Buch
An ihrem ersten Tag am Elite-College Hawthorne fragt sich Malin, ob sie hierhin gehört, ob sie hier Freunde finden wird. Doch schon bald ist sie Teil einer Clique um den charismatischen John und die beliebte Ruby. Dazu gehören außerdem Khaled, Johns Cousin Max und die Engländerin Gemma. Schnell werden sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, teilen Hoffnungen, Ängste und dunkle Geheimnisse. Doch als Ruby und John sich verlieben, verschieben sich die Allianzen. Neid, Missgunst und tödlicher Hass erschüttern Malins Vertrauen, und sie ist froh, dass der Abschlusstag näher rückt. Ein Tag jedoch, den einer von ihnen nicht überleben wird …
Autorin
Cambria Brockman, aufgewachsen in den USA und in England, studierte Englische Literatur und Kunstgeschichte. Sie arbeitete als preisgekrönte Lifestyle- und Hochzeitsfotografin (Cambria Grace Photography), bevor sie sich dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Boston.
Für Lo
HAWTHORNE COLLEGE
Das ist unser Ende.
Die Stimme in meinem Kopf. Spring. Ich atme hastig ein, meine Brust hebt sich. Der Himmel ist düster, ein Schneesturm droht, die eisige Kälte kriecht uns in die Knochen. Das schwarze Wasser vor uns scheint unsere Namen zu flüstern, giert danach, in unsere Haut zu sickern. Wir keuchen alle, unser heißer Atem bildet weiße Wolken. Selbst wenn wir wegrennen wollten … wir können nicht. Die Gesänge werden lauter. Betrunken, unbeholfen, fassen wir sechs uns an den Händen, rücken dicht zusammen, unsere halbnackten Körper berühren sich. Die Härchen auf meinen Armen richten sich auf. Gemma und Khaled atmen hörbar ein und aus, sind aufgeregt und ängstlich.
Spring. Ich schließe die Augen, spüre Rubys schmale Finger, verschränkt mit meinen. Max, auf der anderen Seite, drückt fest meine Hand. John steht ganz aufrecht und beginnt den Countdown. Ruhig, um uns davon abzulenken, dass wir uns gleich dem vereisten See opfern werden. Seine Entschiedenheit lässt uns erstarren, verdeutlicht, dass es kein Entkommen gibt.
»Vier, drei …«
Plötzlich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Mit geschlossenen Augen nehme ich die Außenwelt weniger deutlich wahr, und vor meinem inneren Auge sehe ich, wie er sich zu mir herunterbeugt und mir etwas ins Ohr flüstert. Er hat mich zur Uni gebracht und verabschiedet sich von mir, seinem einzigen Kind. Will mir gute Worte mit auf den Weg geben, als Bestärkung für meinen Start. Ich sehe meine Mutter, verschwommen, hinter ihm. Traurig und sehnsüchtig starrt sie auf die Erstsemester. Ich weiß, dass sie nach sommersprossigen Jungs mit rötlichen Haaren Ausschau hält. Sie sucht nach dem Gesicht meines Bruders in der Menge, und dann schaut sie mich an und setzt ein gezwungenes Lächeln auf. Mein Vater fasst mich am Arm, beugt sich noch dichter zu mir. Der Griff ist zu fest, aber das macht mir nichts aus. Mein Vater raunt ein Wort, betrachtet dann prüfend mein Gesicht. Er will sehen, ob ich ihn verstanden habe. Ich, gehorsames Kind, nicke. Während meine Eltern zum Parkplatz gehen, zum Flughafen fahren, in der feuchten Hitze meines Geburtsorts ankommen, ihr leeres Haus betreten, geistert dieses Wort in meinem Kopf umher. In den nächsten Jahren wird es mein Handeln bestimmen, den Rhythmus meines Herzschlags vorgeben.
Jemand zieht an meiner Hand, erschrocken reiße ich die Augen auf.
»Zwei …«
Spring.
Johns Stimme wird lauter und drängender. »Eins!« Unsere Körper schnellen vorwärts und aufwärts. Einen Moment lang scheinen wir in der Luft zu schweben, und ich wünsche, wir könnten dort bleiben. Meine Freunde kreischen und schreien, und ich höre das Jauchzen in ihren Stimmen. So lange haben sie auf diesen Sprung gewartet. Nach vier Jahren in der Einöde von Maine haben wir es endlich geschafft. Dieses Spektakel beobachten alle jüngeren Studierenden Winter für Winter.
Vor drei Jahren haben wir selbst zum ersten Mal beim Sprung zugeschaut. Frierend, dicht zusammengedrängt, ließen wir einen Flachmann mit billigem Wodka kreisen. Er brannte im Hals, aber die Wärme im Bauch tat gut.
Der Sprung ist das Ritual am Ende der Studienzeit. Unser geisteswissenschaftliches Studium ist fast abgeschlossen, das Eisloch ein Übergangsritual. Außenstehenden, Studenten von anderen Unis, Familien kann man das nicht erklären. Es ist das spezielle Ritual dieser Uni, und alle hängen daran.
Jubel und Applaus branden auf. Unsere Kommilitonen schauen zu. Ich weiß, dass sie unsere Gesichter beobachten, auf denen sich Angst und Freude abzeichnen, während wir springen. Mir ist bewusst, dass es aussehen soll, als hätte man Spaß daran, und ich kreische laut, als meine bloßen Füße ins kalte Wasser tauchen.
Dann dringt die Kälte in meinen Körper wie Messerstiche. Ich tauche unter, schließe die Augen, die Stimmen verstummen. Ich spüre Bewegung um mich herum, die anderen zappeln, wollen möglichst schnell ans Ufer, raus aus dem eisigen See. Doch ich empfinde die Stille als wohltuend. Wunderbar friedlich. Hier gehöre ich her.
Ruby ruft meinen Namen. Ich öffne die Augen, sehe sie verschwommen oben auf der Eisfläche stehen, wie verpixelt. Sie hat die Arme um sich geschlungen, die Beine zusammengepresst.
»Malin!«, ruft sie. Ihre Stimme klingt verzerrt und dumpf unter Wasser. Ich zwinge meine Arme und Beine, sich gleichzeitig zu bewegen. Erst als mein Kopf durchs Wasser bricht, beginne ich wieder zu atmen. Ich schwimme zum Rand des Lochs, halte mich an der scharfkantigen Eisfläche fest.
Ruby reicht mir die Hand. Vor Kälte schlagen ihr die Zähne aufeinander. Max kniet hinter ihr, stemmt eine Hand gegen ihren Rücken, reicht mir die andere und hilft dabei, mich aus dem Wasser zu ziehen. Ich sehe John, Gemma und Khaled übers Eis zum Ufer schlittern, wo man ihnen Handtücher und heiße Schokolade reicht.
