NÚRIA PRADAS arbeitete zunächst als Lehrerin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Nach Die Kleidermacherin, einer Hommage an ihre Heimatstadt Barcelona, erscheint mit Die Parfümerie der Liebe nun ihr zweiter Roman bei Penguin.
Die Kleidermacherin in der Presse:
»Ein Panorama, das von den Gewinnern und Verlierern des Kriegs erzählt.«
Deutschlandradio Kultur
»Großartiger historischer Roman über die goldene Ära eines Modehauses.«
Auf einen Blick
»Lesenswerte und unterhaltsame Lektüre.«
LaetitiaVitae
Außerdem von Núria Pradas lieferbar:
Die Kleidermacherin
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
Die spanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »El aroma del tiempo« bei Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2018 by Núria Pradas
Translation rights arranged by Sandra Bruna Agencia Literaria, S. L. through SvH Literarische Agentur. All rights reserved.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: Bürosüd
Redaktion: Anja Rüdiger
Umschlagmotiv: Bürosüd
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24325-8
V002
www.penguin-verlag.de
Für meine Leser.
Ihr macht das alles erst möglich.
Eine Frau, die kein Parfüm trägt, hat keine Zukunft.
Coco Chanel
Parfüm ist die intensivste Form der Erinnerung.
Jean-Paul Guerlain
Das Buch in euren Händen dreht sich um einige wahre historische Begebenheiten, vor allem um die Kreation eines der emblematischsten Parfüms des zwanzigsten Jahrhunderts: Chanel No 5.
Ich habe die Legende von der Entstehung dieses Duftes aufgegriffen und auch die enge Zusammenarbeit zwischen Coco Chanel und Ernest Beaux, die sie erst möglich gemacht hat.
Dabei habe ich mir Mühe gegeben, die entscheidenden Neuerungen in der Kunst der Parfümherstellung zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verständlich darzustellen und Ereignisse jener Zeit in meine Geschichte mit einzuflechten.
Ihre Hauptfiguren, Pablo Soto, Claudine und die Familie Parés, entstammen hingegen meiner Fantasie, und es gibt sie nur in der Wirklichkeit der Erzählung.
Ein wichtiger Schauplatz meiner Geschichte ist die Provence, die ich in all ihrer Schönheit heraufzubeschwören versucht habe. Sie war für mich eine wichtige Quelle der Inspiration und wird für immer einen Platz in meinem Herzen haben.
Auf den Gesichtern der vier Sargträger lag der müde Ausdruck dessen, der das Gewicht des Todes auf den Schultern spürt. Vorneweg ging mit hängendem Kopf der kleine Pablo und drehte seine Mütze in den Händen wie ein Spielzeug, das letzte Spielzeug seiner Kindheit. An seiner Seite schritt Enric, ein etwas größerer und kräftigerer Junge im selben Alter, und hinter ihnen kam dann Quimeta, Enrics ganz in Schwarz gehüllte Mutter, dicht gefolgt von Pater Bernat. Sie wurden von ein paar Nachbarn begleitet, groß war die Gruppe aber nicht. Wie schwarze Schatten schleppten sie sich in Hortas Morastlandschaft traurig mit schweren Füßen und Herzen voran.
Nach der Totenmesse würde der kleine Trauerzug von der Sant-Joan-Kirche aus noch ein ziemliches Stück bis zum Friedhof zurücklegen müssen, der weitab des Viertels lag.
Dort würde man Ramiro Soto zur letzten Ruhe betten, neben seiner Ehefrau Marie, die noch nicht lange im Jenseits auf ihn wartete. Beide hatten diese Welt viel zu früh verlassen.
Nach der Beerdigung würden dann alle den Waisenjungen dorthin zurückbegleiten, von wo sie aufgebrochen waren: zur Carrer d’Aiguafreda, der Straße der Wäscherinnen.
Der Tag war düster und schwül.
Als Ramiros Sarg aus dem Haus getragen wurde, hatten dunkle Wolken die Sonne mit einem finsteren Schleier verdeckt, so als wollte auch der Morgen Trauerkleidung anlegen.
Es war ein trauriger Tag.
Die Straßen waren leer, und an den Geschäften waren zum Zeichen der Trauer die Rollläden heruntergelassen.
Als das Grüppchen die Baixada del Mercat entlangging, schaute Pablito, der bis dahin zu Boden gestarrt hatte, einen Moment auf. Wie sonderbar ihm die Stille erschien, die ihm in den Ohren dröhnte und ihn der üblichen Alltagsgeräusche beraubte! Vor den Geschäften und Werkstätten standen ein paar Frauen und Männer, die sich von seinem Vater auf dessen letzter Reise verabschieden wollten.
Pablo sah aus dem Augenwinkel Mundeta aus der Bäckerei und Senyora Ramona aus der Kurzwarenhandlung das Kreuzzeichen machen. Und bevor er den Blick wieder senkte, erkannte er noch Manel aus dem Gemüseladen und den Apotheker Oliveres, die mit hängendem Kopf in der Tür ihrer Geschäfte standen und zur Respektsbekundung die Mütze abgenommen hatten.
Sein Freund Enric legte ihm tröstend den Arm um die Schultern und lächelte ihm aufmunternd zu. Pablito zog die Nase hoch.
Was ihn hier umgab, war bisher der Schauplatz seiner Kindheit gewesen. Ein Ort zum Spielen, am dem sich die Leute vor die Tür setzten, um frische Luft zu schnappen, bis sie dann irgendwann hastig Stühle und Kinder zurück ins Haus bringen mussten, weil die Wäscherinnen ihre Bottiche ausleerten und schmutzige Seifenlauge die Straße entlanglief. Das Waschwasser brachte das Gelächter der Kleinsten und heimliches Herumspritzen mit sich, auf das dann leider irgendwann Schelte und Ohrfeigen folgten.
Der Junge dachte so bei sich, dass dies alles nun vorbei sein würde, davongetragen vom Regen, der jetzt im Viertel gegen die Fensterscheiben prasselte. In diesen Pfützen würde nur die Melancholie planschen.
Wie große schwarze Vögel breiteten nun die Regenschirme ihre Flügel aus.
Obwohl der Pfarrer dem kleinen Pablo den seinen anbot, wollte sich der Junge aber nicht darunter flüchten. Der Regen kam ihm gerade recht, er schien ihn von außen reinzuwaschen, während ihn die Trauer innerlich noch ganz schwindelig werden ließ, ihm im Bauch und in den Augen stach.
