Stephan Talty
Black Hand
Jagd auf die erste Mafia New Yorks
Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Schönherr
Suhrkamp
Zum Gedenken
an meinen Vater, den Einwanderer
Non so come si può vivere in questo fuoco!
(Ich weiß nicht, wie man in diesem Feuer leben soll!)
Ein italienischer Einwanderer
beim ersten Blick auf New York City
Prolog
»Ein gewaltiges, alles verzehrendes Grauen«
Die Black Hand
1
»Diese Hauptstadt für die halbe Welt«
2
Der Menschenjäger
3
»In Todesangst«
4
Die geheimnisvollen Sechs
5
»Ein allgemeiner Aufstand«
6
»Eine füchterliche Explosion«
7
Die Welle
8
Der General
9
»Der Schrecken böser Menschen«
10
Einmal geboren werden, einmal sterben
11
»Schonungsloser Krieg«
12
Der Gegenschlag
13
Ein Geheimdienst
14
Der Gentleman
15
In Sizilien
16
Schwarze Pferde
17
Das Abstellgleis
18
Eine Wiederkehr
Danksagung
Anmerkung zu den Quellen
Anmerkungen
Prolog
Am Nachmittag des 21. September 1906 spielte ein fröhlicher Junge namens Willie Labarbera auf der Straße vor dem Laden des Obstgeschäfts seiner Familie in New York City, zwei Blocks vom glitzernden East River entfernt. Johlend sausten der Fünfjährige und seine Freunde einander hinterher und rollten Holzreifen über den Bürgersteig, lachten, wenn die Ringe auf der gepflasterten Straße umkippten. Schließlich wuselten sie zwischen Bankern, Arbeitern und jungen Frauen mit Straußenfederhüten hindurch nach Hause oder in eins der italienischen Restaurants des Viertels. In jedem neuen Schub Passanten verloren Willie und seine Freunde einander für ein, zwei Sekunden aus den Augen und fanden sich dahinter wieder. Dutzende Male war das an jenem Nachmittag bereits geschehen.
Immer mehr Menschen gingen vorüber, zu Hunderten. Dann, als das Funkeln auf dem Fluss langsam verblasste, wetzte Willie noch einmal um eine Ecke und verschwand in einer Gruppe Arbeiter. Diesmal aber tauchte er nicht wieder dahinter auf. Das fahle Abendlicht beschien nur einen leeren Bürgersteig.
Seine Freunde bemerkten das nicht gleich. Erst als ihre Mägen knurrten, drehten sie sich um und blickten auf das kleine Stückchen Pflaster, auf dem sie den Nachmittag verbracht hatten. Inmitten der wachsenden Schatten hielten sie Ausschau nach Willie. Umsonst.
Willie war ein eigensinniges Kerlchen. Schon einmal hatte er geprahlt, er sei zum Spaß von zuhause weggelaufen, sodass die anderen Jungs womöglich zögerten, ehe sie in den Laden seiner Eltern gingen und berichteten, dass etwas nicht stimmte. Früher oder später mussten sie den Erwachsenen aber doch Bescheid geben. Kurz darauf stürzten William und Caterina, Willies Eltern, aus dem Geschäft und suchten die umliegenden Straßen nach ihrem Kind ab, fragten die Besitzer von Naschbuden und Lebensmittelläden, ob sie den Jungen gesehen hätten. Hatten sie nicht. Willie war verschwunden.
Da geschah etwas Eigenartiges, fast Telepathisches. Noch bevor jemand die Polizei rief oder einen einzigen Hinweis fand, ging Willies Freunden und Angehörigen unabhängig voneinander auf, was dem Jungen zugestoßen war. Und auch in Chicago, St. Louis, New Orleans, Pittsburgh oder den unbedeutenden Städtchen dazwischen wären die Mütter und Väter vermisster Kinder, von denen es im Herbst des Jahres 1906 so ungewöhnlich viele gab, zu demselben Schluss gelangt. Wer ihr Kind hatte? Ganz bestimmt La Mano Nera, wie die Italiener sagten. Der Bund der Schwarzen Hand, die Black Hand.
