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Sarah Moss

Gezeitenwechsel

Roman

Aus dem Englischen
von Nicole Seifert

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Übersetzerin bedankt sich beim Deutschen Übersetzerfonds, der die Arbeit am vorliegenden Text mit einem Arbeitsstipendium gefördert hat.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem
Titel The Tidal Zone bei Granta Publications, London.

Copyright © 2016 Sarah Moss

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung © Nick Cudworth, Walcot Parade, 2010 / Bridgeman Images

Typografie (Hardcover) mareverlag

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-351-4

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-281-4

www.mare.de

Inhalt

was nicht geschah

man kann es sich vorstellen

die arithmetik des am-leben-bleibens

in krankenhauszeit

stunden über dem meer

arts and crafts

eine schar vögel

das rattern des herannahenden zuges

jetzt schon

die traurigkeit der eltern

der magische rabe

ein land vor der revolution

brände

echoortung

ein raum zum überbringen schlechter nachrichten

ihr körper beging einen fehler

unverzeihliche listen

und dann ändert sich die geschichte

am ofen

das jahr hält inne, wendet

der weg nach draußen

mit papierschirmchen und wunderkerzen

der seltsame gesang der robben

geschichte mit moral

eine frage der schadensbegrenzung

oder vielleicht wie

orte, über die unsere füße nicht gehen können

objektpermanenz

ein weiteres halbes jahrtausend

ein ton, zu hoch, um ihn zu hören

immer noch

verwandelt

jedes mal, wenn du ein törtchen glasierst

ein derartiger effekt

dass alle begraben werden können

azur und violett und golden

lebenszeichen

zieh die verdammten schuhe an

singen, wo immer man wollte

ehe es zu spät ist

plötzlich der duft von zitronen

unsere generation repräsentieren

als naturkundliches werk

wenn ich kontrolle über das licht hätte

zeit verging

schuldgefühle, absolution und kultureller druck, die ehrlich gesagt an die kirche des mittelalters erinnern

kids angucken

das gefühl drohenden unheils

feueralarm im kopf

länger leben

vorahnung

weihnachtsszene

ein vergleich für karamelleis

sachliche beobachtung

neuanfang

algorithmen fürs sehen

sich selbst feiern

das wasser des flusses creuse

all die geister englands

nicht wegwollen

was auch immer er suchte

ein seestern

wütende engel

wo wir sind

mythen, über die wir nichts wissen

nun höre ich gleich auf zu schreiben

Dank

was nicht geschah

Es waren einmal eine Frau und ihr Mann, die lagen beieinander, und der Samen des Mannes strebte durch die Höhlen und Kammern ihres Körpers, bis er nach Hause fand. Zellen begannen, sich zu teilen und neu zu formen, wie es ihre Art ist, und etwas Neues entstand. Während die Wochen vergingen und die Frau sich seltsam fühlte und unter Übelkeit litt, nahm das Neue Gestalt an: ein Komma, eine Kaulquappe, schließlich die Knospe eines Gehirns, einer Wirbelsäule. Plötzlich, im seichten Dunkel einer Sommernacht, vervollständigte sich ein Herz, und sein jambischer Schlag setzte ein. Das Herz schlug, während dem Neuen ein Kopf und Arme und Beine wuchsen, während es im Meer des Mutterleibs zu flattern und zu kreisen begann. Lange Zeit trieb das Wesen frei umher, schlug Purzelbäume und trat, lernte, auf das Summen von Stimmen zu hören und zu Musik zu tanzen, die aus der hellen Welt da draußen zu ihm drang. Wenn die Frau schwamm und ihren anschwellenden Körper vom Wasser tragen ließ, driftete das größer werdende Wesen in ihrem Körper umher. Wenn sie ging, ließ sich das kleine Ding einlullen vom Rhythmus ihrer Schritte und vom gleichmäßigen Hämmern ihres Herzschlags neben seinem eigenen. Als aber der Winter vergangen war und die Sonne stärker auf den Boden schien, über den die Frau ging, als die Schneeglöckchen und dann die Narzissen durch die Erde drängten und apfelweiß und dottergelb erblühten, fühlte sich das Wesen eingeengt. Die Wände des Mutterleibs schienen seinen Armen und Beinen näher zu kommen, umschlossen selbst seine Rippen und seinen Po, und bald wurde es nach unten gedrückt, der Kopf gehalten von den Knochen der Frau, die Hände und Füße zusammengedrängt. Die Frau schwamm nicht mehr. Sie ging auch weniger zu Fuß als bisher, und sie und das kleine Fremde wurden empfindlich und übellaunig. Schließlich, eines hellen Aprilvormittags, als hoch am blauen Himmel weiße Wolken dahinzogen und sich an den müden grauen Bäumen Knospenperlen bildeten, war es für die Frau und das Neue an der Zeit, sich zu trennen, ein schmerzvolles Unterfangen, das viele Stunden dauerte, bis in die kalte Nacht und den nächsten Morgen hinein, den die Frau und ihr Mann nicht zu Gesicht bekamen, weil sie in einem Raum ohne Fenster die Geburt des Kindes erwarteten. Das Herz arbeitete nun seit Monaten, es schlug immer weiter, manchmal schnell und manchmal langsam, aber stets im selben Rhythmus. Unsere Geburt ist nicht mehr als ein Schlaf und ein Vergessen. Als das Kind geboren wurde, geschah das alltägliche Wunder, und es begann zu atmen, jener schreckliche Moment, in dem wir von unserer Mutter und ihrem sauerstoffhaltigen Blut getrennt werden, ohne doch je einen Atemzug getan zu haben, ohne zu wissen, wie das geht. Die Zäsur im Kreißsaal. Es atmete. Die Musik von Herz und Lungen begann und dauerte an, und niemand hörte mehr hin.

Das Kind war ein Mädchen, aber das Wichtigste an ihr war, dass sie sie selbst war. Sie war jemand Neues, jemand, den es zuvor nicht gegeben hatte, und damit, wie alle Babys, eine Offenbarung. In diesem Sommer gedieh sie in den Armen ihrer Mutter, betrachtete die Schatten der Blätter auf dem Sonnenschirm, der ihre frische Haut vor der Sonne schützte, beobachtete ihre eigenen Hände beim Tanzen und Treiben. Sie lernte zu lächeln, ihrem Vater in die Augen zu sehen und zu lächeln. Höchst konzentriert lernte sie, ihre Seesternhand um Dinge zu schließen, die sie genauer erforschen wollte: Steine, Butterblumen, den Seidensaum ihrer Decke. Auf einmal, eines hellen Abends, lernte sie, sich in ihrem Gitterbett umzudrehen, und obwohl es eine Weile dauerte, bis sie auch lernte, sich zurückzudrehen, arbeitete sie daran, ihren schweren Kopf zu heben. Und die ganze Zeit lang schlug ihr Herz, beförderte das Blut, das sie benötigte, um zu wachsen und sich mit ihrem sich verändernden Körper vertraut zu machen. All die unmöglichen Feinheiten ihrer Biologie funktionierten, und nur in seltenen Augenblicken staunte mal jemand über die verwunderlichen Vorgänge in Lunge und Magen, in Nieren und Gehirn.