Ein Schluchzen brannte in seiner Kehle, und Pablito öffnete den Mund, damit die Regentropfen es hinwegwuschen. Er schluckte Regentropfen und Schluchzen einfach runter.
Und dabei verwandelten sie sich in Wut, in nagenden schwarzen Zorn, der ihn zu ersticken drohte. So etwas hatte Pablito noch nie erlebt, schließlich war er erst elf Jahre alt und damit eigentlich noch zu jung, um auf das Leben wütend zu sein.
In der Kirche lauschte er den Worten von Pater Bernat, ohne mit der Wimper zu zucken, und knetete die Mütze in den Händen. Von Zeit zu Zeit strich er sich das dichte rebellische Haar zurück, das ihm ohne die Kopfbedeckung in die Augen fiel.
Der Geruch des Weihrauchs, der Kirche, widerte ihn an. Er bohrte sich ihm in die Nase, ins Gehirn und würde dort für immer mit dem Gedanken an den Tod verbunden sein, genau wie der Geruch der feuchten Erde des Friedhofs nach dem Regen.
Das Parfüm der Abwesenheit.
Als die Grabnische geöffnet wurde, sah man dort die Überreste des Sarges, in dem Pablos Mutter ruhte. In diesem Moment begann Quimeta, im Flüsterton auf den Jungen einzureden, als wolle sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. Mit warmen Worten versuchte sie, ihn abzulenken, und wollte ihn dann wegbringen, um ihm das düstere Spektakel zu ersparen.
Pablito riss sich jedoch von ihr los und blieb trotzig an seinem Platz stehen, während das Herz in seiner Brust wütend klopfte. Und auch Enric wollte sich nicht von seiner Seite rühren, obwohl Quimeta ihn am Arm zog.
Pablito war beim Tod seiner Mutter erst sechs Jahre alt gewesen und hatte längst ihre Stimme, ihr Gesicht vergessen. Doch sie hatte durch die Erzählungen seines Vaters weitergelebt. Deshalb war Marie für ihn eigentlich eher ein Wesen, das er in seiner Fantasie erschaffen hatte, wie die Figur aus einem Buch.
Pablito hatte seinem Vater versprochen, die Erinnerung an seine Mutter immer in seinem Herzen zu bewahren und ihr Bild niemals verblassen zu lassen.
Außerdem sollte er sich um ihr Grab kümmern und ihr am fünfzehnten August zu ihrem Namenstag Blumen bringen, genau wie am ersten November, wenn die Lebenden ihrer Toten gedachten.
Vater und Sohn hatten während der letzten Tage der Krankheit lange Gespräche geführt, in denen Ramiro seinem Jungen vieles anvertraute und ihn bat, es nicht zu vergessen. Er hatte ihn beschworen, niemals zu vergessen, wer er war und woher er kam. Über den Tod, der ihr Leben wieder einmal heimsuchte, hatten sie nicht gesprochen.
Dabei hatte Ramiro natürlich gewusst, dass auch er selbst bald zur Welt der Erinnerungen gehören würde. Gerade deshalb hatte er seinem Sohn so viele Lektionen wie möglich mit auf den Weg gegeben.
Alles andere hatte für ihn keine Bedeutung mehr. Ramiro war nämlich davon überzeugt gewesen, dass nach dem Tod nur Stille auf ihn wartete.
Pablo stand vor der Grabnische, in der seine Mutter ruhte und in der man nun auch seinen Vater einschließen würde. Trotz seines zarten Alters war sich Pablito bewusst, dass er jetzt ganz allein war und die geliebten Menschen in seinem Leben langsam ins Nebelreich der Erinnerungen übergingen. Vielleicht wollte er ja verhindern, dass sie völlig verschwanden. Jedenfalls löste er in keinem Moment den Blick vom Sarg seiner Mutter, nicht einmal, als sie ihn öffneten und die Überreste des Menschen herausholten, der ihn zur Welt gebracht hatte. Wie traurig und trostlos ihm seine Existenz auf Erden auf einmal erschien!
Reglos blieb der Junge stehen und richtete den Blick auf dieses schwarze Loch, auch dann noch, als sie Ramiros Sarg hineinschoben und die Nische schließlich schlossen.
Rums.
Nun war alles verschwunden.
Pablito vergoss keine Tränen.
Denn derart endloser Schmerz, wie er ihn empfand, ließ sich nur innerlich beweinen. Allein. Ganz allein.
Quimeta erklärte dem Pfarrer, dass sie zusammen mit Enric Pablito bei ihm zu Hause Gesellschaft leisten würden.
»Auch wenn ich früh aufstehen und mit dem Wagen die Wäsche zum Waschen holen muss, ist es mir trotzdem lieber, wenn er heute Nacht nicht allein ist und in seinem Elternhaus bleiben kann. Mein Enric wird ihm Gesellschaft leisten und ihn ablenken. Sie wissen doch, dass die beiden innerhalb von nur zehn Tagen geboren wurden und seitdem unzertrennlich sind.«
Müde und niedergeschlagen ließ sich der Pfarrer im Esszimmer auf einen Stuhl sinken und nickte zerstreut. Die Frau band sich eine Schürze um und begann im Haus herumzuhantieren, während sie sich in dem Strudel aus Gedanken verlor, den sie auch laut zum Ausdruck brachte:
»Und morgen sieht dann alles schon ganz anders aus. Wir nehmen ihn so lange bei uns auf wie nötig, das ist ja wohl klar. Armer Junge!«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Manchmal ist das Leben wirklich traurig, nicht wahr, Pater Bernat?«
»Allerdings, Quimeta.«
»Zuerst Maria und jetzt auch noch Ramiro. Sagen Sie mal … was soll aus diesem Kind denn werden?«
»Hoffen wir mal, dass alles gut geht. Die Welt da draußen ist doch schon düster genug, da können wir jetzt wirklich keine dunklen Vorahnungen gebrauchen.«
Quimeta gehörte zu den Menschen, die nie still sitzen können. Während sie mit dem Geistlichen sprach, verquirlte sie deshalb zwei Eier und stellte eine Pfanne auf den Herd.
