Gerald Murnane
Grenzbezirke
Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt
Suhrkamp Verlag
Grenzbezirke
Vor zwei Monaten, als ich erstmals in dieser Ortschaft kurz vor der Grenze eintraf, beschloss ich, meine Augen zu hüten, und ich könnte mir nicht vorstellen, mit diesem Prosastück fortzufahren, sollte ich nicht erklären, wie ich zu diesem seltsamen Ausdruck kam.
Einen Teil meiner Ausbildung erhielt ich von einem bestimmten Orden geistlicher Brüder, einer Gruppe von Männern, die allesamt eine schwarze Soutane trugen, mit einem weißen Kunststoffkragen am Hals, dem Kollar. Zufällig erfuhr ich im letzten Jahr — und seitdem ich vor fünfzig Jahren zum letzten Mal jemanden sah, der solch ein Ding trug —, dass der weiße Kragen rabat genannt wurde und ein Symbol der Keuschheit war. Unter den wenigen Büchern, die ich aus der Hauptstadt hierherbrachte, befindet sich ein großes Wörterbuch, doch wird das Wort rabat darin nicht aufgeführt. Das Wort könnte französisch sein, falls der Bruderorden in Frankreich gegründet wurde. In diesem entlegenen Bezirk bin ich noch weniger als in den Vororten der Hauptstadt geneigt, die eine oder andere verborgene Tatsache herauszufinden; hier, nahe der Grenze, neige ich sogar eher als einst dazu, eine Vermutung, die ein Muster in meiner Vorstellung zu ergänzen vermag, als gut begründet zu akzeptieren und dann mit dem Schreiben fortzufahren, bis ich die Bedeutung eines solchen Bildes für mich erkenne, eines Bildes, wie das des weißen Flecks, der gerade jetzt am Rand meiner Vorstellung vor einem schwarzen Hintergrund erschien und nicht einfach zu entfernen sein wird.
Die Schule, in der die Brüder unterrichteten, war auf dem Areal eines zweistöckigen, aus gelbem Sandstein bestehenden Landguts erbaut worden, das an einer mit Platanen gesäumten Straße in einem inneren östlichen Randbezirk der Hauptstadt lag. Das Landgut selbst war in den Wohnsitz der Brüder umgewandelt worden. Im Erdgeschoss des früheren Gutshauses bildete einer der Räume, der die Eckveranda überblickte, die Kapelle, die von den Brüdern für ihre tägliche Messe und ihre Gebete genutzt wurde, aber auch uns, ihren Schülern, zugänglich war.
In der Sprache jener Örtlichkeit und Zeit hieß es, ein Schüler, der für ein paar Minuten in der Kapelle vorbeischaute, statte einen Besuch ab. Das Ziel seines Besuches, hieß es, sei Jesus im heiligen Sakrament oder, allgemeiner gesagt, das heilige Sakrament selbst. Wir Jungen wurden von Lehrern und Priestern eindringlich gebeten, dem heiligen Sakrament häufige Besuche abzustatten. Es wurde bedeutet, dass die durch jenen Ausdruck bezeichnete Person sich betrübt oder einsam fühlen würde, wenn Besucher ausblieben. Meine Klasse hatte einmal von einem Ordensbruder eine von den Geschichten gehört, die durch häufige Wiederholung unseren religiösen Eifer befördern sollten. Ein Nicht-Katholik guten Willens hatte einen Priester gebeten, die Lehren der Kirche zum heiligen Sakrament zu erläutern. Der Priester erklärte darauf, dass jede Scheibe geweihten Brotes in jedem Tabernakel in jeder katholischen Kirche oder Kapelle, auch wenn sie nur als bloßes Brot erschiene, wesensmäßig der Leib Jesu Christi sei, der zweiten göttlichen Person der Heiligen Dreieinigkeit. Der Fragesteller guten Willens erklärte dann, dass er, wenn er dies nur zu glauben vermöchte, jeden freien Augenblick in irgendeiner katholischen Kirche oder Kapelle in der Gegenwart des göttlichen Erscheinens verbringen würde.