Die Black Hand war eine berüchtigte Verbrecherorganisation — eine »teuflische, arglistige, finstere Bande« —, die in großem Stil erpresste, mordete, Kinder entführte und Bomben legte. Zwei Jahre zuvor war sie landesweit bekannt geworden, als sie in einem entlegenen Winkel von Brooklyn einen Drohbrief bei einem in Amerika zu Geld gekommenen Handwerker eingeworfen hatte. Seither tauchten die mit Zeichnungen von Särgen, Kreuzen und Dolchen verzierten Briefe des Geheimbunds in der ganzen Stadt auf, gefolgt von grausigen Taten, die einem Beobachter zufolge »in den vergangenen zehn Jahren für eine in der Geschichte zivilisierter Länder in Friedenszeiten unerhörten Verbrechensbilanz« gesorgt hatten. Lediglich der Ku-Klux-Klan sollte zu Beginn des Jahrhunderts die Massen in noch größeren Schrecken versetzen als die Black Hand. »Sie fürchten sie aus tiefstem Herzen«, schrieb ein Reporter über die italienischen Einwanderer, »ein gewaltiges, alles verzehrendes Grauen.« Auch vielen anderen Amerikanern ging das im Herbst 1906 nicht anders.
Als der erste Brief bei den Labarberas einging, wurden ihre Befürchtungen bestätigt. Die Entführer verlangten $ 5 000, für die Familie eine astronomisch hohe Summe. Der genaue Wortlaut ist nicht bekannt, doch enthielten solche Briefe häufig Sätze wie »Ihr Sohn ist bei uns« und »Zeigen Sie diesen Brief nicht der Polizei, sonst, bei der Mutter Gottes, ist Ihr Kind tot.« Ein paar Zeichnungen am Ende unterstrichen diese Botschaft: drei plumpe Tintenkreuze, dazu ein Schädel mit gekreuzten Knochen. Die Markenzeichen der Black Hand.
Manche behaupteten, der Bund und ähnliche Organisationen seien nicht nur verantwortlich für ein bis dato unerhörtes Ausmaß an Mord und Erpressung in Amerika, für ein finsteres Zeitalter unbeschreiblicher Gewalt, sondern agierten obendrein als eine Art fünfte Kolonne, die den Staat für ihre Zwecke untergrub. Dieser Meinung verdankten die Einwanderer aus Italien schon seit mindestens einem Jahrzehnt allerhand Schwierigkeiten. »Viele sind der Ansicht«, sagte Henry Cabot Lodge, Senator aus Massachusetts, über eine angebliche italienische Geheimgesellschaft, »sie breite sich ständig aus, schüchtere Geschworene ein und bringe Schritt für Schritt die Regierungen von Staat und Städten unter ihre Kontrolle.« Skeptiker wie der italienische Botschafter, den schon die bloße Erwähnung des Geheimbunds verärgerte, entgegneten, die Gruppe existiere gar nicht, sei nur ein Märchen, mit dem die »Weißen« die Italiener verunglimpften, zumal sie diese sowieso am liebsten wieder aus dem Land jagen wollten. Ein anderer Italiener witzelte über den Bund: »Seine ganze Existenz beschränkt sich eigentlich auf eine dichterische Phrase.«
Doch wenn die Black Hand ein Hirngespinst war, wer hatte dann Willie?
Die Labarberas zeigten die Entführung bei der Polizei an, und kurz darauf klopfte ein Detective an ihre Tür in der Second Avenue, Hausnummer 837. Joseph Petrosino, der Leiter des berühmten »Italian Squad« der Polizei, war ein kleiner, stämmiger Mann mit der Statur eines Hafenarbeiters. Seine Augen — die manche als dunkelgrau, andere als schwarz wie Kohle beschrieben — waren kühl und taxierend. Er hatte breite Schultern und »Muskeln wie Stahlseile«. Ein Rohling war er jedoch nicht, im Gegenteil. Er sprach gern über ästhetische Fragen, liebte die Oper, besonders die italienischen Komponisten, und war ein guter Geigenspieler. »Joe Petrosino«, schrieb die New York Sun, »konnte eine Fidel zum Sprechen bringen.« Seine wahre Berufung allerdings war die Aufklärung von Verbrechen. Petrosino war der »größte italienische Detective der Welt«, wie die New York Times fand, ja, der »italienische Sherlock Holmes«, wie man sich in der alten Heimat erzählte. Mit sechsundvierzig war seine »Karriere so aufregend wie die jedes Javert im Labyrinth der Pariser Unterwelt oder eines Inspektors von Scotland Yard — ein von Abenteuer und Heldentaten pralles Leben, wie nicht einmal Conan Doyle es sich hätte aufregender ausmalen können.« Er war zurückhaltend gegenüber Fremden, unbestechlich, still, tapfer bis zur Waghalsigkeit, brachial, wenn man ihn reizte, und ein derart begabter Verkleidungskünstler, dass selbst seine Freunde ihn auf der Straße oftmals nicht erkannten. Von der Schule war er nach der sechsten Klasse abgegangen, konnte sich dank seines fotografischen Gedächtnisses jedoch erinnern, was auf Zetteln stand, die er Jahre vorher kurz gesehen hatte. Frau und Kind hatte er nicht; er hatte sein Leben der Aufgabe verschrieben, sein geliebtes Amerika von der Bedrohung durch den Bund der Black Hand zu befreien. Beim Gehen summte er Operetten.
