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Yrsa Sigurdardóttir



Die eisblaue Spur



Thriller



Aus dem Isländischen von Tina Flecken












Inhaltsverzeichnis

Buch und Autorin
Copyright
PROLOG
31. OKTOBER 2007
1. KAPITEL
18. MÄRZ 2008
2. KAPITEL
18. MÄRZ 2008
3. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
4. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
5. KAPITEL
19. MÄRZ 2008
6. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
7. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
8. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
9. KAPITEL
20. MÄRZ 2008
10. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
11. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
12. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
13. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
14. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
15. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
16. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
17. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
18. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
19. KAPITEL
21. MÄRZ 2008
20. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
21. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
22. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
23. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
24. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
25. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
26. KAPITEL
22. MÄRZ 2008
27. KAPITEL
23. MÄRZ 2009
28. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
29. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
30. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
31. KAPITEL
23. MÄRZ 2008
32. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
33. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
34. KAPITEL
24. MÄRZ 2008
EPILOG
20. MAI 2008
PERSONEN DER HANDLUNG

 

 

 

 

 

Anmerkungen

 

Die isländischen Buchstaben werden wie folgt ausgesprochen:

Æ bzw. æ wie ai in Kaiser
Ð bzw. ð wie englisches stimmhaftes th in this
Þ bzw. Þ wie englisches stimmloses th in thick

Weil sich alle Isländer üblicherweise mit dem Vornamen anreden, wurde auch in dieser Übersetzung – bei Gesprächen der Isländer untereinander – die Du-Form gewählt.


EPILOG

20. MAI 2008

Dóra legte auf und starrte auf die Scheidungsunterlagen, die noch unterschrieben werden mussten. Ein junges Paar hatte zu spät festgestellt, dass es nicht zueinanderpasste, und besaß, wie so viele, nichts als Schulden. Und merkwürdigerweise waren die Leute bei der Aufteilung von Schulden viel pedantischer als bei der Aufteilung von Wertsachen. Aber da man sich scheiden lässt, weil man die Nähe des anderen nicht mehr ertragen kann, einigten sie sich am Ende doch.

Die Grönlandreise hatte der Kanzlei keine Folgeaufträge von der Bank eingebracht. Aber es wurde eine Einigung mit dem Bergbaukonzern erzielt: Bergtækni durfte das Projekt weiterführen, die Versicherungssumme blieb unangetastet. Dóra hoffte, dass ihr Bericht zumindest dazu beigetragen hatte, aber es war auch durchaus möglich, dass die Sache auf politischer Ebene geklärt worden war oder die zeitweise Schließung des Geländes wegen archäologischer Untersuchungen in der Höhle den Ausschlag gegeben hatte. Der Bergbaukonzern, das Bauunternehmen und die Bank hatten zwar eine Übereinkunft getroffen, aber die Menschen blieben ratlos zurück, weil sie ihre Kollegen unter schrecklichen Umständen verloren hatten. Zum Glück sollte die Arbeit erst im Sommer wieder aufgenommen werden, so dass die Mitarbeiter Zeit hatten, sich im Kreis von Freunden und Familie zu erholen.

Dóra hatte noch ein paar Unannehmlichkeiten gehabt. Die grönländische Gesundheitsbehörde hatte ihren großen, grünen Koffer konfisziert und samt Inhalt vernichtet. Wegen der Infektionsgefahr, man wollte kein Risiko eingehen. Dóras Mitreisenden erging es genauso, aber die hatten ja vorausschauend gepackt und verloren nur Unterwäsche und Fleecepullis, bei Dóra wurde hingegen jahrelange Arbeit zunichtegemacht: der Erwerb schicker Klamotten, die nicht von modischen Strömungen abhängig waren. Die Bank hatte zwar Schadenersatz geleistet, aber Dóra brachte es nicht über sich, den wahren Wert ihres Gepäcks anzugeben. Nachdem klar war, dass sie von der Bank keine weiteren Aufträge bekommen würde, bereute sie das zutiefst.

Einmal noch hatte sie mit Friðrikka telefoniert. Ihre Stimme hatte ganz anders geklungen als vorher, und Dóra vermutete, dass sie Medikamente bekam. Sie bat Dóra, ihr dabei zu helfen, die Strafe in Island absitzen zu dürfen, weil sie es in Grönland nicht aushielt. Sie fragte auch nach der Katze, und als Dóra ihr versicherte, der gehe es prächtig, wirkte sie erleichtert. Friðrikka fragte nach Arnar, und Dóra erzählte nicht, dass sie in der letzten Zeit aufmerksam die Todesanzeigen verfolgt hatte. Wahrscheinlich wollte sich Arnar erst umbringen, wenn das Urteil durch beide Instanzen war, um sicherzugehen, dass Naruana am Ende möglichst gut dastand. Vielleicht hatte er aber auch seine Meinung geändert oder den Mut verloren. Dóra hoffte es zumindest, obwohl er am Telefon sehr überzeugend geklungen hatte.

Dóra war einmal der Versuchung erlegen, Oqqapia anzurufen. Die erzählte stolz, Naruana habe wieder angefangen zu jagen, zwar nur mit anderen gemeinsam in einem Boot, aber immerhin. Igimaq habe die Knochen seiner Tochter ausgehändigt bekommen und wolle sie zur letzten Ruhe betten. Bei der Untersuchung der Knochen habe man keine genaue Todesursache feststellen können, aber alles deute darauf hin, dass sie an dieser Krankheit, über die alle reden, gestorben sei.

Gegen Ende des Gesprächs fragte Dóra die Frau vorsichtig, ob Naruana eine Erklärung darüber abgegeben habe, warum er dieses Mädchen mit ins Camp genommen hatte. Oqqapias Antwort war genauso naiv wie ihre Beschreibung der Spanischen Grippe. Er hatte sich von den Eltern des Mädchens den Schlitten geliehen, unter der Bedingung, dass er es mitnahm. Dóra fragte nicht, was für Eltern das seien, die ihr Kind mit einem Betrunkenen auf dem Motorschlitten herumfahren ließen. Die Antwort lag auf der Hand. Solche Eltern waren noch betrunkener als der Fahrer. Aber es gab auch Positives: Das Mädchen war zur Untersuchung ins Krankenhaus nach Nuuk gebracht worden, da es das Blutbad mitangesehen hatte und womöglich infiziert worden war. Dort beschloss man, ihr entstelltes Gesicht zu operieren. Die Tatsache, dass das Kind sang, gab Anlass zu der Hoffnung, dass es mit der richtigen Behandlung und Therapie auch seine Sprechfähigkeit zurückerlangen könnte. Die Eltern waren nach Nuuk gezogen, um sich um ihr Kind zu kümmern, und hatten Oqqapia und Naruana zum Abschied den Motorschlitten geschenkt. Dóra versuchte gar nicht erst, das alles zu verstehen. Schließlich war es am wichtigsten, dass sich diese Leute nach und nach ein besseres Leben erkämpften. So schwer es auch war.