In unserer Schulzeitung schrieb unser Rektor in seinem alljährlichen Bericht an die Eltern ausführlich über das, was er als die religiöse Formung von uns Jungen bezeichnete. In jedem Klassenzimmer war die erste Schulstunde jeden Tages ganz der christlichen Doktrin oder, wie wir es öfter nannten, Religion gewidmet. Vor jeder Stunde des täglichen Stundenplans sagten Schüler laut und gemeinsam ein kurzes Gebet auf. Ich glaubte, dass die meisten meiner Klassenkameraden ihre Religion ernst nahmen, doch hörte ich selten, dass ein Junge außerhalb des Klassenzimmers irgendetwas erwähnte, was mit dieser Religion zu tun hatte. Die Kapelle war vom Schulhof aus nicht einsehbar, wodurch ich nie wusste, wie viele meiner Klassenkameraden dort Besuche abstatteten. Ich durchlief jedoch in meiner Schulzeit verschiedene Perioden religiösen Eifers, und in jeder dieser Perioden stattete ich dem heiligen Sakrament täglich mehrere Besuche ab. Manchmal sah ich den einen oder anderen meiner Klassenkameraden in der Kapelle, kniend, wie ich kniete, den Kopf gebeugt oder den Blick starr auf das verschlossene Tabernakel gerichtet, in dem, für uns nicht sichtbar, das vergoldete Ziborium war, gefüllt mit den weißen Oblaten, die wir uns als das heilige Sakrament vorstellten. Mit meinen Versuchen zu beten oder zu meditieren war ich nie zufrieden, und ich fragte mich oft, was genau im Kopf meines fromm wirkenden Klassenkameraden vorging. Ich hätte ihn gern gefragt, was er wohl während des Betens sah; wie er die göttlichen oder heiliggesprochenen Personen anschaute, an die er sich in seiner Vorstellung wandte, und vieles andere. Manchmal verließen zufällig ein Klassenkamerad und ich gleichzeitig die Kapelle, und wir gingen zusammen die Eckveranda entlang und dann durch den Garten der Brüder in Richtung Schulhof, doch den Jungen dann über seine Andachtsübungen zu befragen, wäre für mich wohl kaum weniger verwirrend gewesen, als ihm etwas Anstößiges vorzuschlagen.
An der ruhigen Straße, in der ich jetzt wohne, steht eine kleine Kirche, an der ich an jedem Werktagsmorgen auf meinem Gang zu den Läden und dem Postamt vorbeikomme. Die Kirche gehört zu einer jener protestantischen Konfessionen, die ich als Schuljunge wegen der Ödnis ihrer Gottesdienste bedauerte, welche, wie ich vermutete, bloß aus Kirchenliedern und Predigten bestanden und keineswegs aus den glanzvollen Ritualen, die in meiner Kirche abgehalten wurden. Wann immer ich an ihr vorbeigehe, ist der Rasen um meine Nachbarschaftskirche ordentlich gemäht, doch die Kirche selbst ist verschlossen und leer. Ich bin wohl an zahllosen protestantischen Kirchen in Vorstädten oder Landgemeinden vorbeigegangen und habe kaum einen Blick auf sie geworfen, und doch kann ich an der nahe gelegenen Kirche nie vorbeigehen, ohne dass meine Gedanken in überraschende Richtungen gelenkt werden.