Die Stimmung ist aufgekratzt, es riecht nach Alkohol und Dope. Ich höre Lachen und Jubel für uns, die wir den Sprung gewagt haben. Mein Blut pulsiert wie wild, um mich zu wärmen, meine Zehennägel sind blau angelaufen, meine geflochtenen Haare gefroren. Ich sehne mich nach Strümpfen und Stiefeln und halte am Ufer Ausschau nach dem Gebüsch, wo ich alles abgelegt habe. Wir sechs quasseln und lachen, alle mit klappernden Zähnen und bläulichen Lippen. Ruby umarmt mich, und ich spüre ihre Gänsehaut an den Armen. Ich lächle sie an, während wir uns vom Eisloch entfernen. Am Ufer sagt sie irgendwas zu mir, aber ich höre nicht hin, wickle ein Handtuch um mich und steuere aufs Feuer zu. Ich tue so, als verstünde ich, wovon sie redet. Friere zu sehr, lächle Ruby aber an, wie immer.
Es liegt schon in der Luft, doch wir ahnen noch nichts davon. Am nächsten Tag werden wir uns im Speisesaal an den Frühstückstisch setzen wie immer und feststellen, dass jemand von uns fehlt.
Die Polizei wird auf dem Campus in den Wäldern eintreffen, Blaulicht wird auf den weißen Schneeflächen flackern. Wir werden zusehen, wie eine Leiche auf einer Trage abtransportiert wird, Polizisten werden uns befehlen, Abstand zu halten. Man wird uns verhören, zu den Ereignissen der Nacht befragen. Unsere Erinnerungen werden verschwommen sein, weil wir besoffen waren, außer Rand und Band, typisch für unser Alter. Die Ermittler werden uns zweifelnd betrachten und sich überlegen, ob sie uns glauben können.
Doch sie tun gut daran, uns zu verhören. Was diesen Tag angeht, haben wir alle Geheimnisse, und unsere Clique wird sich noch vor Studienende zerstreuen. Ohne das fehlende Puzzle-Teil ergeben wir kein vollständiges Bild mehr.
Ruby redet über die Kälte, den Sprung, die Aufregung. Aber ich höre nur das Wort meines Vaters, das in meinem Kopf widerhallt wie ein Echo.
Vortäuschen.
Erstes Studienjahr
Diese ersten Wochen in Hawthorne habe ich in Erinnerung wie Bücher in meinem Regal, nach Genre sortiert. Ich weiß nicht, ob es den anderen auch so geht. Fragmente, Momente, einzelne Sätze, Erlebnisse. Dass wir uns später so nahkamen, das fing in diesen ersten Tagen an, als wir alle unsicher waren und die Nerven bloßlagen.
Nachdem meine Eltern meine Sachen in das leere Zimmer getragen, mich zur Mensa begleitet hatten und abgereist waren, blieb ich alleine zurück. Es gab niemanden hier, den ich kannte, und ich hatte ein Einzelzimmer. Die Situation erinnerte mich an meinen ersten Tag im Kindergarten. Nachdem meine Mutter damals gegangen war, hing der Duft ihres Parfums noch in der Luft. Ihr Parfum ist für mich intensiv mit einigen Phasen meiner Kindheit verknüpft. Während die anderen Kinder weinten, schrien und Wutanfälle kriegten, saß ich ganz still an einem der niedrigen Tische. Und so war es auch an der Uni, nur ohne das Theater. Jetzt versuchten zwar alle, ihre Ängste zu verbergen, aber ich sah den anderen an, dass sie Panik schoben. Sie fragten sich, ob sie Freunde finden würden und wie sie die nächsten vier Jahre hier klarkommen sollten.
Ich schaute mich in der nagelneuen Mensa um, die erst diesen Sommer fertig geworden war. Die Sonne fiel durch die Fensterfront, wärmte mein Gesicht. Poster warben für Campus-Clubs und Sportveranstaltungen. Ich dachte an meine Eltern, die wahrscheinlich grade die Grenze von Maine zu New Hampshire passierten und auf der Interstate 95 zum Flughafen von Boston unterwegs waren. Vermutlich fuhr mein Vater, während meine Mutter auf die Bäume starrte.
John lernte ich zuerst kennen. Später galt ich immer als Rubys beste Freundin, und deshalb glaubten alle, so sei es vom ersten Tag an gewesen. Dieser Legende habe ich nie widersprochen. Zu Ruby mit ihrem hüpfenden kastanienbraunen Pferdeschwanz und ihrem liebenswerten Lächeln fühlten sich ohnehin alle hingezogen, aber nicht zu mir. An Rubys Attraktivität wollten alle Anteil haben und glaubten deshalb, sie hätte mich aus einer Schar bewundernder Anhängerinnen erwählt. Doch das Gegenteil war der Fall: Ich hatte sie ausgesucht.
Die Mensa war voller Studienanfänger, und ein paar drängten sich an mir vorbei, um möglichst schnell einen freien Platz zu finden. Ich blieb stehen und erwog meine Optionen. Rings um mich machten sich die Leute bekannt, plauderten über den Sommer. Die Einführungsveranstaltung begann erst in zehn Minuten, ich musste mir noch keinen Platz suchen, sondern konnte noch einen Kaffee trinken. Ich machte kehrt und ging zu dem Kaffeewagen nach draußen, froh, dem Gedränge zu entkommen.
»Eiskaffee«, sagte ich zu dem Mädchen. Sie war eindeutig älter als ich, machte das vielleicht als Job. »Schwarz.«
»Für mich das Gleiche«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich schaute über die Schulter und musste nach oben gucken. Das kam nicht oft vor. Leuchtend blaue Augen blickten auf mich herunter. Der Junge warf mir ein charmantes, schiefes Lächeln zu. Unter seiner Cap quollen blonde Haare hervor. Ich drehte mich wieder zu dem Mädchen um – etwas zu schnell vielleicht –, das den Jungen wie gebannt anstarrte. Erst als er sich räusperte, reichte sie uns beiden je einen Kaffeebecher.
»Geht auf mich«, sagte der Junge. Bevor ich widersprechen konnte, hatte er dem Mädchen schon vier Dollar gegeben.
»Oh, ähm«, murmelte ich. »Danke. Wär echt nicht nötig gewesen.«
»Kein Ding. Den Freunden nah sein, aber den Feinden noch näher, wie?«
Ich sah ihn verdutzt an. Ein amüsiertes Lächeln spielte um seine Lippen.