Als die Frühlingsblumen wieder wuchsen, lernte die Kleine laufen. Ihr Vater ging mit ihr in den Park, wo sie sich an einer von violetten Krokussen umgebenen Bank festhielt, sich dann der Erde und der Luft anvertraute und mit vier taumelnden Schritten über das Gras in seine wartenden Arme lief. Inzwischen suchte sie nach ersten Worten: Dada, Vogel, mehr, nein. Sie lernte, einen Stift zu halten und sich zu behaupten, jede Hand wegzuschieben, die sie zu füttern versuchte, weil sie das selbst tun wollte. Tanzen brauchte sie nicht zu lernen, das konnte sie bereits.

Heute wissen wir, dass die Musik zum ersten Mal stockte, als das Mädchen fünf Jahre alt war. Sie war im Herbst zur Schule gekommen und konnte im Frühjahr fließend lesen, übernahm die eigenen Gutenachtgeschichten, war mit Zahlen aber noch unsicher und zeigte kein besonderes Interesse daran, schreiben zu lernen. Auf dem Asphaltviereck, das als Spielplatz durchging, spielte sie mit ihren Freunden Fangen, rannte und rief unter einem nassen Himmel, mit warmer Haut und rosa Wangen, während die Betreuerinnen ihre Hände tiefer in die Jackentaschen schoben. Ihre Füße wurden langsamer. Ihre Muskeln müde. Nicht genug Sauerstoff, nicht genug Zucker. Nicht genug Licht. Angst. Ihre Lunge zog sich mühsam zusammen und konnte kein Vakuum bilden, konnte die Luft nicht einsaugen, die ihr Blut benötigte. Und doch ging es ihr gut, als ihre Mutter ankam, nachdem sie das Kind in das Zimmer hinter dem Empfangstresen gelegt hatten, sie war rosig und fröhlich und sichtlich genervt. Sie hätten ihr den Inhalator gegeben, den sie für vergessliche Asthmatiker bereithielten, sagten sie, es tue ihnen leid, sie hofften, das sei richtig gewesen, aber es habe gewirkt wie ein Asthmaanfall, und wie man sehe, habe es ja funktioniert. Die Mutter des Kindes, die von der Arbeit fortgerufen worden war, kniete sich neben ihre Tochter, holte ihr Stethoskop hervor und hörte ihre Brust ab, hörte den freien Atemfluss, den Rhythmus des Herzens. Nichts war verkehrt. Asthma, sagte sie, wird bei Kindern überdiagnostiziert. Vielleicht ein Virus, eine vorübergehende Störung, so etwas. Und vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war es keine Warnung, die niemand bemerkte.

Danach keuchte das Kind manchmal, wenn es erkältet war. Nicht schlimm, nicht oft. Kein Asthma, sagte die Mutter, nicht wirklich, aber es sei sinnvoll, einen Inhalator dabeizuhaben, es schade nicht, ihn zu benutzen, wenn dem Mädchen nachts unwohl sei.

Der nächste Warnruf war lauter. Wie man ja weiß, gibt es immer drei Warnungen, drei Chancen, das Schlimme zu verhindern. Wären wir dabei allerdings erfolgreich, gäbe es keine drei, dann gäbe es gar keine Geschichte, außer in unserer undenkbaren Sammlung dessen, was nicht geschehen ist. Die Kleine schwamm im Meer vor der Insel Kalymnos. Das Wasser war kalt. Zunächst zögerte sie, fror, hatte Angst vor den Wellen, wollte kein Salzwasser auf ihrem blonden Kopf und in Augen und Nase, aber langsam, Hand in Hand mit ihrem Vater, bewegte sie sich weiter ins Mittelmeer hinein, quiekte, als das Wasser nach ihren Knien griff, nach Oberschenkeln und Bauch, und lernte dann doch zu springen, den Brechern zu trotzen und sich von den sanfteren Wellen anheben und wieder auf die Füße stellen zu lassen. Los geht’s, auf und ab, hinabtauchen und wieder landen. Ihre Hand war blau vor Kälte und glitschig von Sonnencreme und Meer, aber ihr Vater machte weiter, bis die vier sich treiben, überfluten, tragen ließen, wo die Sirenen sangen, bis die Mutter die Nerven verlor, wieder Luft zwischen den Fingern ihrer Kinder wollte und Boden unter ihren Füßen, und sie hatte recht, denn das Mädchen war noch knietief im weindunklen Meer, als ihr Atem in ihrer Brust Geräusche zu machen begann und ihre Stimme seltsam klingen ließ. Mami, sagte sie, Mami, und ihre Mutter nahm ihre Hand und zog sie den Strand hinauf, wo ganz unten in ihrer Handtasche, seit Monaten unbenutzt, der Inhalator lag. Hier, sagte sie, setz dich hin, beug dich vor, du weißt noch, wie es geht, und eine halbe Stunde später gingen alle zusammen ein Eis essen. Es ist für jeden Körper, für jedes Zusammenspiel von Blut und Haut und Knochen, ein seltsamer Moment, das Wasser zu verlassen, aus kaltem Wasser in heiße Luft zu kommen. Jedermanns Herzschlag kann da aussetzen, nicht wissend, ob er an Land ist oder im Meer. Jedermanns Lunge kann überrascht sein. Vielleicht hatte sie tatsächlich Asthma. Wie viele Menschen.

Beim dritten Mal war das Mädchen schon größer, lebte zwischen der Sehnsucht und dem Schrecken, erwachsen zu werden. Sie war so groß wie ihre Mutter, aber schwerer, runder, ihre Präsenz in einem Raum weniger provisorisch. Sie war klug und mutig und eigensinnig, und sie tanzte nicht mehr, aber sie las und sie schrieb. Sie war Amnesty International beigetreten und Greenpeace und der Grünen Partei. Sie sagte mehrmals am Tag Patriarchat und Vorherrschaft und Neoliberalismus. Sie hatte blassblaue Strähnen im Haar und provozierte ihre Lehrer gern, indem sie Wimperntusche trug: Aber Miss, Sie sind ja geschminkt. Aber Sir, bereiten Sie uns hier nicht auf eine Welt vor, die sehr viel mehr Interesse daran hat, die weibliche Sexualität zu kontrollieren, als uns Wissen zu vermitteln?

Man fand sie auf dem Sportplatz. Der Sportlehrer fand sie auf dem Sportplatz, nachdem er zu seiner Verwunderung unter einem Baum ein Kleiderbündel bemerkt hatte, obwohl alle im Unterricht sein sollten. Sie war bewusstlos, machte aber komische Geräusche, sagte er, als versuche jemand, mit einem stumpfen Messer Pappe zu schneiden, und ehe er noch den Notarzt rufen konnte, hörten die Geräusche auf. Das Atmen hörte auf.

