Bruno Amable/Stefano Palombarini
Von Mitterrand zu Macron
Über den Kollaps des französischen Parteiensystems
Aus dem Französischen von Ulrike Bischoff
Suhrkamp
2Mit den Wahlen 2017 implodierte das Parteiensystem der 5. Republik: Gaullisten und Sozialisten mussten dramatische Verluste hinnehmen, dafür bestimmten Le Pen, Mélenchon und Macron mit seiner Bewegung »En Marche!« die Szenerie. Für die Autoren ist dafür auch die »Regierungslinke« verantwortlich: Nach dem Scheitern der ambitionierten Reformen zu Beginn der Präsidentschaft Mitterrands hätten die Sozialisten ihre traditionelle Wählerschaft vernachlässigt und sich in der Hoffnung, man könne in der Mitte einen neuen, »bürgerlichen Block« schmieden, einer neoliberalen Politik verschrieben. Während Macron mit den verbliebenen »Modernisten« regiert, werden »souveränistische« Gegenstimmen immer lauter. Eine brillante Analyse, die auch die Umbrüche in der hiesigen Parteienlandschaft in ein neues Licht rückt.
Bruno Amable, geboren 1961, ist Professor für Ökonomie an der Universität Genf.
Stefano Palombarini, geboren 1966, lehrt Ökonomie an der Université Paris VIII.
Dieses Buch analysiert die politische Entwicklung in Frankreich über mehrere Jahrzehnte hinweg in Verbindung mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprojekten, die sie geprägt haben. Es befasst sich mit der Krise der alten Regierungsparteien, dem Sieg Emmanuel Macrons bei den Präsidentschaftswahlen 2017, dem umfangreichen Programm neoliberaler institutioneller Reformen, die der neue Präsident unverzüglich in Angriff genommen hat, sowie mit der politischen Umstrukturierung und Veränderung der gesellschaftlichen Allianzen in Frankreich.
Frankreich besitzt sicher ausgeprägte Besonderheiten, weist aber auch gemeinsame Merkmale mit einem Großteil des europäischen Kontinents auf. Daher verbietet es sich keineswegs, gestützt auf die im vorliegenden Buch dargelegte Analyse die wirtschaftlichen und politischen Dynamiken anderer Länder zu erhellen und eine Diagnose zu den Perspektiven der europäischen Einigung zu entwickeln.
Der Niedergang der Parti socialiste (PS), der Sozialistischen Partei, lässt sich in erster Linie als Symptom einer allgemeineren Krise in den Regierungserfahrungen der »reformistischen Linken« — ein Begriff, der immer weniger zutrifft — Europas interpretieren. Wie die Analyse des Zusammenbruchs der PS zeigt, handelt es sich dabei weniger um eine Sackgasse des sogenannten »sozialdemokratischen« Projekts als vielmehr um die Endphase eines Prozesses, in dem die im Wesentlichen linken Parteien nicht nur in Frankreich, sondern auch in Spanien, Italien, Deutschland, Griechenland und den Niederlanden neoliberale Reformen umgesetzt haben. 8Alle Parteien, die diesen Versuch aktiv betrieben haben (Partido Socialista Obrero Español, Partito Democratico, SPD, Pasok, Partij van de Arbeid …), haben in der Folge im Grunde ganz ähnliche Wahlniederlagen erlitten wie die französische Parti socialiste, wenn auch in unterschiedlichem Maße.
