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Buch

»Es ist verblüffend, nach welch komplexen Regeln unsere Natur funktioniert – und dass es die Allerkleinsten unter den Lebewesen sind, die die Grundlage unserer Existenz bilden.«

Anne Sverdrup-Thygeson

Anne Sverdrup-Thygeson

Libelle, Marienkäfer & Co.

Die faszinierende Welt der Insekten und was sie für unser Überleben bedeuten

Aus dem Norwegischen
von Sylvia Kall

GOLDMANN

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung der Originalgestaltung © Terese Moe Leiner

Copyright der Originalausgabe © Anne Sverdrup-Thygeson

Published in agreement with Stilton Literary Agency

Illustrationen im Innenteil © Tuva Sverdrup-Thygeson

Lektorat: René Stein

DF · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN: 978-3-641-24131-5
V001

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Kleine Geschöpfe mit cleverem Design

2 Sex bei Sechsbeinern

3 Fressen und gefressen werden – Insekten in der Nahrungskette

4 Insekten und Pflanzen – ein ewiger Wettlauf

5 Fleißige Fliegen, köstliche Krabbeltiere – Insekten und unsere Nahrung

6 Insekten als Hausmeister

7 Von Seide bis Schreibwaren – Produkte von Insekten

8 Lernen von den Insekten

9 Die Insekten und wir – in der Zukunft

Schlusswort

Dank

Weiterführende Lektüre

Quellen

Register

Doch ist die Natur nirgends vollkommener
als in den kleinsten Tieren.

Nach Plinius dem Älteren, Naturkunde, 11, 1.4

Vorwort

ICH WAR SCHON immer gern draußen, besonders im Wald. Am liebsten dort, wo der Mensch kaum merkliche Spuren hinterlassen hat und unser moderner Einfluss gering ist. Zwischen Bäumen, die betagter sind als irgendein heute lebender Mensch. Zwischen Bäumen, die der Länge nach in weiches Moos gestürzt sind. Hier liegen sie hingestreckt und still, während das Leben seinen ewigen Reigen fortsetzt.

Zu einem toten Baum kommen die Insekten, in Scharen. Borkenkäfer feiern in den gärenden Säften unter der Rinde Gelage, die Larven der Bockkäfer versehen die Holzoberfläche mit kunstvollen Mustern, und die krokodilähnlichen Larven des Bindigen Schnellkäfers verzehren gierig alles, was sich in dem verrottenden Holz bewegt. Zusammen bauen Tausende von Insekten, Pilzen und Bakterien das Tote ab und sorgen so dafür, dass neues Leben entsteht. Ich schätze mich glücklich, dass ich so etwas Spannendes erforschen darf.

Denn ich habe einen fantastischen Beruf. Ich bin Professorin an Norwegens Universität für Umwelt- und Biowissenschaften (Norges miljø- og biovitenskapelig universitet, NMBU). Als Forscherin, Lehrerin und Vermittlerin kann ich an einem Tag neue Forschungsarbeiten lesen, mich in fachlichen Details vergraben und verlieren. Am nächsten halte ich eine Vorlesung und muss eine übergeordnete Struktur zu einem Fachthema finden. Beispiele suchen und veranschaulichen, warum das Thema uns alle angeht. Vielleicht führen meine Ausarbeitungen schließlich zu einem Text für unser Forscherblog »Insektøkologene«.

Zwischendurch arbeite ich draußen. Ich suche nach alten, hohlen Eichen oder kartiere Wald, der in unterschiedlichem Maß von Holzeinschlag betroffen ist. All diese Aufgaben bewältige ich nicht allein, sondern zusammen mit guten Kollegen, Stipendiaten und Studenten.