Er tat das Richtige in der richtigen Reihenfolge. Griff nach seinem Handy, drückte dreimal die 9, stellte auf »Lautsprecher« und legte das Telefon neben das Mädchen zwischen die Pusteblumen, drehte sie auf den Rücken, prüfte, ob sie etwas im Mund hatte, schob ihren Kopf in den Nacken, während die Sekunden dahintropften wie Honig, hielt ihr die Nase zu und blies in ihren Mund, prüfte, ob sich ihr Brustkorb hob, was nicht der Fall war, so gut wie nicht, aber da er wusste, wie es ging, und nicht wusste, was er sonst tun sollte, machte er weiter. Wie er es gelernt hatte, versuchte er, im Geiste den Rhythmus zu hören, während er seine Arme durchdrückte, die Öffnung ihres Brustkorbs suchte und unter seinen Handflächen ihren BH spürte, als er ihre Knochen gegen die Erde presste. Ah, ha, ha, ha, stayin’ alive. Zwischen dem Brustbein des Mädchens und dem kalten Gras war nicht viel Raum: ein Leichtes, ihn um ein Drittel einzudrücken, jedenfalls zu Anfang. Notarzt, sagte er. Schule. Bewusstlos, atmet nicht. Mache Herz-Lungen-Massage. Stayin’ alive, stayin’ alive. Und wieder beatmen.

Im Körper des Mädchens, in ihrem Gehirn, das wusste der Lehrer, starben Zellen. Der Sauerstoffgehalt ausgeatmeter Luft ist nicht besonders hoch. Indem man den Brustkorb zusammenpresst, bewegt man nicht viel Blut, selbst wenn man kräftig presst, selbst wenn man so kräftig presst. Ihr Gesicht und ihre Lippen wurden blau. Weitersingen, weiterdrücken. Life’s goin’ nowhere. Somebody help me, yeah. Seine Arme wurden müde. Stärker. Er hörte jetzt Sirenen auf der Straße, Blaulicht auf dem Platz, ein Auto holperte über den Rasen. Ah, ha, ha, ha, stayin’ alive. Die Autotür blieb offen, der Motor lief noch, eine Frau im grünen Overall. Blaue Plastikhandschuhe. Umherlaufende Menschen, ein Notarztwagen. Wir übernehmen jetzt, gut gemacht, und er stand auf, um Platz zu machen, taumelte. Sie knieten sich neben das Mädchen, es waren vier: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, segnet das Bett, in dem ich liege. Am Himmel hämmerte ein Hubschrauber und bog die Bäume um.

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Plötzlich war da dein Herz, plötzlich war da, in der Dunkelheit des Mutterleibs, ein Knistern und ein Blitz, und aus dem Nichts heraus floss die Energie. Plötzlich fingst du an zu atmen. Ganz plötzlich wirst du auch wieder damit aufhören, du und ich und wir alle. Deine Lunge wird endlich ruhen, und der elektrische Impuls in deinem Blut wird in die Dunkelheit verschwinden, aus der er gekommen ist.

Steck dir die Finger in die Ohren, leg deinen Kopf aufs Kissen, lausche auf die Schritte deines Blutes.

Du lebst.

man kann es sich vorstellen

Es gibt keine Vorwarnungen. Die Tatsache, dass man gerade ein eigentlich inakzeptables Sandwich isst oder unverantwortlich viel intellektuelle Energie auf seinen neuesten Beitrag in einem sozialen Netzwerk verwendet, bedeutet nicht, dass man sich nicht zugleich in dem Intervall zwischen dem Moment befinden kann, in dem man all das verliert, was man für selbstverständlich gehalten hat, und dem Moment, in dem man davon erfährt. Auch im Zeitalter der blitzartigen Kommunikation gibt es noch dieses Intervall. Sogar während Sie dies lesen, holt vielleicht jemand tief Luft, ein Polizist oder ein Lehrer oder ein Kollege, derjenige, der in dem Drehbuch, dem Sie unwissentlich folgen, den Todesengel spielt und versucht, sich an den Lehrgang zum Überbringen schlechter Nachrichten zu erinnern, während er Ihre Nummer wählt und sich darauf vorbereitet, die Worte zu sagen, die wir uns alle schon vorgestellt haben, die Worte, mit denen wir uns quälen, als bliebe die Möglichkeit allein dadurch Albtraum und Fantasie, dass wir über sie nachdenken, sie im Geiste anerkennen. Es ist etwas passiert.

Sich Dinge vorzustellen, hindert sie nicht daran einzutreten. Genauso wenig, wie sie sich nicht vorzustellen. Die Leute, vor allem die Eltern, die einer von uns wegen Rose natürlich immer noch zweimal täglich am Schultor traf, sagten: Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was Sie und Emma gerade durchmachen. Es ist exakt so, wie Sie es sich vorstellen, sagte ich. Wenn Sie einen Bericht darüber lesen, wie über ein normales Leben die Katastrophe hereinbricht, durch eine eisglatte Straße, durch einen schläfrigen Lastwagenfahrer oder ein abstürzendes Flugzeug oder den wütenden bewaffneten jungen Mann, der nichts mehr zu verlieren hat, wenn Sie schaudern und weiterblättern – es ist genau so. Sie können es sich vorstellen. Was Sie sich vorstellen, stimmt. Es war nicht das, was die Eltern von mir hören wollten.

Es gibt auch keine Ironie. Die Tatsache, dass man sein Gesicht in die Frühlingssonne hält, die auf ein Meer von Blauglöckchen fällt, oder sich einen Kaffee holt, den man sich mitten am Nachmittag gönnt, einfach weil man Lust darauf hat, heißt nicht, dass der Engel des Todes herniederkommt. Es gibt keinen Engel. Es gibt kein Drehbuch. Genieß die Blauglöckchen, wann immer du kannst, denn sie sind keine Symbole, nur Blumen. Sie haben keine Macht.

Wie es der Zufall wollte, aß ich gerade kein Sandwich, allerdings war mir schon der Gedanke daran gekommen, und ausnahmsweise lungerte ich auch nicht im Internet rum, um mir die Grundrisse der Häuser anzusehen, die wir uns hätten leisten können, wenn wir zehn Jahre eher angefangen hätten, den Immobilienmarkt zu studieren. Ich arbeitete, was heißt, dass mein Laptop aufgeklappt auf dem Küchentisch stand und ich in einem großen Buch las, in dem sich hauptsächlich Zeichnungen und Bilder der Kathedrale von Coventry befanden. Mein Laptop stand ein Stück entfernt von der Marmeladenlache, die Rose auf dem Tisch hinterlassen hatte, als wir Richtung Schule aufgebrochen waren, und den ich mir geschworen hatte nicht wegzuwischen, bis ich Mittagspause machte. Auf der anderen Seite stand die Tasse mit kaltem Milchkaffee, den Emma sich gekocht, aber nicht getrunken hatte, bevor wir anderen aufgestanden waren, und die ich möglicherweise auf dem Tisch stehen lassen würde, bis sie zu nachtschlafender Zeit zurückkam, aus einem Prinzip, das mir selbst nicht so ganz klar war. Nachdem ich die Mädchen abgesetzt hatte und bevor ich anfing zu arbeiten, war ich laufen gewesen, und jetzt fiel mir wieder ein, dass ich mich mal wieder bewegen musste, damit meine Beine nicht steif wurden.