Ich habe mich der Architektur gegenüber immer für gleichgültig gehalten. Ich weiß kaum, was ein Giebel oder ein Kirchenschiff oder eine Kuppel oder eine Sakristei ist. Ich würde meine Nachbarschaftskirche als ein symmetrisches Gebäude beschreiben, das aus drei Teilen besteht: einem Vorbau, einem Hauptteil und, am weitesten von der Straße entfernt, einem dritten Teil, der gewiss dem Geistlichen vor und nach den Gottesdiensten vorbehalten ist. Die steinernen Mauern sind eintönig cremeweiß bemalt — oder heißt es richtig verputzt? Ich bin in solchen Einzelheiten so unaufmerksam, dass ich mich hier an meinem Schreibtisch nicht erinnern kann, ob die Satteldächer des Vorbaus und des Hauptteils mit Schiefer oder Blech gedeckt sind. Der hintere Teil hat ein fast flaches Blechdach. Die Fenster sind nicht von besonderem Interesse für mich, bis auf die beiden, in der Rückwand des Pfarrerraums befindlichen Rechtecksfenster aus klarem Glas, hinter denen jeweils ein Vorhang zugezogen ist. Der Hauptteil der Kirche hat sechs kleine Fenster, drei auf jeder Seite. Das Glas in jedem dieser Fenster ist durchscheinend. Wenn ich es von Nahem untersuchen könnte, unterschiede sich das Glas wohl kaum von der Sorte, die ich in meiner Kindheit als mattiert zu bezeichnen lernte und oft in Badezimmerfenstern sah. Das Glas in den sechs Fenstern ist keineswegs farblos, doch habe ich noch nicht die Abtönung oder Färbung ausgemacht, die es kennzeichnet. Wenn ich manchmal morgens vorbeigehe, scheint das fragliche Glas ein unerklärliches Graugrün oder vielleicht Graublau zu haben. Einmal jedoch, als ich zufällig spätnachmittags an der Kirche vorbeiging und über die Schulter hinweg auf ein Fenster in der verschatteten Südostseite des Gebäudes blickte, sah ich, dass das Glas dort nicht direkt durch die untergehende Sonne gefärbt wurde, sondern durch ein Licht, das meinem Blick entzogen war: das Glühen in der verschlossenen Kirche, in der die Strahlen aus dem Westen bereits durch die drei Fenster auf der weiter von mir entfernt liegenden Seite verändert worden waren. Selbst wenn ich eine Bezeichnung für die flackernde Pracht, die ich dann in dieser einfachen Scheibe sah, hätte ersinnen können, hätte ich bald danach einen anderen Namen für die fast unmerklich abweichende Tönung bei jeder ihrer beiden Nachbarscheiben ersinnen müssen, auf denen das bereits gedämpfte Licht von ein und demselben Sonnenuntergang getrennt gebrochen worden war. Der Vorbau hat ein einziges Fenster, das auf die Straße blickt. Wenn ich vorbeigehe, nimmt dieses Fenster meine Aufmerksamkeit am meisten in Anspruch, und es kann schon der Grund dafür gewesen sein, mich an die Abfassung dieser Seiten zu machen. Das Glas in diesem Fenster ist das, was ich immer als Buntglas bezeichnet habe und auf dem fast immer etwas dargestellt ist — ein Muster von Laub und Stängeln und Blütenblättern vielleicht. Bei meinen Gängen in der Ortschaft mache ich lieber nicht auf mich aufmerksam, und bisher war ich noch nicht kühn genug, haltzumachen und auf das Fenster des Vorbaus zu starren. Nicht nur kann ich nicht genau sagen, was abgebildet ist, sondern nicht einmal, welche Farben die verschiedenen Glaspartien haben, obgleich ich vermute, dass sie rot und grün und gelb und blau sind, oder jedenfalls die meisten von ihnen. Wenn ich vorbeikomme, ist die Außentür der Kirche immer geschlossen, und die vom Vorbau zur Kirche führende Tür ist bestimmt ebenfalls geschlossen. Da das getönte Fenster nach Nordosten liegt, ist die nahe Seite des Glases immer in strahlendem Tageslicht, während die fernere Seite sich nur dem gedämpften Licht des umschlossenen Vorbaus gegenüber befindet. Jemand, der von meinem gut beleuchteten Aussichtspunkt schaut, kann die Farben des Glases und die darauf abgebildeten Einzelheiten nur erraten.