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich mich mit Insekten beschäftige, fragen sie häufig: Wozu sind Wespen gut? Und wozu brauchen wir eigentlich Mücken und Hirschlausfliegen? Denn natürlich gibt es lästige Insekten. Zwar ist ihre Zahl ungeheuer gering im Vergleich zu den Myriaden von wimmelndem Getier, das jeden Tag seinen kleinen Beitrag leistet, Ihr Leben zu retten. Aber lassen Sie uns mit den Plagegeistern beginnen. Ich habe drei Antworten parat:

Erstens haben auch die lästigen Insekten eine nützliche Funktion für die Natur. Mücken und Kriebelmücken sind wichtige Nahrung für Fische, Vögel, Fledermäuse und andere Tiere. Besonders hoch oben im Gebirge und weit im Norden können Fliegen- und Mückenschwärme außerordentliche Bedeutung für Tiere haben, die viel größer sind als sie selbst. Im kurzen und hektischen arktischen Sommer können Insektenschwärme steuern, wo die großen Rentierherden weiden, wo sie Trittschäden verursachen und Nährstoffe in Form von Dung zurücklassen. So wie sich Ringe im Wasser immer weiter ausbreiten, beeinflusst auch das Verhalten der Insekten das gesamte Ökosystem. Auf dieselbe Weise ist die Wespe nützlich – für uns und andere. Die Wespe hilft bei der Bestäubung der Pflanzen, frisst Schädlinge, von denen wir nicht zu viele haben wollen, und dient selbst als Nahrung für den Wespenbussard und eine Reihe anderer Arten.

Zweitens können nützliche Lösungen dort lauern, wo man sie am wenigsten erwartet. Das gilt auch für Tiere, die wir als eklig und lästig betrachten. Die Larven der Schmeißfliegen können problematische Wunden säubern und Mehlkäferlarven sind in der Lage, Plastik zu verdauen. Darüber hinaus gibt es Forschungsarbeiten zum Einsatz von Kakerlaken bei Bergungsarbeiten in eingestürzten oder stark verunreinigten Gebäuden.

Drittens ist es durchaus eine berechtigte Überlegung, dass alle Arten die Möglichkeit erhalten sollten, ihr Lebenspotenzial auszuschöpfen. Demnach hätten wir Menschen nicht das Recht, ausgehend von unserem kurzsichtigen Urteil, welche Arten wir niedlich finden oder für nützlich halten, mit der Artenvielfalt weiterhin zu schalten und zu walten, wie es uns beliebt. Das bedeutet auch, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, bestmöglich auf die Unzahl aller Lebewesen auf dem Erdball achtzugeben, insbesondere auch auf jenes Getier, das keine offensichtlich erkennbare Wertschöpfung vorzuweisen hat. Wir müssen also auch mit den Insekten behutsam umgehen, die weder weiches Fell noch große braune Augen haben, und mit den Arten, deren Lebenszweck wir nicht verstehen.

Die Natur ist verblüffend in ihrer Komplexität, und die Insekten sind ein wesentlicher Bestandteil dieser ausgeklügelt zusammengesetzten Systeme, in denen wir Menschen bloß eine Art unter Millionen sind. Daher soll dieses Buch von den Kleinsten unter uns handeln – von all den merkwürdigen, schönen und bizarren Insekten, die die Grundlage für die Welt bilden, wie wir sie kennen.

Zunächst beschäftigt sich das Buch mit den Insekten an sich. Im ersten Kapitel lernen Sie ihren unglaublichen Variantenreichtum und ihren Körperbau kennen, Sie erfahren, wie Insekten ihre Umgebung wahrnehmen und auch ein bisschen darüber, wie Sie die wichtigsten Insektengruppen erkennen können. Außerdem bekommen Sie in Kapitel 2 einen Einblick in das Sexleben der Insekten, das ziemlich ausgefallen ausfällt …

Danach wende ich mich dem komplizierten Zusammenleben der Insekten mit anderen Tieren (Kap. 3) und mit Pflanzen (Kap. 4) zu. Dem täglichen Kampf ums Überleben – Fressen und Gefressenwerden – , bei dem alle darum ringen, ihre Gene weiterzugeben. Dennoch gibt es auch Raum für Zusammenarbeit, in allen möglichen kuriosen Varianten.