Ich dachte nicht über die Bombardierung der alten Kathedrale nach. Das wäre zu naheliegend. Ich versuchte, über den Gobelin nachzudenken. Ich habe einen Fremdenführer über den Gobelin sprechen hören, vor Horden grauhaariger Leute in Strickjacken und praktischen Schuhen, die Art Leute, die – wenn das Schicksal es will, gehöre ich selbst später dazu – unter der Woche Kathedralen besichtigen. Der Gobelin, sagte der Fremdenführer, ist der größte der Welt. Er erscheint aus Ihrem Blickwinkel verkürzt, aber wenn wir ihn abnähmen und auf dem Boden ausbreiteten, würde er bis zum Chorraum und weiter reichen. Als wäre es Graham Sutherland darum gegangen, mit den gewebten Metern einen globalen Wettbewerb zu gewinnen. Der Gobelin macht schon beim Betreten der 1967 fertiggestellten Kathedrale deutlich, dass sie trotz ihres modernistischen Gewands in der Tradition englischer Kunst und englischen Handwerks steht. Ich überlegte, wie ich formulieren sollte, dass die Kathedrale dem Auge, das an Steinfußböden gewöhnt ist, an gotische Fenster und Marmorstatuen einheimischer Gutsherren, zwar ungewohnt erscheint, ungeistlich, dass dieses Gebäude aber eine konservativere Bekräftigung einheimischer, sogar volksnaher Traditionen darstellt als die meisten seiner französischen und deutschen Entsprechungen. Handgefertigt, ein weiterer Ausdruck für das englische Misstrauen gegenüber den Maschinen der Massenfertigung, die in unserem schönen grünen Land ihren Anfang nahmen. Die Frage danach, was man mit den zerstörten Kirchen tun sollte, war nach dem Krieg in Europa eine der weniger drängenden. Ob man sie wiederaufbauen sollte, als könnte man zu den alten Verfahren zurückkehren, als könnte man wiederauferstehen lassen, was verloren ist; oder ob man die Ruinen als Mahnmal unberührt lassen sollte, als memento mori, als könnten wir niemals zurückkehren und niemals vergessen, was wir verloren haben, als sollte die Trauer zum Dauerzustand werden. Ich versuchte, etwas davon zu vermitteln, ohne pompös zu klingen, und fragte mich, wie viel ich über Materialien und Interieur hinaus erläutern durfte, schließlich schrieb ich hier kein Buch, als – plötzlich, wie auch sonst? – mein Telefon klingelte.

Eine Handynummer, die meinem Telefon unbekannt war. Während ich mich meldete, ging ich die Treppe hoch, das machen wir immer, weil der Empfang im Erdgeschoss schlecht ist. Ich befand mich also auf dem Treppenabsatz, kam gerade am Foto der einjährigen Rose vorbei, die am Strand von Porthleven in die ausgestreckten Arme der achtjährigen Miriam wankt. Hier spricht Victoria Collier, sagte sie, und ich brauchte einen Augenblick, bis mir klar wurde, dass es Mrs. Collier war, die Rektorin von Miriams Schule. Immer noch verspürte ich keinen Stich. Miriam musste ihrem engstirnigen Englischlehrer einmal zu oft widersprochen oder sich geweigert haben, ihre Haare zusammenzubinden, eine dieser lässlichen Sünden, die Schulen erfanden, um echter Rebellion zuvorzukommen. Sie muss ständig nachsitzen, sie buhlt förmlich darum. Es ist etwas passiert, sagte Mrs. Collier, mit Miriam. Wir haben sie auf dem Sportplatz gefunden. Sie ist umgehauen worden, dachte ich, jemand hat sie mit dem Hockeyschläger oder dem Lacrosse-Ball erwischt. Ich habe Lacrosse immer gehasst, diese Bälle auf Kopfhöhe, auch wenn Mimi bei einem Teamsport zu kooperieren lernte. Ich spürte die Angst in der Kehle, in den Ohren. Miriam scheint es wieder gut zu gehen, sagte sie, sie ist bei Bewusstsein und stabil, aber sie war ohnmächtig oder hatte eine – eine Art Zusammenbruch. Wir haben den Krankenwagen gerufen, sie war eine ganze Weile weg, länger, als dem Arzt lieb war, deshalb wollen sie sie mit ins Krankenhaus nehmen, einfach, um auf der sicheren Seite zu sein. Da fahren sie jetzt hin. Ich dachte: Weg. Da. Wie bei diesen Wetterhäuschen, die es früher gab, in denen der Mann erscheint und die Frau verschwindet, wenn es Regen gibt, vielleicht war es auch andersrum, aber während mein Geist noch nach einem Bild suchte, wusste mein Körper bereits, was zu tun war, und ich war am Fuß der Treppe, schob die Füße in die Schuhe, griff nach dem Autoschlüssel und ließ die Türen piepen, während ich meine Jacke vom Haken nahm. Können sie warten, fragte ich, wenn sie bei Bewusstsein und stabil ist, können sie zehn Minuten warten? Normalerweise braucht man mitten am Tag bei normalem Verkehr zwanzig Minuten. Ich schaffte es in acht.

Es ging ihr gut. Das war das Erste, was ich sah. Sie lag in der Höhle des Krankenwagens unter einer dünnen Decke flach auf dem Rücken, ihr Gesicht dreckverschmiert, unter der Decke kamen Drähte hervor, und zwischen ihren Füßen saß wie ein kleiner Hund ein altmodisch wirkender piepender Monitor. Sie war sehr blass und ihr Gesicht unter der Sauerstoffmaske seltsam geschwollen, aber es ging ihr gut. Als sie mich sah, hob sie die Maske an. Hallo, Dad, sagte sie und rollte mit den Augen, wie sie es macht, wenn ihr Rose’ Frotzeleien auf die Nerven gehen, als wäre das hier nur eine Farce. Entschuldige das ganze Getue. Die Maske zischte, als hätte sie ein Loch, als gäbe es einen Notfall. Ich sah zur Sanitäterin, die auf den Monitor blickte und dann zu der Blutdruckmanschette an Miriams Arm, die sich selbst aufblies wie eine Schwimmweste. Falls es zu einer Notlandung kommt, ziehen Sie an der Schnur. Sie keucht ein bisschen, sagte ich, sie hat Asthma. Ihre Mutter, meine Frau, ist Ärztin, Allgemeinmedizinerin. Als wäre das unsere Entschuldigung. Als dürfte man die Symptome und Zustände seiner Kinder ignorieren, solange man einen Arzt in der Familie hat, bis jemand anders einen Krankenwagen ruft. Ja, sagte die Sanitäterin, deren blonder Zopf sich auf ihrer Schulter bewegte, als sie Miriams Decke zurechtzog, vielleicht ist das schon alles. Sie machen im Krankenhaus nur noch ein paar Tests. Wir behalten die Maske erst mal auf, Miriam. Setzen Sie sich hier hin, Dad. Ich bin nicht Ihr Dad, dachte ich, doch später gewöhnte ich mich daran, dass Mediziner gleichzeitig die Götter in Weiß sein und die linguistische Position von Kindern einnehmen können. Und sie haben schon recht, es spielt keine Rolle, was ich vielleicht sonst noch bin. Miriams Dad. Ich wollte nach ihrer Hand greifen, als ich mich setzte und sie mich anlächelte, aber sie war so weit weg unter der Decke und all den Kabeln, zu weit weg, um meine Hand zu halten.

