JULIEN SANDREL, geboren 1980 in Südfrankreich, lebt heute mit seiner Frau und den beiden Kindern in Paris. Die Idee zu seinem Debütroman Das Zimmer der Wunder kam ihm, als er sich eines Tages in einer brenzligen Situation Gedanken darüber machte, was wäre, wenn seinen Kindern im Straßenverkehr etwas passieren würde. Der Roman wurde in Frankreich von der Presse gefeiert, noch vor Erscheinen in 26 Länder verkauft und wird derzeit verfilmt.
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Julien Sandrel
Das
Zimmer
der
Wunder
Lebe jeden Tag,
als wäre es dein letzter
Roman
Aus dem Französischen
von Claudia Marquardt
Die französische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel La chambre des merveilles bei Calmann-Lévy, Paris.
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La chambre des merveilles by Julien Sandrel
Copyright © Calmann-Lévy, 2018
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by
Penguin Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: Favoritbüro
Umschlagmotiv: anna42f; Lera Efremova;
Jan-Kalle Jonath/Shutterstock
Redaktion: Brigitte Lindecke
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-23561-1
V001
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Für Mathilde
Für meine Tochter und meinen Sohn
So, tell me something, Miss Thelma.
How is it you ain’t got any kids?
I mean God gets you something special,
I think you oughta pass it on.
Ridley Scott, Thelma & Louise
»Louis, es ist höchste Zeit! Los jetzt, steh auf und zieh dich an, ich wiederhole es nicht noch einmal, wir sind spät dran, es ist schon zwanzig nach neun.«
So ungefähr fing dieser Tag an, es sollte der schlimmste meines Lebens werden. Noch wusste ich es nicht, aber um 10 Uhr 32 würde dieser Samstag, 7. Januar 2017, mein Dasein in ein Davor und ein Danach einteilen. Das Davor würde für immer weiterexistieren, genauso wie mein sehnlicher Wunsch, die Minute, die dem Schicksalsschlag voranging, zur Ewigkeit erstarren zu lassen – Momente flüchtigen Glücks, Bilder, die sich mir unauslöschlich eingebrannt haben. Und für immer würde ich mit dem Danach leben müssen, mit dem »Warum?«, mit dem »Wenn doch nur«, mit all den Tränen, den heulenden Sirenen, den abscheulich mitleidvollen Blicken, den unkontrollierten Krämpfen in meinem Unterleib, der sich weigerte, die Realität zu akzeptieren. Nichts davon ahnte ich an jenem Morgen, nur die Götter – wenn es sie denn gibt, woran ich stark zweifele – wussten, was sie da ausheckten. Worüber sie sich wohl um 9 Uhr 20 unterhielten? Einer mehr, einer weniger – was soll’s, das wird die Welt nicht groß verändern? Ich war weit weg von alldem, weit weg von den Göttern und weit weg von meinem Herzen. Ich war nur darauf konzentriert zu funktionieren, in jenem Augenblick so kurz vor dem Punkt, an dem die Dinge ins Wanken gerieten, auseinanderbrachen, an dem es kein Zurück mehr gab. Und ich verfluchte Louis, weil er keine Anstalten machte, sich aus dem Bett zu bewegen.
Dieses Kind treibt mich in den Wahnsinn, dachte ich. Seit einer halben Stunde versuchte ich, meinen Sohn zum Aufstehen zu motivieren, und nichts regte sich. Wir waren mit meiner Mutter zum Brunch verabredet – mein monatliches Martyrium –, und ich wollte vorher unbedingt noch zum Boulevard Haussmann, um mir die blutroten Pumps zu kaufen, die mich seit Beginn des Schlussverkaufs bis in meine Träume verfolgten. Ich war fest entschlossen, damit am Montag bei dem Meeting mit dem Big Boss von Hégémonie ein bisschen aufzuschneiden – Hégémonie war der Kosmetikkonzern, für den ich seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht arbeitete. Ich leitete ein Team von zwanzig Mitarbeitern, die ihre kostbare Lebenszeit damit verbrachten, die Marke und das Marketing eines Antischuppenshampoos weiterzuentwickeln, das bis zu hundert Prozent Wirkung versprach – das »bis zu« besagte, dass eine von zweihundert Testpersonen nach der Anwendung vollständig von Schuppen befreit war. Zu meinen beruflichen Sternstunden zählte, dass ich nach erbitterten Kämpfen mit der Rechtsabteilung von Hégémonie schließlich die Erlaubnis bekam, mit dieser Behauptung zu werben. Was ausschlaggebend für den Verkaufserfolg war und damit für meine jährliche Gehaltsverhandlung, meinen Sommerurlaub mit Louis und meine neuen Pumps.