Der letzte Teil des Buchs befasst sich mit der engen Beziehung der Insekten zu einer einzigen Art: zu uns, den Menschen. Wie tragen sie zu unserer Ernährung bei (Kap. 5)? Wie sorgen sie in der Natur für Ordnung (Kap. 6) und stellen Produkte her, die wir brauchen, von Honig bis Antibiotika (Kap. 7)? In Kapitel 8 betrachte ich, auf welchen neuen Gebieten Insekten wegweisend werden können. Und zum Schluss, in Kapitel 9, lege ich dar, wie es unseren kleinen Helferlein eigentlich geht und wie Sie und ich dazu beitragen können, die Lebensbedingungen der Insekten zu verbessern. Denn wir Menschen sind davon abhängig, dass die Insekten ihre Aufgaben erledigen. Wir brauchen sie zur Bestäubung, zum Abbau von Abfällen und zur Neubildung von Erde. Sie dienen als Nahrung für andere Tiere, halten schädliche Organismen in Schach und verbreiten Samen. In der Forschung fungieren sie als Helfer und bilden mit ihren schlauen Lösungen eine Inspirationsquelle. Insekten sind die kleinen Zahnräder der Natur, die das Uhrwerk der Welt zum Ticken bringen und am Laufen halten.

Einleitung

AUF JEDEN MENSCHEN, der heute auf der Erde lebt, kommen mehr als 200 Millionen Insekten. Während sie diesen Satz lesen, tapsen, krabbeln und flattern da draußen in der Welt zwischen einer und zehn Trillionen Insekten herum, mehr als es Sandkörner an allen Stränden der Welt gibt. Ob es Ihnen gefällt oder nicht – Sie sind überall von Insekten umgeben. Unsere Erde ist nämlich eigentlich der Planet der Insekten.

Es gibt so unglaublich viele von ihnen, dass es unser Fassungsvermögen übersteigt, und sie kommen überall vor. Im Wald und in Seen, in Wiesen und Flüssen, in der Tundra und im Hochgebirge. Es leben Steinfliegen auf den kalten Gipfeln der Sechstausender des Himalajas und Mückenlarven in den heißen Quellen des Yellowstone-Nationalparks, wo die Temperatur 50 Grad Celsius überschreitet. In der ewigen Dunkelheit der tiefsten Höhlen der Erde gibt es blinde Höhlenmücken. Insekten können in Taufbecken existieren, in Computern, in Ölpfützen und umgeben von Magensäure und Gallenflüssigkeit in einem Pferdemagen. Sie sind in Wüsten, unter dem Eis zugefrorener Seen, im Schnee und in den Nasenlöchern von Walrossen zu finden.

Insekten sind auf allen Kontinenten zu Hause – auch wenn sie in der Antarktis nur durch eine einzige Art vertreten sind: eine flügellose Zuckmücke, deren Todesurteil es wäre, wenn die Temperatur längere Zeit über zehn Grad plus klettern sollte. Selbst im Meer sind Insekten zu finden. Robben und Pinguine haben verschiedene Arten von Läusen im Fell beziehungsweise Gefieder, die diese Tiere auch beim Tauchgang begleiten. Es existiert sogar eine eigene Gattung von Läusen, die es sich im Kehlsack von Pelikanen gemütlich gemacht hat. Und es gibt Wasserläufer, die ihr Leben auf hoher See verbringen und dabei auf den Zehenspitzen ihrer sechs Füße herumtänzeln.

Insekten sind zwar klein, von ihren Leistungen kann man das aber nicht sagen. Lange bevor der Mensch seinen Fuß auf die Erde setzte, hatten die Insekten bereits mit Ackerbau und Haustierhaltung begonnen: Termiten züchten Pilze zum Fressen, und Ameisen halten Blattläuse als Melkvieh. Wespen stellten als Erste Papier aus Zellulose her. Und schon Millionen Jahre, bevor es uns Menschen gelang, das erste Fischernetz zu knüpfen, fingen Köcherfliegenlarven andere Tiere in Netzen. Die Insekten lösten vor etlichen Millionen Jahren komplizierte Probleme auf dem Feld der Aerodynamik sowie im Bereich der Navigation und lernten, wenn auch nicht das Feuer, so doch das Licht zu beherrschen – noch dazu im eigenen Körper.