Erst als das Martinshorn ertönte, wurde mir klar, dass ich nicht so große Angst hatte, wie ich hätte haben sollen. Rückblickend erkenne ich darin den letzten Moment der Unschuld, hinten im Krankenwagen, in der Annahme, es ginge Miriam gut.

Auf uns wartete ein ganzer Raum voller Ärzte, ein Team, das sich um das Bett in der Reanimation versammelt hatte, als würde gleich ein Ritual vollzogen, Brot in Menschenfleisch verwandelt. Eine Jungfrau geopfert.

Da kommen sie ja, hörte ich jemanden sagen, und dann, beinahe enttäuscht: Ach, sie ist bei Bewusstsein.

Miriam versuchte, sich auf der Trage aufzusetzen, aber die Schläuche waren nicht lang genug. Sie reckte den Hals, um zu sehen, wo man sie hinbrachte, ihr Gesicht noch ganz weiß und geschwollen, ihr Atem immer noch eigenartig. Sie hatte Schmutz im Haar, den ich am liebsten ausgebürstet hätte, um alles in Ordnung zu bringen. Schön hinlegen, sagten sie, jetzt pikt es einmal kurz im Arm, tut mir leid. Die Tatsache, dass sie zu wissen schienen, was sie taten, was geschehen würde, beruhigte mich und ließ mich verstummen; es gab offensichtlich eine Chronologie, der sie folgten. Nur ich wusste nicht, was als Nächstes kam.

die arithmetik des am-leben-bleibens

Es war wichtig, anderen davon zu erzählen. Menschen zu sagen, dass so etwas passieren kann: Der Körper deines Kindes kann aufhören zu atmen, das Herz kann aufhören zu schlagen. Seine Lunge kann jederzeit die Arbeit einstellen, der Flügelschlag, der in seinem Herzen begann, ehe sich seine Knochen formten, ehe der künftige Fötus Miriam Rückenmark hatte oder einen Schädel, kann ins Stocken geraten und innehalten. Und dann staut sich das Blut in den Venen deines Kindes. Es stockt. Und die Zellen deiner Tochter haben keinen Sauerstoff mehr, ihre Muskeln keinen Zucker. Keine Bewegung mehr. Keine Gedanken. Wo das Metronom des Körpers tickte, ist Stille. Sie geht. Sie geht fort. Es kann passieren. Es ist passiert. Ich musste den Leuten sagen, dass die Welt nicht war, wie sie glaubten.

Ich fragte Miriam, ob es in Ordnung für sie sei, wenn ich ein paar Anrufe machte. Sie saß inzwischen aufrecht im Bett, aß Joghurt aus einem Becher, auf der Intensivstation, an Kabeln, die aus den Monitoren durch die zerrissenen, schmutzigen Überreste ihrer Schuluniform krochen. Knöpf deine Bluse zu, wollte ich sagen, zieh die Decke höher, man kann deinen BH sehen. Okay, sagte sie, dann gucke ich vielleicht etwas fern, wo hier schon ein Fernseher ist, die scheinen ja zu glauben, dass man den hier braucht, auf der Intensivstation, neben dem Sauerstoff und dem Intubationszubehör. Bist du sicher, dachte ich, denn zu Hause sieht sie nie fern, wirft ihrer Mutter vor, dem Opium der Massen verfallen zu sein, steht in der Gegend rum und erklärt, dass Kostümfilme britische Fetische nährten und verherrlichten, nämlich Eleganz sowie unverdiente Privilegien und Reichtum, den man nicht durch eigene Arbeit erworben hat; dass die Nachrichten hoffnungslos provinziell seien und die Kochsendungen, die Emma liebt, nicht nur Hausarbeit glorifizierten, sondern auch den Verzehr genau der Zutaten, die einem ständig ausgeredet werden. Es ist eine Essstörung nationalen Ausmaßes, sagt sie und sieht zu, wie Emma Leuten dabei zusieht, wie sie Torten mit Butter, Sahne und Schokolade glasieren und Kuchen mit Karamell und Kondensmilch bestreichen; wir sind alle besessen davon, zu dick zu sein und abnehmen zu müssen, und gleichzeitig backen wir wie bescheuert. Halt die Klappe, Schatz, sagt Emma, ich habe den ganzen Tag lang mit Übergewichtigen und Unterernährten zu tun gehabt, nimm dir einen Keks und lass mich ein bisschen Blödsinn sehen, bevor ich schlafen gehe. Mach deine Anrufe, Dad, sagte Mim, drückte auf ein paar Knöpfe und füllte das Zimmer mit amerikanischen Lachern vom Band.

Die Krankenschwester, die am anderen Ende des Raumes saß, sah auf und notierte etwas. Patientin sieht fern? Der Monitor fing an, schneller zu piepen, und ich sah, wie Miriams Herzfrequenz auf dem schwarzen Bildschirm grün anstieg, sah die Krakelschrift ansteigen und fallen, um nach vier oder fünf Schlägen ausradiert zu werden und von Neuem zu beginnen. Es wird schneller, dachte ich, ihr Herz beschleunigt, aber die Schwester war nicht beunruhigt. Die Sauerstoffsättigung fiel: 95, 94. Dann wieder 95. Dad, sagte Miriam, den Blick auf den Fernseher gerichtet, mir geht es gut, geh deine Anrufe machen. Ich sah, dass es ihr gut ging, dass der Joghurt und ihre aufrechte Haltung nicht passten zu diesem Raum, in den man Menschen brachte, die lebenserhaltende Maßnahmen benötigten. Ich lehnte mich an die Heizung. Sie war viel zu heiß, brannte noch durch meine Hose hindurch, aber der Schmerz fühlte sich richtig an.

