Für Betsy Lerner –
meine Freundin und Ratgeberin
Inspiration ist eine unberechenbare Größe, die Muse, die einen zur Geisterstunde heimsucht. Die Pfeile fliegen und man merkt nicht, wenn man getroffen wird und eine Vielzahl unterschiedlicher Auslöser sich zu einem eigenen Organismus verbinden, der einen mit dem Keim einer unheilbaren Krankheit infiziert – einer flammenden Phantasie, teuflisch und göttlich zugleich.
Was fängt man an mit den resultierenden Impulsen, mit diesen Nervenenden, die flackern wie eine leuchtende Karte diebischer Sternbilder? Die Sterne pulsieren. Die Muse will angeregt werden. Aber der Verstand ist auch Muse. Er versucht seine glorreichen Gegenspieler zu überlisten und die Quellen der Inspiration neu zu polen. Ein kristallklarer Bach, plötzlich versiegt. Etwas Schönes, mit einem Mal freudlos und beschmutzt. Warum verdreht der Schöpfer das Geschehen? Die erschütterte Muse hält den Stift in der Hand, sie ist bereit. Ohne Konflikt wird er irgendetwas schreiben, das Harmonische geht unbemerkt vorbei, ohne Konflikt schreibt er einfach weiter, und am Ende ist Abel nichts weiter als ein vergessener Schafhirte.
Auf der Suche nach etwas anderem fand ich den Trailer eines Films mit dem Titel Risttuules – In the Crosswind. Der Film ist Martti Heldes Requiem für Tausende Estländer, die im Frühjahr 1941 von den Truppen Stalins zusammengetrieben wurden und, nachdem man die Familien getrennt hatte, eingezwängt in Viehwaggons eine Massendeportation in sibirische Arbeitslager erdulden mussten. Tod und Exil, ihr Schicksal war umgeschrieben.
Der Filmemacher schuf ein visuelles Gedicht, indem er die Schauspieler dramaturgisch als eine Gruppe unbewegter menschlicher Tableaus in Szene setzt. Die Zeit bleibt stehen und rast doch weiter in Form von Worten aus dieser traurigen Parade. Ein schreckliches Geschenk, wie ich beim Schreiben merke, denn es kostet mich Mühe, diese Worte festzuhalten. Trotzdem spüre ich, dass sich hinter ihnen noch etwas verbirgt. Ich folge einer geistigen Linie und stoße auf einen Tannenwald, einen Teich und ein kleines Schindelhaus. Das war der Anfang dieses »anderen«, nach dem ich gesucht hatte, doch das wusste ich in dem Moment noch nicht.
Eine Winterskizze. Nur eine Straße entfernt. Ein blauer Morgenmantel dient als Vorhang für ein Fenster, durch das niemand mehr blicken wird. Überall ist Blut, das seine Farbe verloren hat; ein Hund bellt, und Sterne fallen aus bleichen Himmeln.
Ein sterbendes Kalb. Im Huf ein Spreißel – Schmierspuren, Löcher. Die Nacht bricht herein und verdunkelt das zuckende Glied des letzten Lebewesens.
Eine Skizze über die Zeit. Zahnräder, kleine Zeiger in Eis erstarrt. Die Vögel sind abgestumpft und fliegen nicht mehr. Der Tanz ist vorbei, und das Antlitz der Liebe ist nichts als der weite Rock und die glänzenden Fersen des Winters.
Beim Erwachen am Morgen sehe ich noch immer die schwarz-weißen Dioramen von Risttuules vor mir, das schleppende Tempo der menschlichen Oper, verkörpert in gebückten atmenden Statuen. Die expressive Kraft der Bilder schlägt mich so in Bann, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wonach ich ursprünglich suchte. Ich liege da und lasse die verbannte Menschenkette in Gedanken noch einmal durch das stete Gestöber von weißen Blütenblättern ziehen. Chrysanthemen. Natürlich! Büschelweise ziehen sie verschwommen mit dem elenden Strom des Lebens vorbei. Als ich mir dann die Filmsequenz vom Abend zuvor noch einmal ansehe, finde ich die Szene nicht. Ob ich sie unbewusst hineinprojiziert hatte? Ich schiebe den Computer beiseite und richte einen Schiedsspruch an die unebene Decke: Wir plündern, wir umarmen, wir sind unwissend. Ich stehe auf, um zu pinkeln, und stelle mir vor, es schneit.