Widerstrebend stand Louis endlich auf, streifte sich eine viel zu enge Jeans mit viel zu tief sitzendem Bund über, spritzte sich kurz Wasser ins Gesicht und zerstrubbelte ungefähr fünf Minuten lang seine Frisur. Trotz der eisigen Temperaturen an diesem Morgen weigerte er sich hartnäckig, eine Mütze aufzusetzen, brummte unverständliche Wortfetzen vor sich hin, deren Informationsgehalt ich jedoch erraten konnte (»Warum muss ich überhaupt mitkommen …«), setzte seine Sonnenbrille auf, nahm sein Skateboard – ein dreckiges, komplett vollgespraytes Holzbrett, für das ich zweimal pro Woche neue, härtere Rollen kaufen musste –, zog seine ultradünne rote Daunenjacke an, griff nach einem Paket mit Schokoladenkeksen, nuckelte wie ein Fünfjähriger im Stehen an einem Smoothie und war dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, startklar. Während wir auf den Fahrstuhl warteten, sah ich auf die Uhr. 10 Uhr 21. Perfekt, wir lagen gut in der Zeit. Ich hatte großzügig geplant, ich kannte ja meinen Sonnenkönig, man konnte nie wissen, wie lange sein Morgenritual dauern würde.
Es war herrliches Wetter, über uns ein blauer, wolkenloser Winterhimmel. Strahlende kalte Tage habe ich schon immer geliebt. Moskau war für mich die Königin des Winterhimmels, nie wieder ist mir ein so blauer und so klarer Himmel begegnet wie damals, als ich auf Geschäftsreise dort war. Paris gab sich an diesem Morgen allerdings Mühe, Moskau Konkurrenz zu machen. Wir ließen unsere Wohnung im 10. Arrondissement hinter uns, hielten uns am Canal Saint-Martin Richtung Gare de l’Est, drängten uns im Zickzack vorbei an Familien und Touristen, die staunend das Schleusenmanöver eines Frachtkahns am Pont Eugène-Varlin verfolgten. Ich beobachtete, wie Louis sich mit ordentlichem Tempo auf seinem Skateboard durch die Menge schlängelte. Ich war stolz auf diesen kleinen Mann, der im Begriff war, zu einem großen heranzuwachsen. Ich hätte es ihm sagen sollen – solche Gedanken sind dazu da, ausgesprochen zu werden, sonst helfen sie keinem weiter –, aber das habe ich nicht getan. Louis hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Ein völlig altersgemäßer Wachstumsschub hatte dafür gesorgt, dass mein kleiner zierlicher Junge sich in einen beachtlich großen Halbstarken verwandelt hatte, in seinem noch kindlichen glatten Gesicht deutete sich ein erster weicher Bartwuchs an. Es ging alles viel zu schnell. Für einen Moment sah ich mich wieder am Quai de Valmy spazieren, mit der rechten Hand schob ich den petrolblauen Kinderwagen vor mir her, in der linken hielt ich mein Telefon. Bei dieser Vorstellung musste ich unwillkürlich lächeln. Oder bilde ich mir das im Nachhinein nur ein? Vielleicht spielt mein Gedächtnis mir einen Streich, so ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern, was mir in jenem Augenblick durch den Kopf ging. Wenn ich die Zeit doch nur zurückdrehen könnte, ich wäre so viel aufmerksamer. So vieles würde ich anders machen.