Etwa vor dreißig Jahren las ich die Besprechung eines wissenschaftlichen Buches, das Auszüge aus Tagebüchern mehrerer Männer enthielt, die in den Jahren der Republik durch England zogen und Buntglasfenster zerschlugen. Auf Leitern stehend, zerschmetterten die Männer das Glas mit Knütteln oder Äxten. In ihren Tagebüchern benannten sie alle von ihnen heimgesuchten Kirchen und gaben die Zahl der von ihnen zerstörten Fenster an. Sie erklärten oftmals in den Tagebüchern, das Werk des Herrn zu tun oder seinen Ruhm zu befördern. Ich habe mich nie weiter als eine Tagesreise per Straße oder Schiene von meinem Geburtsort entfernt. Fremde Länder existieren für mich als geistige Bilder, manche von ihnen lebendig und detailreich, und viele von ihnen entstanden bei meiner Lektüre fiktionaler Werke. Das Bild, das ich von England habe, ist das einer zumeist grünen topografischen Karte, die zwar reich an Einzelheiten ist, doch vergleichsweise klein für ein Land der Vorstellung. Als ich die Besprechung des erwähnten Buches las, fragte ich mich, wie irgendwelche Buntglasfenster in dem Land übriggeblieben sein konnten, nachdem besagte Männer ihr umfangreiches Werk getan hatten. Ich fragte mich auch, was aus all dem Bruchglas geworden war. Ich nahm an, die Männer hatten die Fenster von außen angegriffen — hatten ihre Knüttel und Äxte gegen das matt wirkende Glas gerammt, ohne zu wissen, was es darstellte oder sogar welche Farbe es hatte, wenn man es von der anderen Seite betrachtete. Wie lange waren die farbigen Brocken und Scherben in den Gängen und auf den Kirchenstühlen liegengeblieben? Waren die Bruchstücke von der bestürzten Kirchengemeinde aufgesammelt und verborgen worden, in Erwartung einer Zeit, in der sie eingeschmolzen oder anderweitig wieder in Bildnisse ehrwürdiger Persönlichkeiten auf jenseitigen Schauplätzen verwandelt werden konnten? Trugen Kinder Hände voll mit bunten Splittern fort und linsten dann durch sie hindurch auf Bäume oder den Himmel oder versuchten, sie wieder so anzuordnen, wie sie einmal gewesen waren, oder zu raten, ob dieses oder jenes Fragment einst den Teil eines Kleids mit Schleppe, eines strahlenden Heiligenscheins, einer entzückten Miene dargestellt hatte?
Entsprechend der mir als Kind übermittelten Geschichtsschreibung brachten die Bilder auf den zerschmetterten Fenstern den alten Glauben Englands zum Ausdruck. Die Glasgestaltungen hatten ein Jahrhundert lang die Gebete und Zeremonien und Gewänder überdauert, die während der protestantischen Revolte, wie wir sie zu nennen gelehrt wurden, abgeschafft worden waren. Wenn ich in meiner Schulzeit über das Zerschmettern von Glas gelesen hätte, hätte ich bereits die Zerstörung so vieler wunderbarer Bilder bedauern können, doch auch erwogen, ob die glaslosen Fenster nicht genau das waren, was die treulosen Protestanten verdienten. Die leeren Fensterhöhlen hätten mich an die blicklosen Augen von Leuten gemahnt, die blind für die Wahrheit sind. Sie hatten farbige Kaseln vernichtet, goldene Monstranzen, das heilige Sakrament selbst. Mögen sie nun in schwarzen Soutanen und weißen Chorhemden und im schlichten Tageslicht, nicht gefärbt von irgendeinem Glas alter Zeiten, singen und predigen. Ich hatte mir das kaum so vorgestellt, als ich im Erwachsenenalter über die Fensterzerstörer las, doch mein erster Blick auf das Fenster im Vorbau der benachbarten Kirche ließ in mir einen leisen Groll darüber aufkommen, dass eine nicht einmal drei Jahrhunderte alte protestantische Sekte ihren schlichten Ort des Gottesdienstes im Stil der Kirche schmücken sollte, die schon fast zwei Jahrtausende gewährt hatte, bevor diese Clique von Emporkömmlingen anfing. Selbst die Umgebung des kleinen Steingebäudes verstimmte mich irgendwie. Kein Fußweg führt an der Kirche vorbei. Zwischen dem Bordstein zur Straße hin und der Begrenzung des Kirchhofs ist der Boden unter dem gemähten Gras uneben. Da ich beim Vorbeigehen nicht haltmachen und hinstarren möchte, muss ich, unter der Angst, mir den Fuß zu verstauchen, herausbekommen, was ich herausbekommen kann.