Mit der zarten Stimme von Erna, der Erzählerin in Risttuules, noch frisch im Ohr, ziehe ich mich an, schnappe mir mein Notizbuch und eine Ausgabe von Patrick Modianos Unfall in der Nacht und gehe ins benachbarte Café. Arbeiter bohren mit Presslufthämmern die Straße auf, die ohrenbetäubenden Vibrationen durchdringen die Wände im Café. Da ich so nicht schreiben kann, lese ich und schlendere durch Modianos labyrinthische Nacht – unsichere Straßen, Bruchstücke von Adressen, bedeutungslos gewordene Wege und Ereignisse, die einen Kreis aus nichts ergeben. Ich bedauere, dass ich nicht schreiben kann, aber das Eintauchen in die belebende Lethargie des Modiano’schen Universums kommt dem Schreiben vermutlich ziemlich nah. Man schlüpft in die Haut des Erzählers mit seinem milden Verfolgungswahn und seiner Fixierung auf feinste Details, und schon verändert sich die Umgebung. Irgendwo mitten im Satz merke ich, dass ich unwillkürlich zum Stift greife.
Am Ende des Buches, das eigentlich kein Ende ist, weil die Nebel der Zukunft über die letzte Seite hinauswehen, lese ich noch einmal den Anfang und schalte dann rasch auf meinen eigenen Tagesplan um. Ich bin für den letzten Flug nach Paris gebucht. Mein französischer Verleger hat eine Woche mit Lesungen und Vorträgen organisiert, u.a. soll ich vor Journalisten über das Schreiben sprechen. Eine Autorin, die nicht schreibt, redet mit Journalisten über das Schreiben. Du alte Besserwisserin, rüge ich mich. Ich gönne mir noch einen schwarzen Kaffee und eine Schale Blaubeeren. Mir bleibt noch jede Menge Zeit, denn ich reise immer mit leichtem Gepäck.
Wegen der Baustelle muss ich eine Weile warten, bis ich die Straße überqueren kann. Ein gewaltiger Kran hievt Metallstützträger mehrere Stockwerke über das Café, was mich an die Anfangsszene in La Dolce Vita erinnert, wo ein Hubschrauber mit einer lebensgroßen Christus-Statue über die urbanen Dächer Roms fliegt.
Ich suche meine üblichen Reiseutensilien zusammen, lege sie auf einen Stapel neben meinen kleinen Koffer und lausche wieder der Off-Stimme des Trailers. In dem melodiösen Tonfall der mir unbekannten Sprache schwingt eine unglaubliche Traurigkeit mit. Während Truppen im Anmarsch sind, hängt eine Mutter Wäsche auf die Leine und schirmt ihre Augen vor der Sonne ab. Ihr Mann trennt die Spreu vom Weizen, ihre Tochter ist vergnügt in ein Spiel vertieft. Fasziniert suche ich noch ein bisschen weiter und finde einen sechs Minuten langen Ausschnitt aus Risttuules mit dem Untertitel The Birch Letter. Durch ein offenes Fenster erscheinen Bilder von Weiß und Birken, untermalt von geflüsterten Sätzen, dann weitere Bilder von einem Zug, dem Wind und der Leere.