»Dein Sticker da«, sagte er und deutete auf meine Büchertasche. »Texans?« Er zeigte auf seine Cap. »Ich bin Giants-Fan.«
Ich schaute auf meine Tasche. Mein Vater hatte den Sticker draufgeklebt, nachdem die Texans im letzten Winter zweimal in Folge gewonnen hatten. Was sensationell war, weil sie sonst die meiste Zeit verloren. Mein Vater hatte sich gefreut wie ein kleines Kind. Weil ich ihn seit meiner Kindheit nicht mehr so froh erlebt hatte, ließ ich den Sticker dran.
»Ja, genau, Texans-Fan«, sagte ich. »Aber wir sind ja eher keine Gefahr.«
»Hey, das weiß man nie. Mit ein paar guten neuen Spielern …«, erwiderte der Junge und zwinkerte mir zu.
Ich lächelte, als wäre ich dankbar, obwohl ich in Wirklichkeit sauer war. Ich kann es nicht leiden, in der Schuld von jemandem zu stehen. Vor allem nicht von Typen wie dem da. So naiv und pubertär, wie der wirkte, würde er mir garantiert irgendeinen Spitznamen verpassen und jedes Mal abklatschen wollen, sobald er mich traf.
Der Junge hielt mir die Tür zur Mensa auf, und ich ging rasch rein, damit ich nicht weiter mit ihm reden musste.
»John«, rief jemand hinter uns, und John, der Giants-Fan, blieb draußen und ließ die Tür los. Ich sah, wie er einem anderen Jungen die Hand schüttelte und ihm auf den Rücken klopfte. Die beiden bewegten sich so geschmeidig und kraftvoll wie Sportler. Ihre Waden waren ungleich gebräunt. Fußballer wahrscheinlich.
Ich stellte mich in die Schlange, um meine Willkommensunterlagen abzuholen, und beobachtete dabei die beiden durchs Fenster. Fragte mich, ob sie sich grade erst begegnet waren oder ob sie sich von zuhause kannten. Ich beobachtete gerne Leute. Der erste Eindruck war oft richtig. An der Körpersprache der beiden sah ich, dass sie versuchten, besonders lässig zu wirken. John blickte zu mir, und sein Mund verzog sich zu diesem vielsagenden Lächeln, das ich noch so oft sehen würde. Er zwinkerte mir schon wieder zu, und ich wandte rasch den Blick ab, tat, als hätte ich es nicht gesehen. Ich blieb lieber unbemerkt, hatte aber von meiner Mutter die helle glatte Haut und die auffälligen grünen Augen geerbt. Mein Gesicht war ebenmäßig und fein, und so viel ich auch aß, ich blieb immer dünn. Zu allem Überfluss hatte die texanische Sonne meinem Haar einen Goldschimmer verliehen. All das, obwohl ich lieber unscheinbar und unauffällig gewesen wäre.
Obwohl ich den Kopf abgewandt hatte, spürte ich, dass John mich musterte. Und ich hörte sein Lachen, wenn die Tür auf- und zuging.
Etwas an ihm kam mir vertraut vor – das Lächeln, seine Bemühungen, etwas Nettes für mich zu tun, der Farbton von Haut und Haaren. Ich schluckte und zwang mich, die Erinnerung aus meinem Kopf zu vertreiben.
»Die Leute, mit denen du dich in dieser Woche anfreundest, bleiben Freunde fürs Leben.«
Ich hörte der Studentin zu, die uns Anfänger willkommen hieß, war aber genervt, sah gar nicht ein, weshalb man uns nicht einfach eine Broschüre in die Hand drückte. Ich wollte Vorlesungen, feste Rhythmen und Abläufe und hoffte, dass man nicht noch irgendwelche Teambuilding-Spiele machen würde. Die Studienanfängerin links von mir zupfte an ihrer Nagelhaut. Ich sah zu, wie das Mädchen mit dem Zeigefinger die Haut nach hinten schob und daran herumzerrte, so lange, bis der rosa Hautfetzen zu Boden fiel.
»Und sauft nicht zu viel, ja, Leute?«, sagte die Studentin jetzt. »Bisschen angeschickert sein ist cooler.«
Einige lachten. Ich dachte mir, dass die Unileitung es wahrscheinlich für wirkungsvoll hielt, wenn ein älteres Semester mit uns über Drogen und Alkohol redete. Schien zu funktionieren.
Ich schaute nach draußen auf die Wipfel der Kiefern, die sich vor dem blassblauen Sommerhimmel abzeichneten. Weiter hinten sah ich den Turm der Unikirche und die Dächer der Ziegelgebäude, in denen die einzelnen Fakultäten untergebracht waren. Edleton in Maine war ein idyllischer Ort für eine kleine geisteswissenschaftliche Universität; sie lag inmitten von Ahorn-, Kiefern- und Eichenwäldern. Als mein Vater und ich damals alles besichtigten, erzählte unser Führer viel über die Holzindustrie in der kleinen Ortschaft: dass überall Laster unterwegs waren, um Baumstämme abzuholen, die dann zu Zellstoff oder Pellets zum Heizen verarbeitet wurden. Oder zu Dielen. Mein Vater fand das spannender als Hawthorne und fuhr hinterher mit mir den ganzen Ort ab, wo er die alten Fabrikgebäude und die baufällige Wassermühle fotografierte.
Während der Führung durch Hawthorne hatte ich gehört, wie jemand in der Gruppe leise berichtete, dass die Einheimischen die privilegierten Studis regelrecht hassten. Bei einem Streit im Pub war vor ein paar Jahren ein Student erstochen worden. Man brachte ihn nicht rechtzeitig ins Krankenhaus, und er war draußen auf dem Gehweg verblutet.
Das Nagelhaut-Mädchen neben mir stupste mich jetzt an und nickte in Richtung eines Jungen vor uns. Er hatte rabenschwarze Haare und dunkelbraune Haut, eine angenehme Abwechslung zwischen all den weißen Gesichtern. Der Junge trug ein Hoodie, teure schwarze Jeans und nagelneue Hightop-Sneakers und schien auf seinem Handy irgendein Spiel zu machen.
Ein Raunen an meinem Ohr. »Das ist ein Prinz.«
Ich sah das Mädchen an. Die Augen unter den mit Mascara dick verklebten Wimpern leuchteten vor Aufregung. Sie hatte dunkle Haut und schwarze Augen, auch schwarze Haare an den Armen. Mochte aus Indien oder Sri Lanka stammen. Blauer Nagellack, halb abgesplittert, die glänzenden schwarzen Haare stufig geschnitten. Üppige Brüste.