Andererseits ist in einem Großteil des Kontinents das Aufkommen einer nationalistischen oder »identitären« Rechten zu beobachten, die aus je nach Land unterschiedlichen Gründen den gegenwärtigen Zustand oder die Fortführung der europäischen Integration kritisiert, wie es in Frankreich mit dem Front National (FN)1 der Fall ist. In Deutschland ist das markanteste politische Phänomen der letzten Jahre der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD), die ursprünglich aus Opposition gegen den Euro gegründet wurde, aber zunehmend zu recht klassischen fremdenfeindlichen rechtsextremen Positionen übergegangen ist. In Großbritannien hat sich die United Kingdom Independence Party (UKIP) zum Bannerträger eines Protests gegen die Europäische Union gemacht, der in der öffentlichen Meinung des Landes recht tief verankert ist. Eine ganz ähnliche Rolle spielt in Italien die Lega Nord, die sich nach dem Vorbild des Front National von einer regionalistischen, föderalistischen Bewegung zu einer nationalistischen Partei gewandelt hat.
Die Schwächung der europafreundlichen Rechten und der Niedergang der »reformistischen Linken« haben den Weg für völlig neue Regierungskoalitionen eröffnet, die den Fortbestand des europäischen Einigungswerks gewährleisten wol9len und ausgeprägte Ähnlichkeiten mit dem in Frankreich von Emmanuel Macron gebildeten bürgerlichen Block besitzen: Das gilt für die Große Koalition in Deutschland, aber auch für das faktische Bündnis von Partito Democratico und Forza Italia (der Partei Silvio Berlusconis), das von 2013 bis 2018 Italiens Regierungen stützte.
Ursache dieser politischen Umwälzungen war der Zerfall der gesellschaftlichen Allianzen, auf die sich der Wechsel von sogenannten rechten oder linken »Regierungskoalitionen« stützte. Dieser Zerfall destabilisiert das politische System in zahlreichen europäischen Ländern: Meist wird er auf den Interessengegensatz zwischen den gesellschaftlichen Gruppen reduziert, die sich zu den wirtschaftlichen »Globalisierungsgewinnern« zählen, und jenen, die sich als Verlierer dieses Prozesses sehen. Zumindest in Frankreich finden sich »Gewinner« und »Verlierer« sowohl in den Bevölkerungsgruppen, die sich der Rechten zurechneten, wie auch in solchen, die der Linken angehörten, was teilweise die Hypothese bestätigt, die in der Globalisierung der Wirtschaft den Ursprung der gegenwärtigen politischen Umbrüche sieht.
Die Analyse des französischen Beispiels lässt indes andere ursächliche Faktoren erkennen und ermöglicht somit weitere Hypothesen, nach denen man die auf dem europäischen Kontinent wirkende Dynamik interpretieren kann. Zunächst einmal bestehen innerhalb der Linken schon lange Spannungen zwischen dem Flügel, der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen tiefgreifend verändern will, um den Kapitalismus zu überwinden, und jenem Flügel, der den Reizen der Marktmechanismen erlegen ist und zumindest zum Teil neoliberale Ansichten vertritt. Diese Spannungen sind bereits einige Jahrzehnte älter als der relativ schwache Einfluss, den Blairs dritter Weg auf die Parti socialiste ausüben konnte. Die gegenwärtige Phase markiert eine weitere Etappe in den kon10fliktreichen Beziehungen zwischen Strömungen, die bislang mehr oder weniger gut im Rahmen desselben »sozialdemokratischen« politischen Projekts nebeneinander existierten. Der Zerfall des linken Blocks in Frankreich entspricht dem Ergebnis, das die »zweite Linke« (deuxième gauche) mit ihrem Handeln angestrebt hat, da sie in den Arbeitern im linken Block ein Hindernis für die »Modernisierung« sah, der sie sich verpflichtet fühlte. Auch in der Rechten reichen die Reize neoliberaler Politik bereits bis in die Anfänge dieser ideologischen Strömung zurück, deren Einfluss in den konservativen Parteien seit der Krise in den siebziger Jahren nur noch gewachsen ist. Die Erfahrungen der radikalen neoliberalen Wende, die Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten und Margaret Thatcher in Großbritannien in den achtziger Jahren betrieben, besaßen seither ideologische Anziehungskraft für einen Teil der Politiker, aber auch für manche Kreise der traditionellen rechten Wählerschaft und trugen zur Krise der Rechten bei, da andere Gruppen ihrer Wähler nach wie vor vom Staat eine »Schutzfunktion« erwarten und zumindest bestimmte Aspekte der neoliberalen Wende ablehnen.