In seinem üblichen Outfit aus schwarzem Anzug, schwarzen Schuhen und schwarzer Melone trat Petrosino bei den Labarberas ein. William Labarbera, der Vater des vermissten Jungen, zeigte dem Detective die Briefe, konnte sonst aber nicht viel sagen. Die Black Hand war überall und nirgends, sie war brutal, und ihre Allwissenheit grenzte an Zauberei. Den beiden Männern war das genau bewusst. Petrosino sah Willies Eltern an, dass sie »fast verrückt vor Trauer« waren.
Umgehend machte sich der Detective an die Arbeit, quetschte seine Informanten nach Hinweisen aus. Sein weitverzweigtes Netzwerk solcher Spitzel — der sogenannten nfami — erstreckte sich über die ganze Metropole: Barmänner, Ärzte, Krämer, Anwälte, Opernsänger, Straßenfeger (die sogenannten white winger), Bankiers, Musiker, narbengesichtige sizilianische Ganoven. Willies Beschreibung erschien bald in allen Zeitungen der Stadt.
Doch niemand hatte den Jungen gesehen. Ein vierter Brief drängte die Familie, ihr bescheidenes Heim zu verkaufen, um das Lösegeld aufzutreiben. Das Haus war alles, was die Labarberas in Amerika besaßen, sie hatten ihr Leben lang dafür gespart. Es zu verkaufen würde die Eltern mitsamt ihren Kindern zu eben jener bitteren Armut verurteilen, vor der sie aus Süditalien geflohen waren. Ihr amerikanischer Traum wäre mindestens für eine Generation ausgeträumt.
Der Bund hatte die Reaktion der Familie offenbar vorhergesehen. Dem vierten Brief war ein zusätzlicher Anreiz beigelegt, vielleicht an Mrs. Labarbera gerichtet. Beim Auffalten des Schreibens fiel etwas zu Boden: eine dunkle Locke von Willies Haar.
*
Die Tage gingen ins Land. Nichts. Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt.
Dann, in der dritten Woche, ein Tipp von einem nfame. Der Mann hatte eine merkwürdige Geschichte aus Kenilworth, New Jersey, gehört. Beim Spazierengehen in einem Arbeiterviertel war eine Frau einem Mann begegnet, der ein großes Bündel bei sich trug. Just in dem Moment, als die Frau vorbeiging, drang aus dem Bündel ein spitzer Schrei. Der Mann eilte in ein nahes Haus, so einfach und marode, dass es als »Hütte« beschrieben wurde, und schloss die Tür. Die Frau aber blieb stehen und behielt die Tür im Auge. Wenige Minuten später trat derselbe Mann heraus und legte das — inzwischen stumme — Bündel hinten auf einen Planwagen. Dann fuhr er davon.
Petrosino hatte die Geschichte kaum vernommen, da hastete er auch schon die West 23rd Street hinab und ging an Bord eines der Fährdampfer nach New Jersey. Über die Reling gebeugt lauschte der Detective den gegen den Bug schlagenden Wellen und sah zu, wie die Docks der West Side, wo die Lampen der Krämerwagen in der Dämmerung glommen wie ferne Lagerfeuer, langsam kleiner wurden. Verschiedenste Möglichkeiten schwirrten ihm durch den Kopf, die Namen und Gesichter von Verdächtigen, die er sich vor Monaten und Jahren eingeprägt hatte und nun wieder abrief. Vielleicht trank er unterwegs ein Glas Buttermilch von einem der Händler an Bord (drei Cent für die sterilisierte, zwei Cent für die unsterilisierte Version). Die Überfahrt würde etwa eine Viertelstunde dauern, sodass Petrosino ein paar Minuten nachdenken konnte.