Sie beugte sich wieder zu mir. »Ich stalke ihn auf Facebook. Er hat zehn Lamborghinis oder so. Ist aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Dubai oder Abu Dhabi … ich glaub, Abu Dhabi. Sein Dad ist da Finanzminister. Ich konnt’s nicht lassen und hab ihn auch auf Google gestalkt, aber sonst bin ich nicht so, ehrlich«, flüsterte das Mädchen. Britischer Akzent.
Reichtum hatte mich noch nie interessiert. Ich kam aus einer Familie, in der es nie an etwas gefehlt hatte, man aber keinen Wert auf Luxus legte. Eines Tages wollte ich selbst Geld haben, viel Geld. Aber ich war nicht neidisch auf Leute, die von Haus aus reich waren, denn das war bestimmt auch stressig.
»Wir sollten uns mit ihm anfreunden«, sagte das Mädchen mit ziemlich irrem Grinsen. Die Direktheit verblüffte mich – »wir«, als würde ich dazugehören. Dabei hatten wir uns noch nicht mal vorgestellt. Bislang verband uns nur, dass wir beide in einer langen Reihe mit anderen hinten in der Mensa saßen. Jetzt stieß das Mädchen einen lauten Seufzer aus, lehnte sich zurück und hakte die Flip-Flops an den Metallbeinen des Stuhls ein. Dann förderte sie aus ihrer Tasche einen Streifen Kaugummi zutage und reichte ihn mir.
»Wie heißt du?«, flüsterte das Mädchen.
»Malin«, sagte ich. »Und du?«
»Gemma.« Sie lächelte und drückte meinen Arm. »Meine Mitbewohnerin und ich machen heute Abend so eine Art Willkommensparty. Magst du auch kommen?«
»Klar«, antwortete ich. »Bist du aus England?« Im Geiste klopfte ich mir selbst auf die Schulter, weil ich den Smalltalk durchhielt.
»Meine Mom hat in den siebziger Jahren hier in Hawthorne studiert. Sie ist Amerikanerin, mein Vater Pakistani. Riesenthema. Jeder von ihnen will mir ständig seine Kultur nahebringen. Immerhin waren sie sich einig, dass ich eine ordentliche amerikanische Ausbildung kriegen sollte, um meine Erziehung ›abzurunden‹. Ich find mich ja schon ziemlich rund«, sagte Gemma, strich über ihren weichen Bauch und verdrehte die Augen. »Aber das geht für mich klar. Die Jungs hier sind süßer. Achten besser auf ihre Zähne.« Sie hielt inne, schien zu überlegen. »Obwohl mir das jetzt auch nicht sooo wichtig ist.« Ihr Handy vibrierte, und sie zerrte es aus ihrer Tasche. Eine Schachtel Zigaretten fiel heraus. »Bestimmt mein Freund«, sagte Gemma und zwinkerte mir zu.
Ein paar Minuten später schickte sie mir ihre Handynummer, und wir waren Freundinnen.
Der Pappteller in meiner rechten Hand kippte nach vorne, und Hummerbrühe tropfte auf den gepflegten Rasen. Ich hielt krampfhaft das Plastikbesteck fest. Der Hummer rutschte vorwärts, die Scheren gen Himmel gereckt. »Tschuldigung!«, quietschte ein Mädchen mit seidig glänzenden Haaren, als es sich an mir vorbeidrängte. Die Stimme klang fröhlich und aufrichtig. Ich sah dem Mädchen nach, als es sich in die Schlange am Buffet einreihte.
Ich stand am Rand eines endlosen Meers aus jungen Leuten, die in kleinen Gruppen zusammensaßen, sich bekannt machten, Freundschaft schlossen. Weit hinten entdeckte ich einen freien Schattenplatz unter einem großen Baum. Da war es bestimmt schön kühl, und niemand würde mir Fragen stellen. Doch dann dachte ich wieder an die Aufforderung meines Vaters und zwang mich, in das Meer hineinzugehen. Dabei starrte ich konzentriert auf den Hummer mit seinen toten schwarzen Murmelaugen.
Ich hatte angenommen, dass die Uni eine Art Fortsetzung der Oberschule sein würde, und war erstaunt, dass es hier gar keine sichtbaren Cliquen gab. Keine Sportstypen, Tussis, Goths oder Nerds. Die Jungs trugen alle Flanellhemden und Chinos, die Mädchen waren schlicht gekleidet und hatten die Haare zum Pferdeschwanz gebunden oder zu Zöpfen geflochten. Meine Mutter hatte mir geraten, Jeans und ein simples T-Shirt anzuziehen, und tatsächlich das richtige Gespür gehabt. Es schien fast, als hätten alle versucht, mit dieser Art von Uniform nicht aufzufallen. Ich ging zwischen diesen Klonen hindurch und kam mir dabei vor, als wäre ich in einem Katalog unterwegs: Freizeitkleidung für Elitestudenten.
Ich erwog meine Optionen. Nirgendwo bot sich ein Platz an, und ich kriegte ein paar Mitleidslächeln ab. Niemand schien seine Position aufgeben zu wollen. An diesem ersten Tag wollten alle Kontakte schmieden und stürzten sich auf die erstbeste Möglichkeit. Ich blickte wieder zu dem Baum hinüber. Vielleicht konnte ich mir das doch erst mal ersparen. Mein Vater brauchte es ja nicht zu erfahren.
»Hey!«, rief da jemand hinter mir. Ich bezog das nicht auf mich und ging weiter.
»Hey! Maaaay-linn!« Britischer Akzent.
Ich schaute über die Schulter. Gemma winkte mir zu und klopfte auf den freien Platz neben sich. Ich zögerte. Wenn ich mich jetzt setzte, war’s das, dann würde ich dort bleiben. Ich checkte die anderen, die bei ihr saßen, zwei Jungs und ein Mädchen. Einer der Jungs saß mit dem Rücken zu mir, aber ich erkannte die breiten Schultern und die blonden Haare. Das andere Mädchen hatte etwas Strahlendes. Die üppigen Haare zum Dutt aufgetürmt. Elegant, entspannt. Ihr Blick richtete sich auf mich, und dann lächelte sie und winkte mich zu der Gruppe.
»Du hast so verloren ausgesehen«, sagte Gemma, als ich mich im Schneidersitz zwischen ihr und dem anderen Mädchen niederließ. Gemma hatte Mais zwischen den Zähnen, gelb und glänzend. Ich lächelte die anderen an, die mich musterten, Fremdling in der Gruppe.
»Das ist Malin«, sagte Gemma.
Ich nickte dem blonden Jungen zu, den ich am Kaffeestand kennengelernt hatte. Er lächelte vielsagend, gab mir die Hand. Kräftiger Händedruck.
»John.« Er wies mit dem Kopf auf den Jungen neben ihm. »Mein Cousin Max.«
»Hallo«, sagte ich und zwang mich zu einem breiten Grinsen.
