Manuela Thoma-Adofo
Auf dem Weg,
den niemand kennt
Eine Sterbebegleiterin
mit Herz und Humor erzählt
Kösel
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ISBN 978-3-641-23417-1
V001
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Für Angelika Niemandt
und meine wunderbare Katarina,
die beide viel, viel zu früh gegangen sind.
Vorwort
Wie alles begann
Eine Goldmedaille und Oma Frieda
Neubeginn und endlich die Ausbildung zur Hospizhelferin
Der Weg endet und ein neuer beginnt
Zündeln bis zum Schluss
Elisabeth im Krankenhaus
Still und leise und mit roten Rosen
Gehen, wenn alles gut ist
Mitten aus dem Leben
Allein sein wollen
Den Tod annehmen
Schmerzfrei und leicht
Hilfe für die Helferin
Begegnungen und Erlebnisse auf dem Weg
Mit dem Rollstuhl auf der A99
Begleitung unerwünscht
Konzerte, Hunde und Kinder
Jeden kann es treffen
Bin ich hier richtig?
Damit es eine gute Wegbegleitung ist
Rituale geben Halt
Wünsche auf dem Weg
Champagner aus der Schnabeltasse
Wenn Sterbebegleitung in die Schule kommt
Wenn Weggefährten zurückbleiben
Kein Happy End
Für einen Moment wieder jung
Kinder begegnen dem Tod
Die Kupplerin im Sterbebett
Unsere Oma Berl ist gegangen
Hospizhelferin: Sensibel oder abgebrüht?
Eine Begleitung der etwas anderen Art
Ein weißer Sarg und 440 Punkte
Mein eigener Weg
Mein Sterben und was ich mir wünsche
Das Geschenk meiner Berufung
Dank
Du steigst ein in den Bus des Lebens
an der Hand deiner Eltern.
Manche Mitreisenden kennst du,
manche lernst du kennen
und manche kennst du nie.
Wenn du meinst, du kennst die Strecke schon,
wechselst du den Bus.
Manche begleiten dich
und manche bleiben zurück
im ersten Bus
und fahren weiter.
Auch jetzt triffst du Menschen.
Du kommst an Kreuzungen und Wege,
manche vertraut,
manche neu
und manche bleiben dir verschlossen.
An den Haltestellen des Lebens
betreten Menschen den Bus,
manche haben ihn auch verlassen,
und wieder glaubst du,
hier war ich schon.
Du wechselst den Bus erneut.
Kann es sein, dass die, die du kennst,
weniger werden?
Und wieder verlassen einige den Bus.
Einige gern und manche müssen gehen.
Bei manchen tut es dir leid
und bei einigen bemerkst du es kaum.
Und als du den Bus am Ende deiner Reise verlässt,
fällt dir auf, dass du bei all den Fahrten
nicht ein einziges Mal den Fahrer gesehen hast.
Er hat dich gefahren und gelenkt,
manchmal schnell und manchmal langsam,
und jetzt, wo du angekommen bist,
ist es nicht mehr wichtig.
Du hast viel gesehen
auf der Fahrt deines Lebens.
Du steigst aus
und einige steigen ein
an der Hand ihrer Eltern.
MANUELA THOMA-ADOFO
SEPTEMBER 1996
Mein Name ist Manuela Thoma-Adofo. Ich bin Autorin, Tochter, Mutter, Schwester und vieles mehr. Und seit mehr als 20 Jahren bin ich ehrenamtliche Hospizhelferin.
1994 entschied ich mich, mit meiner Zeit mehr anzufangen, als Dinge zu tun und Werte anzuhäufen, die ausschließlich mir und meinem Konto guttaten.
Ich wollte meine Zeit nicht vergeuden. Ich wollte sie verschenken.
Natürlich habe ich in diesem Buch all die Namen meiner Patientinnen und Patienten verändert. Auch die Sterbefälle sind nicht chronologisch geordnet. Denn es ist nicht wichtig, wann jemand gegangen ist. Es ist wichtig, dass sein oder ihr Ende sich so vollzogen hat, dass man es als schön bezeichnen kann. Ja. Auch dieser Teil des Lebens kann schön oder unschön sein.