»Ich mache mal ein Omelett für Pablito, wer weiß, wie lange der schon nichts mehr gegessen hat. Heute Morgen hab ich den beiden ein ordentliches Frühstück vorgesetzt, ihm und meinem Enric. Mein Junge hatte seins in null Komma nichts verputzt, wissen Sie, der hat immer einen Heißhunger! Aber Pablito hat keinen Bissen angerührt. Armes Kind!«
Gedankenversunken schwieg der Pfarrer, hob dann aber plötzlich den Kopf.
»Quimeta, kannst du bitte dem Jungen sagen, dass er mal herkommen soll? Ich muss ihm … na ja … eben das alles … erklären«, sagte er, während er einen Brief aus der Tasche seiner Soutane zog.
Pablito kam ins Wohnzimmer und setzte sich zum Pfarrer. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich lieber für den Rest seines Lebens in seinem Zimmer eingeschlossen, ohne eine Menschenseele zu sehen, ohne mit irgendjemandem zu reden. Ihm reichte die Gesellschaft Enrics, der noch nie besonders schwatzhaft gewesen war. Aber das ging leider nicht, schon allein wegen des Versprechens. Als sein Vater das Bett nicht mehr ohne schmerzhafte Atemnot verlassen konnte, hatte Pablito ihm ganz zum Schluss noch versichern müssen, dass er bei allem auf Pater Bernat hören würde. Der Geistliche würde ihm helfen.
Jetzt legte der Pfarrer den Brief auf den Tisch und seine knorrigen Hände darauf.
»Weißt du, was das ist, Pablito?«
»Ein Brief«, antwortete der Junge reserviert.
»Natürlich, Junge, aber was ich damit sagen will … Ahnst du vielleicht schon, was da drin steht?«
Pablito schüttelte den Kopf. Woher sollte er das denn wissen, wenn der Umschlag verschlossen war? Manchmal sagte der Pfarrer wirklich merkwürdige Sachen! Als ob das der passende Zeitpunkt für Ratespielchen wäre!
Dann sprach der Geistliche mit ihm über seinen Vater und seine Mutter und schob dabei immer wieder mal ein »Sie mögen in Frieden ruhen« ein.
»Obwohl alle hier im Stadtviertel deine Mutter Maria genannt haben, hieß sie eigentlich Marie, sie war nämlich Französin.«
Er verstummte einen Moment und wartete auf einen Kommentar des Jungen dazu, Pablito jedoch starrte weiter schweigend zu Boden.
»Marie Huard, aber das wusstest du bereits, oder?«
Der Kleine nickte.
»Und was kannst du mir noch über deine Mutter sagen?«, fragte der Pfarrer.
Doch Pablo machte den Mund nicht auf, so als habe er keine Ahnung oder wolle einfach nicht darüber reden. Stattdessen presste er das Kinn gegen die Brust und hob die Schultern auf eine Art und Weise, die nun wirklich nicht zum Dialog einlud.
Der Pfarrer verschränkte die Finger und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Und dann begann er schließlich zu sprechen, wählte die Worte sorgfältig und brachte sie ruhig und besonnen vor. Dabei bat er innerlich inständig darum, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hoffentlich würde er Pablito doch noch eine glückliche Zukunft ermöglichen. Pater Bernat war ein guter Christ.
»Nun hör mal, mein Junge, falls du es nicht weißt oder dich nicht mehr daran erinnerst: Deine Mutter hat Familie in Frankreich, genauer gesagt, eine Schwester, die also deine Tante ist. Ich weiß nicht, ob dir dein Vater je von ihr erzählt hat. Mit mir hat er jedenfalls über sie gesprochen, als er krank wurde. Kannst du mir folgen, mein Kind?«
Ein paar Schweißperlen rollten Pater Bernat über die breite Stirn. Der Dienst an der Gemeinde brachte oft Dinge mit sich, die er sich lieber erspart hätte.
Pablito saß wie abwesend vor ihm. Angesichts seines unbeirrbaren Schweigens wurde dem Pfarrer das Herz immer schwerer, während er weitersprach:
»Mit dem Tod deiner Mutter ist der Kontakt zwischen deinem Vater und deiner Tante in Frankreich abgebrochen. Aber … das ist nicht entscheidend, schließlich ist sie jetzt deine einzige Verwandte, und deshalb hat mir dein Vater auch ihre Adresse gegeben. Guck mal.« Er hielt den Brief hoch. »Ich habe diesen Brief an sie verfasst.«
Unversehens schaute der Junge auf und blickte den Geistlichen mit großen Augen an.
»Darin bitte ich sie darum, dass sie sich um dich kümmert. Das ist jetzt, wo deine Eltern nicht mehr da sind, einfach die beste Lösung, mein Junge. Du musst doch bei deiner Familie leben.«
Pablito hielt seinem Blick stand. Einen Moment lang wirkte es so, als bliebe die Zeit stehen und ein großes Fragezeichen stünde im Raum. Als sich die Uhren dann wieder in Bewegung setzten, rannte Pablito wortlos in sein Zimmer und schloss sich darin ein.
Nun kam Quimeta ins Zimmer, die in der Küche alles mitgehört hatte. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken, auf dem gerade noch der Junge gesessen hatte, fuhr sich mit der Hand über die feuchten Augen und seufzte:
»Oh, Herr im Himmel!«
Vom nassen Laub, das im Hof einen dichten Teppich bildete, ging ein intensiver säuerlicher Pflanzengeruch aus, der bis in Pablitos Zimmer drang.
Der Junge empfand das vertraute Aroma als tröstlich, und es kam ihm vor, als würden die vom Wind geschüttelten Schlingpflanzen ihm etwas zuflüstern. Ihre sanften Worte krochen die Wände herauf und erreichten sein Ohr, wo sie wispernd ihr Beileid zum Ausdruck brachten. Vom Bett aus bekam Pablito mit, wie Quimeta im Haus herumhantierte. Sie war eine Frau, die einfach nicht zur Untätigkeit taugte, deshalb hatte sie aufgeräumt, geputzt, gekocht und noch einmal geputzt – sie würde das Haus blitzblank hinterlassen. All diese Aktivitäten wurden von Seufzen und Klagen und dem einen oder anderen Vaterunser begleitet, das sie für die Seele ihrer Nachbarn betete – für die schmerzlich vermisste Maria und ihren Ehemann, den zurückhaltenden Ramiro Soto. Und natürlich vor allem für den Jungen, dafür, dass es dem armen Waisenkind gut gehen würde.