Es klopfte an der Tür und der zukünftige Ex-Mann von Dóras Scheidungsfall trat ein. »Hallo, bin ich zu spät?«

»Nein, du kommst genau richtig.« Dóra lächelte. »Nimm bitte Platz. Es ist alles vorbereitet.«

 

Igimaq ließ seinen Blick über das Eis schweifen. Die Höhle lag hinter ihm, wodurch die Landschaft ein Stück ihrer Faszination einbüßte. Was hatte man von der Schönheit, die vor einem lag, wenn hinter einem das Böse lauerte? Er trug die Knochen seiner Tochter. Sie waren in ein prächtiges Seehundfell gewickelt, das er vor vielen Jahren gegerbt hatte. Eines der schönsten, die er je gesehen hatte. Niemand wusste das zu schätzen, deshalb hatte er es nie aus der Hand gegeben und es für bessere Zeiten aufbewahrt. Und jetzt war die Zeit gekommen. Das Fell würde die Knochen vor Gefahren in der Höhle schützen, bis alles vorbei war, bis das Land schmolz und im Meer versank. Er und der Hund würden dann schon längst nicht mehr da sein.

Der Hund jaulte und wollte diesen verfluchten Ort hinter sich lassen. Igimaq hatte mit angesehen, wie seine Tochter gelitten und geweint hatte, wie sie ihn angefleht hatte, im Dorf Hilfe zu holen. Aber es gab keine Hilfe. Als sie das verbotene Gebiet entgegen den Anweisungen ihres Vaters betreten hatte, waren sie aneinandergeraten, und er war immer noch wütend auf sie, als sich die Zeichen zeigten und ihre Haut sich bläulich verfärbte. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits geschwächt, und Igimaq hatte sich mit Sikki beraten, der keinen Zweifel hegte, was getan werden musste, im Gegensatz zu später, als es um die Arbeitsplätze ging. Igimaq weigerte sich nicht, schleifte seine todkranke Tochter zurück in das Gebiet und zwang Naruana, ihm dabei zu helfen. Schließlich würde der einmal die Pflichten gegenüber den Vorvätern übernehmen müssen. Naruana schien das zu verstehen, aber sein rascher Absturz wies auf das Gegenteil hin. Naruana hatte schon vorher Alkoholprobleme gehabt, und der tragische Tod seiner Schwester stürzte ihn endgültig ins Verderben. Und seine Mutter mit ihm. Igimaq konnte es sogar ein wenig verstehen. Obwohl Usinnas Todeskampf nicht lange andauerte, kroch die Zeit dahin, wenn man gezwungen war, mit ansehen zu müssen, wie sich ein enger Verwandter gnadenlos quälte und blau anlief, bis Blut aus Mund, Augen und Nase quoll. Bei ihrem letzten Atemzug bildete sich eine rote Blase zwischen ihren Lippen, die erst zerplatzte, als der Wind ihr das schwarze Haar ins Gesicht wehte. Wenn Igimaq nicht so wütend auf sie gewesen wäre, hätte er sie vielleicht getröstet oder Naruana erlaubt, ihre Hand zu halten, worum sie ihn unter Tränen bat. Doch als er später ihre Leiche herrichtete, verflog seine Wut. Als er ihr die Halskette mit ihrem Namen abnehmen wollte, sah er, dass sie weg war. Sie hatte die Kette noch um den Hals getragen, als er sie mit Naruanas Hilfe auf den Schlitten gehievt hatte. Igimaq hatte das Schmuckstück für sie angefertigt, als sie noch ein kleines Mädchen war. Er wusste, dass der Verschluss sehr fest war und nicht aufreißen konnte. Aber er wusste auch, dass Usinna ahnte, dass sie in der Ödnis ausgesetzt werden sollte, und er kannte seine Tochter gut genug, um zu wissen, was sie mit der Kette gemacht hatte. Sie hatte sie verschluckt, damit man sie identifizieren konnte, wenn man sie irgendwann fand. Es war undenkbar, dass er seiner toten Tochter den Bauch aufschlitzte, um die Kette herauszuholen, ebenso undenkbar, wie sie zurück nach Hause zu bringen, als sie ihn mit blutunterlaufenen Augen zum letzten Mal darum anflehte. Das hätten die rastlosen Seelen der Toten nie erlaubt. Naruana und Igimaq wurden nur verschont, weil die Geister so gierig darauf waren, eine neue, junge Seele zu sich zu holen. In ihrer Gier vergaßen sie Vater und Sohn.

Nichts von all dem hatten die Männer, die die Höhle erforscht hatten, am eigenen Leib erfahren. Sie hatten nicht auf die Geister gehört, die noch in der Höhle wohnten, auch wenn sich ihre sterblichen Überreste jetzt in Forschungslabors in Nuuk und anderswo befanden. Natürlich hatten die Geister versucht, sich bemerkbar zu machen, als in der Höhle alles umgegraben wurde, hatten geheult und gerufen, aber ohne Erfolg. Die Ohren der Leute, die die sterblichen Überreste aus dem Eis hackten, nahmen nur das Oberflächliche wahr und überhörten Geräusche, die ihren Ursprung im Unerklärlichen hatten. Obwohl diese Leute den Wind hören konnten, von dem niemand wusste, woher er kam und wohin er ging, und den man nicht anfassen konnte.

Igimaq drehte sich um. Der Eingang der Höhle war freigelegt, so dass er seit fast hundert Jahren zum ersten Mal richtig zu sehen war. Der Sommer nahte, das Eis auf dem Felsvorsprung über der Höhle war geschmolzen, und die Eiszapfen in der Öffnung sahen aus wie ungleichmäßige, scharfe Zähne, die in der Sonne glitzerten und ihn aufforderten, in den geöffneten Schlund zu schauen, die prüfen wollten, wie sich der große Jäger bewähren würde, wenn er mit etwas konfrontiert war, das keinen Herzschlag besaß, der sich anhalten ließ.

Der Hund jaulte wieder und drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Igimaq hatte die anderen Hunde zu Hause gelassen, sie mochten die Umgebung der Höhle nicht, und Igimaq durfte sich von ihrem Gebell nicht ablenken lassen. Er wusste, dass sich Naruana um sie kümmern würde, falls er selbst nicht zurückkam. Sein Sohn und er sprachen wieder miteinander. Naruana konnte zwar nicht akzeptieren, was sie seiner Schwester Usinna angetan hatten, aber er ließ sich nicht mehr von Gewissensbissen auffressen. Igimaq knüpfte große Hoffnungen daran, dass sich der Junge endlich in die richtige Richtung wenden, sich an Oqqapia binden und mit ihr Kinder haben würde. Vielleicht wäre Usinnas Seele dann gerettet, und wenn sie Glück mit ihren Kindern hätten, bestünde sogar für Naruanas eigene Seele Hoffnung.

