Alice Thomas Ellis
Weihnachten am Ende der Welt
Roman
Aus dem Englischen von Herbert Genzmer
Insel Verlag
Weihnachten am Ende der Welt
Es ist den Robbenmenschen nicht gegeben, jemals zufrieden zu sein … denn ihre Sehnsüchte nach dem Land werden Sehnsüchte nach der See, ihre Sehnsüchte nach der See Sehnsüchte nach dem Land.
»Die Inselmentalität«, sagte Eric. Er saß in seinem winzigen Büro, starrte auf den Innenhof des Gasthauses und fragte sich, was er damit gemeint und ob er gerade laut gesprochen hatte. Vielleicht wurde er langsam verrückt.
»Du hast einen Kater«, sagte seine Frau. »Wenn du einen Kater hast, führst du immer Selbstgespräche.«
Eric fuhr zusammen. Seine Frau bewegte sich so leise wie eine Stubenfliege. Sie stand in der Tür, und zum Beweis dafür, wie kalt ihr war, zog sie ihre Strickjacke mit beiden Händen vor der Brust zusammen. »Es ist beschissen kalt«, sagte sie.
»Ich habe in der Bar den Kamin angemacht«, sagte Eric.
»Rausgeschmissenes Geld«, sagte seine Frau. »Kommt sowieso keiner.«
Nicht zum ersten Mal stellte sich Eric jetzt vor, wie er sich wohl fühlen würde, wenn er sie umbrächte. Nicht, wie ihm dabei zumute wäre – obwohl ihm der Akt an sich zweifellos eine momentane Befriedigung gegeben hätte –, vielmehr, wie er anschließend reagieren würde. Wahrscheinlich wäre es ihm in erster Linie peinlich, schließlich war Mord weder respektabel noch kultiviert; er würde sich für den Rest seines Lebens elend und verlegen fühlen, wenn ihn jemand auch nur ansähe. Allein das Getuschle – »Sie müssen wissen, er hat seine Frau umgebracht.« Vor den unmittelbaren Konsequenzen fürchtete er sich nicht, denn er war davon überzeugt, nur ein paar Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen und wegen guter Führung vorzeitig entlassen zu werden. Er könnte für die anderen Sträflinge einen Ingenieurkurs organisieren. Eine ganze Reihe von Männern, die ihre Ehefrauen umgebracht hatten, waren in jüngster Zeit sehr glimpflich davongekommen. Einmal hatte er einen Gast, einen Anwalt aus Edinburgh, über die Schwierigkeiten einer Scheidung befragt. Der hatte ihm davon abgeraten. Es sei heutzutage eine langfristige, teure und zermürbende Angelegenheit mit gegenseitigen Vorwürfen und viel bösem Blut. Schneller und geschickter sei es, die Gattin zu ermorden, dann auf erlittene seelische Grausamkeit, Unzurechnungsfähigkeit oder was auch immer, zu plädieren, seine Schuld an der Gesellschaft zu begleichen, um darauf aus dem Strafvollzug entlassen zu werden, seinen Besitz vollständig vorzufinden und sich keine Sorgen über Unterhaltszahlungen machen zu müssen. Eric war schockiert, aber da der Mann den Tag mit Angeln verbracht hatte und sich gegenwärtig mit ein paar Whiskys aufwärmte, war er bereit, ihm Zugeständnisse zu machen. Der Mann konnte das nicht ernst gemeint haben, denn wenn er tatsächlich von dem überzeugt war, was er da gesagt hatte, dann gefährdete er seine eigene Existenz. Es war allgemein bekannt, dass Anwälte von den rechtlichen Früchten ehelicher Disharmonien fett wurden. Manchmal dachte er darüber nach, dass ein wegen Mordes verurteilter Gastwirt morbides Interesse auf sich ziehen könnte, aber das Rampenlicht war ihm schon immer zuwider, und der Gedanke begeisterte ihn nicht wirklich, auf eine solche Weise zu einer Attraktion zu werden. Abgesehen davon war seine Frau ab und zu doch noch für eine Überraschung gut. Sie hatte eine Art, mit plötzlichem Lächeln aufzublicken, dass sich ihr ganzes Gesicht, ja ihre gesamte Person veränderte. Im Moment schaute sie so mürrisch wie ein Bulle, gelangweilt und ziemlich gefährlich.
»Dann zieh doch deinen Pelzmantel an, Mabel«, sagte er boshaft. Sie hasste es, wenn man Mabel zu ihr sagte, und einen neuen Pelzmantel wollte sie schon lange. Früher einmal hatte er sie Ma Belle genannt. Später, als er sich an sie gewöhnt hatte, rief er sie Maybe und manchmal Maybe Baby, bis zu dem Zeitpunkt, als sie glaubte, ihn gut genug zu kennen und ihn bat, damit aufzuhören. Sie selbst hatte es gern, wenn man Poppet zu ihr sagte. Inzwischen nannte er sie mehr aus Verlegenheit Mab, aber wenn sie zu unausstehlich wurde, dann war's Mabel.
»Was machst du da?«, fragte sie. Er versuchte das Blatt Papier, auf das er geschrieben hatte, zu verstecken, doch sie trat hinter ihn und nahm es ihm aus der Hand. »Hassen Sie Weihnachten?«, las sie mit gezierter Stimme. »Dann vergessen Sie es in einem kleinen Hotel am Ende der Welt …« Eric griff nach dem Bogen, aber sie hielt ihn über ihren Kopf. »Also, ehrlich …«, sagte sie.
»Warum sprichst du mit dieser blödsinnigen Stimme?«, fragte Eric.
»Weil das eine blödsinnige Anzeige ist«, sagte Mabel.
Eric verlor geringfügig die Haltung. Er schob den Stuhl zurück, ohne die Folgen zu bedenken, und verpasste ihr einen heimtückischen Stoß in den Magen, als die Armlehne sich drehte. Es war ein sogenannter Kapitänsstuhl, auf dem er saß.
