Was ist Lüge, was Wahrheit – was Wirklichkeit und was Fiktion?
In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der zwanzig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.
Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre Lissabons und klugen Reflexionen über das Schreiben, klingt »Schwindende Schatten« wie ein guter Jazzsong, wie eine Mischung aus absoluter Kontrolle und Improvisation, aus Leichtigkeit und Tiefe.
Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens und hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht, darunter »Der polnische Reiter« (1991), »Die Augen eines Mörders« (1997) und »Die Nacht der Erinnerungen« (2011). Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur. »Schwindende Schatten«, sein jüngster auf Deutsch vorliegender Roman, wurde u. a. 2018 für den Man Booker International Prize nominiert. Muñoz Molina lebt in Madrid und New York City.
»Dieses Buch verwischt die Grenzen zwischen Roman, Biografie und Autobiografie … Ergebnis ist das faszinierende Doppelporträt eines Schriftstellers, der den wirren Geist eines Mörders ergründet.«
Publishers Weekly
»Ein zweistimmiges Geständis, eine Reflexion über die Zeit, die Leere, über Betrug, Glück und Verlust.«
El Mundo
»Antonio Muñoz Molina ist zweifellos einer der herausragendsten spanischen Autoren der Gegenwart.«
Die Zeit
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Antonio Muñoz Molina
Schwindende
Schatten
Roman
Aus dem Spanischen
von Willi Zurbrüggen
Meine Tage schwinden dahin wie ein Schatten und ich verdorre wie Gras.
Psalm 102,12
1
Die Angst hat mich im Innern des Bewusstseins eines anderen aufgeweckt; die Angst und die Vergiftungen der Lektüre und der Suche. Es ist, als hätte ich die Augen in einem Zimmer aufgeschlagen, welches nicht dasselbe ist wie das, in dem ich eingeschlafen bin. Noch beim Aufwachen hielt die Panik des Traums an. Ich hatte eine Straftat begangen oder wurde zumindest verfolgt und war verurteilt worden, obwohl ich unschuldig war. Jemand richtete eine Pistole auf mich, und ich war gelähmt, konnte mich weder wehren noch konnte ich fliehen. Schon bevor das Bewusstsein gänzlich schwindet, beginnt der Romancier, den jeder heimlich in sich trägt, seine Geschichte mit all ihren Ausschmückungen zu umreißen. Das dunkle Zimmer war gewölbt und hatte eine niedrige Decke wie eine Höhle oder ein Keller oder das Innere eines Schädels, in dem das Gehirn dieses Jemand untergebracht ist, der aber nicht ich bin; sein fieberndes Bewusstsein nach zu vielen Stunden des Lesens oder einsamen Grübelns, all seine Erinnerungen, seine körperlichen Eigenheiten, die Bildergalerie seines Lebens, seine Neigung zu Herzrasen, seine Einbildung, sich tödliche Krankheiten eingefangen zu haben, Krebs, Angina Pectoris, seine Angewohnheit, sich zu verstecken und zu fliehen.
Ich bin aufgewacht und hatte einen Moment lang vergessen, wo ich mich befand, und ich war wie er oder war er, weil mein Traum mehr seiner war als meiner. Mich verwirrte die Unfähigkeit, das Schlafzimmer wiederzuerkennen, in dem ich vor kaum zwei Stunden eingeschlafen war. Ich hatte keine Vorstellung, wo das Bett stand, das Fenster war, die Möbel und auch nicht von meinem Platz im plötzlich unbekannten Raum. Nur mit Mühe erinnerte ich mich, in welcher Stadt ich mich befand. Ihm wird das häufig passiert sein, nachdem er in so vielen geschlafen hat und aufgewacht ist im Laufe seiner etwas mehr als einjährigen Flucht, dreizehn Monate und drei Wochen genau, in fünf Ländern und etwa fünfzehn Städten, auf zwei Kontinenten, nicht zu reden von den Zimmern in Motels am Rand einer Landstraße und den Nächten, die er an einem Baumstamm zusammengerollt wie ein Tier verbracht hat oder unter einer Brücke, auf dem Rücksitz des Autos oder in einem nach Zigarettenqualm und Plastik riechenden Bus, der um drei Uhr morgens in der Tiefgarage eines Bahnhofs hielt. So auch in dieser bestürzenden Nacht, der ersten, die er in einem Flugzeug verbrachte; der ersten, in der er flog, starr vor Angst, den Blick durch das ovale Fensterchen nach unten gerichtet wie in einen Abgrund, auf die Wasserfläche des Ozeans, auf ihren öligen Tintenglanz im Lichtschein des Mondes.