Die Knochen in der Felltasche verrutschten, und Igimaq rückte sie wieder zurecht, hielt jedoch inne, als ein leises, tiefes Weinen aus der Höhle drang. Er erkannte die Stimme sofort, auch wenn sie leiser war als früher. Es war Usinna. Ihre Seele rief nach ihm und fragte ihn wieder einmal, warum er ihr nicht geholfen hatte. Der Tod hatte ihr Leiden nicht gemildert. Dann kamen weitere Stimmen hinzu, Unzählige, die alle mit ihrem Schicksal haderten und Erlösung forderten.

Der Hund sah Igimaq in die Augen. Er verstand seinen Herrn und wusste, dass er ihm nicht folgen musste. Niemand durfte zu seinem letzten Weg gezwungen werden, weder Mensch noch Tier. Der Hund wandte seinen Blick von Igimaq ab und starrte in die schwarze Höhlenöffnung. Er war fest entschlossen, seinem Herrn zu folgen, mit gesenktem Kopf und gesträubtem Fell. Der Hund lief ein Stück auf die Höhle zu und schaute den Jäger fragend an. Der nickte und ging los. Je näher sie der Höhle kamen, desto lauter wurden die Stimmen. Als sie in die Finsternis traten, hatten die Stimmen eine bedrohliche Lautstärke erreicht. Igimaq hatte den Eindruck, dass sie sich darauf freuten, sich für ihr grausames Schicksal zu rächen.

Allen voran Usinna.

PERSONEN DER HANDLUNG

Dóra Guðmundsdóttir Reykjavíker Rechtsanwältin und
alleinerziehende Mutter
Matthias Reich Dóras Freund aus Deutschland,
ehemaliger Kriminalkommissar
Hannes


Dóras Ex-Mann


Sóley und Gylfi Dóras Kinder
Sigga Gylfis Freundin
Orri


Dóras kleiner Enkel


Bragi Dóras Kollege in der Anwaltskanzlei
Bella ihre Sekretärin

Mitreisende nach Grönland

Alvar Rettungsmann
Eyjólfur IT-Spezialist
Finnbogi Arzt
Friðrikka Geologin







Mitarbeiter im Camp

Oddný Hildur Geologin
Bjarki Bohrmann
Halldór Bohrmann
Arnar Ingenieur

Einwohner von Kaanneq

Igimaq grönländischer Jäger
Sikki sein Jugendfreund
Usinna Igimaqs Tochter
Naruana sein Sohn
Oqqapia dessen Lebensgefährtin


1. KAPITEL

18. MÄRZ 2008

Dóra Guðmundsdóttir legte die Aufstellung über die abgeleisteten Sprechstunden des letzten Monats beiseite. Alles andere als eine inspirierende Lektüre. Bragi, der Miteigentümer der Anwaltskanzlei, die beiden Referendare und sie hatten zwar viele Fälle, aber die meisten waren belanglos und schnell bearbeitet. Das war zwar gut für die Mandanten, brachte jedoch nicht viel ein. Aber Geld war schließlich nicht alles. Die interessantesten Fälle waren anspruchsvoll und arbeitsintensiv. Dóra stöhnte leise. Sie traute sich nicht, laut zu seufzen, aus Angst, einer der beiden jungen Referendare könnte sie hören. Wenn die herausfänden, dass sich Dóra Sorgen um den Betrieb machte, würden sie womöglich erwägen, die Stelle zu wechseln, und das durfte auf keinen Fall passieren. Bragi und Dóra würden die Kanzlei niemals zu zweit bewältigen können, geschweige denn den Job der Sekretärin des Grauens. Auch wenn es schwer vorstellbar war, dass irgendjemand diesen Job schlechter machen könnte als Bella, riss Dóra sich nicht darum, sie abzulösen, und auch Bragi würde alles tun, um sich vor dem Telefondienst zu drücken. Deshalb mussten sie sich mit der Personalsituation zufriedengeben – mit den Referendaren, die sich mehr für YouTube als für die Urteile des Obersten Gerichtshofs interessierten, und mit der Sekretärin Bella, die ebenfalls länger als vertretbar im Internet surfte.

Dóra schaute wieder auf die Liste mit Mandanten und Fällen: Scheidungen, Insolvenzen, diverse Finanzsachen. Dann noch ein paar Erbangelegenheiten, Vaterschaftsklagen und eine Reihe von Kleinstfällen. Dóra sehnte sich nach neuen Strafsachen. Die waren viel anspruchsvoller als Bragis Spezialgebiet Scheidungen. Da er sich in dem Bereich einen guten Namen gemacht hatte, wandten sich immer mehr Leute an die Kanzlei, wenn ihre Ehe bröckelte.

Diese Fälle waren jedoch meistens ziemlich skurril. Dóra hatte beispielsweise einen Mandanten namens Trausti, der im Zuge seiner Scheidung seinen Vornamen ändern lassen wollte, weil seine Frau ihn für einen anderen Mann mit demselben Namen verlassen hatte. Im Grunde war das problemlos möglich. Die Sache verkomplizierte sich allerdings dadurch, dass besagter Trausti es nicht darauf beruhen lassen wollte, sondern auch noch den Nachnamen der gemeinsamen Kinder, also den Vaternamen Traustason, ändern lassen wollte. Er wollte unbedingt klarstellen, dass er der Vater der Kinder war und nicht der neue Mann im Leben seiner Frau. Die Namensgesetzgebung gestattete zwar unter besonderen Umständen eine Änderung der Nachnamen der Kinder, aber diesen Fall hatte der Gesetzgeber nicht vorgesehen. Daher war die Vorgehensweise unklar. Dóra hielt es für unwahrscheinlich, dass Trausti, der nicht Trausti heißen wollte, recht bekommen würde, zumal die Mutter der Kinder absolut gegen die Änderung war. Nachdem Dóra ihm ihre Einwände dargelegt hatte, wurde der Mann noch hartnäckiger, und am Ende ließ sie sich überreden und setzte ein Schreiben an den Justizminister auf. Bevor sie diesen grotesken Brief unterschrieb, hätte sie am liebsten ihren Namen geändert. Sie hatte ihn vor gut einem Monat abgeschickt und immer noch keine Antwort erhalten. Wahrscheinlich überlegten die Beamten noch, ob es sich um einen Scherz handelte.