Die zunehmende Krise der traditionellen politischen Blöcke hat — in Frankreich wie auch in anderen Ländern — mehrere Analysten zu der Ansicht gebracht, die Links-rechts-Spaltung, die lange die politische Landschaft strukturiert hat, stünde im Begriff, schwächer zu werden bzw. völlig zu verschwinden. An ihre Stelle träte eine neue Polarisierung zwischen »Europabefürwortern« und »Nationalisten« oder, nach einer anderen, aber komplementären Version, zwischen den »Verantwortungsbewussten«, die auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt und auf langfristig für die wirtschaftliche Entwicklung förderliche Faktoren achten, und den »Populisten«, die als einziges Ziel den direkten Kontakt zu den unmittelbaren Wählerinteressen anstreben. Manche wollten dieser 11Spaltung sogar das Etikett des von gewissen Politologen zum Fetisch erhobenen Gegensatzes von »kulturellem« Autoritarismus und Liberalismus anheften. Dem Aufstieg Macrons kommt zumindest das Verdienst zu, mit diesen Illusionen eines libertären Neoliberalismus aufgeräumt zu haben, indem er gezeigt hat, in welchem Maße sich eine radikale neoliberale Transformation der Gesellschaft auf brutale Polizeirepressionen und signifikante Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten stützen kann oder muss.
Die in diesem Buch vorgestellte Untersuchung der französischen Dynamik erlaubt eine Verfeinerung und zugleich eine Kritik des theoretischen Schemas, das die in Europa derzeit stattfindenden politischen Umwälzungen ausgehend von einer Veränderung der Konfliktlinien deutet, die das politische Spektrum strukturieren.
Zunächst unterstreicht unsere Analyse, dass die Schwächung der Links-rechts-Spaltung — anders als man meinen könnte — einer Verschärfung des Klassenaspekts des politischen Konflikts entspricht. Der alte linke Block in Frankreich wie auch in anderen Ländern umfasste einfache Bevölkerungsschichten (classes populaires)2 (Arbeiter, gering qualifizierte Angestellte) und einen Teil der Mittelschicht (Lohnabhängige und Führungskräfte des öffentlichen Sektors, Akademiker, kreative Berufe …). Auch der rechte Block war eine schichtübergreifende Allianz, in der sich der andere Teil der Mittel- und Oberschicht (Führungskräfte der Privatwirtschaft, Freiberufler, Teile der intermediären Berufe) und einfache Bevölkerungsschichten aus dem Bereich der Selbständigen 12(Handwerker, Kaufleute) und der Landwirtschaft wiedererkannten. Dagegen trennt die politische Differenzierungsachse, die sich derzeit offenbar herauskristallisiert, eindeutig die gutsituierten Schichten, die sich im bürgerlichen Block zur Verteidigung der europäischen Integration zusammengeschlossen haben, von sämtlichen einfachen Schichten, die nun die Globalisierung der Wirtschaft und zunehmend sogar den europäischen Einigungsprozess als unmittelbare Bedrohung ihrer Lebensbedingungen wahrnehmen.