Was ich vor einem Monat bei meinem ersten Anblick der Kirche herausbekam, habe ich in einem früheren Abschnitt berichtet. Bis heute Morgen hatte ich nicht mehr in Erfahrung gebracht. Ich wusste nicht einmal, ob in der Kirche immer noch Gottesdienste abgehalten wurden. (Die anglikanischen und lutherischen Kirchen, kleine Gebäude mit Schindeldächern, kündigen außen das Datum und die Uhrzeit des nächsten Gottesdienstes an. Die mit Schindeln gedeckte katholische Kirche wurde ein paar Monate vor meiner Ankunft hier eingerissen; das Gebäude war von Termiten befallen und schien unsicher.) Heute Morgen bereitete ich mich auf meinen ersten Ausflug über die Grenze vor. Ich wollte mich zu einem Pferderennen in einer Ortschaft aufmachen, die nach ihrer Grenznähe benannt worden war. Während der Motor meines Wagens lief, ging ich hinaus, um das Vordertor zu öffnen. Vor der Kirche war eine Reihe Wagen geparkt. Offenbar wurde ein Gottesdienst gefeiert. Ich kann sogar jetzt kaum erklären, warum ich das tat, aber ich schaltete den Motor meines Wagens aus und strebt langsam in Richtung Kirche, als machte ich einen Morgenspaziergang. Recht unbekümmert zählte ich die Autos der Kirchgänger. Es waren sieben. Alles große Autos, neueste Modelle, wie Farmer in den umliegenden Bezirken sie haben. Ich vermutete, dass jedes Auto ein Paar in mittleren Jahren zur Kirche gebracht hatte. Einige Personen vielleicht waren aus Häusern im Ort zu Fuß zur Kirche gegangen, doch konnte die Gemeinde kaum zwanzig Mitglieder zählen. Als ich das erste Mal an der Kirche vorbeischlenderte, hörte ich kein Geräusch, doch auf dem Rückweg hörte ich Gesang und den Klang eines Musikinstrumentes. Ich hatte immer angenommen, die Anhänger der Konfession, deren Kirche dies war, würden freudig und von ganzem Herzen singen. Zwar war ich zehn Schritte von dem hinteren Teil des Vorbaus entfernt, aber die Hintertür der Kirche und die Außentür des Vorbaus waren wegen der Hitze offengelassen worden, und doch klang der Gesang schwach und fast zaghaft. Die Stimmen der Gemeinde erhoben sich kaum über den Klang des Orgel-Imitats oder wie auch immer sie ihr Begleitinstrument bezeichneten. Ich schrieb gerade Die Stimmen der Gemeinde, doch klangen sie für mich so, als seien sie allesamt weibliche Stimmen. Falls Männer sangen, waren sie jedenfalls nicht außerhalb der Mauern des Gebäudes zu hören.