»Oh, Gott im Himmel! Und diese ausländischen Verwandten? Was werden die wohl davon halten, dass sie jetzt einen mehr mit durchfüttern sollen?«
Sie wiegte den Kopf und stützte sich auf dem Besen ab.
»Maria hat ihre Schwester in Frankreich ja furchtbar vermisst, aber Ramiro ist den Verwandten dort schließlich nie begegnet! Und wenn sie den Jungen nicht wollen, wo soll das arme Kind dann hin? Dann wartet das Waisenhaus auf ihn! Oh, Jesus, Maria und Josef! Wenn ich könnte, würde ich mich ja um ihn kümmern, aber wie soll ich das denn machen, ich Unglückselige?«
Die Frau betrachtete ihre Hände. Vom Waschen der Wäsche reicher Leute waren ihre Finger rot, wund und geschwollen, aber das war ja noch nicht das Schlimmste. Am meisten machten Quimeta die Rückenschmerzen zu schaffen, durch die sie gekrümmt ging und Tag und Nacht nicht zur Ruhe kam. Und noch ein Kind mehr konnte sie nun wirklich nicht versorgen, wenn sie sich nicht zu Tode schinden wollte.
Sie zog ein feuchtes, zerknittertes Stofftaschentuch aus der Schürzentasche und wischte sich damit über die Augen. Wie viele Tränen sie in den letzten Tagen schon vergossen hatte!
Komplett angezogen legte sich Quimeta schließlich im Schlafzimmer in das Bett, in dem Ramiro gestorben war und zuvor Maria. Nicht lange, und sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.
Als Pablito aus dem Nebenraum ihren regelmäßigen Atem hörte, stieß er hörbar die Luft aus, die sich in seiner Lunge gestaut hatte. Stilles Weinen entbrannte in seiner Brust, in den Augen und der Seele.
Um Enric nicht zu wecken, der auf einer Matratze am Boden schlief, vergrub Pablito das Gesicht im Kissen und spürte mit seiner gerade erworbenen neuen Reife, wie die Präsenz seiner Eltern langsam zu Staub zerfiel.
Wie eine Pyramide aus Eisen verfügte der Turm über eine Basis aus breiten Pfeilern, die immer schmaler in die Höhe wuchsen. Die Arbeiter schufteten in einer dichten Wolke aus Kohle und Teer, deren Staub sich in der Kehle festsetzte, und der Lärm des Metalls unter ihren Hämmern war ohrenbetäubend. So wie ein Schmied in seiner Dorfwerkstatt sein Werkzeug rhythmisch auf und nieder sausen ließ, bearbeiteten sie mit ihren Eisenhämmern die Nieten, aber nicht von oben nach unten, sondern waagerecht. Bei jedem ihrer Schläge sprühten Funken, die sich vor dem blauen Himmel von Paris abzeichneten. Deshalb sah es fast so aus, als würden die Arbeiter des Eiffelturms mit den Händen Blitze einfangen.
Die Zeitungen der halben Welt berichteten über den Bau des großen Eisenturms mit den Gitterpfeilern, der in Paris anlässlich der Weltausstellung des Jahres 1889 errichtet wurde.
Ramiro Soto las den Artikel eifrig, faltete das Papier dann sorgfältig und legte es zusammen zu den anderen Zeitungsausschnitten in den Karton, den er in der Pension unter dem Bett aufbewahrte.
»Auf den Champs de Mars gehen die Bauarbeiten des berühmten Turmes, der bei der Ausstellung von 1889 alle zum Staunen bringen soll, zügig voran.
Heute statten wir der großen Werkstatt, in der die enormen Bauteile des Dreihundert-Meter-Turmes hergestellt werden, einen äußerst interessanten Besuch ab.
Sie können sich wohl eine Vorstellung davon machen, um was für ein gewichtiges Unterfangen es sich schon allein unter dem Gesichtspunkt des metallverarbeitenden Handwerks handelt. Bislang haben die Pfeiler des Bauwerks, von denen einer bereits zwanzig Meter in die Höhe ragt, beim Gießen 550 000 Kilo Eisen verschlungen. Noch einmal etwa die gleiche Menge wartet im Lager auf ihre Verwendung. […] Zurzeit umfasst das Personal der Werkstatt 161 Arbeiter, die selbst am Sonntag ohne Unterlass von fünf Uhr morgens bis sieben Uhr abends rührig sind. Die Bauarbeiten sind seit ihrem Beginn am zehnten Februar dieses Jahres lediglich an drei Tagen unterbrochen worden, von denen einer der Nationalfeiertag war. […]«
La Vanguardia, 11.8.1887
Ramiro hatte einen Traum, der seine Augen zum Funkeln brachte und ihn einen Blick auf den Mann erhaschen ließ, der er mal werden wollte.
Ramiro war ein großer, kräftiger junger Mann mit einem leuchtenden Blick wie aus Quarz, mit dem er die Welt zu durchbohren schien. Für ihn gab es nur eine richtige Art und Weise, das Leben anzupacken – nämlich indem man auf die Erfüllung seiner Träume hinarbeitete. Iecla, sein Heimatort in Murcia, war deshalb von Anfang an viel zu klein für ihn gewesen. Seit mehr als vier Jahren war er inzwischen ganz allein auf der Welt und wollte nun wirklich nicht das Land bearbeiten, das seine Eltern ihm zusätzlich zu dem bescheidenen Häuschen hinterlassen hatten. Ihr Vermächtnis an ihn war vor allem das bisschen Bildung gewesen, das sie ihm mitgegeben hatten. In der Schule hatte er sich am liebsten im Betrachten von Landkarten verloren, die ihm, seinen Vorstellungen gemäß, eine weite Welt zeigten.
Ramiro fand jemanden, der seine Felder für ihn bestellte, und probierte derweil andere Berufe aus, die es in dieser Gegend gab. Er arbeitete in einer Schnapsfabrik und in einer, die Seife herstellte. Nichts schien ihm zuzusagen, bis er schließlich als Lehrling bei einem Schmied anfing und sich dort beim Bearbeiten des heißen Eisens die Wut seines unbezähmbaren Geistes aus dem Leib hämmern konnte. In der kleinen Schmiede von Iecla erlernte er so endlich die Grundlagen eines Handwerks, das zu ihm passte.