Der Traum, aus dem ich aufgewacht bin, könnte seiner sein, obwohl er nicht darin vorkam. Zu viele Stunden habe ich mich in sein Leben versenkt, Tage schon, seit ich in Lissabon angekommen bin. Man muss nur ein paar Sekunden auf dem Laptop herumtippen, und schon kann man die Dateien aufrufen, die beinahe alles dokumentieren, was er getan hat, die Orte, an denen er gewesen ist, die Verbrechen, die er begangen hat, die Gefängnisse, in denen er Strafen abgesessen hat, sogar die Namen der Frauen, mit denen er eine Nacht verbracht oder in einer Bar getrunken hat. Ich weiß, welche Zeitschriften und Romane er gelesen hat und von welcher Marke die Tüte mit dem Salzgebäck war, die er halb leer in einem in Atlanta gemieteten Zimmer zurückließ, in dem er nicht registriert wurde, weil der Besitzer so betrunken war, dass er ihm das Gästebuch vorzulegen vergaß. Auf fotokopierten und eingescannten Seiten alter Akten findet sich eine Liste der schmutzigen Wäsche, die er am 1. April 1968 in einer Wäscherei in Atlanta abgab und am Vormittag des 5. April wieder holte, oder das Gerichtsgutachten über die Flugbahn der Kugel, die er tags zuvor, am 4. April, aus dem Badezimmer eines Gästehauses in Memphis abgefeuert hat, wobei er den Lauf eines Remington-.30-06-Gewehrs auf dem Fensterbrett aufgelegt hielt, oder auch die Erklärung eines Gesichtschirurgen, der in Los Angeles seine Nasenspitze operierte, oder die Kopie eines Fingerabdrucks auf einem aus einer Fotozeitschrift ausgeschnittenen Bestellcoupon.
Selbst ein Leben im Verborgenen hinterlässt unauslöschliche Spuren. Damals waren den Werbeanzeigen in Zeitschriften noch Bestellcoupons beigefügt, mit Kästchen, in die in Druckbuchstaben ein Name oder eine Anschrift eingetragen werden musste, und auf einer gepunkteten Linie hatte die Unterschrift zu stehen. Das Maßlose der Wirklichkeit bringt Staunen und Schlaflosigkeit ohne Maß hervor. Es ist erstaunlich, was man über einen Menschen in Erfahrung bringen kann, von dem man eigentlich nichts weiß, weil er nie gesagt hat, was zu sagen wirklich wichtig gewesen wäre: stattdessen ein dunkles Loch, eine Leerstelle; ein Foto in einer Polizeiakte; die groben Striche einer nach lückenhaften Zeugenaussagen und ungenauen Erinnerungen gefertigten Phantomzeichnung. Er lebte von löslichem Kaffee, den er mit einem Tauchsieder direkt in der Tasse erhitzte, von Milchpulver, eingemachten Bohnen, in Senf getunkten oder mit Kraft-Mayonnaise garnierten Pommes frites. Er aß in billigen Schnellrestaurants, wo er Hamburger mit viel Zwiebeln, viel Bacon, Ketchup und Käse bestellte und sich die Pommes in den Mund stopfte. Es gab welche, die erinnerten sich an ihn als Linkshänder, andere, dass er mit rechts unterschrieb und mit der Rechten auch seine Zigaretten hielt. Auf manchen Steckbriefen wird sein Haar als dunkelblond, auf anderen als schwarz mit angegrauten Schläfen beschrieben. Mitten auf der Stirn hatte er eine kleine Narbe und eine weitere auf der Handfläche. Man erinnerte sich, dass er beim Rauchen die Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand hielt, an deren Ringfinger er einen goldenen Ring mit dunkelgrünem Stein trug. Aber tatsächlich rauchte er weder, noch trug er Ringe. Ein Ring ist so ein Detail, das der Erinnerung gern auf die Sprünge hilft und eine Identifizierung ermöglicht. Er hat sich nie tätowieren lassen.