»Aua«, sagte Mabel mit ungerechtfertigter Wut, bedachte man die Umstände. »Kannst du nicht aufpassen, du Affe?«
»Ich hab' hinten keine Augen«, erklärte Eric und gewann wieder festen Boden unter den Füßen.
»Wenn du mich fragst, hast du vorn auch keine«, sagte Mabel und strich sich über das Zwerchfell.
Eric verlor wieder die Kontrolle über sich. »Gib das her«, schrie er und langte nach dem Blatt Papier.
Erschrocken wich Mabel zurück. »Wag bloß nicht, mich anzurühren«, sagte sie. »Das hab' ich dir beim letzten Mal schon gesagt; solltest du es noch einmal wagen, mich …«
»Das war ein Unfall«, sagte Eric entnervt. »Du weißt ganz genau, dass es ein Unfall war.« Ein kleines Fass Bier war ihm im Hof aus den Händen gerollt, und Mabel hatte ihren Fuß darunter gestellt. So sah Eric das jedenfalls.
»Unfall, von wegen«, sagte Mabel. »Du wusstest ganz genau, dass ich da stand. Ich hab's dir damals gesagt – wenn du mich noch einmal anpackst …«
Das war nur ihr Schuldgefühl, dachte Eric, dass sie ihn so verbissen für den Vorfall verantwortlich machte. Sie war an jenem Tag ganz besonders gemein gewesen. Verhöhnt hatte sie ihn, als er ganz allein mit den vielschichtigen Aufgaben eines kleinen Gastwirts kämpfte; ob er jetzt endlich zufrieden sei, hatte sie gefragt, dass er sie aus ihrem luxuriösen Heim in Telford gerissen und sie hier fernab einer Menschenseele, mit der man sich unterhalten konnte, und ohne jedwede Vergnügungen, in den Fängen der atlantischen Stürme abgeladen hatte.
Es war zum Teil wegen der Leute, mit denen sie sich unterhalten, und der Lokalitäten, die sie aufgesucht hatte, dass Eric sich einen langgehegten Wunsch erfüllt und ein Gasthaus am Ende der Welt gekauft hatte. Denn, es war nicht so, dass sie sich damit begnügt hätte, sich mit den glatten, geschniegelten Vertretern zu unterhalten, die Terrasse und Wohnzimmer dessen bevölkert hatten, was der Makler als freistehendes Luxushaus bezeichnete. Es war auch nicht ihre Art, am damaligen Ort, den sie heute als »Zivilisation« bezeichnete, Museen, Theater oder Galerien zu besuchen. Nein, in zweifelhafte Spelunken war sie gegangen, ihre Gesundheit hatte sie gefährdet. Und behauptete obendrein, dass sie ihre gesamte Freizeit in den Dienst seiner Karriere gestellt und sich nur für ihn mit einflussreichen Leuten abgegeben hatte. Das alles war so absurd, dass er nicht einmal Worte gefunden hatte, um sie zu widerlegen, und es war sehr gut möglich, dass Mabel heute selbst an all das glaubte. Er hatte zu lange damit gewartet, ihr zu sagen, dass sie Unsinn redete, und dadurch, dass er sie ohne die nötige Erklärung von dort weggebracht hatte, hatte er sich selbst ins Unrecht gesetzt. Sie hielt ihn für exzentrisch, gefühl- und verantwortungslos – ohne jede erotische Ausstrahlung –, und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte seine Frau. »Fass mich bloß noch mal an …« Gelangweilt ließ sie das Blatt Papier auf den Tisch fallen und strich sich im Weggehen schlechtgelaunt über ihre Magengrube.
Jetzt hasste Eric seine Annonce. Er fühlte sich bloßgestellt und beschämt, als hätte er ein zärtliches, geheimes Gedicht über seine Seele geschrieben und seine Frau hätte sich darüber auf dem Marktplatz lustig gemacht. Er zerknüllte das Papier, ging über die schmale Straße bis zur Klippe und warf es in die Wellen.
Draußen im Meer war eine graue Robbe. Er beobachtete sie und hatte das Gefühl, auch von ihr beobachtet zu werden, wie sie den Kopf für einen Moment aus dem Wasser reckte, aus diesem Wasser, das wohl ganz bestimmt bis ans Ende der Welt reichte.
Wie gewöhnlich war Eric abends weniger melancholisch. Selbst unter Folter hätte er niemals zugegeben, dass er sich manchmal von der grauen Leere des Ozeans erdrückt fühlte, von der Weite des Himmels mit seinen blinkenden, kalten Sternen. Dafür hatte er also die Enge der Midlands verlassen, den grauenerregenden Komfort moderner Häuser, in denen die Badezimmer keine Fenster hatten und Begonien in Blumenkästen wuchsen. Er war hierher in diese zeitlosen Räume auf der Suche nach Frieden gekommen, aber er verdiente nicht genug, und manchmal glaubte er, man habe ihn hereingelegt, – was übrigens tatsächlich zutraf. Der Vorbesitzer hatte ihn belogen, ihm eine ungenaue Veranschlagung der Einnahmen durch Touristen gemacht und ihm eine völlig falsche Schätzung des durchschnittlichen Jahresgewinns gegeben. Irgendwie hatte er das damals geahnt, ja, er hatte es gewusst, aber darauf verzichtet, es in Betracht zu ziehen. Er wollte den Pub zu sehr, um sich von den Nachteilen abschrecken zu lassen, und so verübelte er dem vorigen Besitzer seine Unehrlichkeit nicht einmal; damit musste man ohnehin rechnen. Worüber er sich jedoch aufregte, war die Gleichgültigkeit, mit der Land und Meer ihn umgaben. Wäre er entschlossen genug gewesen, seine Gefühle zu analysieren, hätte er festgestellt, dass er sich darüber ärgerte, wie sie ihn ignorierten. Sie waren einfach da. Er hätte Gott-weiß-wer sein können. In Erwartung einer Liebesaffäre mit Land und Meer war er hier angekommen, aber seine Liebe blieb unerwidert, und jetzt starb sie. Manchmal hatte er Angst, denn er war ein rationaler Mann, und rationale Männer weichen auch der Einsamkeit nicht aus. Rationale Männer geben dies aber niemals zu, denn sie haben Wichtigeres im Kopf.