Das Telefon klingelt und bricht den Bann, mein Flug wurde storniert. Ich muss einen früheren nehmen. Ich beeile mich, rufe ein Taxi, stecke meinen Computer in seine Hülle, die Kamera in einen Beutel, der Rest wandert in den Koffer. Das Taxi kommt zu schnell, denn ich habe noch nicht entschieden, welche Bücher ich mitnehme. Die Aussicht, ohne Buch in ein Flugzeug zu steigen, erfüllt mich mit Panik. Das richtige Buch kann so etwas wie ein Mentor sein und die Atmosphäre einer Reise bestimmen oder gar ihren Verlauf. Verzweifelt sehe ich mich um, als suchte ich eine Rettungsleine in einem tiefen Sumpf. In einem kleinen Stapel ungelesener Bücher befinden sich Francine du Plessix Grays Monographie über Simone Weil und Modianos Pedigree, mit dem erstaunten Gesicht des Autors auf dem Cover. Ich schnappe mir die beiden Bücher, verabschiede mich von meiner kleinen Abessinierkatze und fahre zum Flughafen.
Zum Glück herrscht am Eingang zum Holland-Tunnel nicht viel Verkehr. Erleichtert überlasse ich mich wieder der Stimme Ernas und stelle mir vor, eine Geschichte zu schreiben, deren Atmosphäre vom Nachhall einer besonderen menschlichen Stimme lebt. Ihrer Stimme. Ohne Handlung im Kopf folge ich nur ihren Tönen, ihrem Timbre und komponiere Sätze wie Musik, transparente Schichten, die ich über ihre lege.
Und das Antlitz der Liebe ist nichts als das Weiß des Winters auf den Ästen und Zweigen von Bäumen, die durch Löcher im farblosen Himmel fallen.
Ich eile durch das Terminal und erreiche mühelos meinen Flug, aber ich bin etwas entmutigt. So früh kann ich mit Sicherheit nicht einschlafen, und mein Hotelzimmer in Paris wird erst einige Stunden nach meiner Ankunft bezugsfertig sein. Trotzdem mache ich es mir gemütlich, trinke Mineralwasser und lasse mich hineinziehen in das Buch eines Lebens, ein Bruchstück von Simone Weil. Die hastig ausgewählte Lektüre sollte sich als äußerst brauchbar erweisen und die Hauptfigur als bewundernswertes Vorbild für eine Vielzahl von Perspektiven. Brillant und privilegiert durchschritt sie die Hallen der höheren Bildung und gab alles auf, um den schwierigen Weg der Revolution, der Offenbarung, des sozialen Engagements und der Opferbereitschaft zu wählen. Bisher hatte ich mir nicht die Zeit genommen, sie näher kennenzulernen, doch das würde sich bestimmt ändern. Ich schließe die Augen, sehe vor mir die Spitze eines Gletschers und gleite in eine vertraute heiße Quelle, umgeben von Wänden aus undurchdringlichem Eis.
In Paris-Orly passiere ich den Zoll und verlasse müde das Terminal. Mein Freund Alain holt mich ab. Ich checke in mein Hotel ein, das in Saint-Germain-des-Prés an einer schmalen Straße nur wenige Schritte von der Kirche entfernt liegt. Während mein Zimmer zurechtgemacht wird, gehen wir ins Café de Flore, essen Baguette und trinken Kaffee.
Wir verabschieden uns, und ich gehe in den Park neben der Kirche, an dessen Eingang Picassos Büste von Apollinaire steht. Ich setze mich auf dieselbe Bank, auf der ich im Frühjahr 1969 mit meiner Schwester saß. Wir waren Anfang zwanzig, eine Zeit, in der für uns alles, selbst der sentimentale Kopf des Dichters, eine Offenbarung war. Wissbegierige Schwestern mit einer Handvoll wertvoller Adressen von Cafés und Hotels. Das Deux Magots der Existenzialisten. Das Hôtel des Etrangers, wo Rimbaud und Verlaine den Vorsitz über den Kreis der Zutisten führten. Das Hôtel de Lauzun mit seinen Schimären und vergoldeten Hallen, wo Baudelaire Haschisch rauchte und die ersten Gedichte der Fleurs du mal schrieb. Mit glühender Phantasie standen wir vor diesen Orten, die für uns gleichbedeutend mit diesen Dichtern waren. Wir wollten dort sein, wo sie geschrieben, gestritten und geschlafen hatten.
Herald Tribune