Als Erstes rief ich in dem Institut an, in dem ich am nächsten Tag eine Vorlesung halten sollte. Kunstgeschichte 113: Wie man ein Gebäude betrachtet. Ich bin kein Professor, gehöre nur zu den Erwerbslosen mit Doktortitel, die die Universität beauftragt, auf Stundenbasis die Erstsemester zu unterrichten, wenn ihr klar wird, dass die eine Hälfte der Fakultät ein Forschungssemester hat und die andere sich für viel zu wichtig hält, um Einführungskurse zu geben. Das Telefon von Hannah, der Institutssekretärin, klingelte und klingelte. Hauptberuflich bin ich Vater. »Ein Mann der Muße«, sagt Emmas Vater, der Chirurg ist und die Sorte Mann, der deinen neuen Kaschmirpullover einlaufen lässt, damit man ihn nie wieder bittet, sich um die Wäsche zu kümmern, und der die Dreistigkeit besitzt, so zu tun, als würde er, der Titanprothesen in Knie und Hüften einsetzt, das Konzept der Waschmaschinenumdrehung nicht begreifen. Er will damit sagen, dass ich ein Schnorrer bin, ein Faulenzer, der nichtsnutzige Untermieter seiner Tochter. Ich würde ihm alles verzeihen, wenn er wenigstens nett zu ihr wäre, wenn er Emma gestatten würde, sich vollwertig zu fühlen, sei es als Ärztin, als Tochter oder als Mensch.

Ich hinterließ eine Nachricht. Hier ist Adam Goldschmidt, leider kann ich morgen nicht kommen, meine Tochter – meine Tochter ist im Krankenhaus. Sie hat nicht mehr geatmet. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Tut mir leid.

Ich hielt das Telefon in der Hand. Emma hatte ich aus dem Krankenwagen angerufen, sie war unterwegs, hatte sich das Auto eines Kollegen geliehen. Fahr nicht zu schnell, dachte ich, nicht dass du angehalten wirst, einen Unfall hast. Als gäbe es irgendwo die Inhaltsangabe einer Geschichte, zu der kein Autounfall gehörte. Man kann nicht an einem Tag einen Atemstillstand und einen Autounfall in derselben Familie haben, das erlauben die aristotelischen Regeln nicht. Miriam hatte ihren Joghurt aufgegessen, sah fern, und in ihrem Schoß spielten ihre Finger mit der Sauerstoffsonde, die an ihrem linken Daumen saß. Ihre Herzfrequenz stieg an, während ich sie beobachtete, 73 Schläge pro Minute, 76, dann sank sie wieder, 68, 66, 63. Was, wenn sie weiter fällt, dachte ich, wo ist die Schwester, warum tut sie nichts, vielleicht passiert es gerade noch mal, 62, 61, darf ihr Herz denn in die Fünfziger runtergehen? Schnell. Ruf jemanden her. 58.

»Mim?«

Sie sah auf. Die Schwellung war zurückgegangen, und sie hatte wieder mehr Farbe. Sie wirkte normal. Abgesehen von den Schläuchen, dem Schmutz und der zerrissenen Kleidung. Abgesehen davon, dass sie auf der Intensivstation lag. 61, 63, 64.

»Ja?«

»Alles in Ordnung?«

Sie sah auf die Monitore, zu dem roten Knopf über ihrem Bett. »Es ging mir noch nie besser, Dad. Alles rosig. Siehst du das nicht?«

»Ich meinte …« Ich meinte: Wirst du sterben? Machst du das noch mal? Ich meinte: Atmest du noch?

»Kommt Mum bald?«

Ich nickte. »Sie ist auf dem Weg.«

»Gut. Dad, ist mein Handy hier irgendwo? Ich will Sophie und Charlotte sagen, dass alles okay ist.«

Ich stand da. Auf dem Fernsehschirm versammelten sich gebräunte weiße Teenager im immerwährenden Sonnenschein Hollywoods neben einem David-Hockney-Pool. Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass die Mädchen dieses Zeug für das echte Leben halten, dass sie daraus schließen, Jungs mit reiner Haut würden sie um »Dates« bitten, und sie würden in kleinere moralische Zwickmühlen geraten, aus denen sie jedoch nach fünfundvierzig Minuten siegreich und tugendhaft hervorgingen; aber natürlich erkennen unsere Kinder das Genre, besser als wir, sie kennen den Unterschied zwischen Geschichten und dem echten Leben. Ein Mädchen sprang voll bekleidet ins Wasser und strampelte herum, schreiend, das Gesicht halb unter Wasser. Ich spürte mein Herz schlagen: Sie würde ertrinken, und alle standen nur herum und ließen es geschehen. Aber dann bemerkte ein Junge auf der Veranda, der eben noch in eine ernste Unterhaltung mit einem anderen Mädchen vertieft gewesen war, das Mädchen im Pool, lief los und machte einen perfekten Kopfsprung. Ah.

»Oh mein Gott, Brad, du hast mich gerettet«, höhnte Miriam. »Du bist mein Held! Allerdings werden wir trotzdem keinen Sex haben. Ich meine, oh mein Gott, ich bin noch Jungfrau. Außerdem leben wir in einem Land, in dem Verhütung als Sünde gilt. Vielleicht ist dir in anderen beliebten Jugendserien aufgefallen, dass jeder, der Sex hat, oh mein Gott … schwanger wird? Dad, hast du mir ein Buch mitgebracht?«

»Nein«, sagte ich. »Komischerweise habe ich daran nicht gedacht.«

Die Schwester notierte wieder etwas, als wäre Sarkasmus etwas, worauf sie gewartet hatte.

Ich ging wieder zum Fenster. Ich sollte mehr Leuten Bescheid sagen, dachte ich. Der Schule, ich muss der Schule sagen, dass es ihr gut geht. Dass es ihr gut zu gehen scheint. Und jemand musste Rose abholen, denn wir würden hier vermutlich nicht früh genug loskommen. Ich hatte den Lachs fürs Abendessen nicht aus dem Gefrierschrank genommen und würde etwas anderes kochen müssen, etwas Schnelles, denn viel Zeit würde nicht mehr sein für Hausaufgaben und Essen und Zubettbringen, wenn wir zurückkamen. Pasta. Im Kühlschrank war noch ein Beutel Spinat, und ein Becher Ricotta musste auch noch da sein. Das würde Rose nicht schmecken. Vom Fenster aus blickte man auf den Parkplatz, auf dem Leute Schlange standen, um Parktickets auszulösen, dann die Türen ihrer Autos öffneten, ihre Jacken vom Rücksitz nahmen, die Schlüssel ins Zündschloss steckten, ohne darüber nachzudenken, sich anschnallten und auf den Nachhauseweg machten. Als wären sie sicher, zumindest einigermaßen. Man macht sich Sorgen, dachte ich, wenn die Kinder über die Straße gehen. Hat sie ein paar Tage Fieber, macht man sich Sorgen, dass es doch keine Grippe ist, sondern Meningitis, vor allem, wenn sie Ausschlag bekommt. Man macht sich Sorgen, dass üble Typen sie verführen und sie nicht erkennen wird, was man selbst erkennt. Man macht sich Sorgen, dass ihre Unerfahrenheit und die Finsternis der Welt ihr schaden, obwohl man weiß, dass nur Erfahrungen mit der Finsternis der Welt sie beschützen werden, dass man das nicht auf ewig selbst tun kann und sollte. Man macht sich Sorgen, dass sie auf die falschen Partys geht und die falschen Drogen nimmt oder am selben Tag in ein Flugzeug steigt wie ein zorniger Mensch, der nichts zu verlieren hat. Aber man macht sich keine Sorgen, es kommt einem nicht mal in den Sinn, dass sie eines Tages einfach aufhört zu atmen, auf dem Schulhof einen Herzstillstand hat, nicht weil ein Auto sie überfahren hätte oder ein Virus sie krank gemacht hat oder eine Klinge sie geschnitten oder Feuer ihr Fleisch verbrannt hat, kein Weil. Wie sollte man noch leben können, wenn man sich darum Sorgen machte?