Bis spät in der Nacht suchte ich im schlaflosen Gedächtnis des Internets nach Spuren von ihm und war, als ich das Licht löschte, noch so erfüllt davon, dass mir die Augen brannten, mir weiter Daten, Namen, Kleinigkeiten durch den Kopf gingen, behaftet mit dem Chitin des Wirklichen, dem, was kein Mensch sich ausdenken kann. Um im Gefängnis in Form zu bleiben, lernte er, im Handstand zu gehen und sich in kleinste Hohlräume zu zwängen, indem er komplizierte Yogahaltungen einnahm. Gewicht zuzulegen und wieder zu verlieren fiel ihm leicht. Immer wieder fotografierte er sich mit einer Polaroidkamera, die er bis zum Schluss bei sich hatte: mit Sonnenbrille und ohne, mit Lesebrille, stets im Halbprofil, schräg von unten, nie von der Seite, weil das Profil zu charakteristisch war, auch nach der Nasenoperation noch, und ebenso wenig von vorn, damit man die abstehenden Ohren nicht sah. Er schickte Fotos an Kontaktbörsen und glaubte, mit ihrer Verschiedenartigkeit für Verwirrung zu sorgen, wenn es zu der unvermeidlichen Jagd auf ihn käme. Auf einer Abendschule für Hotel- und Gaststättengewerbe in Los Angeles lernte er, hundertzwanzig verschiedene Cocktails zu mixen. Mehrere Monate lang belegte er einen Fernkurs für Schlosserei an einer Schule in New Jersey. Unter seinen Papieren fand sich eine Broschüre über die Vorteile des Schlosserhandwerks als Beruf mit Zukunft. Mit neun oder zehn Jahren schreckte er nachts, geplagt von schrecklichen Albträumen, aus dem Schlaf, wobei er am meisten über die eigenen Schreie erschrak. Er hatte geträumt, er sei blind geworden. Er zwang sich, wach zu werden, schlug die Augen auf und konnte nichts sehen, weil er bereits in einem weiteren Blindheitstraum gelandet war. Er fürchtete sich so vor dem Einschlafen und der Rückkehr der Albträume, dass er bis Tagesanbruch wach zu bleiben versuchte. In der Dunkelheit hörte er vermutlich das betrunkene Schnarchen seines Vaters und seiner Mutter, die wie Säcke übereinander auf der Matratze ohne Decke und Laken lagen, zugedeckt mit Lumpen und alten Jacken. Auf Strohsäcken lagen auf dem halb herausgerissenen Bretterboden seine Geschwister wie ein Wurf junger Hunde, voller Flöhe und Läuse, hungrig, gegen die winterliche Kälte eng aneinandergeschmiegt im einzigen Zimmer, in dem ein alter Ofen toxisch vor sich hin qualmte.
Ich weiß mittlerweile so viel über ihn, dass ich mich an Dinge aus seinem Leben zu erinnern glaube, an Orte, die er sah und ich nie gesehen habe. Die Wüste von Nevada, durchzogen von einer schnurgeraden Straße, die nach Las Vegas führt; die von niedrigen Häusern gesäumten, staubigen Straßen von Puerto Vallarta; die hallenden Korridore eines Gefängnisses mit Steinmauern, zinnenbewehrten Türmen und düsteren gotischen Bögen; das flache Gebäude des Lorraine Motel, betrachtet vom Fenster eines Badezimmers aus, in dem es nach Urin und Abfluss riecht und das hinter einem vermüllten, von Gestrüpp überwucherten Grundstück in einem heruntergekommenen Viertel am Stadtrand von Memphis gelegen ist.
Ich habe beschlossen, dass ich nichts anderes tun kann, als nach Memphis zu reisen. Ich habe die Anschrift des Hotels in Lissabon notiert, in dem er vor fünfundvierzig Jahren zehn seiner Tage auf der Flucht verbracht hat. Bei der Suche auf Google habe ich entdeckt, dass das Hotel immer noch existiert und dass ich, wenn ich will, in weniger als einer Viertelstunde dort sein kann. Was bislang nur in meiner Vorstellung existierte, ist in diesem Augenblick unmittelbare Wirklichkeit geworden. Ein Traum von Verfolgung, von Gefahr und von Scham hat mich aufgeweckt, der seiner hätte sein können und den zweifellos meine Nachforschungen über ihn ausgelöst haben, die mich erst spät zu Bett gehen ließen und den Schlaf vertrieben, gegen den ich mich stemme, während ich gebannt vor dem Bildschirm meines Laptops saß, tief über den Schreibtisch gebeugt, an dem ich seit Tagen arbeite, zwar erst wenigen, aber doch genug, um bereits Gewohnheiten entwickelt zu haben, die mich niederdrücken: der Schreibtisch und die Wohnung, die Straße, die Straßenecke, die man vom Fenster aus sieht, die Straßenbahn, die beim Bergabfahren bremst und eine Glocke bimmeln lässt, die Dächer der Stadt, die kariösen Mauern der Gebäude, der Name, den ich schon seit zu vielen Jahren nicht mehr regelmäßig im Munde führe: Lissabon.