Dóras eigene Scheidung hatte seinerzeit auch nicht gerade die besten Seiten an ihr und ihrem Ex-Mann Hannes zum Vorschein gebracht. Allerdings hatte ihnen die Phantasie gefehlt, sich über etwas anderes als weltliche Güter wie Flachbildschirme und DVD-Player zu streiten. Über Namensänderungen hatten sie nie diskutiert. Diese Erfahrung machte wohl den Unterschied zwischen Dóra und Bragi aus, der solche Fälle liebte. Er war seit dreißig Jahren mit derselben Frau verheiratet. Dóras eigene Scheidung lag schon so weit zurück, dass ihr inzwischen klar war, wie unerträglich sie gewesen sein musste; sie hatte jede Gelegenheit wahrgenommen, sich über Hannes’ unmögliches Verhalten zu beklagen. Natürlich war sie ihm gegenüber sehr ungerecht gewesen – und umgekehrt genauso. Aber trotzdem war es am vernünftigsten gewesen, sich scheiden zu lassen – darüber waren sie sich immerhin einig.

Inzwischen hatte sich das Blatt gewendet. Dóra hatte eine feste Beziehung mit Matthias Reich aus Deutschland, der eine Stelle als Leiter der Sicherheitsabteilung bei der Kaupþing-Bank angenommen hatte. Allerdings waren sie noch nicht zusammengezogen. Er war zwar nicht abgeneigt, aber es lag an ihr. Dóra hatte im Augenblick alle Hände voll zu tun: Ihre beiden Kinder, Sóley und Gylfi, brauchten ihre ganze Aufmerksamkeit, und dann war da noch ihr fast zweijähriger Enkel Orri. Dóras Aufgaben als Oma waren wesentlich umfangreicher als üblich. Ihr Sohn war selbst noch ein Kind gewesen, als er mit seiner Freundin Sigga leichtsinnige biologische Experimente durchgeführt hatte. Orri sprach noch nicht viel und nannte Dóra immer noch Mama. Wer sie nicht kannte, musste Dóra für ziemlich merkwürdig halten, da sie ihre älteren Kinder scheinbar auf das Jüngste aufpassen ließ und sich noch nicht einmal darum kümmerte, wenn Orri weinte oder nach seiner Mama rief. Aber so war es nun mal, wenn man so früh Oma wurde.

Man konnte also nicht sagen, dass sie nicht mit Matthias zusammenwohnen wollte. Sie fand es nur einfach bequem, ab und zu in ein anderes Leben einzutauchen, ein Leben, in dem alles sauber und ordentlich war, ohne schmutzige Windeln, ohne Pausenbrote, die geschmiert werden mussten, und ohne Klamottenstapel vor der Waschmaschine. In diesem Parallelleben konnte Dóra essen gehen, Cafés besuchen und einfach das tun, wozu sie Lust hatte. Dieses Leben drehte sich ausschließlich um Matthias und sie, zwei erwachsene Menschen, die am Wochenende nicht in aller Herrgottsfrühe aufstehen wollten, um Zeichentrickfilme zu gucken. Dóra kam nur jedes zweite Wochenende in den Genuss dieses Lebens, wenn die ganze Kompanie zu Hannes und seiner neuen Frau übersiedelte. Es gab wenig, was Dóra mehr amüsierte als die aufgesetzte Fröhlichkeit des Wochenendpapas, wenn sie mit der Kinderschar vorfuhr. Sein Lächeln war wie festgefroren, seit sich Sigga kürzlich mit ihrer Mutter überworfen hatte und ganz zu Dóra gezogen war. Gylfis Freundin ließ es sich nämlich nicht nehmen, einfach mit zu Hannes zu fahren, und als der protestieren wollte, sagte Gylfi, wenn Sigga nicht willkommen sei, dann würde er auch nicht mehr kommen. Sein Vater verstummte, und auf einmal war nicht mehr die Rede von zu wenig Platz. Gylfi war achtzehn und musste längst nicht mehr jedes zweite Wochenende zu seinem Vater; er hätte sich schon mit sechzehn weigern können. Dóra bezweifelte, dass Gylfi das wusste, hatte ihn aber auch nicht darauf hingewiesen, damit Vater und Sohn weiter in Kontakt blieben. Und damit sie selbst ein bisschen Luft hatte.

Dóra versuchte, sich wieder zu konzentrieren – auf den Entwurf für eine Teilungserklärung: Ein zweistöckiges Einfamilienhaus sollte in zwei getrennte Wohnbereiche aufgeteilt werden, um den Eigentümer vor dem Schwarzen Loch eines Fremdwährungskredits zu retten, den er in einem Anfall von Optimismus zur falschen Zeit aufgenommen hatte.

Bevor sich Dóra an die Arbeit machte, rief Matthias an. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass er sie während der Arbeitszeit anrief. Im Gegensatz zu Dóra war er sehr gewissenhaft, nahm beispielsweise den Isländischkurs, zu dem er sich angemeldet hatte, sehr ernst. Am Anfang hatte Dóra ihm bei den Hausaufgaben geholfen und der Verlockung nicht widerstehen können, ein paar unanständige Worte in seine Aufsätze zu schmuggeln. Matthias fand solche Scherze überhaupt nicht witzig und lehnte ihre Hilfe fortan ab, woraufhin Dóras Tochter Sóley den Nachhilfeunterricht übernahm. Sóley war erst acht Jahre alt und brachte noch den nötigen Respekt für jede Art von Unterricht auf. Die beiden wurden die besten Freunde, und Matthias konnte sich schon bald auf Isländisch verständigen, auch wenn Dóra und er weiterhin Deutsch miteinander sprachen.

»Was hältst du von einem kleinen Auftrag für die Bank?«, fragte Matthias, nachdem er sich für die Störung im Büro entschuldigt hatte.

»Für die Bank?« Banken hatten doch ein Heer von Experten und Juristen an der Hand. »Was denn für ein Auftrag?« Dóra starrte die Teilungserklärung auf ihrem Bildschirm an. Brauchten die etwa auch so was? Hatte sich das Heer von Anwälten geweigert, sich mit derart langweiligem Kram zu beschäftigen?

»Es geht um eine Erfüllungsgarantie«, antwortete Matthias. »Die Bank bürgt für ein Bauunternehmen, die Firma Bergtækni. Die halten ihren Werkvertrag mit einem britischen Bergbaukonzern nicht ein. Sieht so aus, als wollten die Briten die Garantie in Anspruch nehmen, was zur Folge hätte, dass die Bank zahlen muss.« Er schwieg einen Moment. »Es geht um einen Haufen Geld, ehrlich gesagt, eine Riesensumme – die Bürgschaft läuft in Euro.«

»Und was soll ich dabei tun? Den Bergbaukonzern davon abhalten, sein Geld einzufordern?«

Matthias lachte kurz auf. »Nein, da hättest du wohl keine Chance. Die sind ziemlich hartnäckig. Die wollen Geschäfte machen, keine Kredite vergeben. Selbst wenn sie die Garantiesumme von der Bank bekommen, machen sie noch Verluste. Sie versuchen einfach, den Schaden zu begrenzen.«

»Und was genau soll ich machen? Mich um den Geldtransfer kümmern? Ansprüche geltend machen?« Womöglich war der Fall noch langweiliger als Teilungserklärungen.