Ich ging wieder zurück und sah auf den Bildschirm über ihrem Kopf, während sie auf den Bildschirm über ihren Füßen sah, ich, weil er die Wahrheit, und sie, weil er eine Lüge zu erzählen schien. Ihre Sauerstoffsättigung fiel, 95, 92, 89, und etwas fing an zu läuten, ein dringlicher Ton, als klingelte jemand wiederholt an der Tür, als hätte er Sorge, dass drinnen jemand am Fuß der Treppe läge. Die Ziffern verschwanden.

»Bitte …«, sagte ich, aber die Schwester war schon da.

Sie klemmte den Sensor wieder an Miriams Finger. »So«, sagte sie. »Das war schon alles. Es geht ihr gut. Wir gucken uns immer zuerst die Patientin an, Dad, dann erst die Geräte. Sie hat eine gute Farbe.«

Ich setzte mich auf den glänzenden Plastikstuhl, der offensichtlich für die Begleitung gedacht war, für den Erziehungsberechtigten, den Zeugen. Ich sah auf den Monitor, als würde ich so irgendwann verstehen, welchem Handlungsschema wir folgten, und ich musste daran denken, wie ich das letzte Mal die Zahlen eines Herzschlags verfolgt hatte, bei Rose’ Geburt. Wir machten uns Sorgen, weil ihr Herz mit jeder Kontraktion langsamer wurde und danach nicht so schnell zur normalen Frequenz zurückfand, wie die Hebammen wollten. Sauerstoffmangel, zischte Emma, bevor sie erneut aufstöhnte. Wir fürchten, sie drückt auf die Nabelschnur. Selbst in dieser Situation: Wir. Wir Ärzte. Ich dachte daran, wie ich zum ersten Mal Miriams Herzschlag hörte, ehe man von außen sehen konnte, dass in Emmas Körper noch jemand war, erinnerte mich an den unförmigen Homunkulus, der auf dem Schwarz-Weiß-Monitor ins Bild schwamm, ein filmischer Spezialeffekt, eine Art primitive Computeranimation. Nach dem Ultraschall stiegen wir wieder ins Auto, und als Emma den Motor startete, ging das Radio an. Das Nachmittagshörspiel, dachte ich, eine seltsame Reprise von Krieg der Welten, die darauf basierte, dass Passagierflugzeuge in New Yorker Wolkenkratzer geflogen sind. Es war nicht sehr gut, und ich stellte es ab, damit wir über das Baby sprechen konnten.

Wie war es, fragte Miriam neulich, wie war es, bevor die Flugzeuge ins World Trade Center flogen? Unschuldig, dachte ich, auch wenn man das, wie bei jeder Unschuld, erst im Nachhinein erkennt. Die Feinde waren andere, sagte ich zu ihr, das war alles. Wir hatten kaum aufgehört, uns Sorgen um den Kalten Krieg und das Wettrüsten zu machen, was genauso beängstigend war wie religiös begründeter Terrorismus, in mancher Hinsicht sogar beängstigender. Vielleicht war da eine Pause, Ende der Neunzigerjahre, eine Auszeit von der Angst, falls das so war, erinnere ich mich allerdings nicht daran. Aber die Aufrüstung macht mir immer noch Angst, sagte Miriam, alles andere wäre ja wohl ziemlich dumm. Wusstest du, dass niemand weiß, wo das waffenfähige Plutonium der ehemaligen UdSSR-Staaten jetzt ist? Also, irgendjemand wird es schon wissen, und es ist auch nicht schwer zu erraten, wer, aber es gibt nichts Offizielles. Oh Gott, sagte ich, erzähl mir bloß nicht, du hast im Internet schon wieder waffenfähiges Plutonium recherchiert, ich dachte, darüber hätten wir gesprochen. Ganz ruhig, antwortete sie, wie ich schon sagte, niemand wird eine weiße Fünfzehnjährige für eine terroristische Bedrohung halten. Und wie ich schon sagte, täuschst du dich da, erwiderte ich. Selbst wenn die Human Rights Bill nicht dran glauben muss, für Terrorverdächtige gilt sie nicht, wir würden dich nie wiederkriegen, du musst so was lassen. Dies ist kein freies Land, Miriam. Du kannst nicht alles aussprechen, was dir in den Sinn kommt, nicht bei Themen wie Krieg und Bomben. Sie zuckte mit den Schultern, wie es Teenager tun, wenn sie glauben, sie wüssten es besser. Okay, Dad, aber das iPad ist auf deinen Namen registriert, das ist dir klar, oder? Das kommt alles von deinem Account. Na wunderbar, sagte ich, jetzt muss ich ein Buch über Terrorismus schreiben, um deine Spuren zu verwischen und damit wir sagen können, es wäre Recherche gewesen, aber selbst dann werden sie kaum glauben, dass ein Typ, der aus der Arts-and-Crafts-Bewegung kommt, plötzlich damit beauftragt wird, über waffenfähiges Plutonium in zerfallenden Nationalstaaten zu schreiben. Du musst damit aufhören, Miriam. Ich wusste, dass sie es nicht tun würde, dass die Schrecken der Welt, die sie erbte, für meine Tochter das Erwachsenenleben bedeuteten, nach dem wir uns mit fünfzehn alle so sehnen. Ein besserer Vater hätte herausgefunden, wie man ihren Internetzugang beschränken konnte. Aber besser Waffenhandel als Pornografie, dachte ich. Vielleicht.

Ihre Herzfrequenz stieg, 68, 71, 72, der Sauerstoffgehalt variierte, blieb aber durchgehend bei Mitte 90, ihr Blutdruck war beim letzten Messen bei 108 / 72. Die Arithmetik des Am-Leben-Bleibens war nichts Selbstverständliches mehr und schrieb ihre Schlagzeilen über das Bett meiner Tochter.