Davon überzeugt, dass er nun zumindest den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht hatte, verkaufte Ramiro Haus und Felder. Er packte nur wenige Habseligkeiten in einen abgewetzten alten Koffer, weil man mit wenig Ballast im Leben schneller vorankommt, und machte sich auf den Weg nach Barcelona.
Damals war er siebzehn Jahre alt, und seine Träume kannten keine Grenzen.
In der Hafenstadt angekommen, steuerte Ramiro sofort die größte Fabrik für Schwermaschinenbau im Viertel Barceloneta an: La Maquinista Terrestre y Marítima. Er hatte schon viel über diese Firma gehört und wollte nur dort arbeiten.
Schon bald konnte er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen, denn ihm wurde tatsächlich eine Stelle in den Werkstätten angeboten.
Ramiro war nicht nur ein junger, kräftiger Kerl, der bei der Arbeit ordentlich zupacken konnte, sondern lernte auch schnell. Daher wurde er im Betrieb freundlich aufgenommen und in die Geheimnisse des Berufs eingeweiht. Im Laufe seiner Ausbildung spezialisierte er sich bald auf das Verarbeiten von Nieten.
Einer von seinen älteren Kollegen zeigte ihm dann zum ersten Mal einen Zeitungsartikel über den Bau eines Turms aus Eisen in Paris, eines großen Triumphbogens, der mehr als dreihundert Meter hoch werden sollte.
Zunächst konnte Ramiro das kaum glauben, weil ihm so ein Bravourstück unmöglich erschien. Dreihundert Meter? Wenn man mal davon ausging, dass die Struktur hielt und die großen Pfeiler nicht durch den Neigungswinkel umfielen, blieb immer noch die Frage, wie man das Material bis nach oben transportieren sollte.
Doch schließlich gewann seine Neugier die Überhand über Zweifel und Argwohn und wurde immer größer. Ramiro begann, alle Zeitungsartikel über den ungewöhnlichen Turm in Paris in einer Schachtel unter dem Bett zu sammeln.
Während er an einsamen Abenden in seinem kleinen Pensionszimmer die Artikel wieder und wieder las und die Wunderkonstruktion zu verstehen versuchte, wurde sein Interesse zu wahrer Besessenheit.
Es kam ihm vor, als riefe das Bauwerk von Gustave Alexandre Eiffel wie ein lebendiges Wesen nach ihm, und bald sah er nur noch eine Möglichkeit, das glühende Feuer in seinem Inneren zu löschen: Er musste nach Paris.
Als Ramiro Soto zum ersten Mal in seinem Leben Pariser Pflaster betrat, schien die Stadt unter einem feinen grauen Tuch aus Regen zu schlafen. Trotzdem verliebte er sich auf den ersten Blick so, wie man es nur mit zwanzig Jahren kann, nämlich Hals über Kopf.
Ramiro hatte noch Geld vom Verkauf seines Elternhauses und der Ländereien übrig, außerdem hatte er während seiner Zeit in La Maquinista etwas von seinem Lohn sparen können. Auf diese Weise konnte er sich den Luxus gönnen, ein paar Wochen lang einfach nur die Stadt kennenzulernen und mit ihr zu kokettieren. Und Paris gab sich ihm wie eine willige Mätresse rückhaltlos hin.
Ramiro lernte schnell, mit seiner launischen Geliebten umzugehen und zu schäkern, und erkundete auch ihre dunklen Ecken.
Wie all die anderen Liebhaber, die ihm im Herzen dieser unberechenbaren Dame vorausgegangen waren oder nachfolgen würden, erkannte auch er die Nacht, wenn in Paris tausend Farben zu explodieren schienen, als die wahre Natur der Stadt. Dann gab sich Ramiro der quasi elektrischen Spannung hin, die in der Luft lag, und verlor sich in der Altstadt, wo nach Einbruch der Dunkelheit geschrieben, gemalt, gelacht und Wein getrunken wurde.
Nach zwei Wochen in einem kleinen, einfachen Hotel hielt Ramiro den Zeitpunkt für gekommen, sich etwas Eigenes zu suchen und so sein Ziel in der Stadt noch ungestörter verfolgen zu können. Er verbrachte die Nächte oft im Moulin de la Galette, einer Bar mit einer kleinen Tanzfläche über dem Maquis, wo man sich für wenig Geld an Getränken und guter Gesellschaft erfreuen konnte. Obwohl Ramiro im Moment nur wenig und gebrochen Französisch sprach, war ihm an diesem Ort eine interessante Information zu Ohren gekommen: Unter den Dächern von Paris verbargen sich in vielen Gebäuden Unterkünfte für das Dienstpersonal, die oft nicht mehr als ein schrankgroßes Kabuff mit einem Bullauge zur Straße hin waren. Und da etliche Hausbesitzer inzwischen gar kein Personal mehr beschäftigten, quartierten sich dort Menschen mit geringen finanziellen Mitteln ein.
Ramiro mietete eine dieser winzigen, nur notdürftig ausgestatteten Unterkünfte von einer verarmten Witwe. Darin war lediglich Platz für eine Matratze auf dem Holzfußboden, der übrigens furchtbar knarzte. Durch das runde Fensterchen war nicht viel mehr zu sehen als Dächer und noch mehr Dächer und ein kleines Stück vom blauen Himmel.
In Ramiros Augen jedoch war dieses kleine Nest etwas ganz Besonderes, weil es etwas gab, was ihm nicht einmal die Paläste auf der Île de la Cité bieten konnten: durch seine Lage am Rive Droite bei der Iéna-Brücke konnte man von dort aus direkt auf die Baustelle des Eiffelturms blicken.
Der Eiffelturm! Sein Traum. Sein Ziel. Seit Ramiros Ankunft in Paris war kein Tag vergangen, an dem er die Baustelle nicht aufgesucht hatte.
Einige der Arbeiter, die ihn zunächst mit argwöhnischer Neugier betrachtet hatten, wurden freundlicher, seit sie in ihm einen glühenden Bewunderer des Werks erkannt hatten. Sie fanden es lustig, wie er sich mit Händen und Füßen zu verständigen versuchte, um seinen Wissensdrang zu stillen.
Das größte Glück war für Ramiro jedoch, dass er Ricardo kennenlernte, einen Arbeiter aus der Gruppe der Nieter. Obwohl er selbst in Paris geboren war, sprach sein neuer Freund nämlich Spanisch, weil seine Mutter aus Córdoba stammte. Der junge Mann mit dem offenen, direkten Blick trug stets ein Lächeln auf den Lippen und weihte Ramiro nur zu gerne in die Geheimnisse des Turmes ein, die diesem bislang verborgen geblieben waren.