Ich war in diesen grenznahen Bezirk gezogen, um den Großteil meiner Zeit allein verbringen und gemäß einiger Regeln leben zu können, nach denen ich schon lange zu leben gewünscht hatte. Ich habe vorhin erwähnt, dass ich meine Augen hüte. Ich tue das, um wachsamer für das sein zu können, was an den Rändern meines Gesichtsfeldes erscheint; um sofort einen Anblick bemerken zu können, der so sehr meiner Prüfung bedarf, dass eine oder mehrere Einzelheiten von ihm zu beben oder bewegt zu sein scheinen, bis ich vermeine, ich erhielte Signale oder mir würde zugeblinzelt werden. Eine weitere Regel verlangt von mir, sämtliche Bilderfolgen aufzuzeichnen, die mir in den Sinn kommen, nachdem ich meine Aufmerksamkeit auf die signalisierende oder zuzwinkernde Einzelheit gerichtet habe. Ich traf heute Morgen Anstalten, über die Grenze zu fahren, doch verschob ich meine Abreise, ging nach drinnen an meinen Schreibtisch und machte Notizen für das, was in den folgenden Abschnitten ausführlich berichtet wird.
Gegen Ende der 1940er Jahre wurde ich von meinen Eltern an manch einem Sonntag zu einer kleinen Holzkirche im südwestlichen Bezirk dieses Staates mitgenommen. Auf jeder Seite der Kirche waren zwei lange Holzpfähle. Sie waren mit einem Ende im Boden fixiert; das andere Ende stützte sich fest gegen die obere Wand der Kirche. Ich vermutete, dass die Pfähle die Kirche davor bewahrten, sich schräg zu legen oder gar umzustürzen. Das dergestalt aufrecht gehaltene Gebäude bestand aus einem winzigen Vorbau; einem Hauptteil mit einem umgitterten Altarraum und etwa zwölf Kirchenstühlen, die durch einen Gang in der Mitte getrennt wurden; dazu ein kleiner Raum zur Benutzung durch einen Priester. Die Kirchengemeinde umfasste zumeist Farmer und ihre Familien. In dieser Kirche wurde ein Brauch befolgt, den ich in einer anderen nie beobachtet habe. In der Holzkirche mit den vier Pfählen waren die Bänke auf der linken oder Evangelienseite nur von männlichen Personen besetzt, während die Bänke auf der rechten oder Epistelseite nur von Frauen besetzt waren. Ich habe nie jemanden gesehen, der gegen diese strenge Trennung verstoßen hätte. Nur einmal kamen zwei Neulinge, ein junges Ehepaar, früh herein und setzten sich gemeinsam auf die Männerseite. Die Kirche war noch nicht einmal halb gefüllt, als die Frau ihren Fehler begriff. Errötend beeilte sie sich, den Gang zu überqueren, und schloss sich den anderen Frauen und Mädchen an.
Als ich viele Jahre später einen Zeitschriftenartikel über die als Shaker bekannte christliche Sekte las, formte sich in meiner Vorstellung ein Bild von einer Gruppe erwachsener Gläubiger in einem kleinen Holzgebäude, das sich kaum von der im vorigen Abschnitt erwähnten Kirche unterschied. Es war ein größtenteils unstimmiges Bild, beleuchtet vom Sonnenschein eines Sommermorgens im südlichen Australien. Die männlichen Gläubigen trugen dunkle Anzüge und breite Krawatten, und ihre Gesichter und Hälse und Hände und Handgelenke waren rotbraun. Die Frauen trugen geblümte Kleider und große Hüte aus lackiertem Stroh. Männer und Frauen standen einander gegenüber, nicht in Kirchen-, sondern in Chorstühlen. Ihr Stehen im Gestühl hinderte sie an der Ausführung des ruhigen Tanzes, über den ich in dem Artikel über die Shaker gelesen hatte. Dieser hier schien aus zwei Reihen von Tänzern zu bestehen, die aufeinander zuschritten und dann wieder ein wenig zurückwichen; die noch weiter vorrückten, dann aber wieder zurückwichen. Die eine Reihe bestand natürlich aus Männern und die andere aus Frauen. Während des Tanzens psalmodierten sie oder sangen vielleicht. In dem Zeitschriftenartikel waren zwei Verse eines ihrer bekanntesten Lieder abgedruckt — oder war das ihr einziges Lied?