Plötzlich hörte ich Klänge eines Liedes von The Weeknd – Louis hatte es mir als Klingelton auf meinem Smartphone installiert. Ich sah auf das Display, es war JP. Mist. Offenbar brannte mal wieder die Hütte. Warum sonst rief mich mein Vorgesetzter an einem Samstagmorgen an? Ich seufzte. Aber wenn man für ein Unternehmen wie Hégémonie arbeitete, musste man im Notfall auch am Wochenende einspringen. Inzwischen hat das Wort »Notfall« eine völlig andere Bedeutung für mich. Nie wieder käme es mir in den Sinn, im Zusammenhang mit einer Präsentation, die fertiggestellt werden muss, einem Verbrauchertest für ein Produkt, das kurz vor der Markteinführung steht, oder dem Design eines Flakons, über das noch Uneinigkeit herrscht, von einem »Notfall« zu sprechen. Worin sollte in solchen Fällen die Not und Dringlichkeit bestehen? Schwebt irgendwer in Lebensgefahr? Doch damals stellte ich mir solche Fragen nicht. Ich fragte mich lediglich, welche Nuss JP mir wohl diesmal zu knacken gab. Vage ahnte ich, dass sein Anruf mit dem Meeting am Montag zu tun hatte. Ein absolut dringender Notfall also. Existenziell. Ohne zu zögern, nahm ich den Anruf entgegen und registrierte nur am Rande, dass Louis langsamer geworden war, auf mich wartete, mir ganz offensichtlich etwas sagen wollte. Er rief mir etwas zu, ich bedeutete ihm, dass ich telefonierte – sah er das denn nicht? Beleidigt nuschelte er etwas in seinen Bartflaum und gestikulierte herum, um mich von der Wichtigkeit seines Anliegens zu überzeugen. Ich sollte nie mehr erfahren, was er mir mitteilen wollte. Ich bin mir fast sicher, dass meine letzten Gedanken vor dem Unglück in Bezug auf meinen Sohn negativer Natur waren. Ich war genervt von seinem ständigen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und seinem jugendlichen Egoismus, davon, dass ich keine Minute für mich hatte, ich musste schließlich auch mal durchatmen, verdammte Scheiße. Ich glaube, das war das Letzte, was ich im Geiste zu Louis sagte. Wie konnte ich nur! Mein Kind, das ich Tausende Stunden in meinen Armen gewiegt, dem ich Tausende Lieder vorgesungen hatte, dieses kleine Wesen, das so viel Freude in mein Leben gebracht hat – und das Letzte, was ich ihm mitgebe, ist das verfluchte S-Wort. Es ist beschämend. Ein erbärmliches Andenken.
Louis schnaufte geräuschvoll, setzte den roten Kopfhörer auf, den er zuvor um den Hals getragen hatte, stieß wütend hervor, dass es immer das Gleiche mit mir sei, dass nichts anderes zähle als meine Arbeit, dann nahm er mit dem rechten Bein kräftig Schwung und raste auf seinem Board die Straße hinunter. Wenn ich nicht mit JP im Gespräch gewesen wäre – der Notfall bestand darin, dass ein paar PowerPoint-Folien korrigiert werden mussten –, hätte ich meinem Sohn in einem Reflex, den wahrscheinlich jede Mutter hat, hinterhergebrüllt: »Nicht so schnell, pass auf!« Jedes Kind, das den Kindergarten hinter sich gelassen hat, hasst diese Art Mutterreflex, der theoretisch zu nichts führt, aber praktisch wenigstens ein minimales Bewusstsein für Gefahren schafft.
Bei Hégémonie stehen Kinder nicht gerade hoch im Kurs, auch wenn die offizielle Firmenpolitik lautet: Hégémonie setzt sich für die Gleichstellung von Männern und Frauen ein, Hégémonie unterstützt die berufliche Karriere von Müttern. Leider klafft zwischen einer behaupteten Unternehmensphilosophie und ihrer Anwendung im Alltag oft eine große Lücke, noch immer gibt es zu viele Missstände, über die keiner redet und die dazu führen, dass die Frauenquote in den Führungsetagen großer Konzerne lächerlich gering ist. Ich habe hart kämpfen müssen, um eine Führungsposition zu erreichen – ausgeschlossen, dass ich ein geschäftliches Telefonat wegen mütterlicher Befindlichkeiten unterbrach. Selbst an einem Samstag Vormittag um 10 Uhr 31.
Während JP mir sanft beibrachte, was ich am Sonntag zu tun hätte, sah ich Louis zerstreut hinterher. Hoffentlich hörte er nicht zu laut Musik, hoffentlich war ihm bewusst, wie schnell er fuhr. Kopfschüttelnd sagte ich mir dann, dass er groß genug war, dass ich aufhören musste, mir permanent Sorgen zu machen, meistens völlig grundlos. Unglaublich, wie viele stumme Gedanken man binnen weniger Sekunden formulieren kann. Unglaublich, wie schmerzhaft sich wenige Sekunden im Gedächtnis verankern können.