»Soweit ich gehört habe, wird bald ein Kletterkran eingesetzt, weil der Turm für die normalen Kräne zu hoch sein wird.«
Verblüfft nahm Ramiro diese Information zur Kenntnis. »Aber wie …?«, murmelte er.
Sein Gegenüber lächelte. Ricardo fand es toll, die spanische Sprache üben zu können, weil er dafür seit dem Tod seiner Mutter kaum Gelegenheit gehabt hatte. Noch viel besser gefiel es ihm allerdings, sich vor jemandem mit so großem Interesse am Turm ein wenig wichtigmachen zu können.
»Also«, sagte er und drehte sich gestikulierend zum Turm um, während er nach den richtigen Worten suchte, »das ist wie ein Kran, der sich … im Inneren jedes Pfeilers auf Schienen fortbewegt wie eine Straßenbahn. Und später, wenn der Turm fertig ist, werden diese Schienen dann für die Aufzüge genutzt, mit denen die Leute hochfahren.«
»Aufzüge!«, rief Ramiro beeindruckt aus.
»Klar, dachtest du etwa, dass die zu Fuß bis nach oben steigen?«, erwiderte Ricardo mit überheblicher, spöttischer Miene.
Ramiro konnte all das einfach nicht fassen. Dieser Eiffel war wirklich ein Genie, und der junge Mann wurde der Unterhaltungen über seine Arbeitsweise und die Wunder der modernen Ingenieurskunst beim Bau dieses Turmes nie überdrüssig.
Die neuen Bekannten begannen, sich auch außerhalb der Baustelle zu treffen. Sie verbrachten gern Zeit miteinander, und jeder von ihnen trug etwas zu ihrer aufkeimenden Freundschaft bei. Ramiro hatte endlich jemanden gefunden, mit dem er ohne Sprachbarrieren über seinen Traum sprechen konnte, betonte bei ihren Gesprächen aber auch immer wieder, dass er nicht nur ein Träumer, sondern auch ein qualifizierter Arbeiter war.
Ricardo zeigte Ramiro sein Stadtviertel Salpêtrière im XIII. Arrondissement, eine Reihe von Arbeitersiedlungen, die erst wenige Jahre zuvor bei einer Erweiterung der Hauptstadt entstanden waren. Und die beiden jungen Männer ließen keine Kneipe der Gegend aus, während sie ihre Freundschaft besiegelten.
Aber da gab es noch einen ganz besonderen Ort, den Ramiro seit seiner Ankunft in Paris unbedingt besuchen wollte. Er hatte in Montmartre bei seinen Besuchen im Lapin Agile davon gehört und stellte ihn sich als den absoluten Glanzpunkt des Pariser Nachtlebens vor. Die Leute erzählten, dass dort ganz Paris aufeinandertraf, vom Arbeiter mit Schirmmütze und Espadrilles über Lebedamen und Aristokraten bis hin zu Familienvätern der Mittelschicht.
Gemeint war das Moulin Rouge.
Eines Abends verabredeten sich die beiden Freunde, um gemeinsam dorthin zu gehen, und Ricardo wartete in der Nähe des Lokals am Fuß des Montmartre auf Ramiro.
Dies war eine wenig angesehene Gegend, in der nachts Freudenmädchen flanierten.
Als auch der Spanier eingetroffen war, gingen die beiden Männer zu dem berühmten Kabarett hinüber und betraten es gemeinsam.
Bereits auf den ersten Blick erwies sich das Moulin Rouge für Ramiro allerdings als Enttäuschung. Es handelte sich um ein stickiges, düsteres Lokal, in dem Dutzende Tische standen. Der junge Mann dachte bei sich, dass seine begeisterten Gesprächspartner mit ihrer Schwärmerei wohl ein wenig übertrieben hatten.
Die beiden setzten sich an einen Tisch mit perfektem Blick auf die Bühne und bestellten etwas zu trinken. Im warmen Licht der Gaslampen, die wie Glühwürmchen leuchteten und dem Saal durch ihren Widerschein in den großen Spiegeln etwas Magisches verliehen, relativierte sich Ramiros erster negativer Eindruck. Und Ricardo, der schon die ganze Zeit von einem Ohr zum anderen gegrinst hatte, hielt dies für den passenden Moment, um seinem Freund die große Neuigkeit zu verkünden:
»Weißt du«, sagte er mit verschmitzter, geheimniskrämerischer Miene, »jetzt müssen langsam die neuen Kräne aufgebaut werden, und es wird eine zusätzliche Gruppe von Arbeitern zusammengestellt, die die großen Maschinenteile zusammennieten sollen.«
Ramiro, der gerade sein Glas Rotwein zum Mund geführt hatte, erstarrte mitten in der Bewegung. Sein Atem stockte.
»Ich hab mit dem Vorarbeiter über dich geredet. Ehrlich gesagt, habe ich es dabei mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen, schließlich musste ich ja sichergehen … Deshalb hab ich dich als einen spanischen Cousin von mir ausgegeben, der gerade erst hier angekommen ist. Aber ich hab ihm versichert, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht, weil du natürlich perfekt Französisch sprichst.«
Ramiro nahm einen tiefen Schluck Wein und sah Ricardo dabei eindringlich an.
»Du sollst morgen vorbeikommen und probeweise mitarbeiten, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass sie dich nehmen werden.«
Die Lichter, die blitzenden Spiegel … alles, was Ramiro an diesem Ort umgab, verschwamm plötzlich vor seinen Augen. Im selben Moment kündigten ein paar Takte Musik den Beginn des Schauspiels an, und dann war die Bühne auch schon von Farben und den Körpern leicht bekleideter Tänzerinnen erfüllt.
Aber davon bekam der junge Mann aus Murcia überhaupt nichts mit. Seine Augen sahen nämlich nur ein einziges Bild vor sich: einen Turm aus Eisen, der dem Himmel über Paris entgegenstrebte.
Im Strom der Nachtschichtarbeiter verließ Marie die Schokoladenfabrik Lombart.
Obwohl bereits der Morgen dämmerte, leuchteten die Straßenlaternen auf der Avenue de Choisy noch. Die kalte Luft trug die Gerüche des anbrechenden Tages mit sich, und die Straßen erfüllten sich mit Alltagsgeräuschen, die an Marie abzuprallen schienen.