Das Schlafzimmer hat ein Fenster, durch das nur wenig Licht hereinfällt, weil es auf die Rückseite eines leer stehenden Gebäudes geht. Man sieht einen verglasten Balkon, von Feuchtigkeit und Rost zerfressene Eisengeländer. Hinter einer ausgehängten Tür verliert sich ein Flur im Dunkeln, aus dem immer ein Geräusch von Tauben dringt. Die Tauben sind durch zerbrochene Fensterscheiben hineingelangt und haben das Hinterhaus in Besitz genommen. Zwischen den Fliesen des Balkons wächst Unkraut. Obwohl unser Schlafzimmer nur wenige Schritte entfernt ist, reicht der Verfall nicht bis auf unsere Seite. Dieses vor Kurzem erst renovierte Gebäude besitzt die Attraktivität des Neuen und zugleich das Solide eines Altbaus mit dicken Wänden und großzügigen Räumen. Die Fäulnis des Zerfalls und Zusammenbruchs schreitet in alten Städten am Meer schnell voran. Das Haus nebenan, in dem sich die Tauben eingenistet haben und nachts vermutlich Regenwasser durch die Decke tropft, ist die gescheiterte Kehrseite von diesem hier, gehört zu der dem Verfall preisgegebenen Schattenseite der Stadt. Direkt daneben, wo wir jetzt wohnen und schon nach wenigen Tagen das Gefühl hatten, seit Langem zu Hause zu sein, sind die Zimmer hoch und hell und riechen neu, die glatten Bretterböden knarren unter unseren Schritten wie alte Schiffsplanken. Das große Bett, die saubere Wäsche, über die man gerne mit den Händen fährt, die aufgeplusterten Kopfkissen, das gedämpfte Licht der Nachttischlampen mit Schirmen wie von durchscheinendem Pergament, deine Gegenwart neben mir im Spiegel, im Halbdunkel, das du immer gerne umgestaltest, indem du Vorhänge zuziehst, Lichter löschst, Türen angelehnt oder halb offen lässt. Während ich Schritt für Schritt das Bewusstsein für meine Umgebung wiederfinde, spüre ich, wie der anhaltende Schrecken des Albtraums verfliegt.
Mich an den Wänden entlangtastend, habe ich das Zimmer verlassen, bin dem Kerker des Traums entkommen. Einen Moment lang stehe ich verloren auf dem Flur, habe die Orientierung verloren, finde eine Mauer da, wo ich eine Öffnung erwartet habe, die der Tür zum Wohnzimmer. Mein Gehirn ist noch nicht so weit, blind meine Schritte zu lenken. Der imaginäre Aufriss der Wohnung treibt seine Späße mit mir. Nichts leichter, als sich plötzlich verloren zu fühlen, für mich jedenfalls. Ein Geräusch in meinem Rücken lässt mich herumfahren: Der Motor des Kühlschranks ist angesprungen und die Küche hat unerwarteterweise, doch unbestreitbar ihren Platz eingenommen, hat dem Raum seine wahre Beschaffenheit zurückgegeben. Die Welt ist ein Labyrinth von zittrigen Zeichen, elektrischen Entladungen, Schallwellen, winzigen Lichtblitzen in der Dunkelheit. Eingeschlossen in seiner knöchernen Kuppel, in seinem hermetischen Gehäuse, erschafft das Gehirn dieses Labyrinth wieder vollkommen neu. Er war der Meinung, dass es möglich sei, die schlafwandlerischen Schritte und Taten eines hypnotisierten Menschen aus der Ferne zu steuern, ihm zu befehlen, einen Mord zu begehen, eine Bombe zu zünden oder eine Bank auszurauben.