Viele Angehörige von Menschen, die ich begleitet habe, haben mich gefragt, warum ich dieses Ehrenamt gewählt habe und wie alles anfing. Zum einen glaube ich, dass dieses Ehrenamt mich gewählt hat, und wie alles anfing und sich entwickelte, erzähle ich in diesem Buch.
Das Wichtigste, was ich dazu sagen kann, ist: ich, die Hospizhelferin, komme nicht zum Sterben. Ich komme, um zu leben. Zu leben bis zuletzt.
Wie alles begann
Es war im Februar 1994. Die Menschen bejubelten die großartigen Wintersportler, die in Lillehammer um Ehre und Medaillen kämpften. Ich saß in meiner kleinen Wohnung im Schwarzwald und bangte, jubelte und zitterte mit. War doch einer der Teilnehmer mein Verlobter und viele, die sich dort abmühten, gehörten zu meinem Bekanntenkreis.
Als ich den Fernseher wieder ausschalte, hatte das Team um meinen Lebensgefährten die Goldmedaille im Skispringen gewonnen. Wenige Tage später gewann er dann auch noch die Bronzemedaille für sich allein. Zahlreiche Anrufer gratulierten, aber sobald der Fernseher aus war und die Telefonate verstummten, war alles wieder still und leise.
Ich war stolz. Aber ich war allein. Meine Familie war über Deutschland und die Welt verstreut, Bekannte hatte ich in diesem hübschen kleinen Ort nur sehr wenige und meine Arbeit bei einem Anzeigenblatt und beim Radio war in keiner Weise auslastend.
Nach zwei Tagen ebbten die Lieferungen von Blumensträußen und Gratulationen langsam ab. In unserer kleinen Wohnung standen mehr Blumen als Möbel. Und ich saß mit all diesem hübschen Dekor allein.
Neben Karten und Blumen waren auch mehrere Fresskörbe gekommen. Was sollte ich damit?
Als ich mit meiner Mutter telefonierte, erzählte sie von meiner Großmutter im Pflegeheim. Und da kam mir ein Gedanke. Nur wenige Hundert Meter entfernt befand sich ein Seniorenheim. Das war es. Ich packte alle Blumen und viele Geschenke in meinen Wagen und fuhr los. Ich war ein bisschen nervös. Was sollte ich sagen?
Mit zwei der schönsten Sträuße in der Hand betrat ich das helle Gebäude durch den Haupteingang. Der Empfang war nicht besetzt und so nahm ich auf einer Sitzgruppe im vorderen Bereich Platz. Die Menschen, die hier herumliefen, waren alle alt. Natürlich. Was hatte ich erwartet? Es war ein Alten- und Pflegeheim. Irgendwann kam eine Dame, die altersmäßig weit unter dem Durchschnitt lag. Und sie hatte einen Schlüssel zum Büro.
Ich stand auf, sprach sie an und ich erklärte ihr, wer ich war und warum ich vor ihr stand. Sie war freundlich und während ich die Blumen und Fresskörbe aus meinem Auto räumte, rief sie nach der Heimleitung. Die Heimleiterin kam und freute sich aufrichtig über meine Initiative. Es wurde beschlossen, die Mitbringsel auf den vier Stationen des Heims zu verteilen. Dann tranken wir gemeinsam Kaffee und ich brachte mein nächstes Anliegen vor. Ob sie mich im Heim gebrauchen könnten. Ehrenamtlich natürlich. Ich wollte für jemanden da sein. Gebraucht werden. Meine eigene Großmutter wurde von Onkel und Tante im Norden Deutschlands im Heim gepflegt. Ich hatte die Zeit, den Willen und die Energie, dasselbe für jemand anderen zu tun. Vielleicht ein bisschen spazieren gehen oder vorlesen, dachte ich.
Die Heimleiterin überlegte und rief dann eine der Pflegerinnen zu sich. Ich werde den Moment nie vergessen. Die Pflegerin hieß Christa. Sie leitete die Station IV. Seit diesem Tag hat Christa mich und mein Leben begleitet und tut es noch heute. Sie war bei der Entbindung meiner Tochter dabei und bei meiner Hochzeit. Und sie stand mir vor allem bei meinen ersten Schritten als Hospizhelferin zur Seite.