»Weder noch«, entgegnete Matthias. »Die Sache ist die, dass Bergtækni weit hinter dem Zeitplan zurück ist. Sie werden die Verzögerung kaum aufholen können. Zumal ihnen auch noch Kapazitäten weggebrochen sind und es nicht so aussieht, als würde sich da in absehbarer Zeit was ändern. Die Mitarbeiter weigern sich, an ihren Einsatzort zurückzukehren, und die Arbeit ist so spezialisiert, dass man auf die Schnelle keine Ersatzleute bekommt. Wir planen, jemanden zum Einsatzort zu schicken, um den Stand der Dinge zu überprüfen, ob die Bank eine andere Firma beauftragen soll.«

»Darf sie das denn?« Obwohl Dóra schon mit Vertragsrecht zu tun gehabt hatte, war noch nie ein Werkvertrag auf ihrem Tisch gelandet.

»Ja. Ich kann dir den Werkvertrag und die Bedingungen für die Erfüllungsgarantie schicken.«

Dóra überlegte. »Habe ich das richtig verstanden, dass dieser Auftrag im Ausland durchgeführt werden soll?« Sie hätte nichts dagegen gehabt, ein paar Tage wegzufahren. Der Winter war extrem kalt gewesen, und obwohl es schon März war, folgte ein Schneesturm auf den nächsten.

»Ja, du müsstest ins Ausland fahren.«

Dóra meinte, an Matthias’ Stimme zu hören, dass das Ziel nicht besonders attraktiv war. Aber im Gazastreifen, Irak, Afghanistan oder anderen Krisengebieten waren bestimmt keine isländischen Bauunternehmen tätig. So schlimm würde es schon nicht sein. »Worum geht es denn bei dem Projekt?«, fragte sie, in der Hoffnung, es handele sich um den Bau eines Hotels in der Karibik. Sie hatte schon seit Ewigkeiten keine Gelegenheit mehr gehabt, sich in ihrem schicken Bikini in der Sonne zu aalen. Warum sollte ein Bergbaukonzern seine Tätigkeitsbereiche nicht ausweiten und sich im Tourismus … –

»Bohrungen, Dóra. Es handelt sich um Testbohrungen und Baumaßnahmen für die Gewinnung von Bodenschätzen im Auftrag von Arctic Mining. In Grönland. Bergtækni hat das günstigste Angebot gemacht und ist seit fast einem Jahr mit Leuten vor Ort. Bisher ist alles reibungslos verlaufen. Aber jetzt ist etwas vorgefallen, und das Team hat sich aufgelöst.«

Grönland. Eines der wenigen Länder, wo es um diese Jahreszeit noch kälter und ungemütlicher war als in Island. Statt Bikini wäre da wohl eher eine Hose aus Seehundfell angebracht. Dóra schluckte ihre Enttäuschung herunter. »Sind die Mitarbeiter noch in Grönland?«

»Nein. Bis auf zwei Männer sind alle wieder in Island. Die beiden sind wahrscheinlich noch vor Ort. Die anderen hatten Urlaub und weigern sich jetzt, zurückzufahren.«

»Was meinst du damit, dass die beiden Männer wahrscheinlich noch vor Ort sind?«

»Sie sind seit zehn Tagen nicht erreichbar, und es gibt dort niemanden, der überprüfen kann, was los ist. Vielleicht ist die Kommunikationstechnik im Camp ausgefallen, aber um das herauszufinden, muss eben jemand hinfahren. Wenn es eine vernünftige Erklärung dafür gibt, können die anderen Mitarbeiter vielleicht dazu bewegt werden, zurückzukehren. Das wäre für die Bank natürlich die beste Lösung.«

»Aber es könnte auch was passiert sein? Die Männer könnten bei einem Unwetter umgekommen sein oder so?«

»Durchaus denkbar«, sagte Matthias. »So was ist schon mal vorgekommen. Vor einem halben Jahr ist eine Geologin aus dem Camp verschwunden, eine junge Frau. Sie gilt als tot. Jedenfalls wurde sie nie gefunden. Wahrscheinlich hat sie sich im Sturm verlaufen und ist erfroren.«

»Du meinst, sie ist spazieren gegangen? Bei Sturm?«

»Das weiß niemand. Sie ist einfach verschwunden, könnte sich auch das Leben genommen haben. Wenn man so isoliert lebt, wird man schnell depressiv.« Dóra schwieg. Schnell fügte Matthias hinzu: »Aber darum geht es gar nicht, das hat nichts mit dem Verschwinden der beiden Männer zu tun. Die sind möglicherweise noch am Leben, vielleicht ist der Sender ausgefallen, und sie konnten ihn einfach nicht wieder in Gang bringen. Alle anderen Möglichkeiten wären allerdings eher … negativer Art. Das Wetter war dort in der letzten Zeit so ähnlich wie hier, nur noch schlimmer. Das können sie nur überlebt haben, wenn sie drinnen waren. Wie auch immer, die Lage ist ernst, sowohl was die beiden Männer als auch was die Interessen von Bergtækni und damit der Bank betrifft.«

»Wäre es nicht einfacher, den grönländischen Rettungsdienst oder die Polizei zu rufen? Das klingt alles ziemlich beunruhigend, und wenn was passiert ist, müssen sich die Behörden doch sowieso darum kümmern.«

»Das Camp liegt in einem unbewohnten Gebiet an der Ostküste. Da gibt es zwar in unmittelbarer Nähe ein kleines Dorf, aber keine Polizeistation, und die Einheimischen sind nicht bereit, für uns oder für Arctic Mining eine Suchexpedition zu starten. Falls die Männer eine Lebensmittelvergiftung haben oder irgendwie erkrankt sind, zählt jeder Tag. Wir können einfach nicht warten, bis die Grönländer aktiv werden.«

»Wenn es sich um eine Krankheit handelt, bin ich aber keine große Hilfe«, gab Dóra zu bedenken. »Und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich dahin möchte, wenn die Männer ernsthaft oder sogar tödlich erkrankt sind.«

»Du würdest ja natürlich nicht allein fahren. In der Gruppe sind noch ein Arzt, ein sehr erfahrener Rettungsmann und eine ehemalige Mitarbeiterin von Bergtækni, die sich vor Ort auskennt. Außerdem noch ein IT-Spezialist, der die Verbindung wiederherstellen soll.« Matthias schwieg einen Moment. »Und ich.«

»Aha.« Das war ein Pluspunkt. Das Land war ein Minuspunkt. Jedenfalls im Winter. »Wann muss ich losfahren, und wie lange soll es dauern?«

»Es geht morgen früh los. Der Wetterbericht ist gut – erstaunlicherweise.« Matthias räusperte sich. »Wir werden versuchen, es so kurz wie möglich zu machen, aber das klärt sich erst, wenn wir da sind. Das Wetter spielt natürlich eine große Rolle.«

»Wo werden wir übernachten?«, fragte Dóra, die schon eine böse Ahnung hatte. In Grönland gab es garantiert kein 5-Sterne-Hotel mit karibischem Flair.