Des Weiteren zeigt unsere Analyse, dass das Auftreten dieser neuen Spaltung problematisch ist, und zwar sowohl im Hinblick auf die Bedingungen, die einen Ausweg aus der politischen Krise Frankreichs wie auch anderer Länder erlauben würden, als auch auf die politischen Wechselperspektiven. Einerseits erscheint der bürgerliche Block kohärent in der Unterstützung der europäischen Integration und neoliberaler Reformen; da er aber in erster Linie die Interessen der privilegierten Schichten vertritt, ist er wohl dazu verdammt, eine gesellschaftliche Minderheit zu bleiben. Andererseits sind die politischen Forderungen eines hypothetischen alternativen Blocks, der geeignet wäre, sämtliche einfache Schichten zu vereinen, äußerst widersprüchlich: vor allem zu grundlegenden Themen wie der sozialen Absicherung und dem Arbeitsrecht. In diesen Fragen sind die traditionell zur Rechten tendierenden Teile der einfachen Schichten zumindest teilweise für »Reformen«, die bei der lohnabhängigen einfachen Bevölkerung auf Ablehnung stoßen.
Auch wenn die Gegenüberstellung von Rechten und Linken anscheinend nicht mehr imstande ist, das Profil des politischen Konflikts in Europa erschöpfend zu erfassen, so wäre doch eine Lesart, die den politischen Raum auf die Achse von Europabefürwortern/Verantwortungsbewussten einerseits und Nationalisten/Populisten andererseits reduziert, 13unzureichend und trügerisch. Denn die gegenwärtigen politischen Umstrukturierungen sind nur in Verbindung mit den Transformationen der sozioökonomischen Modelle in Europa zu begreifen.
Zunächst ist zu betonen, dass die in mehreren Ländern zu beobachtenden »proeuropäischen« und »antieuropäischen« politischen Strategien von nationalen politischen Interessen geleitet sind. So lässt sich das Paradox erklären, dass der französische Präsident Macron und die deutsche FDP in der Frage einer Eurozonenreform gegensätzliche Ansichten vertreten, obwohl sie im Hinblick auf die Gesellschaft und das Wirtschaftsmodell ihres jeweiligen Landes im Grunde die gleichen Ziele anstreben.3 Das ist allerdings nur scheinbar ein Paradox. Denn in beiden Fällen handelt es sich um dieselbe politische Strategie, ein neoliberales Modell zu verwirklichen, indem man den unterschiedlichen nationalen Zwängen Rechnung trägt. Im einen Fall — Deutschland — erfordern diese Beschränkungen, dass man eine signifikante Reform der Eurozone ablehnt, weil man glaubt, damit sei ein Ressourcentransfer in andere Länder verbunden, was die für eine Fortführung des neoliberalen Wandels in Deutschland notwendige gesellschaftliche Basis schwächen würde. Im anderen Fall, also in Frankreich, ist die Reform der Eurozone dagegen sowohl aus »wirtschaftlichen« Gründen unerlässlich — ohne Haushaltsföderalismus bleibt die Währungsunion unvollständig und es fehlt der Handlungsspielraum für eine an14tizyklische makroökonomische Politik, die umso notwendiger wird, je stärker der Arbeitsmarkt liberalisiert und damit die automatischen Stabilisatoren geschwächt werden — als auch aus »politischen« Gründen, da ein Teil des gesellschaftlichen Blocks, auf den sich Macron stützt, den neoliberalen Wandel nur insoweit mitträgt, wie er die europäische Integration fördert.
Daher muss man eine allzu vereinfachende Sicht der Strukturierung des politischen Konflikts ablehnen; zumal die Analyse der Dynamik in Frankreich, die auch in dieser Hinsicht mit der in Italien, Spanien und Deutschland vergleichbar ist, die Vielfalt der Programme unterstreicht, die sich auf die für die sozioökonomische Organisation grundlegenden Institutionen — wie Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse, internationale Einbindung oder soziale Absicherung — auswirken. Diese Feststellung veranlasst dazu, die gegenwärtigen politischen Umstrukturierungen weder ausgehend vom alten Links-rechts-Schema noch von einer neuen Polarisierung Europa/Nation zu analysieren, sondern aufgrund der Kapitalismusmodelle, auf denen die verschiedenen Projekte beruhen.