Max und ich hatten kurz Blickkontakt, aber er sagte nichts, wirkte verschlossen und abweisend. Er war kleiner als John, schlank und sehnig, die dunklen Haare mit Mittelscheitel. Wirkte sportlich, aber nicht so kraftvoll und wuchtig wie sein Cousin. Sogar sitzend war ich größer als Max, aber ich überragte die meisten Leute. Beide Cousins hatten diese leuchtend blauen Augen, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen. Gemma wies mit der Hand auf das andere Mädchen, das mich noch immer anlächelte.
»Meine tolle neue Freundin Malin. Meine auch total tolle Mitbewohnerin Ruby«, sagte Gemma fröhlich. Sie genoss es sichtlich, uns alle zusammenzubringen, so als sollten ihr alle dankbar sein.
Ruby hatte volle Lippen und makellose weiße Zähne und wirkte so jung, dass ich sie auf der Straße für eine Schülerin gehalten hätte. Mir fiel wieder ein, dass wir alle vor vier Monaten noch zur Schule gegangen waren.
»Hi«, sagte Ruby zu mir. Ihre braunen Augen waren offen und arglos. Ich erwiderte ihr Lächeln unsicher. Sommersprossen tummelten sich auf Rubys Nase und Wangen, ihr Gesicht war so ebenmäßig wie ein Beispiel für den goldenen Schnitt, von Natur aus vollkommen. Zwei exakt gleiche hübsche Gesichtshälften.
»Ah, dann bist du die, neben der Gemma bei der Einführung gesessen hat?«, fragte Ruby mit sanfter Stimme. Ich war dankbar, dass ich das Gespräch nicht selbst lenken musste.
»Ja, wir haben zusammen den Prinzen angestarrt«, antwortete ich.
»Oh Gott, Gemma!« Ruby stöhnte und beugte sich dann zu mir. »Hast du ihr gesagt, dass sie den bloß in Ruhe lassen soll? Sie ist echt eine schlimme Stalkerin.«
»Gar nicht!«, versetzte Gemma, holte ihr Handy raus und schrieb eine Nachricht. »Wenn wir erst mit dem befreundet sind, werdet ihr mir noch dankbar sein«, fügte sie hinzu, ohne aufzuschauen.
Ruby spähte auf das Handy. »Wem schreibst du? Liam? Lass sehen.«
Gemma grinste und hielt die Hand übers Display. »Ja … er vermisst mich. Der Arme.«
»Wer ist Liam?«, fragte ich.
»Gemmas Freund«, antwortete Ruby.
Gemma legte ihr Handy neben das Band mit ihrer Schlüsselkarte. »Ich hab ihm ja gesagt, wir sollten uns lieber trennen, bevor ich hierher gehe. Aber er wollte es unbedingt mit Fernbeziehung probieren.«
Ich überlegte hastig, was ich als Nächstes sagen könnte. »Und ihr macht heute Abend eine Party?«
»Ja«, bestätigte Ruby und aß eine Gabel Kartoffelsalat. »Kommst du? Hawthorne College, elternfrei.«
Das Motto Hawthorne College, elternfrei stand auf der Facebook-Seite unserer Studiengruppe. Hatte sich wahrscheinlich die Person ausgedacht, die nach ihrer Zulassung die Seite eingerichtet hatte. Schon bei der Vorstellung einer Party tat mir der Kopf weh, und ich starrte auf den Hummer auf meinem Pappteller und stupste ihn mit der Gabel an.
»Noch nie Hummer gegessen?«, fragte John.
Ich blickte auf. Alle schauten mich abwartend an.
»Ähm, nein. Erstes Mal.«
»Schmeckt köstlich«, sagte Ruby und tunkte ein Stück weißes Fleisch in flüssige Butter.
»Woher kommst du?«, fragte John weiter. »Sogar die Königin von England hier«, er wies mit dem Kopf auf Gemma, »kann mit Hummer umgehen.«
Gemma zuckte zusammen, als fühlte sie sich gekränkt von der Anspielung darauf, dass sie gern aß. Sie zog den Bauch ein und richtete sich auf.
»Houston«, sagte ich. »Meine Mutter ist allergisch gegen Krustentiere, deshalb gab’s die bei uns nie.«
»Ah.« John setzte sich zu mir. Er roch nach Seife und Deo. Ich schaute auf Max, der noch immer nichts gesagt hatte, uns aber beobachtete.
John griff nach dem Hummer, und ich verzog das Gesicht, als die Fühler zitterten.
»Mit dem Schwanz anfangen«, sagte John, und es knackte, als er mit geübter Bewegung die Schale aufbrach und das weiße Fleisch herausdrückte. Dann legte er den Rest auf den Teller und drosch mit der Faust darauf. Körpersäfte spritzten auf Ruby und Gemma, auf meinem Handgelenk landete irgendeine wässrige Substanz. Gemma kreischte angeekelt und schlug auf Johns muskulösen Arm. Ruby war zurückhaltender und tupfte kommentarlos die Flecken von ihren Sneakers. John löste unbeeindruckt mit dem Daumen das Fleisch aus dem aufgebrochenen Panzer. »Dann die Scheren«, sagte er, zog einen Hummerknacker aus der Tasche und brach damit eine Schere auf. Noch mehr Flüssigkeit tropfte auf meinen Teller, und John schaute zufrieden lächelnd auf. »Willkommen in Maine.«
Ich blickte erst auf ihn und dann auf die starren Augen des Hummers, der jetzt halb zerstückelt auf dem Rücken lag. Dann lächelte ich, weil ich spürte, dass John Dank für seine Assistenz erwartete.
»Super, danke«, sagte ich.
Er zeigte auf eine grüne Masse, die aus dem Körper quoll. »Das da kannst du auch essen. Ist eine Delikatesse.«
»Tu’s nicht«, warnte Ruby. »Das ist …«
»Scheiße«, warf Gemma ein. »Echte Scheiße. John verscheißert dich.«
John setzte sich wieder an seinen vorherigen Platz und grinste. »Das ist der beste Teil. Und es ist nicht Scheiße, sondern die Leber.«
»So ekelhaft«, sagte Gemma und warf eine Hummerschere nach John. Sie prallte an seiner Brust ab und landete neben seinen lachsfarbenen Chinos. John grinste Gemma an, und sie wurde rot. Kam mir seltsam vor, dass sie mit jemandem flirtete, obwohl sie doch einen Freund hatte. Aber ich kannte mich mit Liebesbeziehungen nicht aus, hatte noch nie eine gehabt.
Gemma zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg mir in die Nase, ich unterdrückte den Hustenreiz und hoffte, dass die anderen nicht auch rauchten.