Ein letzter Blick auf das Display meines Smartphones: 10 Uhr 32. Ich sagte mir, dass ich bis zur Metrostation höchstens noch drei Minuten für das Gespräch mit JP hatte.
Plötzlich vernahm ich ein dumpfes Geräusch, wie von einem großen Schiff, das gegen eine Mauer prallt. Ich hob den Kopf, und in dem Augenblick blieb die Zeit stehen. Es war ein Lastwagen. Ich war ungefähr hundert Meter entfernt von der Menschentraube, die sich in Windeseile gebildet hatte, aber das Rufen und die Schreie der Passanten waren so laut, dass es mir vorkam, als würde ich mich bereits mitten im Zentrum des Geschehens befinden. Mein Telefon fiel zu Boden und zersplitterte. Mit zugeschnürter Kehle hastete ich los, stolperte, stürzte, rappelte mich wieder auf die Beine, zog mir die Stilettos von den Füßen und rannte, wie ich noch nie gerannt bin. Der Lastwagen war inzwischen zum Stehen gekommen. Heiße Tränen liefen mir die Wangen hinunter, als ich die Stelle erreichte, um die etwa ein Dutzend Menschen einen Kreis geformt hatten. Ich war nicht die Einzige, die heulte. Ein Vater hielt seinem Sohn eine Hand vors Gesicht. Wie alt der Junge wohl war? Vielleicht vier oder fünf. Zu jung jedenfalls, um mit anzusehen, was vor seinen Augen geschah. Ich trat näher, schrie, warf mich auf den Boden, schürfte mir die Knie auf, spürte jedoch keinen Schmerz. Louis. Louis. Louis. Louis. Mein Liebling. Mein Leben. Wie soll man Worte für etwas finden, das man selbst nicht fassen kann? Ein Augenzeuge beschrieb später, ihm sei bei meinem Anblick sofort der Gedanke an eine Wölfin durch den Kopf geschossen. An eine heulende Wölfin, der man den Bauch aufschlitzt. Ich kratzte mir die Finger am Boden wund, ich zitterte am ganzen Körper, ich hielt Louis’ Kopf in meinen Händen. Ich weiß, dass man Verletzte nicht berühren, ihre Lage nicht verändern soll, aber ich konnte nicht anders. Immer wieder diese Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit. Ich hielt es nicht aus, ihn einfach liegen zu lassen, nichts zu tun. Und so nahm ich schluchzend seinen Kopf in meine Hände und prüfte ununterbrochen, ob er noch atmete. Der Rettungsdienst traf in Rekordzeit ein. Einer der Feuerwehrleute kümmerte sich um mich, oder, besser gesagt, er versuchte, mich von Louis loszureißen. Ich schlug um mich, traf ihn ins Gesicht. Bat um Entschuldigung. Der Mann lächelte traurig. Ich erinnere mich an seine entschlossenen, aber sanften Gesten, an seine große Nase, seine beruhigende Stimme, seine allzu angemessenen Worte, an den sich entfernenden Krankenwagen. Ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf. Kindernotfallambulanz. Krankenhaus Robert Debré. Intensivstation. Es wird alles gut werden, Madame. Und dann klappte ich zusammen, plötzlich wich alle Kraft und Anspannung aus meinen Muskeln, mein Körper gab nach. Der Feuerwehrmann hielt mich fest, setzte mich auf einen Stuhl vor einem Hipster-Café. Ich fühlte mich wie betäubt. Erbrach mich auf den Tisch vor mir. Nachdem ich mir den Mund abgewischt und ein Glas Wasser getrunken hatte, hob ich den Blick.
Nichts hatte sich verändert, der Himmel war genauso blau und klar wie zuvor. Ich sah auf meine Uhr. Das Glas war zersprungen, das Ziffernblatt hatte Risse. Die Zeiger waren stehen geblieben. Reglose Zeugen des Geschehens. Es war immer noch 10 Uhr 32.
Ich heiße Louis, wohne in Paris und bin zwölfeinhalb Jahre alt, bald dreizehn. Ich mag Fußball, japanische Zeichentrickfilme, Maître Gims, den Pokémon-YouTube-Kanal, Brotaufstrich, der mehr Palmöl als Palmöl enthält (der Spruch gefällt mir), Kinofilme aus den Neunzigern und den Nullerjahren (hört sich altmodischer an, als es ist), den Geruch von Auspuffrohren, bunte Skateboards, die Brüste meiner Mathelehrerin Madame Ernest, Mathe ohne die Brüste von Madame Ernest, meine Superoma Odette, meine Mutter (meistens).