Der Bund der Black Hand wurde mit jedem Monat frecher und skrupelloser. Das Ausmaß dessen, was sich da in New York abspielte, war schwer begreiflich. In den Italienerkolonien, wie man die Einwandererviertel nannte, patrouillierten Männer mit geladenen Schrotflinten vor ihren Häusern; Kinder wurden in Zimmern verbarrikadiert und durften nicht zur Schule gehen; ganze Häuserfronten waren von den Bomben des Bundes weggerissen worden, und es regnete in die Wohnungen. In manchen Vierteln von New York, einer der reichsten, kosmopolitischsten Städte der Welt, detonierten so viele Sprengsätze, als würde die Metropole von einem in der Upper Bay liegenden Panzerschiff belagert. Der »Bund der Finsternis« hatte Dutzende Männer ermordet, verstümmelt und verkrüppelt, und hielt nun Zehn-, ja vielleicht Hunderttausende Bürger in seinem Bann. Die Angst war so immens, dass eine Familie bloß nach Hause kommen und eine schwarze Hand aus Kohlenstaub an ihrer Haustür zu finden brauchte — ein Zeichen, dass der Bund zu Besuch gewesen war —, um sofort ihre Siebensachen zu packen und das nächste Schiff zurück nach Italien zu nehmen.
Und das geschah nicht nur in New York. Wie Petrosino lange prophezeit hatte, breitete sich die Angst von einer Stadt zur nächsten aus wie ein Präriefeuer. Die Schwarze Hand war in Cleveland aufgetaucht, in Chicago, Los Angeles, Detroit, New Orleans, San Francisco, Newport, Boston und Hunderten kleineren und mittleren Städten, in Bergarbeiterlagern, Steinbrüchen und den Ortschaften dazwischen. Vielerorts hatte sie Männer und Frauen ermordet, Gebäude gesprengt, Lynchmobs angestachelt und das Misstrauen der Amerikaner gegenüber ihren italienischen Nachbarn vertieft. Unzählige Menschen — nicht nur Einwanderer — waren dem Bund bereits ausgeliefert, weitere sollten ihm bald zum Opfer fallen: Millionäre, Richter, Gouverneure, Bürgermeister, Rockefellers, Anwälte, Spieler der Chicago Cubs, Sheriffs, Staatsanwälte, feine Damen und Gangsterbosse. In jenem Januar hatten sogar Kongressmitglieder Drohbriefe des Bundes erhalten, und obgleich diese Geschichte ein bizarres, aber gutes Ende fand, gingen doch diverse Abgeordnete daraus mit »nervöser Erschöpfung« hervor.
Im Kohlengürtel Pennsylvanias hatte der Bund ganze Städte übernommen wie bei einem bewaffneten Putsch; seine Anführer waren seitdem Herren über Leben und Tod der Einwohner. Nach einem besonders grausigen Mord der Black Hand schickten die Bürger von Buckingham County dem Gouverneur Pennsylvanias eine Botschaft, die an Hilferufe von Apachen umzingelter Siedler im Wilden Westen erinnerte: »Lage unerträglich; Mörderbande drei Meilen von hier verschanzt; ein Bürger in den Rücken geschossen, andere bedroht; County-Verwaltung offenbar machtlos.« Die Bittsteller forderten »Detectives und Bluthunde.« Man verabschiedete neue Gesetze, um eine Terrorwelle wenigstens abzubremsen, die ganz aufzuhalten anscheinend unmöglich war. Im Süden kam es — großenteils dank der Schandtaten der Black Hand — zu Übergriffen gegen italienische Einwanderer. Von Präsident Teddy Roosevelt, der mit Petrosino noch aus seiner Zeit als Commissioner der New Yorker Polizei befreundet war, hieß es, er verfolge die Entwicklungen aufmerksam im Weißen Haus. Selbst Viktor Emanuel III., der kleinwüchsige König Italiens, hatte sich von seiner geliebten Münzsammlung losgerissen, um Petrosino in dieser ihm persönlich so wichtigen Angelegenheit zu schreiben, und dem Brief eine wertvolle goldene Uhr beigelegt. Selbst in Indien, Frankreich und England beobachtete man gebannt das Duell zwischen den Mächten der Zivilisation und denen der Anarchie — womöglich nicht ganz ohne Schadenfreude angesichts der Schwierigkeiten, die der Emporkömmling USA mit seinen dunkeläugigen Einwanderern hatte.