Wenn die Insekten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen säßen

Ob wir nun nach Individuen oder Arten zählen, haben wir allen Grund, die Insekten als erfolgreichste Tiergruppe auf dem Erdball zu bezeichnen. Denn es gibt nicht nur unfassbar viele Einzelindividuen von Insekten. Sie stellen auch weit mehr als die Hälfte aller bekannten mehrzelligen Arten: Es existiert etwa eine Million verschiedener Varianten von ihnen. Sie könnten also einen »Insekt des Monats«-Kalender erstellen und mehr als 80.000 Jahre lang jeden Monat eine neue Art präsentieren!

Der Artenreichtum der Insekten von A bis Z ist beeindruckend: Ameisen, Baumwanzen, Cochenilleschildläuse, Distelfalter, Eintagsfliegen, Feldhummeln, Glühwürmchen, Heuschrecken, Igelflöhe, Johannisbeer-Glasflügler, Kriebelmücken, Lausfliegen, Maulwurfsgrillen, Nashornkäfer, Ohrwürmer, Pfauenspinner, Quelljungfern, Raubfliegen, Silberfischchen, Totengräber, Urmotten, Vierflecke, Wespen, xylophage Käfer, Ypsiloneulen und Zikaden.

Hier ein kleines Gedankenexperiment: Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sich die Artenvielfalt auf die verschiedenen Artengruppen verteilt, stellen wir uns alle auf der Welt bekannten Arten, große wie kleine, als Mitglieder der Vereinten Nationen vor. Bei der Generalversammlung würde es fürchterlich eng werden, denn selbst wenn wir nur einen Vertreter jeder Art zuließen, kämen gut über anderthalb Millionen Repräsentanten zusammen.

Stellen wir uns weiter vor, dass wir Macht und Stimmrecht in diesen Vereinten Nationen der Biodiversität nach der Menge der Arten in den unterschiedlichen Artengruppen verteilten. Dann würden neue, ungewohnte Machtverhältnisse sichtbar: Die Dominanz der Insekten wäre offenkundig, sie würden mehr als die Hälfte der Stimmen stellen. Dazu kämen noch alle anderen Arten von Getier wie Spinnen, Schnecken, Fadenwürmer und weitere, die allein ein Fünftel der Repräsentanten ausmachten. Ferner würden Pflanzen, im weiteren Sinne, sich auf ungefähr sechzehn Prozent addieren, während auf bekannte Arten von Pilzen und Flechten knapp fünf Prozent der Stimmen entfielen.

Doch wie passen wir in dieses Bild? Wenn wir die Artenvielfalt auf diese Weise betrachten, fallen wir Menschen kaum ins Gewicht. Auch zusammen mit allen anderen Wirbeltierarten der Welt, also Lebewesen wie Elch, Maus, Vogel, Schlange oder Frosch, bliebe uns mit nur drei Prozent der bekannten Artenvielfalt lediglich ein winziger Anteil an der Macht. Wir Menschen sind also vollkommen abhängig von einer Heerschar kleiner, anonymer Arten, in der die Insekten einen großen Anteil stellen.

Zwergenhafte Feen und biblische Riesen

Insekten kommen in allen Farben und Formen und mit einer Spannbreite an Größen vor, die von kaum einer anderen Tiergruppe erreicht wird. Die kleinsten Insekten der Welt sind die Zwergwespen, die ihr gesamtes Larvenstadium in den Eiern anderer Insekten verbringen, was schon eine Menge darüber sagt, wie klein sie sind. Eine von ihnen ist die winzige Kikiki huna. Die Wespe ist mit ihren 0,16 Millimetern so klein, dass man sie nicht mit bloßem Auge sehen kann. Ihr Name stammt aus der polynesischen Amtssprache von Hawaii, einem der Orte, wo sie gefunden worden ist; er bedeutet – durchaus zutreffend – so etwas wie »winzig kleiner Punkt«.