Er schloss die innere Tür der Bar gegen den Wind vom Meer und trat gegen den funkensprühenden Holzscheit auf dem Kaminrost; die roten Schirme der Lampen schufen eine Illusion von Wärme, und seine ersten beiden Whiskys lieferten ihm die dazu passende Wirklichkeit. Mabel saß auf ihrem Stammplatz an der Bar. Nicht dahinter, wie er es sich naiverweise vorgestellt hatte, als sie Telford verließen, sondern auf einem Barhocker, mit einer Hand zog sie noch immer die Strickjacke zusammen, in der anderen hielt sie ein Glas. Da nur ihr Mann und der Bootsführer anwesend waren, hatte sie ihren Rock über die Knie gezogen, um sie gegen die Kälte zu schützen.
Der Bootsführer sprach. »Ja, ja«, sagte er, »nich viel Leute da für die Jahreszeit.«
»Finlay«, sagte Eric, aufgebracht über diese unnötige Bemerkung, »es ist Oktober. Natürlich sind nich viel Leute da. Die Saison ist vorbei.«
Finlay, ein hochgewachsener Schotte mit einer großen schottischen Nase und einer Stirn, die eher geologisch als anatomisch war, sprach unbekümmert weiter. Wenn der freundliche Eingeborene versucht, einem Außenseiter die Sitten seines Landes zu erklären, tut er das gewöhnlich mit einer Miene, auf der sich bescheidener Stolz mit selbstverachtender Zurückhaltung verbindet, denn obwohl er seine Traditionen schätzt und auch liebt, kann er sich doch nicht vorstellen, dass sie für Fremde wirklich interessant sein können, denn die kommen – das ist hinlänglich bekannt – aus einer größeren und verfeinerten Welt. So oder ähnlich denkt sich das der Unschuldige auf jeden Fall. Finlay hatte diesen Gesichtsausdruck nicht! Finlay schien den Fremden mit leicht amüsierter Geringschätzung zu betrachten. Er machte den Eindruck, als wüsste er, was er wusste, und als scherte er sich einen Dreck um die Erfahrungen oder Meinungen des Außenseiters – wie auch immer die aussehen mochten. Wie er sich so warmredete, wurde sein Akzent nahezu unergründlich; egal: »Als Allan Maclean den Laden hier noch hatte«, sagte er, »da ham die Leute in Massen aufm Boden kampiert.«
»Wieso?«, fragte Mabel, jetzt, nachdem sie auch ihre ersten Whiskys getrunken hatte, mit besserer Laune.
»Weil alle Zimmer voll warn«, sagte Finlay.
»Wieso?«, fragte jetzt auch Eric. »Wieso war es hier im Oktober so voll?«
»Wegen der Jagd«, sagte Finlay. »Wegen dem Wild.«
»Was für Wild?«, fragte Eric und hatte wieder dieses Gefühl, ausgeschlossen zu sein, etwas nicht zu verstehen. Soweit er das verstanden hatte, waren bestimmt zwei Jahrhunderte vergangen, seit Allan Maclean den Gasthof besessen hatte.
»Also, die Insel war voll mit allen möglichen Tieren«, sagte Finlay, der zweifellos übertrieb. »Rebhühner und Auerhähne, Fasane, Enten und Rotwild.«
»Davon habe ich hier noch nichts gesehen«, sagte Mabel. »Das Einzige, was ich sehe, sind pockige Möwen.«
»Es gibt auch Austernfischer«, sagte Eric verteidigend, »und Kormorane, und Enten habe ich schon gesehen.«
»Was ist denn aus dem ganzen Wild geworden?«, fragte Mabel. »Ich vermute mal, sie haben sie alle abgeschossen.« Ihre Stimme wurde spöttisch, und Finlay warf ihr einen kurzen gleichgültigen Blick zu.
»Zeiten ändern sich«, sagte er unwiderlegbar.
»Wir könnten alles wieder aufzüchten«, sagte Eric. »Ein paar Hennen vom Festland, ein Pärchen Rotwild …«
Niemand griff den Faden auf, und das Gespräch erstarb für einen Moment, bis Erics Whiskys seinen Lebenswillen wiederhergestellt hatten.
»Finlay«, sagte er, »wenn ich, sagen wir, ein halbes Dutzend Gäste über die Weihnachtsfeiertage bekomme, glaubst du, deine Schwägerin würde kommen und mir zur Hand gehen?«
»Klar«, sagte Finlay, »klar, das würd' se machn.«
Niemanden erstaunte die Zusage im Namen der Dame. Finlays Schwägerin wurde ständig irgendwo ausgeliehen, wie ein Rasenmäher oder ein landwirtschaftliches Gerät, das zu wertvoll ist, um ständig von nur einer Person oder Organisation besessen zu werden. Sie stand in jeder Art von Krise zur Verfügung, scheuerte die Rücken der Bettlägrigen, bewachte die Sterbenden, hütete die Kinder der Mütter, die nach Glasgow durchgebrannt waren, um sich dort auszutoben, und sie half im Gasthof – entweder hinter der Bar oder hinter den Kulissen, machte die Betten, buk Teegebäck und putzte die Zimmer. Finlay achtete darauf, dass ihre Nützlichkeit gut vergolten wurde, denn seine Schwägerin lebte bei ihm und seiner Frau, und er war für sie verantwortlich.
»Klar«, sagte Finlay wieder, »sag mir einfach, wann du se willst.«
»Wenn der Mond aus grünem Käse ist, würde ich sagen«, sagte Mabel.