»Woher kennt ihr euch alle?«, fragte ich, verwundert über die Vertrautheit der Gruppe.
»Ah«, sagte Gemma, sichtlich begierig, die Frage zu beantworten. »Wir haben uns grade erst kennengelernt. Heute.« Sie sah John an. »Na ja, gut, also Max und er kennen sich natürlich, weil sie Cousins sind. Und Ruby war mit den beiden während des Fußballturniers schon mal hier. Ich wohne mit Ruby zusammen. Klingt kompliziert, wenn man’s erklären muss.«
»Und wir haben in diesem Sommer auf Facebook gechattet«, fügte Ruby hinzu.
»Ach ja, genau. Irgendwie kannten wir uns also doch schon«, schloss Gemma und biss in ihren Maiskolben.
Ich blickte angewidert auf den Hummerkadaver. Die anderen fingen an, über Seminare zu reden, und ihre Stimmen schienen sich von mir zu entfernen. Ich nahm ein Stück von dem kalten, gummiartigen Fleisch und tunkte es in die Plastiktasse mit Butter. Dachte dabei an all die Hummer, die noch vor wenigen Tagen vergnügt im Meer unterwegs gewesen waren, nichtsahnend, dass sie in Kürze auf dem Rasen einer Elite-Uni enden würden. Und wir waren nicht mal die elitärste der Elite-Unis, eher die zweite Riege. In Hawthorne landete, wer in Princeton, Harvard oder am MIT abgelehnt worden war. Ich fragte mich unwillkürlich, was es in Harvard beim Begrüßungsessen gab.
Ruby drückte ihr Knie an das von John, auf eine so intime Art, wie man es nur machte, wenn man ein Paar war. Die anderen lachten, aber ich blendete sie aus. John registrierte meinen Blick. Ich spürte, dass er versuchte, mich einzuschätzen. Er wollte, dass ich ihn mochte. Wahrscheinlich war es ihm ein Rätsel, warum ich ihn nicht so anhimmelte wie die beiden anderen Mädchen. Ich schaute rasch weg, bevor Ruby unseren Blickkontakt bemerkte, und hoffte, dass ich bald verschwinden konnte.
Senior Day
Der Senior Day ist Tradition und findet immer an einem Samstag mitten im Winter statt. Die Stimmung heute früh auf dem Campus ist noch schläfrig und behaglich. Ich verstehe nach wie vor nicht, warum man diesen Festtag nicht in den Frühling gelegt hat, wenn es warm ist und alle ihre Examen hinter sich haben. Ich vermute mal, wer sich das Ganze ausgedacht hat, litt an Winterblues und brauchte einen Anlass, um ein ganzes Wochenende saufen und feiern zu dürfen.
Um die Mittagszeit treffen wir uns vor der Mensa und ziehen dann los, um in allen Häusern – jedes ist nach einem Motto dekoriert – Party zu machen. Die Tour endet mit dem Sprung in den vereisten See. Die anderen Semester schauen zu und trinken aus Plastikwasserflaschen harte Alkoholika.
Abends gibt es den Last Chance Dance in der alten Sporthalle, genannt Der Käfig. Da sind eigentlich nur die höheren Semester zugelassen, aber ein paar Studienanfänger mogeln sich meist auch rein. An diesem Tag wird von der Unileitung alles Mögliche geduldet und sogar mitorganisiert. Wollen uns wohl bei Laune halten, wenn wir hier schon mitten in der Einöde hocken.
Mir ist dieses ganze Traditionsding egal. Nicht egal ist mir, was sich in dem Haus abspielt, in dem ich mit meinen fünf Freunden wohne. Alles Mögliche läuft schief. Wir sollten uns eigentlich besonders nah sein und zusammenhalten. Stattdessen tun sich Abgründe auf. Drei Jahre lang sind wir jetzt so eng befreundet, ich werde nicht zulassen, dass in den letzten Monaten alles zerfällt. Ich brauche diese Gruppe dringend, bin regelrecht abhängig von ihr. Und im Moment ist mir am allerwichtigsten, eine Lösung für mein Problem zu finden.
Heute Morgen saß ich in Rubys Zimmer auf dem Fußboden, ans Bett gelehnt, während Gemma und sie sich zurechtmachten. Das Zimmer ist direkt neben meinem, nur durch eine dünne Wand getrennt. Gemmas Zimmer ist auf der anderen Seite, mit Blick auf den Campus. Das Haus gehört Khaled, dem Prinzen, wie wir ihn zu Anfang immer nannten. Gemma hat ihn gleich in den ersten Studientagen in unsere Clique reingebracht. Sie bildet sich gerne ein, dass wir die Zimmer in dem feudalen Haus ihr verdanken, und reibt uns das ebenso gerne unter die Nase.
Khaled wohnt im größten Zimmer, unten im Erdgeschoss, John und Max in zwei kleineren Räumen gegenüber der Küche. Die Jungs kommen nur selten hoch zu uns in die Mädchenzimmer, von John abgesehen. Den habe ich in letzter Zeit zu oft gehört wegen der dünnen Wand. Alle anderen aus dem Semester beneiden uns um die Villa, und wir selbst nennen sie den Palast. Die meisten anderen hausen in Studentenwohnheimen mit winzigen Zimmern oder müssen sich Räume in heruntergekommenen Häusern außerhalb vom Campus mieten. Ich weiß wohl, dass wir Glück haben, aber deshalb bin ich noch lange nicht glücklich.
Gemma und Ruby gaben sich heute Morgen besondere Mühe mit ihrem Outfit und zogen ihre engsten und buntesten Stretch-Sachen an. Ich trug meine Laufshorts und das Uni-Sweatshirt und graulte mich jetzt schon vor dem eiskalten Wasser.
Ich sah zu, wie Gemma sich hastig die Nägel lackierte und dabei über ihre ausgefranste Nagelhaut pinselte. Die Haare hatte sie sich blau gefärbt, wegen der Unifarben, hatte sie gesagt. Ruby und ich äußerten uns nicht dazu, aber es war klar, dass wir beide das Gleiche dachten: typisch Gemma, wieder ein Schrei nach Aufmerksamkeit.
Rubys wichtigstes Accessoire heute war ein räudiges altes Tutu, das uns seit der Eighties-Party zu Anfang des Studiums begleitet hatte. Damals hatte Ruby es im Second-Hand-Laden vom Wühltisch gepflückt und seither bei jeder traditionellen Feier zum Einsatz gebracht. Ich schauderte, als ich daran dachte, wie viele schweißnasse Tanzflächen und nächtliche Ausflüge zum Grill, dem Imbiss im Ort, es miterlebt hatte. Einmal hatte Gemma es auch vollgekotzt. Das Tutu hatte Ruby all die Jahre mitgeschleppt, es war wie ein Sinnbild für ihr früheres spielerisches Wesen.