Christa war eine große, dynamische Frau mit kurzem blonden Haar und Lachfältchen im Gesicht. Eine Stunde, nachdem ich zu Hause die Blumen in meinen Wagen geladen hatte, wurde mir das Pflegeheim gezeigt. Es war eine schöne, weitläufige Anlage.
Und dann sollte mir in wenigen Minuten jemand vorgestellt werden, den ich in den kommenden Monaten regelmäßig besuchen würde. Damals dachte ich noch gar nicht daran, einen Menschen beim Sterben zu begleiten. Ich wollte einfach nur für jemanden da sein, der gern ein bisschen Gesellschaft haben wollte.
Vor meinem geistigen Auge stand die klassische Großmutter. Mit Strickzeug auf dem Schoß, Dutt im Nacken und einem lieben, wohlwollenden Lächeln.
Das war naiv und diese Fantasie würde bald einem realistischen Blick weichen.
Eine Tür wurde geöffnet. Am Fenster saß eine kleine alte Frau. Sie trug eine blaue Hose und ein weißes Hemd. Ihre hellgrauen Haare waren sehr kurz, und ihr Blick war fragend. In den folgenden drei Jahren, in denen ich sie besuchte, war ihr Blick immer fragend. Selbst, als sie bei meiner Hochzeit in der zweiten Reihe saß oder als sie mir den Kinderwagen mit meinem Sohn in ihrem Rollstuhl sitzend vor sich her schob.
Für mich nannte ich sie Oma Frieda, auch, wenn ich sie bis zum letzten Tag siezte und mit ihrem Nachnamen ansprach. Bis heute widerstrebt es mir, meine Patienten einfach zu duzen. Lediglich die Menschen, die mir das »Du« zu »wachen« Zeiten angeboten haben, werden von mir so angesprochen. Das ist meine Form, bis zuletzt Respekt zu zeigen.
In der Zeit, in der ich Oma Frieda besuchte, war ich auch für andere Patientinnen da. Der Moment, der mich am meisten beeindruckte, war, als ich mit meinem zwei Wochen alten Sohn am Bett einer sterbenden Patientin saß. Immer wieder schaute eine der Pflegerinnen durch die Tür und ich nickte. Alles in Ordnung. Während ich ihn stillte, las ich der Patientin aus der Bibel vor. Sie hatte bisher selbst gelesen, konnte aber nun kein Buch mehr halten und keine geschriebenen Worte mehr aufnehmen. So übernahm ich das für sie. Ihre Atmung veränderte sich und ich brauchte nicht zu ihr hinschauen, um zu wissen, was gerade geschah.
Ich legte die Bibel aufgeschlagen ab, fasste mit meiner Hand nach der ihren, las weiter und las auch über den Moment hinaus, in dem sie aufhörte zu atmen. Ich las den ganzen Absatz zu Ende. Dann schloss ich für einen Augenblick die Augen.
Mehr konnte sich ein Kreis nicht schließen. Ich war neunundzwanzig und mitten im Leben, mein Sohn war gerade zwei Wochen alt, also soeben erst auf die Welt gekommen, und diese alte Dame hatte das Ende ihres Lebens erreicht und ging. Still und leise.
In diesem Moment war mir klar, dass dies genau das war, was ich tun und sein wollte: Hospizhelferin. Menschen am Ende zu begleiten. Nicht nur hin und wieder, sondern wann immer ich gebraucht wurde. Ich legte meinen nunmehr schlafenden Sohn in den Kinderwagen und klingelte nach der Schwester.
Es war ein Dienstag, als Oma Frieda ins Krankenhaus kam. Es ging ihr zunehmend schlechter. Sie wollte nach Hause, also zurück ins Heim, und ich wollte das auch. Für sie. Ihre Zeit lief ab. Das wusste sie, das wusste ich. Und in diesem unpersönlichen Krankenhaus wollte ich sie nicht allein gehen lassen. So fuhr ich die rund vierzig Kilometer immer wieder hin und zurück, um sie zu besuchen. Sie bat mich, ihr zu versprechen, sie ins Heim zurückzuholen. Und ich gab ihr das Versprechen. Nicht ahnend, wie sehr ich es bereuen würde.