»Ich werde eine Anzeige in einige der Londoner Wochenblätter setzen«, erklärte Eric, dessen Mut wieder gewachsen war, seitdem die Nacht den Tag verdrängt hatte und das Gasthaus, geschlossen und gut abgeschottet gegen die Gleichgültigkeit der Wildnis, auch sehr gut ein kleines Boot hätte sein können, das auf ewig seetüchtig durch die Unendlichkeit tänzelte. Ich leide ganz sicher unter Agoraphobie, dachte Eric, aber er sagte: »Wir alle haben doch schon gehört, wie Leute über Weihnachten stöhnen, dass sie nicht feiern, sondern sich ein kleines Hotel am Ende der Welt suchen wollen, um die ganze Angelegenheit zu ignorieren. Bitte, und ich gebe ihnen Gelegenheit dazu. Es muss Tausende solcher Leute geben!«
»Für die alle hast du aber keinen Platz«, sagte Mabel.
»Ich werde nur die ersten sechs annehmen«, sagte Eric mit der ruhigen Würde, die ihm der dritte Whisky verlieh.
Mabel starrte ihm ins Gesicht und fragte sich, ob das eine Antwort wert sei. Dann entschied sie sich dagegen: einen solchen Streit gewann immer derjenige, der am lautesten schreien konnte, und da sie wusste, dass sie das war, schien es den Aufwand nicht wert.
Ein Mann, der früher Bauer gewesen war, kam auf ein Bier aus der Dunkelheit herein. Er hatte sein Vieh verkauft, nachdem sich sein kleiner Landbesitz als unrentabel erwiesen hatte. Jetzt wartete er die Traktoren anderer Leute, fing Hummer in Töpfen und animierte Inselbesucher dazu, in seinem gebraucht gekauften Campingwagen zu übernachten, den er auf einem brachliegenden Feld aufgestellt hatte. Eric ärgerte sich über diese Unternehmungen, da er als Neuer auf der Insel nicht in der Lage war, seine Energien in ähnlicher Weise zu streuen. Er glaubte im Stillen, hier voll akzeptiert zu sein, solange er sich darauf beschränkte, wenn auch in gewisser Weise unwillig, den Gasthof zu führen. Begänne er jedoch mit der ansässigen Bevölkerung durch die Anwendung seiner technischen Fertigkeiten in Konkurrenz zu treten oder dadurch, dass er Hummer fing, so glaubte er, geschähen unangenehme Dinge. Er war ziemlich empört und hielt es für unfair, dass zwar die Inselbewohner Reisenden Unterkünfte anboten, die sonst im Gasthaus abgestiegen wären, wie es sich gehörte, er aber nicht die Gelegenheit bekam, sein Einkommen aufzubessern. Das hatte, so glaubte er, etwas mit der Inselmentalität zu tun.
Am selben Abend, nach Geschäftsschluss, schrieb er seine Anzeige erneut nieder, und am nächsten Tag schickte er sie an die verschiedenen Zeitungen, die er für geeignet hielt.
»… Gasthaus am Ende der Welt …« las Harry. Er hatte jedes Wort des Spectator gelesen, wie gewöhnlich hatte er auf der letzten Seite begonnen und war ihn wie ein Araber von rechts nach links durchgegangen. Er wollte das Preisrätsel lösen, hatte diese Fingerübung aber aufgegeben. Jetzt las er die Kleinanzeigen. Die Überbleibsel seines Frühstücks – Eierschalen, Brotkrumen und Bitterorangenmarmelade, den Teesatz – hatte er mit peinlicher Genauigkeit beseitigt und das Geschirr mit kaltem Wasser abgewaschen. Er war Soldat, diszipliniert und ordentlich, und solange er sich erinnern konnte, traurig. Gleich würde er den Mantel anziehen und seinen täglichen Spaziergang im Hyde Park machen. Anschließend, denn es war Donnerstag, würde er in seinem Club zu Mittag essen. Gelegentlich, oder vielleicht jeden Tag, dachte er über den Tod nach, aber da er Christ und Soldat war, kam für ihn Selbstmord nicht in Frage.
Die Verehrung und auch der Neid, die er für General Gordon empfand, der relativ jung gestorben war, wenn auch auf eine möglicherweise nicht beneidenswerte Art – aber was bedeutete schon das Wie bei einem so erstrebenswerten Ergebnis –, hatten ihn veranlasst, sich an einem Essay über die letzten Tage von Khartum zu versuchen. Der Aufsatz war länger und länger geworden und hatte sich auf alles erstreckt, was er über Charles George Gordon herausfinden konnte, und so war er nun, zu seiner eigenen Überraschung, auf dem besten Weg, ein Buch zu schreiben. Das war zwar nie seine Absicht gewesen, doch bald hatte er festgestellt, dass dies eine Tätigkeit war, die, so gut wie jede andere auch, die endlosen Stunden ausfüllte; eigentlich fast noch besser als viele andere. In ihm war eine Leere, von der er einstmals geglaubt hatte, sie ließe sich durch Liebe oder Glück oder Frieden füllen. Er hatte gelernt, dass sie sich lediglich verringern ließ, zusammenziehen, bis das Vakuum nicht mehr existierte und er gesund und heil wäre. Und das konnte nur der Sensenmann schaffen, aber das Schreiben half ein wenig.
Vor Weihnachten graute ihm nicht mehr als vor jeder anderen Zeit, und »grauen« war nicht das richtige Wort für seine Art, das Leben zu betrachten. Es war mehr ein mattes Erstaunen darüber, in eine solch scheinbar sinnlose Existenz eingebunden zu sein. Sein Glaube half lediglich, die Bestürzung zu erhellen und in gewisser Weise zu definieren: der Glaube offenbarte die Gegenwart eines Fensters, das sich zur Freiheit öffnete. Aber das Fenster war vergittert– und es war der Glaube selbst, der dem Gitter seine Form gab.
»Mein Gott«, sagte Harry, als alte und halbvergessene Bilder der Insel durch seine Erinnerung trieben. Ohne genau zu wissen warum, zog er Papier und Umschlag aus seiner Schreibtischschublade und schrieb an Eric.