Davon abgesehen bin ich, glaube ich, tot.
Normalerweise erzähle ich nicht gern von mir, aber so wie die Dinge stehen und da Sie nun einmal da sind, erkläre ich Ihnen am besten kurz, mit wem Sie es zu tun haben und was passiert ist.
Ich lebe allein mit meiner Mutter. Sie heißt Thelma. Mit ihr habe ich meinen letzten Morgen verbracht. Ich würde gern behaupten, dass es ein besonderer Morgen war, dass meine Mutter mich in den Arm genommen und mir lauter nette Dinge gesagt hat. Aber in Wahrheit war es ein erschütternd banaler, also ganz normaler Morgen. Man verbringt schließlich nicht jede Stunde eines Tages mit dem Gedanken, es könnte die letzte sein, das wäre ja total anstrengend. Die meiste Zeit lebt man einfach nur. So wie meine Mutter und ich.
Wenn ich an diesen letzten Morgen zurückdenke, finde ich, er war eigentlich perfekt. Ich weiß, dass Mama das anders sieht, ich weiß, dass sie in ihrem Kopf die Bilder dieses Vormittags in Endlosschleife abspult und sich fragt, was sie hätte anders machen sollen, ob irgendetwas den Lauf der Dinge hätte beeinflussen können. Ich kenne die Antwort, nach der meine Mutter immer noch sucht: nichts.
Das klingt seltsam, wenn man bedenkt, dass sich der Morgen in etwa so zusammenfassen lässt: Mama versucht, mich aus dem Bett zu kriegen, ich motze, trödle herum und motze weiter. Von außen betrachtet war es so. Mit ein bisschen (genau genommen, ziemlich viel) Abstand aber wird mir klarer, was ich in der Situation gedacht und empfunden habe. Wenn es plötzlich keinen Alltag mehr gibt und alle Gewohnheiten und Rituale wegfallen, gewinnt das, was dahinterliegt, an Kontur.
Der fragliche Morgen war eine einzige Abfolge von Gewohnheiten und Ritualen: Ich nehme entfernt das Knarren meiner Zimmertür wahr, Mama kommt herein, nähert sich meinem Bett und fährt mir mit einer Hand durchs Haar, streicht mir von der Stirn bis zum Nacken über den Kopf – niemals andersherum. Dann schnurrt sie: »Guten Morgen, Loulou, du musst aufstehen, mein Herz.« Als wäre ich zwei, maximal drei Jahre alt. Traum und Wirklichkeit vermischen sich in diesem trägen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Geräuschvoll zieht meine Mutter die Rollläden vor meinem Fenster hoch, Sonnenstrahlen kitzeln mich im Gesicht, ich drehe mich brummend zur Wand und vergrabe den Kopf unter meinem Kissen. Damit endet Mamas erster Auftritt. Morpheus schließt mich wieder in seine Arme, ich lasse mich in einen Traum fallen, an den ich keinerlei Erinnerung habe. Wenig später steht Mama zum zweiten Mal in meinem Zimmer, ihre Stimme ist lauter, der Ton schärfer. So läuft es jeden Morgen, wir kennen das Drehbuch beide auswendig. Es ist immer dasselbe, seit fast dreizehn Jahren. An der Art, wie sie die einzelnen Silben betont, kann ich erkennen, wie ihre Laune ist. Umgekehrt weiß sie, was bei mir Phase ist, sobald sie nur mein Brummen hört. Und an diesem letzten gemeinsamen Morgen war die Stimmung im Prinzip gut. Es war Samstag, wir konnten alles ein bisschen ruhiger angehen, auch wenn Mama das Gegenteil behauptete. Aber da ich wusste, was an dem Tag auf dem Programm stand, ging ich ihr nicht auf den Leim. Ich weiß, dass sie mich immer zu früh weckt, damit ich genug Zeit habe, um in die Gänge zu kommen.
Sie denken bestimmt: Seltsam, dass sich ein Zwölfjähriger so ausdrückt und so viele komplizierte Wörter benutzt. Meine Schulkameraden hänseln mich deswegen und nennen mich »Professor«. Allein, dass ich mit zwölf schon in der achten Klasse bin, ist ihnen nicht geheuer. Aber ich kann nichts dafür, dass es so ist und dass ich so rede. Also, fangen Sie jetzt bitte nicht auch noch damit an.