Ich sprach mit Schwester Christa. Schnell war geklärt, dass ich eine Vollmacht bekomme. Damit könnte ich sie zurück ins Seniorenheim holen. Am Freitagmorgen wollte Christa anrufen und mir Bescheid sagen.
Christa rief auch an. Es war acht Uhr morgens. Aber was sie sagte, brach mir das Herz. Oma Frieda war in den Morgenstunden allein im Krankenhaus gestorben. Genauso, wie sie es immer befürchtet und wovor sie solche Angst hatte.
Ich habe Stunden gebraucht, bis ich zu weinen aufhören konnte, Tage, um zu akzeptieren, und Jahre, um mir selbst zu verzeihen, dass ich ein Versprechen gegeben hatte, das ich nicht halten konnte.
Die Lektion mit den Versprechen habe ich mir zu Herzen genommen. Ich gebe keine mehr. Nie mehr! Es sei denn, ich kann garantieren, dass ich das Versprechen erfüllen kann. Und selbst dann versuche ich es zu vermeiden.
Am Tag ihrer Beerdigung stand ich ziemlich neben mir. Der Sarg mit den Blumen war zwischen sechs Kränzen aufgestellt und der Raum voller Menschen. Menschen, die ich im Heim nie oder so gut wie nie gesehen habe. Ihre Familie. Viele kamen zu mir und beteuerten, dass sie so oft vorgehabt hatten, Oma Frieda zu besuchen. Nächste Woche, ja, nächste Woche, da wollten sie kommen. Ganz sicher. Oder eben im Herbst. Oma Frieda hätte jeden Tag der Woche gestrahlt. Jetzt war es zu spät. Etwas begann in mir hochzukochen.
Nachdem der Pfarrer gesprochen hatte, ging ich nach vorn. In meiner Hand der gefaltete Zettel mit meiner Abschiedsrede und eine Postkarte.
Ich war wütend. Ich sprach davon, wie Oma Frieda war und sein konnte. Im einen Moment still, im nächsten ein bisschen verbittert. Aber eine einzige Postkarte – und ich hielt die Postkarte in die Luft, die ihr einer ihrer Enkel mal geschickt hatte – konnte sie über Tage zum Strahlen bringen. Es wäre so leicht gewesen, sie öfter lächeln zu lassen. Wenn man sich nur hin und wieder ein paar Minuten Zeit genommen hätte.
Während ich sprach, heulte ich Rotz und Wasser. Ich sah in betretene Gesichter, erkannte Scham, aber auch Missbilligung.
Und auch, wenn sich die meisten später für meine Rede bedankten, war mir klar, dass ich über das Ziel hinausgeschossen war. Ich habe verurteilt, und das war nicht in Ordnung. Jeder der Angehörigen hatte gehandelt oder eben nicht, genau so, wie es eben in sein oder ihr Leben gepasst hatte. Und ich habe dazugelernt.
Meine Unterstützung gilt den letzten Tagen, Wochen, Monaten oder sogar Jahren eines Patienten. Das Urteilen über sein Umfeld steht mir nicht zu. Ich bin Hospizhelferin und keine Richterin über Familienverhältnisse.
Meine Tochter war vor wenigen Wochen zur Welt gekommen. Christa hatte mir als ehemalige Krankenschwester im Kreißsaal im größten Schmerz gut zur Seite stehen können, mein Sohn war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. Mein Mann hatte beschlossen, sein Leben nach seiner sportlichen Laufbahn anders zu verbringen, als ich es mir gewünscht hatte. Natürlich brach für mich eine Welt zusammen, aber heute weiß ich, dass immer eins zum anderen führt und der Spruch: »Für das Scheitern einer Beziehung sind immer zwei verantwortlich«, nicht ganz falsch ist. Zwei Leben, unser beider Leben, änderten sich und drifteten auseinander. Schmerzhaft. Sicher für beide.
Und wie das Leben so spielt, geschah meiner Schwester genau das Gleiche. Angela und ich hatten im selben Jahr geheiratet. Unsere Erstgeborenen kamen nur wenige Monate hintereinander zur Welt und auch das zweite Kind kam nur um Wochen nach meinem zur Welt. Und auch bei ihr entschied sich der Mann für einen alternativen Lebensweg.