Bis zu dem ärmlichen kleinen Zimmer, das sie ihr Zuhause nannte, hatte sie noch ein gutes Stück Fußweg vor sich, und sie fühlte sich schwach. Das lag an den langen Schichten in der Fabrik, bei denen sie dreizehn Stunden im Stehen arbeitete, an der schlechten Ernährung, zu wenig Schlaf und diesem Husten, den sie seit Monaten nicht loswurde.
Dabei wünschte sie sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als sich ein paar Stunden auf ihrem Strohsack auszustrecken und endlich einmal alles zu vergessen: ihr Leben, ihr Leid, sich selbst.
Marie ging langsam, und es kam ihr dabei so vor, als wäre die Straße länger als sonst, als würde sie sich mit jedem Schritt weiter ausdehnen.
Die junge Frau spürte, wie ihr Schweißtropfen den Hals hinunterliefen. Ihre Hände brannten, und sie wurde sich der unendlichen Müdigkeit bewusst, die ihren Körper gefangen hielt. Am liebsten hätte sie sich einen Moment hingesetzt, doch es bot sich keine Gelegenheit, weshalb sie sich kurz an die Wand eines Gebäudes lehnte und nach Luft rang. Wenn sie hier eine Weile stehen blieb, würde dieses unangenehme Gefühl vielleicht vergehen. Aber da irrte sie sich. Unversehens wurde ihr schwindelig, Übelkeit stieg in ihr auf, und sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Am Ende wurde ihr eiskalt, und gegen diese innere Kälte half auch ihr wollenes Tuch nicht.
Marie drohten die Knie nachzugeben, und dann wurde aus dem Schüttelfrost plötzlich fiebrige Hitze. Die junge Arbeiterin schwitzte und sah leuchtende Punkte vor den Augen tanzen. Dann rutschte sie an der Wand nach unten, wurde von Dunkelheit davongetragen und schließlich verschluckt. Panisch riss sie den Mund auf und wollte um Hilfe rufen, ihr Schrei jedoch wurde stumm geboren.
Ihren Geburtsort Grasse in der Provence, der für die Parfümherstellung berühmt war, hatte Marie anderthalb Jahre zuvor verlassen. Oder vielleicht sollte man besser sagen, dass sie von dort geflohen war.
Grasse war wirklich ein schönes Fleckchen Erde, die Altstadt lag zu Füßen eines alten Turms und bestand aus einem Labyrinth voller Brücken, Torbögen, Treppen und steilen Gässchen. Der kleine Ort nahe der Küste umfasste ein Gewirr aus verschlungenen, ansteigenden Straßen unter Ulmen und Platanen. Und außerhalb der Stadtmauern, wo die Olivenbäume mit ihren silbrigen Blättern wogten, folgte ein Hügel auf den anderen.
Wegen seiner besonderen Lage und seines Klimas, das den Anbau verschiedener Blumen und aromatischer Kräuter begünstigte, wirkte Grasse wie ein leuchtendes, duftendes Bouquet. Der Jasmin aus dieser Gegend wurde weltweit als einer der besten erachtet.
Marie war in der Rue des Quatre Coins geboren worden, direkt neben der Place aux Aires, mitten in Grasse. Dort wurde neben dem großen Brunnen der Blumenmarkt abgehalten, und früher einmal hatten unter den Arkaden der Gebäude die Gerber ihre Felle eingeweicht.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Pauline, Maries Mutter, im Erdgeschoss ihres zweistöckigen Hauses ein kleines Süßwarengeschäft eröffnet, mit dem sie sich selbst und ihre beiden Töchter Marie und Anne durchbrachte.
In anderer Hinsicht war es ihr jedoch nicht gelungen, ihr plötzlich entzweigerissenes Leben in neue Bahnen zu lenken. Der Tod ihres Mannes hatte ihr die Lebensfreude genommen, weshalb man im Grunde sagen konnte, dass die beiden Huard-Schwestern durch jenen Unfall sowohl des Vaters als auch der Mutter beraubt worden waren.
Pauline Huard trug innerlich wie äußerlich Trauer und hatte ihr Herz gegenüber allen Gefühlen verschlossen, die nichts mit dem Schmerz über ihren Verlust und mit ihrem Selbstmitleid zu tun hatten.
Nicht einmal ihre beiden Töchter konnten ein Lächeln auf ihre Züge zaubern oder ihrem Herzen die Lust aufs Leben zurückgeben.
Außerdem war Pauline von einer lähmenden Angst erfüllt: Sie befürchtete, dass irgendein Unglück ihr auch noch die beiden Mädchen nehmen würde. Deshalb schränkte sie deren Bewegungsradius derart ein, dass die armen Schwestern fast wie in einem Gefängnis lebten.
Mit siebzehn Jahren hatte Marie deshalb wenig getan, außer ihrer Mutter im Laden und bei der Arbeit im Haus zu helfen. Im Grunde konnte man sagen, dass sie abgesehen von diesen beiden Orten nicht viel kannte.
Auf die dreizehnjährige Anne, die gerade das letzte Jahr ihrer Schullaufbahn absolvierte, würde mit dem Abschluss ihrer mageren Bildung auch nichts anderes warten.
Obgleich sich die Huard-Schwestern äußerlich sehr ähnelten, waren sie vom Charakter her doch ganz verschieden. Von der kleinen Anne hörte man nie ein Wort der Klage. Sie war unterwürfig und so süß wie das Zuckerzeug aus dem Laden ihrer Mutter. Nur beim Gedanken an den abwesenden Vater legte sich ein trauriger Schatten über ihren Blick. Doch abgesehen von diesen kurzen Momenten der Erinnerung hatte Anne immer ein zauberhaftes Lächeln auf dem Gesicht und schien sich nicht an den engen Grenzen ihrer kleinen Welt zu stören.
Maries Augen waren heller als die von Anne und nahmen bei Gegenlicht einen hübschen Grünton an. Aber nicht nur von der Farbe her unterschieden sie sich von denen ihrer Schwester: In Maries Augen tanzten tausend Träume, die ungeduldig auf ihre Umsetzung warteten. Und auf ihren vollen, üppigen Lippen lag stets ein Ausdruck des Überdrusses, der nur die Spitze eines Eisbergs aus Unzufriedenheit und Aufbegehren war.