Jessica nahm ihr Frühstück im Stehen ein, denn es kam ihr lächerlich vor, allein an einem Tisch mit Essen zu sitzen. Allein zu essen, war schon absurd genug, fand sie, selbst wenn es sich nicht um eine richtige Mahlzeit handelte. Sie zerpflückte eine Pampelmuse in ihre Einzelteile und spuckte die Kerne in den Aschenbecher. Das tun zu können, war einer der Vorteile, wenn man allein aß, denn man wurde dabei nicht von irgendeinem Mann schief angesehen. Im Moment genoss sie es, solo zu sein, war sich aber nicht sicher, wie lange das anhielte. Gegenwärtig hatte sie hauptsächlich Angst davor, sich zu betrinken und Mike zu bitten, zu ihr zurückzukommen. Was auch immer dabei herauskäme, das Ergebnis wäre verheerend. Lehnte er es ab, würde das ihren Stolz verletzen, willigte er ein, begänne die gesamte traurige Affäre von vorn. »Pfui Teufel«, sagte Jessica. Sie öffnete den Kühlschrank in der Hoffnung auf eine Flasche Apfelsaft. Es war keiner da, und sie trank ein wenig Milch direkt aus der Tüte. Dann dachte sie darüber nach, was sie als Nächstes tun sollte. Natürlich könnte sie jederzeit ihre Agentin besuchen, die solche kleinen Aufmerksamkeiten anscheinend schätzte. Jessica konnte sich noch nicht recht daran gewöhnen, von Agenten mit freudigen Rufen begrüßt zu werden, da sie sich nur zu gut an die Zeiten vor ihrem Erfolg erinnerte, als diese Leute ständig in Besprechungen waren, wenn sie anrief, oder durch unbeschilderte Türen davonflitzten, wenn sie persönlich in ihren Büros vorsprach. Im Vorzimmer war immer eines von diesen vielseitig verwendbaren jungen Mädchen, wie man sie überall im Verlagswesen, in der Werbung und in Werbeagenturen antraf. Lügnerinnen; eine wie die andere. Böse Welt, dachte Jessica streng, die all diesen voneinander nicht zu unterscheidenden jungen Frauen beibrachte, derart zu lügen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber darum brauchte sie sich jetzt nicht mehr zu sorgen, denn sie war berühmt – nun, ziemlich berühmt. Sie erhielt große Summen dafür, in Werbespots zu erscheinen oder ihnen nur ihre Stimme zu leihen, und ihre Agentin liebte sie dafür. In Film und Fernsehen war sie ebenfalls erfolgreich; aber aus irgendeinem Grund dachte sie, immer wenn sie sich beruhigen musste, an die enormen Beträge, die man ihr dafür zahlte, um Seife oder Tee anzupreisen. Gleichzeitig glaubte sie, dass eine ernsthaftere Person sich dafür schämen oder diese Tätigkeit zumindest heimlich missbilligen würde, während es ihr nur ein Gefühl von Befriedigung gab, von allgemeiner Anerkennung. Sie stellte eine Haushaltsstimme und ein Haushaltsgesicht vor, wenn nicht sogar einen Begriff dafür. Das Wissen darum beruhigte und amüsierte sie. Mike hatte deutlich ausgesprochen, wie sehr er diese Werbespots verachtete, was einer der Gründe dafür war, dass sie ihm den Kaffee ins Gesicht gekippt hatte. Dann hatte er sie verrückterweise beschuldigt, Starallüren zu haben. Nur eine Schauspielerin brächte es fertig, so etwas Lächerliches zu tun. Er sagte, sie sei eine Angeberin. Jessica fand das unsinnig, und es machte sie rasend, denn jede Frau mit Verstand, egal, ob sie Kellnerin, Ehefrau oder weiß der Teufel was war, hätte dasselbe getan. Daraufhin hatte sie beschlossen, dass sie nicht zueinander passten, obwohl sie gestehen musste, dass es Mike war, der seine Sachen gepackt hatte und gegangen war. Durch den überstürzten Aufbruch hatte er jedoch einiges zurückgelassen. Jeden Tag überlegte sie, ob sie es ihm mit einem Lumpensammler schicken und ihm damit zeigen sollte, was sie von ihm hielt, oder ob sie warten sollte, bis er vorbeikäme, um es sich abzuholen, und dann sehen, wie er sich herausreden würde. Das war ein Problem.
Draußen fiel ein schäbiger Novemberregen, der die Aussicht auf einen Spaziergang nicht gerade verlockend erscheinen ließ. Andererseits, was sollte sie tun, bliebe sie daheim? Die Proben für ein Stück begannen erst im neuen Jahr, und das war noch lange hin. Also hatte sie in der Zwischenzeit nichts weiter zu tun, als sich selbst im Fernsehen zuzuschauen oder zuzuhören (das hatte Mike auch verrückt gemacht). Vielleicht fand ihre Agentin etwas, das sie nicht zu sehr beanspruchte, während sie wartete. Sie hasste diese Warterei. Sie hatte Angst. Sie betrachtete sich im Spiegel über dem Kamin und fragte sich, ob sie dem Klischee einer Schauspielerin tatsächlich entsprach, die sich unwirklich fühlte, wenn sie nicht auf der Bühne stand. Nein!, entschied sie, denn sie hatte in eben diesem Beruf gelernt, dass Ehrlichkeit die Voraussetzung für Leistung ist. Sie war nichts weiter als eine Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen worden war. Warum sie das so verängstigte, wusste sie nicht. Es hätte sie verständlicherweise wütend oder traurig machen sollen, aber sie empfand Angst. Sie sah dem Kaffee beim Durchlaufen zu, als sie darüber nachdachte, denn irgendetwas zu tun war besser, als nichts zu tun. Wenn Mike tatsächlich der Grundpfeiler ihrer Existenz gewesen war, überlegte sie, dann schien es nur natürlich, dass ihr Selbstvertrauen zumindest erschüttert wurde, als er sich zurückzog – und Selbstvertrauen war ihr Kapital. Aber es fühlte sich nicht so an, denn das Vertrauen in ihre Fähigkeiten blieb unerschüttert. Wahrscheinlich war sie einfach daran gewöhnt, die Hälfte eines Paars zu sein, entschied sie enttäuscht. Da sie zweimal Ehefrau und oftmals Geliebte gewesen war, erschien es ihr ungewohnt, allein zu sein. Es war ein trübes, atavistisches Überbleibsel, das ihr das Leben schwer machte, ein primitiver Instinkt, der sich aus den Zeiten gehalten hatte, als es besser war, wenn es zwei gab, als es zweckmäßig schien, dass einer jagen ging, während der andere Nüsse und Beeren sammelte und das Baby vor dem Wüten des Säbelzahntigers beschützte. Aber ich habe kein Baby, und es gibt keine Tiger mehr, sagte sie sich. Und ihr zwei wärt nichts weiter als Teil eines großen Stamms, und es ginge mir gewaltig gegen den Strich, Teil eines Stamms zu sein. Teil einer Besetzung zu sein, machte allerdings einen Unterschied.