Eine ihrer Schwesternarten trägt einen noch schöneren Namen. Die Zwergwespe Tinkerbella nana ist nach der Fee Glöckchen aus »Peter Pan« benannt. Bei der Artbezeichnung »nana« handelt es sich um ein Wortspiel: Sie bezieht sich sowohl auf das Wort »nanos«, griechisch für »Zwerg«, als auch auf Nana, die Hündin aus »Peter Pan«. Die Glöckchenwespe ist so klein, dass sie auf der Spitze eines Menschenhaars landen kann.

Von dort zu unseren größten Insekten ist es ein weiter Schritt, wobei mehrere Arten um diesen Titel konkurrieren. Denn wie definiere ich das größte Insekt überhaupt? Geht es um das längste, gewinnt die chinesische Stabschrecke Phryganistria chinensis zhao. Mit ihren 62,4 Zentimetern ist sie länger als Ihr Unterarm, dafür aber nicht dicker als ein Mittelfinger. Benannt wurde die Unterart nach dem Insektenforscher Zhao Li, der Hinweisen aus der Lokalbevölkerung folgend sechs Jahre seines Lebens darauf verwendete, nach der Super-Stabschrecke zu suchen.

Reden wir dagegen vom schwersten Insekt, liegt der Goliathkäfer gut im Rennen. Die Larven dieser afrikanischen Riesen können bis zu einhundert Gramm wiegen – etwa so viel wie eine Amsel. Seinen Namen hat der Käfer von der biblischen Gestalt Goliath, dem drei Meter großen und von den Israeliten gefürchteten Riesen, den dann aber der Knabe David mit einer Steinschleuder und der Hilfe höherer Mächte zu Fall brachte.

Das allererste Insekt – vor den Dinosauriern auf der Welt

Die Insekten leben schon lange auf der Erde, unendlich viel länger als wir Menschen. Die Tiefen der Zeit, Ären und Äonen, Zeiträume von Millionen und Milliarden Jahren, lassen sich schwer erfassen. Daher sagt es Ihnen möglicherweise wenig, wenn ich Ihnen erzähle, dass die ersten Insekten vor rund 479 Millionen Jahren das Licht der Welt erblickten. Vielleicht hilft es, sich bewusst zu machen, dass die Insekten – mit viel Spielraum kalkuliert – die Dinosaurier kommen und gehen gesehen haben.

Irgendwann vor langer, langer Zeit mäanderten die ersten Pflanzen und Tiere aus dem Meer aufs trockene Land – eine Revolution für das Leben auf der Erde. Wenn wir diesen bahnbrechenden Moment doch nur hätten filmen können, wir hätten einen legendären Clip auf Zelluloid gebannt: »Ein kleiner Schritt fürs Getier, aber ein riesiger Sprung für das Leben auf der Erde.« Leider müssen wir uns damit begnügen, den Pionieren der Insekten anhand von Fossilien und mit unserer Fantasie zu folgen.

Versetzen Sie sich zurück in die Urzeit: Seit die ersten abenteuerlustigen Tierchen den Kopf aus dem Meer gestreckt und beschlossen hatten, sich nach neuen, trockeneren Lebensräumen umzusehen, sind einige Millionen Jahre vergangen. Wir befinden uns in der geologischen Periode Devon, die etwas anonym zwischen zwei Berühmtheiten gequetscht ist, zwischen das Kambrosilur (die Perioden Kambrium, Ordovizium und Silur umfassend und Ursprung der kalkreichen Gegenden um Oslo) und das Karbon (die Grundlage unserer von Erdöl abhängigen Gesellschaft, mit all den daraus resultierenden Folgen wie Wohlstand und Klimawandel). Die Evolution läuft auf Hochtouren, und auf einmal ist das erste Insekt Realität: Unten auf dem Boden zwischen Farnen und bärlappähnlichen Pflanzen trippelt ein kleines sechsbeiniges Tierchen mit drei Körperpartien und zwei winzigen Fühlern herum, auch Antennen genannt. Das allererste Insekt der Erde marschiert mit kleinen Schritten der unumschränkten Weltherrschaft seiner Art entgegen.