Hätte jemand uns an diesem Morgen sehen können, er hätte bestimmt gefunden, dass wir einen malerischen Anblick abgaben. Drei beste Freundinnen, die sich auf den Höhepunkt ihrer Studienzeit vorbereiten: den Senior Day. In ein paar Monaten würden wir unseren Abschluss machen. Kosteten die letzte Zeit unseres gemeinsamen Lebens hier aus. Sicher hätte derjenige uns um unsere Jugend und unsere Nähe beneidet. Um unser Glück.
Doch das alles ist eine Lüge.
Eine Zigarette in der einen Hand, heiße Schokolade in der anderen, steht Gemma am Feuer und redet mit ihren Theaterfreunden. Sie trägt ihre weite Uni-Sweathose und alte Stiefel, hat ein Handtuch um den Oberkörper geschlungen. Ich halte Ausschau nach Ruby, aber die ist wohl mit John und den anderen losgezogen, um noch mehr heiße Schokolade mit Whisky aufzutreiben. Das ist meine Chance.
»Hey«, sage ich und stelle mich neben Gemma. Die Hitze vom Feuer brennt mir im Gesicht. Gemma schaut mich von der Seite an und wirft dann die Kippe in die Flammen. Sie weiß, dass ich Rauchen nicht ausstehen kann.
»Kann ich was mit dir besprechen?«, frage ich.
»Na klar«, antwortet Gemma.
»Ich wollte schon länger mit dir darüber reden …« Ich lasse das in der Luft hängen, gebe mir Mühe, unsicher und besorgt zu wirken.
Jetzt habe ich ihre Aufmerksamkeit. Gemma sieht beunruhigt aus und betrachtet mich mit verengten Augen. »Alles okay?«
»Tja …« Wieder lege ich eine bedeutungsvolle Pause ein, schubse mit dem Fuß einen gefrorenen Erdklumpen weg. »Ich mach mir Sorgen um Ruby.«
Gemma liebt großes Drama, auf der Bühne wie im Leben, sie studiert schließlich Theaterwissenschaften.
»Ich finde, sie benimmt sich komisch in letzter Zeit«, fange ich an. »Ich will jetzt echt keinen Blödsinn reden, aber ich finde, sie ist neuerdings so zickig. Weißt du, was ich meine?«
Ich sehe an Gemmas Blick, dass sie versteht, wovon ich rede. Letzte Woche, auf dem Weg zum Butternut Mountain, wo wir Ski laufen wollten, hat Ruby Gemma übel angeraunzt. Das GPS fand kein Signal mehr, und wir gondelten zwanzig Minuten lang in die falsche Richtung. Gemma sagte immer wieder, wir hätten einen Abzweig versäumt, aber Ruby weigerte sich umzukehren. Ich schwieg mich aus, wusste aber, dass Gemma recht hatte. Als das Navi wieder funktionierte und sagte, wir müssten umkehren, bot Gemma Ruby an, ihr bei der Eingabe zu helfen. Darauf fauchte Ruby: Großer Gott, tut mir leid. Wenn du dich so gut auskennst, kannst du ja dann heimfahren. Aber sie klang nicht, als ob ihr irgendwas leidtäte. Danach hörten wir Radio und fanden schließlich auch den Berg.
Ich konzentriere mich auf meine nächsten Worte, hoffe, die richtigen Nadeln zu setzen.
»Ich hab das Gefühl, John will sich von ihr trennen. Sie benimmt sich ihm gegenüber so distanziert. Und flirtet mit anderen Typen. John merkt das. Tut mir echt leid für ihn.«
Gemmas Augen weiten sich.
»Jedenfalls«, spreche ich weiter, »wenn die beiden sich trennen, wird sie bis zur Abschlussfeier am Boden zerstört sein. Und bestimmt ergreifen alle von uns für einen der beiden Partei. Das wird total unangenehm. Ich meine, wir sechs wohnen zusammen und sind uns so nah.«
»Ja, stimmt schon«, sagt Gemma. Sie zieht das Handtuch noch fester um sich und blickt auf ihre Hände mit den abgekauten Nägeln. Der Wind zerrt an unseren Handtüchern, Asche wirbelt um uns herum.
»Ich weiß einfach nicht …«, rede ich weiter. »Eigentlich glaub ich zwar nicht, dass er sie betrügen würde oder so. Aber wenn, dann wär bestimmt heute der Tag dafür. Irgendwann reicht’s ihm bestimmt auch. Kann mir gut vorstellen, dass er sich betrinkt und dann irgendwas Dummes macht. Was glaubst du? Du bist doch immer noch ziemlich dicke mit John, oder? Ich dachte, du könntest vielleicht mit ihm reden. Nur um zu hören, ob er klarkommt oder ob er jemanden braucht, um sich auszusprechen. Und ich versuch, aus Ruby rauszukriegen, was mit ihr los ist.«
»Ich?«, fragt Gemma zögernd. Aber ich spüre ihre Aufregung. Die ist da, unter ihrer Sorge um Ruby. »Du glaubst, ich bin die Richtige, um mit John zu reden?«
»Ja, ich meine, er sagt immer, dass du seine beste Freundin bist.« Kleine Lüge. »Das wusstest du doch, oder?«
Gemma wird rot, und ihre Mundwinkel zucken. Sie fühlt sich geehrt. »Okay, ich mach das«, sagt sie. »Kein Problem, Süße. Ich geh das an.«
Die anderen kommen ums Feuer herum zu uns. Ich beobachte Ruby genau. Sie versucht angestrengt, fröhlich zu wirken. In einer Hand hält sie das tropfnasse Tutu, in der anderen einen dampfenden Becher heiße Schokolade. John und Khaled rauchen einen Joint und schauen sich immer wieder hastig um, damit sie nicht von der Unileitung erwischt werden.
»Sag nichts«, flüstere ich Gemma zu.
Sie nickt ernsthaft und aufrichtig dankbar, dass ich sie eingeweiht habe. Ich weiß, dass sie sich mir näher fühlt als je zuvor. Ulkig, dass Gemma jetzt am Ende so wichtig wird. Nach all diesen Jahren, in denen ich sie für meine Pläne nie zu irgendwas brauchen konnte. Sie will so unbedingt gefallen. Und ich kenne die Wahrheit über Liam; deshalb bin ich auch sicher, dass Gemma alles Erdenkliche tun wird, um sich John anzunähern. Ich weiß, dass ich sie eigentlich bedauern sollte. Und wenn die Dinge anders lägen, würde ich das vielleicht auch tun.