Diese Überlegungen ermüdeten Jessica, und so begann sie den Privatdetektiv zu lesen. Sie fing mit den Kontaktanzeigen an. Es war reiner Zufall, dass ihr beim Umblättern das Wort Weihnachten ins Auge sprang und sie Erics Anzeige las. Aus dem Verlangen, etwas Konstruktives zu tun, rahmte sie die Anzeige mit ihrem Augenbrauenstift ein, dann zog sie sich an. Beim Schminken fiel ihr auf, dass ihr Augenbrauenstift durch den Missbrauch stumpf geworden war, und sie spitzte ihn fröhlich an, denn auch das bot ihr die Gelegenheit, etwas zu tun. Sie nahm ihren Mantel, fuhr mit einer Hand in den Ärmel, zog sie aber wieder heraus. Es regnete immer noch, und sie hatte ihren Regenschirm irgendwo liegengelassen. Sie drehte das Radio an und hörte den Ansager den Morgengottesdienst ankündigen. Sie schaltete es wieder aus, denn auf den anderen Sendern würden sie doch nur Liebeslieder spielen.
Auf ihrem Kaminsims standen bereits mehrere Einladungen zu Weihnachtsparties. Die Vorstellung bereitete ihr ein Gefühl von mildem Ekel, und sie ärgerte sich über die hartnäckige Anwesenheit dieser Karten. Sie mussten beantwortet werden, und wenn sie zusagte, dann musste sie auch erscheinen, lehnte sie ab, musste sie über Ausreden nachdenken, ihr Beruf hatte sie gelehrt, solche Dinge sorgfältig zu behandeln. Leute zu brüskieren – ob nun ihr Publikum oder solche, die mit den Aufträgen zu tun hatten –, könnte die Karriere beeinträchtigen. Ihr Ärger wuchs, bis sie dann einen Briefbogen und einen Umschlag vom Schrank unter dem Telefon nahm und eine Antwort auf Erics Anzeige schrieb. Da habt ihr's, sagte sie zu den blassgesichtigen Einladungskarten, jetzt kann ich zu keiner von euch kommen. Das verschaffte ihr eine solche Befriedigung, dass es ihr gelang, beide Arme in ihren Mantel zu schieben und sich selbst durch die Eingangstür auf die regnerische Straße, um den Brief einzuwerfen. Es dauerte eine Weile, bis sie ein Taxi fand, doch schließlich gelangte sie zum Büro ihrer Agentin.
»Jessica«, sagte die Lügnerin, die bei ihrer Agentin angestellt war, »du bist ja völlig durchnässt.« Das war zweifellos richtig.
»Sie haben's nicht lange genug im Kühlschrank gelassen«, sagte Jessica, die in der Gegenwart dieser Befehlsempfänger, die irgendwie mit ihrem Beruf zu tun hatten, immer eine Haltung von Munterkeit und Originalität behielt. »Hätten sie all diese Regentropfen ein bisschen länger gefroren, dann hätten sie sich in Schneeflocken verwandelt, und es sähe reizend aus, wie sie in meinem Haar glitzerten.«
»Du bist immer wunderschön«, sagte die Lügnerin, die diesen Gedankengang nicht wirklich nachvollzogen hatte. »Es ist gerade jemand bei ihr, aber es dauert nicht lange.«
Jessica nahm Platz, öffnete ihre Privatdetektiv-Illustrierte und begann die Rubrik Wahre Geschichte zu lesen, denn die Lügnerin hatte zu tippen begonnen.
Eine Tür öffnete sich, und sie hörte die leicht angehobene Stimme ihrer Agentin. »… und wenn es noch weitere Faxen gibt, Jon«, sagte sie, »dann will ich nichts mehr damit zu tun haben.«
Ein junger Mann trat durch die Tür. »Von jetzt an werde ich brav sein. Auf Wiedersehen.« Als er Jessica sah, sagte er »Jessica«, als wäre er ihr bester Freund.
Ihre Agentin rief ebenfalls »Jessica?«, und Jessica, hin und her gerissen, bewerkstelligte es, dem jungen Mann ein Lächeln frohen Wiedererkennens zuzuwerfen – soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn noch nie im Leben gesehen –, während sie gleichzeitig aufsprang, um ihre Agentin zu begrüßen und zu umarmen.
»Darling«, sagte ihre Agentin, wie zu erwarten, »wie schön, eine vernünftige Person zu sehen. Manche Leute …«
»Der schöne junge Mann?«, fragte Jessica mitfühlend, denn sie wusste, dass Agentinnen sehr viel aushalten mussten.
»Er ist ein Alptraum«, sagte ihre Agentin. »Irgendwie mag ich ihn ganz gern, aber immer gerät er in Schwulitäten und verscherzt es sich mit allen.«
Jessica war das alles völlig gleichgültig, aber sie wusste, dass Agenten sich anfänglich immer mit großem Interesse ihren Kunden zuwendeten, für den Fall, dass irgendein merkwürdiger Umstand sie nach oben katapultierte.