Wir setzten uns zusammen und überlegten. Was jetzt? Wir waren zwei junge Mütter, jeweils mit zwei Kindern und eine Aussicht … auf was? Und so beschlossen wir zusammenzuziehen. Im September rückten in Hinterzarten und bei meiner Schwester in Offenburg die Möbelwagen an. Eine Doppelhaushälfte im bayerischen Zorneding sollte unser gemeinsames Zuhause werden. Eine neue Zeit begann. Eine schöne Zeit. Angela sollte sich um die Kinder kümmern, während ich Geld verdiente.
Mir lag im Magen, dass die Vermieter im letzten Moment die Miete noch ein wenig hochgetrieben hatten. »Wir könnten das Haus problemlos auch zu diesem Preis vermieten«, argumentierten sie. Was sollte ich machen? Ich sagte trotzdem zu. Auch die Personenanzahl im Mietvertrag musste ich fest angeben. Ich schrieb »fünf«. Warum auch immer. Wir waren eigentlich zu sechst: zwei Frauen, zwei Vierjährige und zwei Einjährige. Jedenfalls wurde die Miete ein weiteres Mal angepasst. Nach oben natürlich. Ich fand es ein bisschen unangebracht, aber ich wollte keinen Streit.
Das Pflegeheim, in dem ich so viele Stunden verbracht hatte, fehlte mir. Ich arbeitete für verschiedene Zeitungen und als Ghostwriter für einige Buchprojekte. Außerdem stand ich noch hin und wieder vor der Kamera oder auf einem Laufsteg.
Unsere »Großen« besuchten den gleichen Kindergarten. Die Kleinen blieben daheim. Und ich beschloss, mir Zeit zu lassen in Sachen Hospizhilfe.
Es dauerte aber nur wenige Monate und ich kam mit einer Nachbarin ins Gespräch, die ihren kranken Schwiegervater pflegte und völlig überfordert war.
Ich bot ihr an, auf einen Kaffee vorbeizukommen. Als ich bei ihr in der Küche saß und der alte Herr sie mit schroffer Stimme aus seinem Schlafzimmer rief, verstand ich, warum es ihr so schlecht ging. Luise kümmerte sich um die beiden Kinder, den Haushalt und ihren Schwiegervater. Ihren Job als Grafikerin hatte sie zurückgestellt, um den Familienansprüchen gerecht zu werden. Und dann wurde sie von einem Menschen beschimpft und angegangen, für den sie sehr viel opferte. Ich ging mit ihr zu dem alten Mann und stellte mich vor. Er forderte zu trinken und dass das Fenster geöffnet wurde. Sein Ton war unhöflich und respektlos, aber angesichts seiner Lage nicht unverständlich. Die Bilder auf der Kommode zeigten ihn als stattlichen Mann. Kräftig und offen in die Kamera blickend. Zwei Schlaganfälle hatten ihn in den letzten Jahren die Kontrolle über seine linke Körperhälfte gekostet und die Metastasen in seinem Körper waren nun für diese Sackgasse verantwortlich, in die er gekommen war. Unausweichlich.
Ich bat Luise freundlich, ihrem Schwiegervater und mir Wasser zu bringen, und öffnete das Fenster. Dann riet ich ihr, sich zwei Stunden hinzulegen. Später sagte sie mir, dass sie sich nur einen Moment auf das Sofa habe legen wollen, aber dann doch tatsächlich fast zwei Stunden am Stück geschlafen habe.
»Sie wissen, was passiert?« Ich frage gern direkt. Luises Schwiegervater hätte auch anders antworten können, aber er schaute mich nur an, als hätte ich ihn zu einer Runde auf dem Joggingpfad gebeten. Sein Gehirn funktionierte noch vollständig, auch wenn die Metastasen sich auch dort schon breitgemacht hatten.
»Was passiert?«
»Mit Ihnen?«
»Ich habe Krebs!«
»Ja. Haben Sie Schmerzen?«
Ich fragte, obwohl ich wusste, dass er bereits mit Morphium behandelt wurde. Er antwortete nicht. Ich half ihm beim Trinken. »Ich werde sterben«, sagte er. Und er sagte es, als ob er mich damit erschrecken wollte.