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich war dabei zu erzählen, was ich an jenem Morgen gedacht und empfunden habe … Ich hatte mir schon seit einigen Tagen vorgenommen, mit meiner Mutter über ein Mädchen zu sprechen, das ich beim Fußball kennengelernt habe. Ja, es gibt Mädchen, die Fußball spielen und trotzdem hübsch sind. Immer diese bescheuerten Klischees. Ich brauchte Mamas Rat und wollte einen guten Moment abpassen, um das Thema anzuschneiden. Wir sind eher zurückhaltend, wenn es darum geht, unsere Gefühlswelt voreinander auszubreiten. Beide machen wir solche Dinge lieber mit uns selbst aus. Abgesehen davon ist es schwierig, bei meiner Mutter einen guten Moment abzupassen. Abends kommt sie erschöpft von der Arbeit nach Hause, legt ihr Smartphone trotzdem nie aus der Hand, irgendeinen »Notfall« gibt es immer. Wobei ich mich frage, was für Notfälle im Zusammenhang mit Antischuppenshampoos auftreten können.
Na ja. Jedenfalls dachte ich, ein ganz normaler Morgen an einem ganz normalen Wochenende wäre der perfekte Moment für mein Anliegen. Mama sollte sich bloß nicht zu sehr einmischen und auch nicht gleich davon ausgehen, dass demnächst eine Hochzeit ins Haus stünde. Ich wollte den Ball flach halten, die Sache möglichst beiläufig ins Gespräch einflechten. Also wartete ich auf sie, damit wir zusammen zur Metro gingen. Doch Mama verscheuchte mich wie eine lästige Fliege, was mich richtig getroffen hat. Und dann sagte sie, dass ich lernen müsse, mein sanguinisches Temperament zu zügeln. Keine Ahnung, was sie damit meinte. Wahrscheinlich, dass ich ihr auf die Nerven ging. Oder dass ich zu schnell gereizt bin. Oder beides. Zum Trost hat meine Oma Odette mir mal gesagt: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, deine Mutter geht auch schnell in die Luft.«
Ich habe geschnauft wie ein Ochse und bin auf meinem Board losgeschossen wie ein Berserker. Ich wollte unbedingt in ihr Arbeitstelefonat hineinfunken. Es war Samstagmorgen, sie musste doch begreifen, dass dieser Tag kein Arbeitstag war. Da ich wusste, dass meine Mutter Panik schob, sobald ich für eine Sekunde aus ihrem Sichtfeld verschwand, raste ich los. Mein Plan war, in die Rue des Récollets abzubiegen und mich irgendwo am Eingang zum Jardin Villemin zu verstecken. Sie sollte ruhig einen gehörigen Schreck kriegen, vielleicht würde sie dann endlich auflegen.
Dann ging alles sehr schnell, ich weiß nicht genau, wie es zu dem Unfall kam. Ich war irre schnell, so viel steht fest. Ich bin ins Schleudern geraten, was mir sonst nie passiert, wirklich nie, normalerweise habe ich mein Skateboard total unter Kontrolle. Als ich hochschaute, sah ich plötzlich den Lastwagen auf mich zukommen, hörte ein lautes Hupen, und dann wurde alles schwarz.
Völliger Blackout.
Übrigens habe ich mein Leben nicht in ein paar Hundertstelsekunden vor meinem inneren Auge vorüberziehen sehen – das Einzige, was ich gesehen habe, waren die Scheinwerfer dieses verdammten Lkw. Und ich erinnere mich, dass ich noch dachte: Wie seltsam, dass er am helllichten Tag die Scheinwerfer anhat.
Ein ziemlich dämlicher letzter Gedanke.
Ich habe nicht einen Augenblick in Erwägung gezogen, dass er tot sein könnte. Mütter müssen so programmiert sein. Denn wenn man den Tod seines Kindes auch nur für möglich hält, beerdigt man es bereits. Und sein eigenes Kind zu beerdigen, ist ganz einfach unmöglich. Louis war nicht tot. Er konnte nicht tot sein.
Ich befand mich in einem Schockzustand. Keine Ahnung, ob das der korrekte medizinische Begriff ist, aber ich hörte, wie jemand dieses Wort in Bezug auf mich gebrauchte. Ich erlebte diesen eisigen Samstag nach dem Unfall wie in Trance, alle Geräusche und Empfindungen drangen nur gedämpft zu mir durch, wie durch einen schützenden Kokon. Als wäre ich betäubt. Vielleicht wegen der Beruhigungsmittel, die man mir verabreicht hatte. Vielleicht entfalteten aber auch die Bomben, die eine nach der anderen um mich herum gezündet wurden, ihre Wirkung.