»Aber vergessen wir ihn«, sagte die Agentin. »Wie geht es dir? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
Das konnte höchstens wegen Mikes Abtrünnigkeit sein, denn ansonsten gab es in Jessicas Leben keine unerfreulichen Ereignisse, die Anlass zur Sorge geboten hätten. Wenigstens hoffte sie das. Besorgnis, die niemals weit entfernt vom Leben eines Künstlers ist, rührte sie vage an. Hatte sich ein Regisseur abschätzig über sie geäußert? War eine Produktionsfirma zu dem Entschluss gekommen, nichts mehr mit ihr zu tun haben zu wollen? Aber sie unterdrückte diese Zweifel und sagte, ihre Agentin sei süß, habe aber keinen Grund, beunruhigt zu sein. Einer der merkwürdigen Aspekte dieser Art von Leben, dachte sie, war die unerhörte Offenheit. Niemand hatte ein Geheimnis. Jeder in ihrer Welt schien umgehend zu wissen, was jeder andere vorhatte. In gewisser Weise war das eine Erleichterung, denn war es auch einerseits um seines Stolzes willen nötig, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, so gab es doch andererseits keinen Grund zur Verstellung.
»Ich mache mir nicht vor, dass ich ihn nicht vermisse«, sagte sie, denn obwohl sie es eigentlich nicht tat, wusste sie doch, dass ihre Agentin ihr nicht glauben würde, »aber es ist irgendwie wunderbar, mal wieder die ganze Wohnung für mich allein zu haben. Immer wenn er sich eine Tasse Tee machte, trug er zwei Löffel Zucker von dort, wo der Zuckertopf gerade stand, bis dahin, wo seine Tasse stand. Im Sommer hatten wir Ameisen«, fügte sie hinzu. Es war ihr in den Sinn gekommen, dass die Zuckerspuren der Grund dafür waren. »Und …«, fuhr sie fort, »er hat sich immerzu an den Eiern gekratzt.« Das war ein weiterer Grund, warum sie den Kaffee über ihn gekippt hatte. So gut wie sie ihn kannte, schien es irgendwie geschmacklos, sich offen mit ihm über diese Angewohnheit auseinanderzusetzen.
»Das kann ich nicht ertragen«, stimmte ihre Agentin zu. »Es ist fast schlimmer als Nasebohren.«
»Das hat er auch getan«, sagte Jessica.
»Wie gut, dass du ihn los bist«, stellte ihre Agentin fest. »Was kann ich für dich tun?«
»Nichts«, sagte Jessica. »Ich kam zufällig vorbei.« Seit sie das Haus verlassen hatte, war ihre Angst verschwunden. Es machte ihr nichts mehr aus, auf das neue Jahr zu warten, und jetzt war ihr auch nicht mehr einsichtig, warum sie sich Arbeit suchen sollte, wo sie doch kein Geld benötigte. Sie glaubte unter einer zuvor nicht diagnostizierten Klaustrophobie zu leiden und beschloss, einen Psychiater aufzusuchen, sollte sie dieses Gefühl wieder überwältigen. »Ich fahre Weihnachten weg«, sagte sie, »sollte ich dich also nicht mehr sehen, bevor ich fahre, dann rufe ich an, sobald ich zurück bin.«
Sie sagte nichts weiter über ihre Reise, und ihre Agentin stellte keine Fragen: Sie wusste über die Angelegenheiten ihrer Klienten nicht dadurch Bescheid, dass sie sie befragte, sondern durch die Gerüchteküche. Im Laufe der Zeit würde sie haargenau erfahren, wie Jessica Weihnachten verbracht hatte. Sie war nicht einmal besonders versessen darauf, aber sie wusste, sie würde es erfahren.
Als sie ging, sah sich Jessica nach ihrer Ausgabe vom Privatdetektiv um, aber sie war verschwunden. Auf der Suche nach einem Taxi dachte sie, wie seltsam es doch war, mit Menschen die intimsten Details ihres Liebhabers zu besprechen, während man gleichzeitig die Notwendigkeit verspürte, vor ihnen die Tatsache verborgen zu halten, dass man Weihnachten in einem kleinen Hotel am Ende der Welt verbrachte.
Als Jon wie gewöhnlich in seinen Pub ging, stießen die Stammgäste an der Bar wie gewöhnlich einen Seufzer aus. Wie gewöhnlich wertete Jon das als freundliche Zuwendung. Er war überzeugt, dass seine Schönheit und seine Persönlichkeit in anderen nur Eifersucht erzeugen konnten, aber war großmütig genug, es ihnen zu verzeihen.
»Hallo, Jon«, sagte einer, »wie geht's Kenny und Emma?«
Jon ignorierte das. »Doppelten Brandy«, sagte er zum Kellner. »Ich habe Grund zum Feiern«, sagte er, ohne dabei jemanden Bestimmten anzusprechen. Er war erfreut, nicht weil Jessica ihn erkannt hatte, denn damit hatte er in jedem Fall gerechnet, sondern vielmehr weil das Schicksal es so gut mit ihm gemeint und sie beide wieder zusammengebracht hatte.
»Grund zum Feiern?«, fragte einer, lächelte höhnisch und zwinkerte seinem Nachbarn zu.
»Guten Job gekriegt«, sagte Jon. Er führte nicht weiter aus, dass das bedeutete, mit dem Kopf nach unten aus einem Fenster zu hängen, während eine tiefere Stimme als seine eigene die Vorzüge einer Substanz anpries, die, großzügig verwendet, dem erwähnten Fenster einen überirdischen Glanz verliehe. »Und ich verbringe Weihnachten mit Jessica«, fügte er hinzu. Bis jetzt, da er es aussprach, hatte er keinen Zweifel daran gehegt, dass Jessica sich tatsächlich an dem Ort aufhalten würde, den sie so bestimmt mit Schwarz angestrichen hatte. Warum sonst sollte die Vorsehung ihre Ausgabe von Privatdetektiv dort liegengelassen haben, wo er sie finden und mitnehmen konnte? Es war alles vorherbestimmt, das wusste er. Sein Horoskop hatte auf eine solche Gelegenheit hingewiesen und geraten, sie beim Schopfe zu packen.