Denkt man über Archetypen nach, so lässt die Analyse der französischen Dynamik drei politische Hauptprojekte erkennbar werden, von denen jedes sich an einer spezifischen Sicht der sozioökonomischen Organisation des Ganzen orientiert (siehe Tabelle 1).
15Tabelle 1: Drei sozioökonomische Modelle
neoliberal |
sozialistisch-ökologisch |
illiberal-identitär |
|
Beschäftigungsverhältnis |
Unterordnung der Arbeit unter die Kapitalinteressen; wenig oder gar kein Kündigungsschutz; Individualisierung; keine Anerkennung der Kollektivinteressen von Lohnabhängigen |
Anerkennung der Machtasymmetrie von Arbeitnehmern und Arbeitgebern; Kündigungsschutz, Regeln zum Mindestlohn und zur Begrenzung von Ungleichheit; anerkannte Rolle der Gewerkschaften |
keine echte Berücksichtigung der Kollektivinteressen von Arbeitnehmern; Streben nach einem unwahrscheinlichen Mittelweg zwischen schutzloser Individualisierung und Kollektivschutz |
soziale Absicherung |
minimale Absicherung (Sicherheitsnetz) und individuelle Privatversicherungen |
Kollektivschutz und beitragsunabhängige Sozialleistungen |
nach Nationalität/Identität differenzierter Schutz: minimal für Nichtstaatsbürger |
Produktion |
Privatisierung öffentlicher Dienste; Wettbewerbsideologie, praktisch und politisch jedoch zugunsten von Privatinteressen und Konzernen |
Rücküberführung bereits privatisierter öffentlicher Dienste in Staats-/Kommunalbesitz; Schutz der Verbraucher gegen wettbewerbsfeindliche Praktiken großer Konzerne |
»freier Wettbewerb« im nationalen Rahmen; Schutz kleiner und nationaler Produzenten |
16Finanzen |
Ausweitung des Finanzsektors; Anwendung der Finanzlogik auf sämtliche wirtschaftspolitischen Entscheidungen |
Einhegung des Finanzsektors und Begrenzung seines Einflusses auf Wirtschaftsentscheidungen |
Schutz vor der globalisierten Finanzwelt, zumindest verbal |
Bildung |
privatisiertes, konkurrenzorientiertes und elitäres Bildungssystem |
öffentliches Bildungssystem mit egalitärem Anspruch |
Toleranz gegenüber einem privatisierten/konfessionellen Bildungssystem; kein egalitärer Anspruch |
Umwelt |
das Problem wird den Marktmechanismen und der Privatinitiative überlassen, eventuell mit staatlicher Förderung |
Anerkennung der ökologischen Dringlichkeit und Planung des Ausstiegs aus dem gegenwärtigen, auf nicht erneuerbaren Energien beruhenden System |
aktives Desinteresse beziehungsweise Negierung des Problems |
europäische Integration |
zentrales Projekt und Instrument zur Umsetzung des neoliberalen Modells |
Spannungen zwischen dem Streben nach einem »anderen Europa« und der Feststellung, dass die EU ein Vektor der neoliberalen Transformation sozioökonomischer Modelle ist |
gilt als Problem, obwohl gewisse wirtschaftspolitische Ausrichtungen mit der EU kompatibel sind |
17Migration |
Zuwanderung wird strikt von dem vom Kapital geäußerten Bedarf abhängig gemacht |
Widerspruch zwischen egalitärem/universalistischem Ideal und den von den einfachen Schichten dieses gesellschaftlichen Blocks geäußerten Ängsten und Befürchtungen (Löhne, Lebensbedingungen …) |
Zuwanderung wird auf ein Minimum beschränkt beziehungsweise bekämpft |
Demokratie/bürgerliche Freiheiten |
Misstrauen gegenüber demokratischen Prozessen; Verankerung der Wirtschaftspolitik in der Verfassung; nötigenfalls Einsatz brutaler Gewalt |
radikale Demokratie |
Delegation der Entscheidungen an den Regierungschef; häufiger Einsatz brutaler Repressionen |
gesellschaftlicher Block |