»Hey, Leute«, sagt Khaled mit seinem Dauergrinsen und hält unsere aufblasbare Gummipuppe hoch. »Denise war super.«
»Denise braucht bestimmt eine Pause«, erwiderte Gemma. »Du hast sie ja heute ziemlich hart rangenommen.«
Die beiden lachen. Im ersten Semester hatten wir bei uns im Haus eine Halloween-Party gemacht, und irgendjemand hatte diese Gummipuppe dagelassen, woraufhin Khaled beschloss, dass wir sie behalten sollten. Er gab ihr den Namen Denise, und seither steht sie am Wohnzimmerfenster und schaut uns zu, wenn wir kommen und gehen. Auf Khaleds Facebook-Profilbild ist er mit Denise zu sehen. Er hat den Arm um ihre Plastikschultern gelegt, und beide glotzen mit demselben dämlichen Blick in die Kamera.
Gemma nimmt ihm den Joint aus der Hand, und Khaled und sie unterhalten sich. Sie wirft mir noch einen Blick zu, in dem zu lesen ist, dass sie unser Geheimnis bewahren wird.
Ich spüre, wie John meinen Arm streift, den Kreis schließt. Er schaut zu mir herunter, wir sehen uns an. Seit Wochen gehen wir uns aus dem Weg. John muss heute das Richtige tun, sonst wird mein Plan nicht funktionieren.
Mein Handy vibriert in meiner Hand. Ich schaue aufs Display. Neue Nachricht von H. Ich mache sie auf.
Wir müssen reden. Hör auf, so zu tun, als wäre alles okay. Lass mich dir helfen.
Ich mache das Handy aus und drücke es an mich.
Ich musste Gemma anlügen. Eigentlich geht es nicht um Rubys Zustand oder die Stimmung in unserer Clique. Es ist etwas viel Gravierenderes, etwas wirklich Schlimmes. Aber das kann man jemandem wie Gemma nicht anvertrauen.
Erstes Studienjahr
Ich spürte die feuchte kühle Luft auf der Haut, als ich im Zwielicht über den Campus ging. In Texas war es um diese Jahreszeit noch unerträglich heiß. Da war es in Maine schon frischer. Maine, meine neue Heimat. Ich trug enge schwarze Jeans und ein tief dekolletiertes Seidentop mit Spaghettiträgern.
Gemma und Ruby wohnten damals noch in einem der größten Wohnheime auf dem Campus. Der Ziegelbau war von Efeu überwuchert, Musik drang aus den offenen Fenstern, ein lautes schrilles Mischmasch, aber es gefiel mir, an einem Wochentag mit Freunden Party zu machen. Gemma, Ruby, John, Max. Ich ließ mir die Namen auf der Zunge zergehen, konnte noch gar nicht fassen, dass ich die alle so schnell kennengelernt hatte. Nahm mir fest vor, eine gute Freundin zu sein, damit ich zu ihrer Clique gehören konnte. Witzig und entspannt musste ich sein, mich nach ihnen erkundigen, gut zuhören. Cool wirken, kapieren, wie sie tickten, damit ich jederzeit helfen konnte.
Auf der Treppe an der Haustür saßen ein paar Jungs und musterten mich, als ich an ihnen vorbeiging. Rauchwolken hingen in der Luft, es roch muffig nach Gras. Auf der obersten Stufe warf ich einem der Jungs einen Blick zu. Es war der Prinz. Er grinste und sprang auf, um mir die Tür zu öffnen.
»Danke.« Ich trat in den kühlen Flur.
Der Prinz strahlte. Er sah schon süß aus mit seinem weichen Gesicht und den lieben Augen. Kam sicher bei allen gut an. Wollte wahrscheinlich wettmachen, dass er ein Prinz war. Jetzt merkte ich, dass er irgendeinen Männerduft trug und ziemlich damit übertrieben hatte.
»Willst du zu Gemma?«, fragte er und hielt mit dem Fuß die Tür auf.
Gemma hatte ihn wahrscheinlich schon kennengelernt; vielleicht durfte sie bald mal in einem der Lamborghinis mitfahren.
»Ja.«
Wir standen uns einen Moment gegenüber, dann reichte ihm einer den Joint hoch.
»Willst du dich zu uns setzen?«, fragte der Prinz. Aber ich wusste, was für einen Ruf man sich einhandelte, wenn man als einziges Mädchen bei einer Gruppe Typen saß. Ich wollte auf jeden Fall anders wirken.
»Nein, danke.«
»Wie du willst. Wir sehen uns«, sagte der Prinz.
Die Tür fiel zu, und ich stieg die Steintreppe hinauf. Meine Schritte hallten in dem alten Gebäude wider.
»Oh mein Gott, hi!«, kreischte Gemma, als ich in ihr Zimmer trat. Ihr Atem roch fruchtig und nach Alkohol. Das Getränk in dem roten Plastikbecher schwappte über den Rand auf den Boden, aber Gemma schien es nicht zu merken.
Die Tür zu dem langen Korridor stand offen, im Zimmer war es stickig und stank nach schweißgetränkten Klamotten. Die Musik dröhnte, und die Bässe wummerten so heftig, dass ich sie spürte. Überall im Flur drängten sich Erstsemester. Ich war absichtlich spät gekommen, um den Smalltalk zu vermeiden, und stellte jetzt erleichtert fest, dass die meisten schon ziemlich betrunken waren. In einer Ecke war ein Pärchen am Knutschen, der Typ steckte dem Mädchen die Hand unters T-Shirt.
Ich überreichte Gemma ein Sixpack Bier. »Hab was mitgebracht.«
»Wie bist du da rangekommen?«, fragte sie. »Wir mussten jemand aus den höheren Semestern dafür bezahlen, dass er uns eine Flasche Wodka kauft. Völlig absurd. Ich glaube, der Typ wollte mehr Kohle dafür, als der Wodka gekostet hat.«
»Hat mir mein Dad gegeben«, antwortete ich. Gemma guckte verwundert, und ich fügte hinzu: »Ihm ist es lieber, wenn ich auf legalem Wege rankomme.«
»Wie cool von ihm.« Sie zog mich hinter sich her durchs Getümmel. »Ich hoffe, ich kann mir bald einen falschen Ausweis beschaffen. So ein Schwachsinn, ehrlich. In London krieg ich alles legal, aber hier nicht. Land der unbegrenzten Möglichkeiten, haha, totale Verarsche.« Als wir uns bis zur Ecke durchgedrängt hatten, verstaute sie das Bier in einem kleinen Kühlschrank, der nichts außer Alkohol und Energydrinks enthielt.