Jetzt ertaste ich die hölzerne Türschwelle zum Wohnzimmer und kann ohne jeden Zweifel den kompletten Raum rekonstruieren, den ich immer noch nicht sehe, den Schreibtisch rechts, das Sofa links, ganz hinten das Fenster zur Straße. Zugleich empfängt die erweiterte Netzhaut verstreute Photonen, die den Wahrnehmungsbereich vervollständigen, ihm seine drei Dimensionen zurückgeben. Der Wind muss wohl die Fensterläden zugeschlagen haben, und deshalb drang keinerlei Helligkeit hindurch. Als ich mich mit der Hand an der Schreibtischkante entlangtastete, berührte ich die Schaltfläche des Laptops und die Beleuchtung des Displays sprang an, ein weißes Leuchten, welches das Zimmer in fahles Mondlicht taucht. Er schrieb am liebsten auf der Schreibmaschine. Während er Mitte der Fünfzigerjahre eine zweijährige Strafe im Staatsgefängnis von Leavenworth verbüßte, hatte er Maschinenschreiben gelernt. Irgendwo in der uferlosen Datei findet sich vielleicht noch der Kaufbeleg mit dem Markennamen der Schreibmaschine, die er benutzte. Er warf sie aus dem Autofenster, als er mit Höchstgeschwindigkeit von Memphis nach Atlanta raste und von ferne Polizeisirenen hörte oder zu hören glaubte. Er warf die Schreibmaschine, die Super-8-Kamera, den Projektor und mehrere leere Bierdosen aus dem Fenster. Er warf Sachen nach draußen und sah sie im Rückspiegel hinter sich zurückbleiben. Ich habe eine Liste von allem, was er mit sich führte und nicht aus dem Fenster seines Autos warf, eines 66er Mustang mit Alabama-Kennzeichen, sowie die Liste jener Dinge, die sich in dem blauen Plastikkoffer befanden, den er ebenso wie das Gewehr fallen ließ, bevor er floh, und selbst der Dinge, die später im Kofferraum und auf dem Boden des Autos gefunden wurden, sogar Härchen sind dort verzeichnet und Reste von eingetrocknetem Schaum an der Klinge seines Einwegrasierers. Ich kenne alle Namen, die er benutzte und wieder ablegte wie abgelaufene Identitäten, auswendig. Ich sehe ihn vor mir Gestalt annehmen, seinen Schatten, seine gesamte, aus all diesen winzigen Einzelteilen bestehende Biografie, Teilchen für Teilchen, gebrochene Mosaiksteinchen in dieser kunstvollen Pflasterung der Gehwege von Lissabon.
Eines Morgens, einem der ersten, bin ich einen dieser Wege hinaufgegangen, die Rua dos Fanqueiros, mit meinem Stadtplan und einem aus einem Heft gerissenen Blatt in der Hand, auf dem ich mir den Weg von Google Maps abgeschrieben hatte. Mit einem Gefühl von Heimlichkeit, beinahe von Scham und schlechtem Gewissen, habe ich die Wohnung verlassen, ohne dir zu sagen, wohin ich ging. Offenbar liegt etwas kindlich Naives in diesen ersten Schritten des Erfindens einer Geschichte – oder nicht einmal das, wenigstens jetzt noch nicht, am Beginn einer Suche, von der man nicht weiß, wohin sie einen führt. Ich betrat ein Papiergeschäft, um mir mehr zur Beruhigung als aus praktischen Gründen ein Notizbuch zu kaufen. Als ich eines finde, das mir gefällt, wird mir klar, dass ich bereits vor einem Jahr in genau diesem Papiergeschäft war und mir damals das identische Notizbuch gekauft habe, in das ich nur das Datum eingetragen habe: 2. Dezember. Ich ging damals vorbei an gespenstischen Textilgeschäften und verschlossenen und verlassenen Läden, an denen noch die kalligrafierten Namen standen, wie es vor einem halben Jahrhundert modern war, an von Nepalesen oder Pakistanern betriebenen Obstläden mit welkem Gemüse, an verrammelten Eingängen, denen ein Geruch von Abfluss und Verlassenheit entströmte, an Hausfassaden, deren Kacheln großflächig abgeblättert waren, an in Ladentüren stehenden Angestellten, die ebenso altmodisch gekleidet waren wie die Schaufensterpuppen ihrer Geschäfte und mit einer Geduld darauf warteten, dass jemand eintrat, die nur bewegungsloses Warten selbst hervorbringen kann. Vorbei auch an Apotheken mit Marmortresen und Schubfächerschränken aus gedrechseltem Holz und an weiteren Kleidergeschäften, die moderner wurden, je näher ich der Praça da Figueira mit ihrem bronzenen Reiterkönig kam.
