Zum Buch:
Die Familie Malegarde trifft sich in Paris. Das Familienoberhaupt Paul, ein berühmter Baumexperte, wird siebzig und die Hochzeit mit seiner amerikanischen Frau Lauren jährt sich zum vierzigsten Mal. Tochter Tilia reist aus London an, wo sie mit Mann und Tochter Mistral als Künstlerin lebt, und Sohn Linden, ein angesehener Fotograf, kommt aus Los Angeles zur Feier. Schon bei der Ankunft bemerken Tilia und Linden, dass der Vater kraftlos wirkt. Und auch das Wetter gestaltet sich unwirtlich. Es regnet ununterbrochen, die Seine droht über die Ufer zu treten, sodass die vier das Hotelzimmer kaum verlassen können. Die apokalyptischen Wetterverhältnisse spiegeln die Schwere, die auf der Familie lastet. Vieles wurde in den Jahren von einem Mantel des Schweigens umhüllt.
Die Ereignisse spitzen sich zu, als Paul bei der Feier im Restaurant zusammenbricht und ins Koma fällt. Linden hält am Krankenbett Wache – und fasst endlich den Mut, sich seinem Vater gegenüber zu öffnen. Doch auch der Vater hat ein erschütterndes Geheimnis, das er sein Leben lang mit sich trug und das der Schlüssel zu seiner Liebe zu den Bäumen, allen voran den Linden, ist …
Zum Autor:
Tatiana de Rosnay lebt als Tochter einer Engländerin und eines französischen Biologen in Paris. Sie hat bisher elf Romane geschrieben, von denen fünf auf Deutsch erschienen. Ihre Romane wurden weltweit 13,5 Millionen Mal verkauft. Mehrere ihrer Werke wurden verfilmt, neben Sarahs Schlüssel auch Moka und Bumerang. Fünf Tage in Paris eroberte auf Anhieb die Nummer eins der französischen Bestsellerliste und wurde von der Presse begeistert besprochen.
Tatiana de Rosnay
Fünf Tage in Paris
Aus dem Englischen
von Nathalie Lemmens
ROMAN
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe wurde unter dem englischen Titel
The Rain Watcher verfasst und erschien zuerst 2018 unter dem Titel
Sentinelle de la pluie bei Éditions Héloïse d’Ormesson, Paris.
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© 2018 Éditions Héloïse d’Ormesson, Paris
© der deutschsprachigen Ausgaben: 2018 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Gerhard Seidl
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-23588-8
V002
www.cbertelsmann.de
Für meine Familie
And the stars look very different today.
David Bowie, Space Oddity, 1969
EINS
Hin schritt ich an des Flusses Seite
Ein altes Buch in Händen noch
Gleich ist die Seine meinem Leide
Sie strömen unversieglich beide
Guillaume Apollinaire, »Marie«
Ich werde mit dem Baum beginnen. Denn alles beginnt – und endet – mit dem Baum. Er ist der größte von allen, wurde lange vor den anderen gepflanzt. Ich weiß nicht genau, wie alt er ist. Drei-, vierhundert Jahre vielleicht. Er ist alt und mächtig. Er hat schreckliche Stürme überstanden, sich gegen unbändige Winde gestemmt. Er hat keine Angst.
Der Baum ist nicht wie die anderen. Er lebt in seinem eigenen Rhythmus. Für ihn beginnt der Frühling später, wenn alle anderen bereits blühen. Erst Ende April sprießen langsam die neuen, ovalen Blätter, und auch das nur an den oberen und mittleren Ästen. Überall sonst sieht er abgestorben aus. Knorrig, grau und verwittert. Er stellt sich gerne tot. So klug ist er. Dann brechen wie in einer gewaltigen Explosion plötzlich alle Blattknospen auf. Und triumphierend steht er da mit seiner hellgrünen Krone.
Hier oben kann mich niemand finden. Die Stille macht mir nichts aus. Es ist auch gar keine echte Stille, denn sie ist von zahllosen leisen Geräuschen erfüllt. Dem Rascheln der Blätter. Dem Seufzen des Windes. Dem Summen einer Biene. Dem Zirpen der Grillen. Dem Flattern eines Vogelflügels. Wenn der Mistral durch das Tal fegt, klingen Tausende raschelnder Zweige wie das Meer. Hierher kam ich zum Spielen. Das war mein Königreich.
Ich erzähle diese Geschichte jetzt, ein einziges Mal, damit ich sie nie wieder zu erzählen brauche. Ich kann nicht gut mit Worten umgehen, weder mit gesprochenen noch mit geschriebenen. Wenn ich dies hier fertig habe, werde ich es verstecken. Irgendwo, wo es nicht gefunden wird. Niemand weiß davon. Und niemand wird je davon erfahren. Ich habe nie darüber gesprochen. Ich werde es aufschreiben und keinem Menschen zeigen. Die Geschichte wird auf diesen Seiten bleiben wie eine Gefangene.