigene Entscheidung »größer und grundsätzlicher« sei. »Diesmal hatte mich nicht nur das Leben geschubst und mir einen Hinweis gegeben, wohin ich gehöre. Diesmal habe ich vom ersten Moment an sehr bewusste Entscheidungen gefällt.«
Im alten Haus sei sie seither nicht mehr öfter als vielleicht dreimal gewesen. Nun war sie dabei, eine Familie zu suchen, die es kaufen wollte.
Sie lebte nun allein, beide Kinder waren unabhängig. »Ich bin jetzt auf andere Weise eine aktive Mutter und genieße das sehr. Die Kinder fällen ihre eigenen Entscheidungen, gehen durch eigene Türen, das ist alles sehr aufregend. Das Band wird auf natürliche Weise lockerer.« Überhaupt, sagte sie, empfinde sie das Alter, in dem sie gerade sei, als ein sehr interessantes. Ende Fünfzig. »In Japan gibt es angeblich ein Ritual, in dem man am sechzigsten Geburtstag durch einen Vorhang aus Origami-Kranichen tritt. Und die Freunde rufen: Freiheit!« Eine Freiheit, fügt sie hinzu, die vielleicht daraus erwächst, »dass man bis sechzig viele Dinge erledigt und viele Pflichten erfüllt hat.«
Wir hatten schon beim ersten Besuch über die Bedeutung des Aufbrechens gesprochen. Ich selbst hatte damals nach über 25 Jahren am Bodensee einen Umzug nach Berlin erwogen, wohin es mich zog, hatte ihr aber auch davon erzählt, dass es allerhand Unsicherheiten und auch Gründe dagegen gab. Cornelia Funkes Elan – »wenn einen innerlich etwas ruft, ist es gut, dem zu folgen« – hatte innerlich mitgewirkt bei der langen Kette der Zusammenhänge, die meine Tochter und mich dann tatsächlich diesen Schritt hatten wagen lassen. »Mit jedem Aufbruch, den man wagt, wird der nächste leichter«, hatte sie gesagt. Damals hatte sie von ihrem eigenen neuerlichen Aufbrechen noch nichts gewusst. Das Haus, vor dem das Auto nun hielt, war ein Holzhaus, wie so viele in Los Angeles. In den Hang gebaut, so dass sie von ihrem Schreibtisch aus die weiche, grün gepolsterte Schüssel eines Canyons überblickte, hie und da Häuser locker hineingestreut und ganz in der Ferne das Meer.
Ich hatte also das Glück, Cornelia Funke in einer Lebensphase kennengelernt zu haben, in der ein persönlicher Aufbruch, das Erproben neuer Umgebungen anstand. Auch ihr künstlerischer Weg war ja immer einer von Aufbruch und Erneuerung gewesen – von der Illustratorin hin zur Fantasy-Autorin und zur Kinderbuchautorin realistischer Romane, und auch zur Malerin, wie ich noch sehen würde.
Auch mit den »Reckless«-Büchern befand sie sich mitten in einem Experiment; einer Reise durch die Märchen der Welt. Denn Jacob Reckless, der in der Welt hinter dem Spiegel zu seinem Beruf als Schatzjäger findet, wird diese Schätze entlang der Märchenwelten der verschiedenen Kulturen und Kontinente entdecken. Seit er dreizehn war, habe er kein anderes Ziel und keinen anderen Namen für sich gehabt, so heißt es im zweiten Band »Lebendige Schatten«. Die heiß begehrten Zauberdinge, den gläsernen Schuh, der niemals endende Liebe brachte, der Knüppel, der jeden Feind erschlug … »er hatte sie alle gefunden. Doch sobald er für sich selbst nach etwas suchte, suchte er vergebens …«2
Was für ein Ort ist es, den Cornelia Funke nun für sich gefunden hat; ihre erste Station auf der Suche nach einem neuen Zuhause nahe am Meer? Das Zuhause auf Zeit steht zwischen anderen Häusern, es ist keine protzige Villa, eher von jener Leichtigkeit, die viele der Holzhäuser in der erdbebengefährdeten Gegend haben. Das schräge Dach über dem zentralen Wohnraum lässt viel Luft über dem Kopf. Vor dem Fenster der mit Schnitzereien verzierte Schreibtisch – selbst eine Art Märchenwesen – und ein Blick in die grüne Schlucht. Auf einem Regal ein kunstvoll geschnitzter Drache. Hier fallen sie noch mehr auf als in ihrem alten Haus – die auf den Regalen und Tischen platzierten Drachen, denn auch diesen fabelhaften Wesen gehört ja ein großer Teil von Cornelia Funkes Werk; von ihrem allerersten Buch »Die große Drachensuche« (1988) bis zum gerade erschienenen »Die Feder eines Greifs« (2016) zieht sich dieses Fabelwesen durch die Bücher, und wie ich jetzt deutlich sehe, auch durch die Zimmer.
Draußen vor dem Fenster läuft die Linie der Küstenberge gegen den blauen Himmel. Einzelne Lichter leuchten die hügelige Landschaft aus. Die grüne Kuhle des Canyons, links hinten die Horizontlinie des Pazifiks.
Kein Schreibhaus mehr – dafür eine neue Art von Weite, durch die Natur direkt vor dem Fenster, die Berge, das Meer. Der nicht begrenzte Blick. Der Blick in die Weite.
Tatsächlich sei jetzt die Zeit, ihre Aufgabe im Leben wieder weiter zu fassen, so beschreibt sie es. »Mit Malibu hat sich auch ein Kreis geschlossen«, fügt sie noch hinzu, während sie in der Küche herumwerkelt. Hier hatten sie als Familie ja 2003 während der drei Probemonate gelebt.
Wir sitzen am runden Tisch, von hinten kommt warme Nachtluft herein, und setzen unser Gespräch fort.