»Ja, ich weiß«, antwortete ich. Jetzt schaute er verblüfft. »Sie werden sterben – ich weiß.«
In den folgenden fast zwei Stunden erzählte er mir, dass niemand im Haus wahrhaben wollte, dass es keine Hilfe mehr gab. Sein Sohn verabschiedete sich stets mit einem »Wird schon wieder«, und seine Schwiegertochter tat so, als ob er gesunden würde, wenn sie sich nur noch mehr Mühe geben würde. Mehr kochen, mehr da sein, mehr nachfragen, mehr aufopfern. Und seine beiden Enkel wurden auch dahingehend geimpft, dass der Opa nur ein »bisschen krank« sei. Sie waren noch sehr klein. Ich konnte nachvollziehen, weshalb die Familie so handelte. Die Hilflosigkeit bedingt oft nicht sehr hilfreiche Reaktionen.
Und wieder hatte mich meine Berufung gefunden.
Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, sprach ich mit Luise. Sie war schockiert, dass ich mit ihrem Schwiegervater über sein Sterben gesprochen hatte. Aber auch erleichtert. Sie sprach mit ihrem Mann darüber und bei diesem Gespräch war ich ebenfalls dabei. Das Thema Tod wurde nicht mehr verdrängt. Auch mit dem Vater bzw. Schwiegervater wurde nun über das zu erwartende Ende gesprochen. Der alte Herr konnte sich über Wünsche zu seiner Bestattung äußern und dadurch hatte er wieder eine Aufgabe. Er war nicht mehr nur Ballast, um den man sich sorgen musste. Das Bewusstsein um das Sterben änderte die Perspektive im ganzen Haus. Es wurde nicht mehr gegen das Unvermeidliche gearbeitet, sondern nur noch begleitet. Es durfte wieder gelacht werden, aber es durfte auch geweint werden. Nicht vor Überarbeitung, sondern vor Trauer.
Ich begleitete Luises Schwiegervater noch ein viertel Jahr, bevor er starb. Er hinterließ eine Lücke, aber er hinterließ kein Trauma mehr. Und ich war gespannt, was das Leben noch für mich bereithielt.
Zwei Jahre später dann zog ich mit meinen Kindern aus dem Haus mit meiner Schwester in meinen jetzigen Wohnort. Es gab eine Grundschule für meinen Sohn und einen schönen Kindergarten für meine Tochter in der Nähe. Ein Haus wurde gefunden und wie es das Schicksal wollte, befand sich ganz in der Nähe ein Alten- und Pflegeheim.
Ich war alleinerziehend, als Autorin tätig und hatte trotz der mehrfachen Belastungen den Drang, mich wieder meiner Berufung zu widmen.
Im Rahmen einer Elternbeiratssitzung sprach mich eine Mutter hinsichtlich meiner Hospiztätigkeit an. Sie empfahl mir einen Vortrag des örtlichen Hospizvereins. Nun sind mir Vereine grundsätzlich eher unsympathisch und der Gedanke, dass ich nach über zehn Jahren als Hospizhelferin nun einen Lehrgang beim Landratsamt machen sollte, um »praktizierendes« Mitglied zu werden, war mir zuwider. Und dennoch entschloss ich mich, mir anzuhören, was dort gesagt wurde.
Die Vorsitzende des Vereins war eine aparte und sehr sympathische Frau. Alles, was der Verein an dem Abend präsentierte, hatte so ganz und gar nichts mit Belehrungen oder Vereinsmeierei zu tun. Ich fühlte mich gut aufgehoben. Ich erzählte, wie ich vor gar nicht langer Zeit den Vater eines Freundes in den Tod begleitet hatte, und sprach von dem Moment, als er neben mir im Rollstuhl saß und gemeinsam mit mir meine spielenden Kinder im Garten beobachtete. Es brauchte keine Worte. Wir wussten beide, dass es das letzte Mal sein sollte, dass er die Kinder so sah. Wenige Tage später starb er. Beeindruckend stark und klaglos. Mit dieser Geschichte und dem damit verbundenen Gefühl fühlte ich mich im Kreis des Vereins sehr gut aufgehoben. Also warum nicht die offizielle Ausbildung zum anerkannten Hospizhelfer machen. Es tat meinen bisher geleisteten Sterbebegleitungen schließlich keinen Abbruch.