Ich ging an einer Puppenklinik vorbei, die ich genau hier vor sechsundzwanzig Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Der Platz ist ebenso unverändert wie die Straßenbahnen und die sanfte Sonne des Novembermorgens, und die bekannten Gerüche nach Backwerk und gerösteten Kastanien lassen für ein paar Sekunden das Zeitgefühl verschwimmen. Wie befremdlich, dieser in die Jahre gekommene Mann mit angegrautem Haar und grau meliertem Bart zu sein, der mich aus einem Schaufenster anblickt. Noch befremdlicher aber ist es, der junge Mann von damals gewesen zu sein, viel jünger noch, als er selbst es damals empfand, so unfertig wie ein Heranwachsender und doch schon Vater eines dreijährigen sowie eines gerade erst geborenen Sohnes; damals mit diesem Gesicht, das jemand, der mich nur von heute kennt, nicht mit mir in Verbindung brächte, war er auch nervöser, innerlich aufgewühlter, zündete eine Zigarette nach der anderen an und inhalierte tief, war mit einem Notizbuch und einem Stadtplan bewaffnet, wie auch ich heute Morgen, ahnte nichts von seiner unerhörten Zukunft, nichts vor allem von dem Ausmaß dieser Zukunft, die ohne jeden Bezug zu deinem Dasein ist. Was er und ich gemeinsam haben an diesem Vormittag, der mit seinem zeitlosen Licht sowohl der von heute als auch der vor dreißig Jahren sein könnte, ist, dass wir beide auf der Suche nach Gespenstern durch Lissabon streifen, wobei seine unwirklicher sind als meine. Das Gespenst, das ich suche, ist tatsächlich auf diesem Bürgersteig gegangen, hat diesen Platz überquert und ist bei jenem Straßenschild, das ich jetzt, schaudernd fast, zur Kenntnis nehme, um eine Ecke gebogen: Rua João das Regras.
In einem Buch oder aber einer Zeitschriftenreportage sind ein Straßenname und eine Hausnummer gleichermaßen gänzlich überflüssige Details. Ganz in der Nähe dieses Orts zu sein und zu wissen, dass man sofort dort sein kann, lässt überraschend real erscheinen, was bei der Lektüre gleichsam Fiktion gewesen ist. Rua João das Regras, No. 4. Während ich noch die Rua dos Fanqueiros hinaufging, sah ich mich schon im Hotel Portugal ankommen, eine goldgeränderte Drehtür aufschieben, über einen abgetretenen, aber noch nicht schäbigen Teppichboden gehen und vielleicht in einem Vestibül, das ich mir dämmerig vorstellte, in einem Sessel Platz nehmen. Dass ich das Hotel betrat, würde all meinen Mutmaßungen Halt geben, würde fassbar machen, was bis zu diesem Moment den Traumwelten der Bücher angehörte.
Im Internet habe ich die letzten Gästebewertungen des Hotel Portugal gelesen. Ich habe gelesen, dass die Zimmer klein sind und die Einrichtungen antiquiert, und dass man in den unteren Zimmern von früh morgens bis spät nachts das Rattern der Züge aus der nahen U-Bahn-Station hört. Er bewohnte das Zimmer No. 2 im ersten Stock. Auch das weiß ich. Vor dem Bett stand eine Spiegelkommode mit einer Marmorplatte. In einer Ausgabe des Life Magazine vom Juni 1968 habe ich ein Foto des Zimmers gesehen. Es sah aus, als habe es nach altem Holz und Staub gerochen, wenn er eine Schublade aufzog, um seine Sachen darin zu verstauen. Er schlief schlecht durch das von den U-Bahn-Zügen hervorgerufene Vibrieren. Die Gebäude sind hoch, und die Sonne der nahe gelegenen Plaça dringt nicht bis in die Rua João das Regras. Ich gehe diese Straße entlang und suche die No. 4, doch dann ist sie mit einem Mal zu Ende und es scheint, als gäbe es diese Nummer gar nicht. Die zum Greifen nahe Wirklichkeit hat sich verflüchtigt. Was ich sehe, ist eine alte Eisenwarenhandlung mit allen möglichen Schlüsseln, Riegeln und Schlössern im Schaufenster. Er dürfte einen interessierten Blick hineingeworfen haben, war er doch durch seinen Schlosserkurs auf solcherlei Gerätschaften fixiert. Nirgends jedoch sehe ich das Schild des Hotel Portugal durch zwei Reihen von Balkonen hindurch, wie ich es von Fotos kenne. Ich frage einen Kellner, der in der Tür einer Bar lehnt, und er zeigt auf eine von Gerüsten und Planen verdeckte Fassade. Das alte Hotel Portugal hat geschlossen. Das Gebäude ist eine Baustelle und wird von Grund auf saniert. Ein Luxushotel soll daraus entstehen.