Die Luft rührte sich. Die Schwester strich ihre Notizen und ihren Rock glatt. Sogar Miriams Blick zuckte zur Tür. Ein Arzt, dachte ich, es kommt ein Arzt und sagt uns, was passiert ist. Vielleicht auch, warum es passiert ist, und womöglich auch, was man tun kann und wann wir nach Hause können. Setz dich aufrecht hin, wollte ich Miriam zurufen, mach den Fernseher aus und pass auf. Der Notarzt, dachte ich, der schlaksige aus der Reanimation, der wusste, was zu tun ist, aber es war Emma. Ich sah sie innehalten, nicht mal eine Sekunde, sah, wie sich ihre Muskeln und ihre Haut, ihr Haar und ihre Kleidung auf die Situation einstellten. Ich sah, wie sie sich einen kurzen Blick auf den Monitor erlaubte, während sie durch den Raum auf Miriam zuging.

in krankenhauszeit

Tagelang trieben wir in Krankenhauszeit dahin, die auf gewisse Weise der Kleinkindzeit ähnelt, den Wochen und Monaten, die man zu Hause im Wesentlichen damit verbringt zu warten, bis das Kind so groß ist, dass man etwas anderes tun kann. Das Ziel ist, Minuten hinter sich zu bringen, ohne es zu bemerken, positiv überrascht zu sein, wenn man auf die Uhr sieht. Den Flur hinunterzugehen, um den Plastikkrug mit frischem Wasser zu füllen, ist ein Ausflug, bei dem man vielleicht einen Neuankömmling erspäht oder einem anderen Elternteil zulächelt. Eine Schwester nach neuen Taschentüchern zu fragen, ist ein gesellschaftliches Ereignis; wenn man Glück hat, hat sie Zeit, ein paar Sätze zum Wetter oder zur Verkehrslage zu wechseln. Visite ist um halb zehn, verkünden sie, und anfangs denkt man, das hieße, kurz nach dieser Zeit käme jemand vorbei und sagt einem etwas, was man noch nicht weiß, und dann geht es weiter. Da täuscht man sich. Offenbar wusste niemand, warum eine gesunde Fünfzehnjährige einfach auf der Erde gelegen und aufgehört hatte zu atmen. Bis dahin hatte ich irgendwie angenommen, medizinisches Wissen stehe in einem ungefähren Verhältnis zur Ernsthaftigkeit des jeweiligen Problems, ich hatte angenommen, dass Ärzte zwar vielleicht nicht wissen, warum ein Bein manchmal ein bisschen wehtut oder einem ein paar Tage lang übel ist, dass es aber einen guten Grund dafür gebe, wenn jemand aufhört zu atmen. Sich auf die Erde legt und stirbt. Schwer zu sagen, sagte die Ärztin, als ich versuchte, sie zum Reden zu bringen, es kann verschiedene Ursachen haben, wir müssen auf die Untersuchungsergebnisse warten. Offenbar hat Miriam auf irgendetwas reagiert. Oh, gut, dachte ich, eine Reaktion, dann gab es einen Auslöser, etwas, das wir in Zukunft meiden können. Sie hat recht, sagte Emma, man kann es tatsächlich schwerer sagen, wenn jemand zuvor gesund war, besonders, weil sie sich so schnell erholt hat. Ich meine, ihre Asthma-Vorgeschichte ist offensichtlich von Interesse, und es sieht ja aus, als hätte sie auf etwas reagiert, aber selbst, wenn es das sein sollte, manchmal gibt es eine zugrunde liegende … na ja, warten wir ab, man sieht hier ja gut nach ihr.

Vor allem sieht man sie hier an, hätte ich am liebsten gesagt, aber das ist im Krankenhaus vermutlich das Gleiche, wie nach jemandem zu sehen. Nach jeder Kontraktion ihres Herzmuskels zu sehen, nach jedem Zusammenziehen ihrer Lunge. Sie machte immer noch ab und zu pfeifende Geräusche, vor allem nachts, und manchmal fiel die Sauerstoffsättigung so stark, dass der Arzt auch außerhalb der Visite kam. Nebulisator, sagten sie, und jemand setzte Mimi eine Maske auf und füllte sie mit zischendem Nebel, dessen beinahe blumiger Geruch für kurze Zeit in der Luft hing.

Kleinkindzeit war das hier also nicht, denn der Grund, aus dem wir hier waren, bestand darin, dass Miriam aufgehört hatte zu atmen, und offenbar ging man davon aus, dass sich das wiederholte. Du wirst weder den Fisch aus dem Gefrierschrank nehmen noch die Glühbirne im Flur wechseln, und du hast dem Klempner abgesagt, der den Boiler reparieren wollte, genau wie der Doktorandin, die über Frauen im Arts and Crafts Movement schreibt. Alles hielt inne, nur dass Rose weiterhin zur Schule musste und etwas essen, jemand musste ihre Wäsche waschen, und irgendwie musste von der Intensivstation einer fünfzehn Meilen entfernten Stadt aus das Bad geputzt werden. Das Piepen der Monitore gehörte zu den Nächten und Tagen wie der eigene Atem, denn der Regel, dem Schlagen des Herzens, ist nicht zu trauen. Stille ist nichts Natürliches mehr, oder vielleicht ist das Natürliche nicht mehr still, nicht mehr selbstverständlich. Angst pulst durch deine Venen, deine Ohren, hämmert hinter deinen Augen und gibt, wie sich herausstellt, der Zeit eine Bedeutung. Denn die wahre Angst ist, dass die Zeit, Miriams Zeit, abläuft.

Die ersten beiden Nächte blieb ich auf einem Schlafsessel neben dem Bett bei Miriam, näher beieinander, als wir es gewohnt waren, seit sie aufgehört hatte, am Wochenende morgens zu Emma und mir ins Bett zu kommen. Wir müssen mal tauschen, sagte Emma, ich bin dran, Rose braucht dich, und Mimi braucht mich auch. Mimi braucht dich nicht so, wie sie mich braucht, dachte ich, ich bin derjenige, der immer bei ihr ist, ich bin derjenige, der sie ihre ersten Schritte hat machen sehen und bei jedem einzelnen Krippenspiel dabei war, ich bin derjenige, den sie angerufen haben. Ja, sagte ich, ich weiß, du hast ja recht, okay.

Wir unterhielten uns auf dem Flur, beide in dieselbe Richtung blickend, um Miriam zu sehen, für den Fall, dass wir zu ihr stürzen mussten, den roten Knopf drücken, dass ich Hilfe holen musste, während Emma mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung begann. Eigentlich ist es gar keine Wiederbelebung, sondern eine Massage, die lediglich das Tempo vermindert, in dem die Zellen sterben, in der Hoffnung, dass jemand mit Adrenalin und einem Defibrillator kommt und beides zur Anwendung bringt, bevor das Herz und das Gehirn die Fähigkeit verlieren, miteinander zu kommunizieren. Wir hatten zehn Minuten, bevor ich mich von Miriam verabschieden musste, um Rose von der Schule abzuholen. Emma, wollte ich sagen, klär mich über sämtliche Eventualitäten auf, weih mich ein in deine Ängste, in