Es waren emotionale Bomben, die mich trafen, als ich erfuhr, dass man meinen Sohn mit Schmerzmitteln vollgepumpt hatte, damit er nicht zu sehr leiden musste. Dass man mit Hochdruck daran arbeitete, die durch innere Verletzungen verursachten Infektionen einzudämmen. Dass Louis’ Zustand äußerst kritisch war und dass man – in der akuten Situation – im Augenblick keine Aussage über seinen Bewusstseinszustand treffen könne. Wir müssen abwarten, bis die Medikamente abgesetzt sind, ehe wir Genaueres wissen, tut uns leid, Madame.
Es waren Tränenbomben, die auf mich niederprasselten, als meine Mutter im Krankenhaus eintraf, mich schüttelte und mir tausend Vorwürfe machte. Sie brüllte, dass ich tatenlos zusehe, wie mein Sohn krepiere, ich sei verantwortungslos und unaufmerksam. Irgendwann mussten die Ärzte eingreifen, um mich vor ihr – meiner eigenen Mutter! – zu schützen: Jeder erlebt solche Situationen anders, Madame, Sie müssen die Reaktion Ihrer Tochter respektieren, so wie wir auch Ihre respektieren, und nein, wir sind keine arroganten Vollidioten.
Und schließlich all die Wortbomben. Massenhaft Begriffe, die ich noch nie gehört hatte, Kürzel, unverständliche Codes, Armeen von Adjektiven, die in meinen Ohren dröhnten. Ab und zu blitzten in dem medizinischen Kauderwelsch Wörter auf, die ich als Schlüsselwörter identifizierte.
Polytrauma.
Hämatome.
Intrazerebral.
Pulmonal.
Koma.
Tief.
Beatmungsgerät.
EEG.
Elektroenzephalogramm.
Abwarten.
Wie lange?
Keine Ahnung.
Nicht vorhersehbar.
Nie mehr?
Keine Ahnung.
Zu früh.
Hoffnung.
Nicht den Mut verlieren.
Louis war schön, wie er da auf dem Krankenbett lag. Er wirkte heiter. In sich ruhend. Erstaunlich unversehrt. Wären nicht all diese Schläuche gewesen, hätte man meinen können, er sei unverletzt. Zwei angebrochene Rippen, ein gebrochenes Bein. Da es sich um eine geschlossene Fraktur handle, reiche eine Ruhigstellung aus, so sagte man mir. Woraufhin ich erwiderte, dass ich eine Ruhigstellung für relativ überflüssig halte, mein Sohn sehe nicht so aus, als werde er gleich losspringen. Die Krankenschwester warf mir einen Blick zu, der mir unmissverständlich zu verstehen gab, wie deplatziert dieser Scherz aus dem Mund einer verzweifelten Mutter klang. Verzweifelt? Völlig von der Rolle traf es wohl besser. Mir erschien das alles so unwirklich. Es ist nur ein beschissener Albtraum, sagte ich mir. Du wirst gleich aufwachen, und Louis wird neben dir stehen, mit seiner strubbligen Surferfrisur und der Strähne, die ihm ständig ins Gesicht fällt, mit seinen lachenden dunklen Augen. Was ist los, Mama? Verstehst du keinen Spaß mehr? Okay, diesmal bin ich vielleicht ein bisschen zu weit gegangen. Mir geht es gut, keine Sorge. Hast du mir eigentlich die Pokémon-ex-Karte gekauft, die ich auf Amazon gefunden habe? Was gibt es heute Abend zu essen? Darf ich mir das Konzert auf MTV ansehen? Wieso nicht, du bist echt uncool, Mama, bittebittebitte. Ja? Du bist die Beste, ich hab dich lieb.
Ich bin meilenweit davon entfernt, die Beste zu sein. Von der Besten trennen mich Lichtjahre. Sie sieht von ihrer fernen Galaxie spöttisch auf mich herab, ihr Sohn steht neben ihr und lacht. Er ist quicklebendig. Und meiner?
Er lebt.
Auch.
Hoffnung.
Abwarten.
Wie lange?
Keine Ahnung.