Als er sich jetzt reden hörte, empfand er ein momentanes Unwohlsein. Sollte es einen anderen Grund dafür geben, warum sie die Anzeige markiert hatte? Nein, entschied er. Als Rückversicherung jedoch fügte er hinzu, dass die Pläne noch einer letzten Bestätigung bedürften. Die Spötteleien, die auf seinen Zusatz folgten, nahm er nicht zur Kenntnis.
Er ging, nachdem er seinen Brandy ausgetrunken hatte, denn er legte keinen Wert auf die weitere Anwesenheit seiner Kumpel: Sie hatten gehört, was er zu sagen hatte, und dienten keinem weiteren Zweck mehr.
Anita ließ ihren Blick mit einem ungewöhnlichen Gefühl von Unzufriedenheit über ihre Abteilung schweifen. Die Abteilung hatte sich, wie immer in der Weihnachtszeit, in die Gärtnereiabteilung hinein ausgedehnt, die nach unten umgezogen war, bis die Hyazinthen aus ihren Zwiebeln keimten und Misteln und Stechpalmen nichts als staubige Erinnerung waren. Diese Beanspruchung hatte im August begonnen, ein Zeitpunkt, der selbst Anita, die mit Leib und Seele Schreibwaren und Büromaterialien verkaufte, zu früh erschien. Die Einkäuferin reiste bereits seit April um die Welt. Diese Einkäuferin war der eigentliche Grund für Anitas Unwohlsein. Sie hatte in dieser Saison nicht das richtige Gefühl für den Einkauf entwickelt. Irgendwo im Fernen Osten hatte sie eine ziemlich kitschige und altmodische Kollektion von Weihnachtskarten geordert, wo doch der Trend in letzter Zeit eindeutig hin zu einer weltlicheren und witzigeren Form der Grußkarte ging. Die Schäfer, die Engel, die Weisen aus dem Morgendlande, die aufgemotzten Kamele, Esel, fettschwänzigen Schafe usw. machten sie schwindelig und erinnerten sie an ihren Religionsunterricht; sie hatte sich sogar mit der Einkäuferin gestritten. »In der Filiale in Brent Cross«, sagte die Einkäuferin, »können sie nicht genug Mütter mit Kinder kriegen.« Anita war versucht, ihre Grammatik zu korrigieren, ließ es aber. Sie begann darüber nachzudenken, ob die Einkäuferin trank. Erstaunlich wäre es nicht bei all ihren Auslandsreisen zu Herstellern und Messen.
Während ihres bescheidenen Mittagessens in der Kantine – sie aß nur ein Stück Quiche mit Salat – las sie mit großer Konzentration Die Lady, denn sie wollte sich mit niemandem unterhalten. Als sie zu den Kleinanzeigen kam, erregte das Wort »Weihnachten« ihre Aufmerksamkeit. Ich hasse Weihnachten, dachte sie, fühlte sich schuldig bei dem Gedanken und war über sich selbst erstaunt. Als sie gerade zu einem Artikel über die Zubereitung von Wachteln zurückschlagen wollte, sah sie die Wörter »am Ende der Welt«. Sie könnte also allem entkommen und irgendwohin fahren, wo es keine Weihnachtskarten oder Weihnachtsmänner gab, keine großspurigen Einkäuferinnen, nichts, was sie an die Arbeit erinnerte oder daran, dass ja Weihnachten selbst sich am Ende immer als eine Enttäuschung herausstellte. Niemals zuvor hatte sie sich das eingestanden. Sie faltete die Illustrierte, steckte sie in die Tasche, und als sie in die leere Wohnung zurückkam, schrieb sie Eric, um problemlose Weihnachten zu buchen. Es war eine Trotzhandlung: Sie verbannte all das Rauschegold und den Glimmer, mit denen sie sich schon viel zu lange beschäftigt hatte, aus ihrem Kopf, denn all die geleistete Arbeit hatte ihr nur unzureichende Anerkennung eingebracht.
Ronald stierte mit wildem Unverständnis auf den Toaster, der sich stur weigerte, den Toast freizugeben. Es schien Ronald, dass dieses Ding, könnte es sprechen, nicht nur etwas Rebellisches, sondern sogar Unverschämtes sagen würde. Es hatte es darauf abgesehen, ihm zu trotzen; ein ähnlicher Fall übrigens wie die Geschirrspülmaschine. Die Küche war vollgestellt mit schmutzigem Geschirr; sein Bett war ungemacht und seine Wäsche ungewaschen. Nicht nur, dass ihn seine Frau verlassen hatte, die Putzfrau hatte ebenfalls gekündigt. Die beiden Ereignisse, argwöhnte er, konnten sicherlich nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Es würde ihn nicht erstaunen, wenn seine Frau die Putzfrau bestochen hätte zu gehen, um ihn zu verärgern und den Ablauf seines Lebens unmöglich zu machen. Wie sollte er sich auf seine Arbeit konzentrieren, wenn sein Heim sich im Zustand der Auflösung befand? Der Schmerz, den er über den Vertrauensbruch seiner Frau empfand, war eigentlich kleiner als sein Unwohlsein, die stumme Feindschaft des Toasters verletzender als ihre Kälte in letzter Zeit. Tatsächlich kündigte die Putzfrau, als seine Frau ging, weil sie schon früher für alleinstehende Herren gearbeitet hatte, dies aber als zu beschwerlich empfand. Eingefleischte Junggesellen waren in Ordnung, in Hausarbeit erfahren und ordentlich, aber verlassene Ehemänner stellten ein zu großes Problem dar. Die ließen alles für sie liegen – ungemachte Betten, ungewaschene Wäsche, und den Geschirrspülautomaten füllten sie auch nicht. Meistens konnten sie nicht einmal mit dem Toaster umgehen und überließen es ihr, die Kohle herauszukratzen, in die sich das Brot verwandelt hatte, und dann sollte sie ihn auch noch reparieren.