Deshalb legte sich Marie zu Annes Entsetzen oft mit ihrer Mutter an. Pauline beendete solche Streitereien dann mit einer harschen, gebieterischen Handbewegung, die nichts anderes als Schweigen duldete. Wieder einmal war ein Wunsch zerbrochen, eine Hoffnung verpufft. Auf diese Art und Weise distanzierte sich Marie immer mehr von ihrer Mutter und kam sich in ihrem eigenen Zuhause allmählich wie eine Fremde vor. Tag für Tag zog sie sich tiefer in ihre eigene Welt zurück. Eine schmerzhaft kleine Welt, in der es aber wenigstens noch Träume gab.
Und dann lernte sie im Laden eines Tages Gilles kennen. Er wollte eine der bunten Marzipanfiguren kaufen, die Pauline in der Küche des Geschäfts eigenhändig herstellte und dann im Schaufenster präsentierte.
Gilles war nicht viel älter als Marie und genau wie sie voller Träume.
Über Liebe konnten Gilles und Marie nur mit Blicken sprechen. Und dem jungen Mädchen schien es, als könnte sie innerhalb der engen Mauern ihrer Existenz niemals auf andere Art und Weise mit ihm kommunizieren. Gilles jedoch ließ sich nicht abschrecken. Er wartete ab, bis Marie den Laden wegen irgendeiner Erledigung verließ, und umging so die strenge Kontrolle durch ihre Mutter. Dann trat er an das junge Mädchen heran und flüsterte ihr lauter Dinge ins Ohr, bei denen ihr ganz warm ums Herz wurde.
Damit öffnete er für Marie die Tür zu einer fremden Welt. Und diese Welt war voll von neuen und unbekannten Gefühlen, voll von unerwartetem Sehnen, das Tag für Tag brennender wurde, genau wie ihre Liebesschwüre.
Dann kam schließlich der Moment der ersten Verabredung, wobei Marie nichts anderes übrig blieb, als ihre Schwester um Hilfe zu bitten:
»Weißt du, ich lüge aber nicht gern«, antwortete Anne auf ihr Bitten und Flehen.
»Du musst doch auch gar keine Lüge erzählen. Halt Maman einfach nur irgendwie auf, wenn ihr am Sonntag aus der Kirche kommt. Eine Stunde, ich bitte dich ja bloß um eine Stunde!«
»Aber du musst dich doch um den Laden kümmern, wenn wir zur Messe gehen …« Anne widersetzte sich noch immer, denn Maries verrückter Plan machte sie einfach fassungslos.
»Es merkt bestimmt niemand, wenn das Geschäft mal eine Stunde geschlossen bleibt.«
»Doch, die Kunden!«, rief ihre Schwester entsetzt aus.
Wütend starrte Marie sie an. Wieso war sie denn nicht auf ihrer Seite?
»Dieses Risiko muss ich eben eingehen. Bitte Maman einfach, eine Runde mit dir zu drehen.«
»Und wenn sie nicht will?«
»Ach du meine Güte, dann schleifst du sie eben mit! Sie macht doch sowieso alles, worum du sie bittest.«
Genervt streckte Marie ihrer Schwester die Zunge heraus. Dann wurde ihr Blick wieder sanfter, und sie fügte noch hinzu: »Anne … Annette … Verstehst du denn nicht, dass ich verliebt bin?«
Die Miene ihrer Schwester erhellte sich und zeigte ein verschmitztes Lächeln. »Sag mal, wie fühlt sich das denn an?«
»Das … das ist so, als würden Blütenblätter auf mich herabregnen! Kannst du dir das vorstellen?«
Die beiden Schwestern sahen einander in die Augen und brachen in Gelächter aus. Dieser Blick besiegelte ihren Pakt.
Deshalb drehte Anne nun Sonntag um Sonntag mit ihrer Mutter nach der Messe eine Runde, während ihre Schwester sich in Gilles’ Arme flüchtete.
Am Anfang widersetzte sich Marie dem Drängen ihres Geliebten noch, schließlich zerfiel ihre Gegenwehr jedoch wie feiner Sand. Vor neugierigen Blicken verborgen, gaben sich die beiden jungen Menschen ihrem Verlangen hin und liebten sich eilig, aber leidenschaftlich. Bevor sie sich dann voneinander trennten, blieb ihnen noch ein kurzer Moment, um sich mit brennenden Lippen gegenseitige Versprechen ins Ohr zu flüstern.
»Mir reicht das einfach nicht mehr, Marie. Komm doch mit mir nach Paris, da können wir immer zusammen sein und endlich ein gemeinsames Leben führen.«
Wie jedes Mal, wenn Marie so nah bei ihrem Geliebten war, klopfte ihr Herz heftig und aufgeregt. Sie ließ einen verträumten Blick aus ihren grünen Augen über Gilles’ Züge wandern und erwiderte leise:
»Aber ich kann meine Mutter einfach nicht allein lassen. Das würde sie nicht überleben.«
Gilles presste seinen Mund auf den ihren und küsste sie feurig und hastig. Obwohl es sich dabei noch um einen Kuss der Jugend handelte, durchfuhr er Maries Körper kitzelnd bis in die Zehenspitzen.
Was ihre heimlichen Treffen mit Gilles am Ende auffliegen ließ, war aber nicht, dass Pauline oder einem Kunden Maries Abwesenheit im Süßwarenladen auffiel. Die beiden jungen Leute verrieten sich selbst, weil sie gierig wurden und ihre Stelldichein immer weiter verlängerten.
Eines Frühlingssonntags kam Marie viel zu spät zurück nach Hause. Sie hatte sich wie immer für ihr Treffen mit Gilles zurechtgemacht und trug deshalb ihr bestes Kleid, das gestreifte mit dem vorteilhaften Taillengürtel. Ihr Gesicht schützte sie mit einem Strohhut, um keine Sommersprossen zu bekommen. Am Geschäft angekommen, wollte sie sich schnell den Kittel überziehen, damit ihre Mutter das verräterische neue Kleid nicht bemerkte. Im selben Moment begann ihr Herz jedoch zu rasen, weil sie entdeckte, dass der Laden geöffnet hatte.
Im Hinterzimmer weinte Anne in einer Ecke beschämt und erschrocken vor sich hin. Da sie so aufrichtig war, hatte Pauline die Wahrheit bestimmt problemlos aus ihr herausbekommen, und nun war sie völlig aufgelöst.