Shake, shake, shake along, Dan'l!
Shake out of me all things carnal!
Die Shaker haben dies ganz aufrichtig gesungen; sie strebten Ehelosigkeit an. Von den Frauen und Männern jeder Glaubensgemeinschaft wurde verlangt, getrennt zu leben.
Viele der Männer und Frauen in meiner Fantasievorstellung waren Eheleute, aber auch diese sangen leise die beiden Verse des alten Shakerlieds. Es sangen eher die Frauen, während die Männer bloß die Mundbewegungen zu den Worten machten. Es war wohlbekannt, dass männliche katholische Kirchgänger kaum je zum Singen gebracht werden konnten. Und auch schienen die Männer in meinem Bild ihre Körper nicht zu bewegen, wohingegen sich die Frauen im Takt zu ihrem Gesang hin- und herwiegten und einige sogar so taten, als neigten sie sich zur brusthohen Holzwand hin, die ihren Weg versperrte, oder als schritten sie auf sie zu.
Dieselbe kleine Kirche war auch viele Jahre zuvor der Schauplatz für die gedanklichen Ereignisse gewesen, die aus meiner Lektüre einer Kurzgeschichte entsprangen; sie fand sich, neben anderen Kurzgeschichten, in einem Buch, das ich schon vor Langem beseitigt habe. Ich habe den Titel des Buches vergessen und erinnere mich an nichts von dem, was ich bei seiner Lektüre dachte, außer an ein paar gedankliche Szenen, um sie so zu nennen. Ich kaufte das Buch und las es, weil der Autor einmal mein Kollege in einem unscheinbaren Fachbereich auf einem entlegenen Campus einer kleineren Universität war. Er zählte zu der nicht unbedeutenden Schar von Männern, die noch in den letzten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts anzutreffen waren: Männer, die es erfreute, dass man von ihrem früheren Leben als katholischer Priester oder Ordensbruder wusste. Einige waren Lehrer oder Bibliothekare oder im öffentlichen Dienst beschäftigt; einige arbeiteten als Journalisten oder Radio- oder Fernsehproduzenten; und ein paar waren sogar publizierende Autoren. Die meisten Bücher der Letztgenannten hatten einen moralisierenden Ton; ihre Verfasser sahen sich immer noch veranlasst, scheinbaren Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft (letzteres Wort war eines ihrer am häufigsten verwendeten Wörter) abzuhelfen oder sie zumindest zu beklagen.
Wenn ich mich in dem unvorstellbaren Umstand befände, ein fiktionales Werk zu schreiben, in dem ich einen ehemaligen Kollegen als eine seiner Figuren darstelle, würde ich mich verpflichtet fühlen, meine mutmaßlichen Leser darüber in Kenntnis zu setzen, warum jener eine Berufung aufgab, der lebenslang zu folgen er förmlich gelobt hatte. Welche Gewissenskrisen ich auch immer der Figur zuschreiben würde und wie detailliert und wortreich meine Darstellungen ihres behaupteten Denkens und Empfindens wären, würde ich an einem bestimmten Punkt meiner Erzählung berichten, dass der Mann das, was er tat, deswegen tat, weil er entdeckt hatte, dass er es zu tun vermochte.
Ich habe mich lange einer einfachen Erklärung dafür angeschlossen, warum sich so viele Priester und Ordensbrüder meiner Generation von der Religion lossagten. Ich kann zuerkennen, dass die ersten wenigen Wagemutigen wohl etwas wie Pioniere gewesen sind, die ursprüngliche moralische Fragestellungen ersannen, doch waren ihre Nachfolger bloße Anhänger der Mode. Sobald sie einmal durch das Beispiel ihrer mutigeren Gefährten gelernt hatten, dass die sogenannten feierlichen Gelübde ohne Weiteres beiseitegeschoben oder gebrochen werden konnten, begannen diejenigen, die einst Keuschheit und Gehorsam geschworen hatten, ihrer Unrast oder Neugierde nachzugeben.