Und so, wie ich anfangs ein bisschen verärgert war, dass ich in Bayern keine ›echte‹ Hospizhelferin sein durfte, muss ich im Nachhinein sagen, dass es keine Ausbildung gibt, die nicht irgendwo auch etwas Gutes mit sich bringt. Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Und lernen ist nie schlecht.
Der Lehrgang fand über mehrere Wochenenden hinweg statt. Wir trafen uns in den Räumen der örtlichen Kirche oder im Pflegeheim. In Gruppenarbeiten wurde sowohl theoretisch als auch praktisch geübt.
Natürlich hat es mir in den vielen Jahren zuvor nicht an dieser Art Erfahrungen gefehlt, aber ich freue mich bis heute über das, was ich hier dazugelernt habe – nicht nur über und für meine Patienten, sondern auch über und für mich selbst.
Die ständige Traurigkeit über »Oma Frieda« und mein gebrochenes Versprechen konnte ich komplett aufarbeiten. Als ich in einer Gruppenstunde darüber sprach und wieder in Tränen ausbrach, wurde mir die Frage gestellt, was mich denn nun an dieser meiner »Verfehlung« so tief verletzte. Mit wenigen Sätzen, aber absoluter Klarheit wurde mir bewusst gemacht, dass ich eigentlich in erster Linie wütend war. Wütend auf mich selbst. Weil ich meine hochgesteckten Ziele nicht erreicht habe. Oma Frieda hätte mir längst verziehen. Nur ich selbst tat es nicht. Ich lernte, dass ich gnädiger mit mir selber sein durfte und musste. Und blieb dabei, nichts mehr zu versprechen. Vor allem im Bereich Tod und Sterben nicht. Wir haben das »Wann« und »Wie« nicht in der Hand. Wir können nichts versprechen.
Ich war mit ihr bei Ärzten und begleitete sie auf Hunderten von Spaziergängen, und als ihr ein dunkelblaues Sakko an mir gefiel, schenkte ich es ihr. Sie hat es geliebt. Und sie wurde sogar darin beerdigt. Wenn ich heute an sie denke, dann kommen mir zwar immer noch die Tränen, aber eben nicht, weil ich es nicht mehr geschafft habe, sie aus dem Krankenhaus zurückzuholen, sondern weil sie mir einfach irgendwie fehlt. Damit kann ich leben.
Die Variante mit Strohhalmen und »lebensnahen« Flüssigkeiten kannte ich bereits und wenn mir jemand vor diesem Lehrgang solche Geschmacksstäbchen in die Hand gedrückt hätte, hätte ich sie auch angewendet. Ganz einfach deshalb, weil sie den Eindruck machen, gutzutun. Richtig zu sein. Erst durch den Selbstversuch wusste ich, dass es Besseres gibt. Richtigeres.
Es war Winter damals und er saß in der Regel vor dem laufenden Fernseher. Immer lief Wintersport. Meistens Langlauf.
Nach drei Tagen fragte ich ihn dann: »Herr Werner, haben Sie früher auch Langlauf gemacht? Wieso lieben Sie den Wintersport so?«
Ich fiel innerlich vor Lachen fast vom Stuhl und fragte weiter. Es stellte sich heraus, dass er lediglich keine Umstände machen wollte. Die Schwester setzte ihn im Rollstuhl vor den Fernseher, wie er es scheinbar wünschte, und schaltete das Gerät an. Und weil er es als unhöflich empfand, etwas zu fordern, beließ er es bei dem eingeschalteten Programm.
Und wieder hatte ich gelernt. Egal, wie deutlich eine Situation zu sein scheint, eine bloße Nachfrage kann viel verändern. Und wenn es nur das Fernsehprogramm ist.
Am Ende der Ausbildung entschloss ich mich, unseren Hospizverein als feste Helferin in unserem Pflegeheim zu ergänzen. Und so wurde dieser Wohnbereich 2006 »meine Station«, für die ich heute noch da bin.