»Im Camp. Falls es da sicher ist. Wenn nicht, müssen wir die Einheimischen um Unterkunft bitten.«

Dóra starrte wieder auf den Stumpfsinn auf ihrem Bildschirm. Vor fünf Minuten hatte sie noch dagesessen und sich über langweilige Aufträge beklagt – und jetzt kam plötzlich ein kleines Abenteuer in Sicht. Sie konnte sich problemlos für ein paar Tage loseisen. Die Referendare mussten in der Zwischenzeit eben ein bisschen weniger im Internet surfen. »Ich komme mit«, sagte sie, »aber erst muss ich die Kinder bei Hannes unterbringen oder meine Mutter dazu bewegen, auf sie aufzupassen.«

»Großartig!« Die Zufriedenheit in Matthias’ Stimme war nicht zu überhören. »Wir können die Sache nachher genauer besprechen. Du solltest vorbeikommen und mit dem Verantwortlichen reden. Der Job ist übrigens echt gut bezahlt.«

»Warum fährt keiner von euren Anwälten?«

»Die haben zurzeit viel zu tun und interessieren sich nicht besonders dafür. Und sie sind sowieso nicht so gut geeignet. Du bist genau die Richtige!«

Dóra war nicht klar, warum Matthias das glaubte. Sie war keine gute Skifahrerin oder Bergsteigerin und hielt nicht viel von Outdoor-Aktivitäten, kurze Spaziergänge bei schönem Wetter einmal ausgenommen. »Äh, diese Männer«, sagte sie, »glaubst du, dass sie tot sind?«

Matthias atmete hörbar ein. »Der eine vielleicht, aber hoffentlich nicht beide.«

»Wie meinst du das?«

»Einem Mitarbeiter von Bergtækni hier in Island ist es ganz kurz gelungen, ins interne Firmennetz zu kommen. Weitere Versuche sind seitdem fehlgeschlagen. Es gab also anfangs noch eine instabile Netzverbindung, die jetzt ganz abgerissen ist. Jedenfalls hat der Mann die neuesten Dateien herausgesucht und ist auf etwas sehr Bemerkenswertes gestoßen: eine Datei, die gespeichert wurde, als das Team das Camp schon verlassen hatte. Der Mann hat sie runtergeladen und an seine Teamkollegen verschickt. Und diese Mail ist der Hauptgrund dafür, dass die Mitarbeiter sich jetzt weigern, nach Grönland zurückzukehren.«

»Wieso?«

»Sieht danach aus, dass einer der Männer noch am Leben ist. Irgendjemand vor Ort ist jedenfalls noch sehr lebendig. Deshalb hat die Sache auch allerhöchste Priorität.«

»Was in der Datei war?!«, hakte Dóra nach.

»Am besten schicke ich sie dir. Lässt sich schwer beschreiben. Willst du das wirklich sehen? Ist nichts für schwache Nerven.«

Natürlich wollte Dóra, und zwar so schnell wie möglich. Sie beendeten das Gespräch, und Dóra wartete ungeduldig auf Matthias’ Mail mit der angehängten WMP-Datei, deren Name sich aus einer unverständlichen Zahlenreihe zusammensetzte. Es konnte kein Datum sein und war wahrscheinlich automatisch von der Kamera vergeben worden. Dóra klickte mit der rechten Maustaste die Datei an und sah, dass sie vor vier Tagen abgespeichert worden war, am 13. März kurz vor Mitternacht.


2. KAPITEL

18. MÄRZ 2008

Der Film war kurz, aber wirkungsvoll. Dóra brauchte eine ganze Weile, um sich darüber klarzuwerden, was da eigentlich aufgenommen worden war. Die Qualität war schlecht, und der Clip erschien in einem sehr kleinen Fenster. Als Dóra versuchte, es zu vergrößern, wurde das Bild so grobkörnig, dass es noch schwerer zu erkennen war. Der Ton wurde von einem leisen, anhaltenden Rauschen begleitet. Bei CSI Miami wäre es kein Problem gewesen, ihn zu verbessern, aber die Kanzlei verfügte leider nicht über die notwendige Kriminaltechnik. Was schade war, denn das, was man durch das Rauschen hören konnte, klang interessant. Der Film war drinnen aufgenommen worden, aber man konnte nicht feststellen, in welcher Art von Raum, denn die Kameraführung war sehr wackelig. Am Anfang tauchten ein Bücherregal und ein Stuhl auf, dann wurde die Kamera sofort auf den gesprenkelten Fußboden gerichtet. Diese Perspektive wurde mehr oder weniger bis zum Ende beibehalten. Außer dem Fußboden waren zwei Füße und Unterschenkel zu sehen. Der Besitzer der Beine lag oder saß auf dem Boden, was an und für sich schon merkwürdig war. Und er schien sich nicht zu bewegen, was das Ganze noch befremdlicher machte. Dem Schuhwerk nach zu urteilen, handelte es sich hierbei nicht um eine feuchtfröhliche Party. Die Füße steckten in dicken isländischen Wollsocken und altmodischen Hausschlappen, die für eine Party höchst ungeeignet waren. Die Person trug Jeans und saß oder lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, die Füße nach außen gespreizt. Dóra hatte den Eindruck, dass es ein Mann war, ohne genau sagen zu können, warum, denn die Größe der Füße und Schuhe war nicht auszumachen.