bürgerlicher Block, im Kern bestehend aus der Oberschicht (Kapital) und der gehobenen gebildeten Mittelschicht |
zerfallender linker Block mit mehreren möglichen Neuzusammensetzungen je nach Haltung zu »Europa«: Rückgewinnung der verlorenen einfachen Schichten oder Konzentration auf das intellektuelle Kleinbürgertum |
Neuzusammensetzung/Ausweitung des rechten Blocks mit dem Schwerpunkt auf einfache Schichten (Selbständige) |
18Betrachtet man die Basis dieser drei Modelle, die in den Programmen der wichtigsten Parteien und Bewegungen Frankreichs die institutionellen Reformprojekte strukturieren, so begreift man die Schwierigkeit, einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu finden, der eine echte Lösung der in diesem Buch dargelegten politischen Krise ermöglichen würde. Jedes dieser drei Projekte entspricht einer gesellschaftlichen Allianz, die eine Minderheit vertritt; aber ein Kompromiss zwischen zweien dieser drei Projekte ist schwer vorstellbar. So regiert Macron Frankreich mit Unterstützung des bürgerlichen Blocks (der eine gesellschaftliche Minderheit darstellt). Die Bildung einer hypothetischen antibürgerlichen Front, die sämtliche einfachen Bevölkerungsschichten vereinen würde, sieht sich mit erheblichen Widersprüchen in den Erwartungen konfrontiert, die sich auf Beschäftigungsverhältnisse, soziale Absicherung, Bildungssystem oder auch Umweltfragen beziehen, ganz zu schweigen von Migration oder bürgerlichen Freiheiten. Zugleich stieße die Ausweitung des bürgerlichen Blocks auf die Wählerschaft, die sich im Wesentlichen dem Front National zuwendet, auf das Hindernis, dass sie gegensätzliche Einstellungen zur Europafrage vertritt; und eine Ausweitung nach »links« erscheint in Anbetracht des Inhalts der Reformen, die den Kern von Macrons Programm bilden, unmöglich.
19Die durch die Auswirkungen der internationalen Verflechtung der Wirtschaft entstandene Tripolarisierung einer zuvor durch den — keineswegs verschwundenen — Rechts-links-Gegensatz strukturierten politischen Landschaft prägt nicht nur Frankreich: Ähnliche Merkmale sind auch in Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland zu finden. Das bringt uns zu dem Schluss, dass die Krise der politischen Repräsentation, die sich zu einer Krise der Demokratie zu verschärfen droht, Gefahr läuft, auf den ganzen europäischen Kontinent überzugreifen.
Durch eine eventuelle Reform der europäischen Institutionen, eine schwere Krise der EU oder der Währungsunion würden die Karten für die zukünftige Dynamik sicher völlig neu gemischt. Aber auch die institutionellen Veränderungen in jedem einzelnen Mitgliedsland spielen eine entscheidende Rolle, denn der vollständige Übergang zum neoliberalen Modell, den Macron wie auch andere europäische Regierungen in ihrem Programm vorsehen, wird die gesellschaftlichen Erwartungen sowie die Definition und das politische Gewicht sozioökonomischer Gruppen und somit das Profil denkbarer gesellschaftlicher Allianzen tiefgreifend verändern. Der politische und gesellschaftliche Konflikt, der gegenwärtig in Frankreich und allgemein in Europa zutage tritt, ist daher von erheblicher Bedeutung: Sein schwer vorhersehbarer Ausgang wird nicht nur die Organisation des Kapitalismus auf dem Kontinent tiefgreifend prägen, sondern auch eine neue, dauerhafte Grenze zwischen den herrschenden Gesellschaftsschichten, die am machthabenden Block partizipieren, und den beherrschten Schichten ziehen, deren Interessen durch das staatliche Handeln geopfert werden.