Petrosino war sich dieser Aufmerksamkeit sehr wohl bewusst, und zwar aus guten Gründen. Nicht nur verdiente er seine Brötchen beim New York Police Department, er war obendrein der vielleicht berühmteste Italo-Amerikaner des Landes. Dieser Ruhm, so sah es wenigstens der Detective, brachte Verantwortung mit sich. Gemeinsam mit einer kleinen Avantgarde seiner Landsleute — einem Anwalt, einem Staatsanwalt und dem Gründer eines Herrenklubs — wollte er eine Bewegung anstoßen, die den Italienern aus ihrer prekären Lage helfen sollte. Die Einwanderer seien doch nur Wilde, hieß es nämlich, die nicht zu amerikanischen Bürgern taugten. Petrosino widersprach wütend: »Der Italiener ist von Natur aus freiheitsliebend«, erklärte er der New York Times. »Die Aufklärung in seiner Heimat hat er hart erkämpft, und was Italien heute ist, wurde heldenhaft errungen.« Doch sein Ringen darum, die Italiener zu vollwertigen Amerikanern zu machen, wurde vom permanenten Krieg mit dem Bund behindert; selbst die Times stimmte in die Rufe ein, die weitere Einwanderung aus Süditalien unterbinden wollten. Wie sollte er seine Landsleute rehabilitieren, wenn die »Vampire« der Black Hand sich gleichzeitig quer durchs Land mordeten und bombten?
Gar nicht, wie Petrosino erkennen musste. Die Kämpfe hingen viel zu eng zusammen. Der Schriftsteller H. P. Lovecraft sollte später ein Beispiel für die Feindseligkeit liefern, die viele Amerikaner gegen die Neuankömmlinge hegten. In einem Brief an einen Freund beschrieb er die sich in der Lower East Side drängenden Einwanderer aus Italien als Geschöpfe, die »mit keiner noch so großen Anstrengung der Fantasie Menschen genannt werden können.« Stattdessen seien sie »monströse, nebelhafte Schattenskizzen des Pithecanthropoiden und Amöbenhaften; undeutlich geformt aus irgendwelchem stinkenden, zähflüssigen Schleim irdischer Verderbtheit, glitschen und triefen sie auf und über die verschmutzten Straßen und durch Türen hinaus und hinein, wie es sonst nichts tut als Pestwürmer oder namenlose Kreaturen aus der Tiefsee.«
Wäre Petrosino erfolgreicher im Kampf gegen die Black Hand gewesen, wäre wohl auch sein Kreuzzug für die Italiener besser gelungen. Doch 1906 war ein übles Jahr; Blut, Verbündete und Boden waren verloren worden. Der Bund warf seinen Schatten inzwischen auf Petrosinos gesamte Wahlheimat, von den prächtigen Villen Long Islands bis zu den zerklüfteten Buchten Seattles. Dem Detective schwante nichts Gutes.
Heute aber würde er diese Sorgen beiseiteschieben. Er musste Willie Labarbera finden.
Die Fähre legte am Ufer von Jersey an. Petrosino mietete eine Kutsche, der Fahrer zischte die Pferde an, und los ging es nach Kenilworth, etwa dreißig Kilometer westlich. Am Pier zerstreuten sich unterdessen die Passagiere, und ein mit Kohle beladenes Pferdefuhrwerk ratterte auf die Fähre, um den Maschinenraum mit neuem Brennstoff zu versorgen. Als das Fuhrwerk zurück an Land war, legte die Fähre wieder in Richtung Manhattan ab, und es wurde still am Dock. Einige Stunden später tauchte Petrosinos Kutsche wieder auf. Er stieg aus, wartete auf die Fähre und ging an Bord. Das Schiff entfernte sich vom Pier in New Jersey, glitt über das dunkle, unruhige Wasser auf die Gaslaternen zu, die in der niedrig gebauten Stadt jenseits des Hudson funkelten. Petrosino war allein. Der Junge war nirgends zu finden gewesen.
Wenn Petrosino sich über einen besonders schwierigen Fall den Kopf zerbrach, suchte er gern Zuflucht in den Opern Verdis, seines Lieblingskomponisten. Er nahm seine Geige und spielte ein ganz bestimmtes Stück: »Di Provenza il mar«, Germonts Arie aus La Traviata. Darin tröstet ein Vater seinen Sohn, der seine Geliebte verloren hat, indem er den jungen Mann an sein Elternhaus in der Provence erinnert, an strahlende Sonne und süße Erinnerungen:
Oh, rammenta por nel duol
ch'ivi gioia a te brillò;
e che pace colà sol
su te splendere ancor può.
(Oh denk in deinem Schmerz daran
welche Freude dir gelacht
und dass der Friede jener Sonne
über dich noch heute wacht.)
»Unablässig« spielte Petrosino allein in seiner Junggesellenwohnung diese Arie, wobei seine starken Hände den Bogen sanft durch die zarten ersten Noten und hinein in die schwierigeren Passagen führten. Das Stück ist schön, aber auch traurig; es drückt die Sehnsucht nach Vergangenem aus, das höchstwahrscheinlich nie mehr wiederkehrt.
Man kann sich gut vorstellen, dass Petrosinos Nachbarn diese Arie an jenem Abend nicht nur einmal zu hören bekamen.