In den drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden, die der Clip dauerte, zuckten die Beine viermal unnatürlich. Jedes Mal, bevor dies geschah, übertönte ein Zischen das Rauschen und mündete in einen gedämpften Schlaglaut. Dann zuckten die Beine, ein dunkler Nieselregen tauchte kurz auf und verschwand wieder aus dem Bildausschnitt. Dóra war jahrelang dazu gezwungen gewesen, mit ihrem Sohn Gylfi Horrorfilme anzuschauen. Vielleicht interpretierte sie deshalb das Schlimmste in die Szene hinein. Sie hatte den Eindruck, dass entweder eine Leiche zerteilt oder jemand mit einer Axt oder einem schweren Gegenstand erschlagen wurde. Aber Letzteres konnte eigentlich nicht der Fall sein, denn es waren keine Schreie oder Schmerzenslaute zu hören. Nur dieses Zischen, der Schlaglaut – und ein merkwürdiges Kindersummen. Dóra erkannte eine Melodie, konnte den Text aber nicht verstehen. Entweder sang das Kind einfach irgendetwas vor sich hin, oder Dóra hatte die Sprache noch nie gehört. Sie nahm das Telefon und wählte die Durchwahl ihres Kollegen Bragi. »Kannst du mal kurz rüberkommen?« Dóra kniff die Augen zusammen, während sie den Clip zum dritten Mal ablaufen ließ. »Ich bräuchte mal deine Meinung.« Sie stoppte den Film, lehnte sich im Stuhl zurück und überlegte. Es war bestimmt ein Fehler gewesen, die Reise zuzusagen, aber sie konnte immer noch einen Rückzieher machen. Sie ließ ihren Blick über die Unterlagen auf ihrem Tisch schweifen und sah die Papiere des Namensänderungsfalls ganz oben auf dem kleinen Stapel liegen. Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm. Dem Clip nach zu urteilen, war dieser Grönlandfall in der Tat von ganz anderem Kaliber.

»Was ist denn?«, frage Bragi neugierig, als er in voller Pracht in der Türöffnung erschien. Er war sehr groß, bekam mit zunehmendem Alter etwas Bärenhaftes und trug einen dunklen Anzug mit Krawatte. Er gehörte zu der Generation von Anwälten, die es als Schande für ihren Stand ansahen, sich leger zu kleiden. Seine Prinzipien gingen allerdings nur so weit, dass er den Krawattenknoten gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet hatte, wodurch seine Würde ein wenig litt.

»Guck dir das bitte mal an.« Dóra zeigte auf den Bildschirm. »Und dann sag mir, was du davon hältst.« Sie spielte den Film ab und schob ihren Schreibtischstuhl zurück, damit Bragi besser sehen konnte. Er hatte ein Faible für merkwürdige Vorfälle. Dóra wartete, bis die Szene vorbei und das sonderbare Kindersummen verklungen war. »Und? Was sagst du?«

Bragis Augen funkelten. »Wenn das ein Scheidungsfall ist, dann nehme ich ihn sofort an.« Er tastete nach der Maus, um den Clip noch einmal abzuspielen. »Das ist ja Wahnsinn!«

Dóra bremste ihn und erzählte ihm von Matthias’ Angebot und der Herkunft der Videoaufnahme. Bragis Lächeln verschwand, als er merkte, dass es sich offenbar nicht um einen Ehekrieg handelte. »Was glaubst du, was das ist, Bragi?«

»Das ist bestenfalls Körperverletzung. Und schlimmstenfalls Mord.«

»Das glaube ich auch. Ich sollte den Auftrag wohl doch besser ablehnen. Was, wenn der Film in diesem Camp aufgenommen wurde?«

»Ich würde da nicht zu viel reininterpretieren.« Bragi tätschelte ihre Schulter. »Das könnte überall aufgenommen worden sein. Sogar in einem Fitnesscenter.«

»Ich bezweifle, dass jemand in Wollsocken ins Fitnesscenter geht. Was für eine Übung sollte das deiner Meinung nach sein?«

»Das weiß der liebe Himmel. Die machen da doch so allerlei. Ich habe einen Scheidungsfall, der hat seinen Ursprung in einem Fitnesscenter. Der Ehemann war völlig auf seinen Körper fixiert und hat darüber Frau und Kinder vernachlässigt. Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Idiot solche Übungen über sich ergehen lassen würde, um seine Muskelmenge zu vergrößern.«

»Muskelmasse«, korrigierte Dóra automatisch.

»Meinte ich doch.« Bragi schaute Dóra in die Augen. »Das Wichtigste an der ganzen Sache ist, dass wir dadurch bei den Banken einen Fuß in die Tür bekommen. Die haben sonst immer ihre eigenen Anwälte oder beauftragen die großen Kanzleien. Das könnte der Anfang einer lukrativen Geschäftsbeziehung für uns sein. Ganz zu schweigen von der Abwechslung, die du so gern mal hättest.«

Dóra nickte nachdenklich. Natürlich konnte das vorteilhaft für die Kanzlei sein, aber Dóra ging viel eher davon aus, dass die Anwälte der Bank die Grönlandreise einfach abgelehnt hatten und es nur bei einem Einzelfall bleiben würde. Bei anderen Fällen, die man vom wohltemperierten Büro aus erledigen konnte, sähe die Sache bestimmt ganz anders aus. Andererseits wurde die isländische Wirtschaft von dunklen Wolken überschattet, und obwohl Dóra die Geschehnisse in der Finanzwelt nicht so genau mitverfolgte, hatte sie vom Angriff ausländischen Risikokapitals auf die Krone und von der bedenklichen Lage verschiedener isländischer Konzerne gehört. Begriffe, die vor einem Monat noch niemand verstanden und benutzt hatte, waren jetzt in aller Munde, allen voran »Leerverkauf« und »wechselseitige Kapitalverflechtung«. Vieles deutete darauf hin, dass schwere Zeiten bevorstanden, und die brachten meist mehr Arbeit für Anwälte, vor allem im Inkassobereich. Obwohl Dóra es unmöglich fand, Geld einzutreiben, war es sehr wahrscheinlich, dass sie solche Aufträge mit Freude annehmen würde, wenn es erst einmal mit der Wirtschaft bergab ging. »Ich überlege es mir, Bragi.« Höchstwahrscheinlich war dieses Video irgendein Blödsinn aus dem Internet, der überhaupt nichts mit den Mitarbeitern von Bergtækni zu tun hatte. »Am besten informiere ich mich erst mal genauer über den Auftrag, und wenn dieser Clip das zeigt, was wir beide denken, dann gehört das zweifellos nicht in meinen Aufgabenbereich. Dann muss halt die Polizei das übernehmen.«

»Die grönländische Polizei? Da könntest du genauso gut einen Sportverein mit den Ermittlungen beauftragen. Ich meine, das wissen doch alle, dass da grässliche Zustände herrschen. Und das betrifft die Polizei genauso wie alles andere.«

›Grässlich‹ war ein Wort, das Dóras Mutter oft benutzte, wenn sie sehr deprimiert war, und Dóra musste einfach grinsen. »Jedenfalls muss die hiesige Polizei informiert werden. Die können sich dann mit ihren Kollegen in dem grässlichen Grönland in Verbindung setzen.«

Bragi riss die Augen auf. »Hör mal«, sagte er euphorisch, »du musst Bella mitnehmen! Sie passt auf dich auf, und wir können hier gut einige Zeit auf sie verzichten. In Grönland lauern alle möglichen Gefahren.«

Bella würde vermutlich eher dazu beitragen, dass Dóra im Maul eines Eisbären landete, als sie zu beschützen. »Matthias kommt mit, ich bin also nicht in Gefahr.« Dóra lächelte zögernd. »Ich brauche Bella wirklich nicht. Falls ich überhaupt fahre.«