Vom ersten Tag auf festem Boden an war die enge Gemeinschaft von Insekten und anderen Lebensformen entscheidend. Landpflanzen verbesserten die Lebensbedingungen von Insekten und anderem Getier, indem sie ihnen auf dem unfruchtbaren, steinigen Land Nahrung lieferten. Im Gegenzug verbesserten die Krabbeltiere die Lebensbedingungen der Pflanzen dadurch, dass sie die Nährstoffe toten Pflanzengewebes recycelten und neue Erde herstellten.

Der Segen der Flügel

Ein wesentlicher Grund für den enormen Erfolg der Insekten ist ihre Flugfähigkeit. Was für eine geniale Errungenschaft, die sich etwa vor 400 Millionen Jahren entwickelt hat! Damit bekamen die Insekten etwas vollkommen Einzigartiges an die Hand: Mit Flügeln konnten sie auf effektive Weise Nahrung oben in den Pflanzen erreichen und erdgebundenen Feinden ausweichen. Den Abenteuerlustigen eröffneten die Flügel völlig neue Chancen, unbekannte Gebiete für sich zu erobern. Auch die Partnerwahl wurde durch den Zugang zum Luftraum beeinflusst, weil er ungeahnte Möglichkeiten bot, sich an neuen, luftigeren Datingplätzen vorteilhaft in Szene zu setzen.

Wir wissen nicht genau, wie Flügel entstanden sind. Vielleicht entwickelten sie sich aus Auswüchsen an der Brustpartie – Auswüchsen, die als Sonnenkollektoren oder zur Stabilisierung des Körpers beim Springen oder Fallen gedient haben könnten. Vielleicht dienten die Flügel ursprünglich auch als Kiemen. Von größerem Interesse für dieses Buch ist ohnehin, dass Insekten diese folgenschwere Entdeckung gemacht haben: Es gab an ihrem Körper etwas, das sich auch hervorragend zum Gleiten einsetzen ließ, zum Beispiel um von Bäumen oder hohen Pflanzen herunterzukommen. Insekten mit gut ausgebildeten Flügelansätzen fanden mehr Nahrung, lebten wahrscheinlich länger und hatten dadurch auch mehr Nachkommen, die ihrerseits diese Superflügelansätze erbten. Dank der Evolution wurden Flügel üblich, und zwar in – geologisch gesehen – ziemlich kurzer Zeit. Bald wimmelte es in der Luft von schimmernden, schwirrenden Flügeln unterschiedlichster Art.

Um wirklich zu ermessen, welch enormer Triumph die Flügel für die frühen Insekten waren, muss man sich klarmachen: Niemand sonst konnte fliegen! Es gab noch keine Vögel, Fledermäuse oder Flugsaurier, daher besaßen die Insekten mehr als 150 Millionen Jahre lang die Lufthoheit auf der Welt. Im Vergleich dazu erstreckt sich die gesamte Anwesenheit unserer Art, Homo sapiens, auf der Erde nur über 200.000 Jahre.

Die Insekten haben fünf Massenaussterben von Arten überstanden, und erst nach dem dritten, vor ungefähr 240 Millionen Jahren, kamen die Dinosaurier angetrottet. Wenn Sie sich also das nächste Mal über ein Insekt ärgern, denken Sie daran, dass diese Tiergruppe schon lange vor den Dinosauriern auf der Erde lebte und sie überlebte. Wenn Sie mich fragen, verdienen sie allein dafür ein wenig Respekt.