»Doch, meine Liebe, du wirst fahren, und Bella fährt mit!« Bragi war von seiner Idee hellauf begeistert. »Es ist sogar von Vorteil, wenn sie nicht hier ist. Ich muss nämlich einiges erledigen. Es wäre eine große Erleichterung, sie eine Weile los zu sein.«

»Für Bella ist kein Platz mehr im Flugzeug«, behauptete Dóra. »Du kannst ja einfach die Trennwand aufstellen und sie abschirmen, so wie du es letztens überlegt hast.« Sie stand auf. »Und ich werde mich jetzt mal mit diesem Banker unterhalten.«

 

»Und?«, fragte Matthias gespannt, während er Dóra zum Ausgang der Bank begleitete. »Was wirst du tun?«

»Ich werde wohl annehmen. Aber irgendwie bin ich mir nicht ganz sicher«, antwortete Dóra. Der Banker hatte sich als junger, schlanker Mann entpuppt, der so stark nach Rasierwasser roch, dass Dóra sich beherrschen musste, sich während des Gesprächs nicht die Nase zuzuhalten. Sie vermutete, dass er absichtlich so verschwenderisch damit umgegangen war, denn sein Händedruck war schwitzig, und er wirkte hypernervös. Zwischen den Zeilen konnte man heraushören, dass seine Zukunft bei der Bank am selben seidenen Faden hing wie die Bürgschaft. Wenn die Bank zahlen musste, konnte er seinen Hut nehmen. Die Sache hatte nämlich weitreichende Konsequenzen, weil man große Hoffnungen auf das potentielle Bergwerk in Grönland setzte. Man rechnete damit, dass es von Island aus versorgt würde, denn der nächstliegende Ort mit Flughafen war Ísafjörður. Dadurch würden direkt und indirekt Arbeitsplätze geschaffen. Die Anfangsschwierigkeiten hatten jedoch nicht dazu beigetragen, das Vertrauen des Großkonzerns zu gewinnen. Der junge Mann war recht entgegenkommend, und Dóra war sehr froh, dass er die Polizei über den Stand der Dinge informiert und dazu aufgefordert hatte, die grönländischen Behörden einzuschalten. Nur hatten die Interessen der Bank bei den Behörden keine Priorität – geschweige denn bei der grönländischen Polizei. Ziel der Reise war es, die Lage zu sondieren und den Schaden zu begrenzen, falls es hart auf hart käme und der Vertrag mit Bergtækni aufgelöst werden musste. Die Ausrüstung des Bauunternehmens musste gesichtet und der Stand der Probebohrungen beurteilt werden, damit die Bank gegebenenfalls eine andere Firma einschalten oder die Bergtækni-Mitarbeiter davon überzeugen konnte, ins Camp zurückzufahren. Im Team war Panik ausgebrochen, und die legte sich meist, wenn die Vernunft erst einmal wieder Oberhand gewann. Falls vor Ort wirklich etwas Ungewöhnliches vorgefallen war, mussten entsprechende Hinweise gesammelt werden. Das würde der Bank später helfen, zu beweisen, dass es sich um außergewöhnliche Umstände gehandelt hatte. Höhere Gewalt.

Der Begriff ließ Dóra aufhorchen. Höhere Gewalt bedeutete, dass die Vertragspartner von ihren Pflichten befreit werden konnten, da sie ihren Auftrag aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse nicht ausführen konnten. Dóra wusste sehr gut, dass in Grönland kein Krieg tobte, und von Naturkatastrophen oder Streiks hatte sie auch nichts gehört. Aber Verbrechen konnten als Höhere Gewalt gelten, was in Anbetracht des Films durchaus zutreffend sein könnte. Womöglich eine ziemlich spannende juristische Auslegungssache. War das nicht genau das, was sich Dóra am Morgen noch gewünscht hatte? Ein anspruchsvoller Auftrag, bei dem nicht die Gefahr bestand, dass sie ihrem Mandanten während der Sprechstunde aus Wut einen Bleistift an den Kopf warf.

»Ich komme mit, Matthias!«

 

»Welche Farbe haben Grönländer?«, fragte Sóley gähnend. Sie lag im Bett und hätte schon längst schlafen sollen, aber wegen Dóras bevorstehender Reise nahmen sie es mit der Zubettgehzeit nicht so genau. Dóra küsste ihre Tochter auf den blonden Schopf.

»Genau dieselbe wie wir, Schatz. Jedenfalls nicht grün, falls du das denkst.«

»Mama!«, sagte Sóley beleidigt. »Das weiß ich doch! Ich meine, ob sie gelb sind wie Chinesen.«

Nachdem Dóra das Licht in dem rosafarbenen Zimmer ausgeschaltet und einen Moment die zahlreichen schimmernden Teddyaugen betrachtet hatte, ging sie in die Garage. Matthias hatte ihr empfohlen, einen Rucksack mitzunehmen, aber sie besaß keinen – ein Koffer würde es auch tun. Viel schwieriger war es, zu entscheiden, was sie einpacken sollte. Keiner konnte sagen, wie lange sie in Grönland bleiben würden und wie die Umstände vor Ort waren. Am besten, sie nahm einfach von allem genug mit. Als es an der Tür klingelte, musste Dóra ihre Reisevorbereitungen verschieben. Draußen stand ihre Freundin Gugga, breit grinsend schwenkte sie zwei Weißweinflaschen. »Du musst mich reinlassen«, sagte sie, so als würde Dóra ihren Gästen normalerweise die Tür vor der Nase zuschlagen. »Ich hab mir ein neues Auto gekauft, das muss gefeiert werden!« Dóra fielen zwar verschiedene Möglichkeiten ein, einen Autokauf auch ohne Alkohol zu feiern, aber sie lächelte tapfer zurück. Sie wusste genau, dass der Wagen mit einem horrenden Kredit finanziert worden war und Gugga nach sechs Monaten wieder mit einer Flasche vor der Tür stehen würde, um ihren Kummer über den Schuldenberg und das gepfändete Auto im Alkohol zu ertränken. Manchmal musste man eben im Hier und Jetzt leben und sich im Stil König Ludwigs des Vierzehnten amüsieren. Der hätte bestimmt auch einen Autokredit aufgenommen, wenn es zu seiner Zeit so etwas gegeben hätte.

Dóra kam erst zum Packen, als Gugga zu vorgerückter Stunde mit einem Taxi nach Hause gefahren war. Zu diesem Zeitpunkt sah Dóra bereits alles doppelt, und als sie einschlief, völlig erschöpft von der Anstrengung, den übervollen Koffer zuzumachen, konnte sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern, was sie hineingestopft hatte.