Buch
Konservative Landbewohner mögen Hunde, moderne Städter lieber Katzen. Wutbürger sind eigentlich Ekelbürger. Angst macht nicht fremdenfeindlich. Politische Korrektheit ist ein Erkennungszeichen für Gruppenzugehörigkeit. Menschen leben dort streng religiös, wo es viele Parasiten gibt. Erkenntnisse wie diese präsentiert Philipp Hübl aus weltweiten wissenschaftlichen Untersuchungen. Seine Erklärung lautet: Emotionen prägen unsere moralische Identität und damit unsere politischen Präferenzen. Zwischen Traditionalisten und Kosmopoliten verstärkt sich die Polarisierung, wir leben in einer immer aufgeregteren Gesellschaft. Dabei geht es um die Frage, welche Werte ein gutes Leben ausmachen. Die Bruchlinien verlaufen zwischen Alt und Jung, Land und Stadt, Auto und Fahrrad, Tatort und Netflix, Vergangenheit und Zukunft. Wir sind der Aufregung aber nicht hilflos ausgeliefert, sondern in der Lage, selbst zu entscheiden, nach welchen Werten wir leben wollen.
Autor
Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie (2012), der Bücher Der Untergrund des Denkens (2015) und Bullshit-Resistenz (2018) sowie von Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, auf Deutschlandradio und im Philosophie Magazin. Hübl hat nach einem Studium der Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford Philosophie in Aachen, Berlin und zuletzt als Juniorprofessor an der Universität in Stuttgart gelehrt.
Philipp Hübl
Die aufgeregte
Gesellschaft
Wie Emotionen unsere Moral prägen
und die Polarisierung verstärken
C. Bertelsmann
Einleitung
Der Mensch, das moralische Tier
Teil I: Moral
1 Neurotisch, freundlich, pflichtbewusst:
Wie prägt die Persönlichkeit die Moral?
2 Abitur, Armut und Atomunfall:
Wovor haben wir Angst?
3 Mücken und andere Naturkatastrophen: Wie vernünftig ist Angst?
4 Der Terrorist, die Passagiere und der Mann auf der Brücke: Darf man zwischen Menschenleben abwägen?
5 Heiße Gefühle oder kalte Vernunft: Wo entsteht die Moral?
6 Mord, Inzest und gebratene Hunde:
Wie weit reicht die Moral?
7 Die Sentimentalisten schlagen zurück: Wie emotional ist die Moral?
8 Eiter, Blut und Käse: Warum ekeln wir uns?
9 Das Dilemma der Allesfresser: Wann ist Ekel politisch?
10 Wir gegen die anderen: Warum haben wir Sehnsucht nach einem eigenen Stamm?
11 Allein unter Wölfen: Was hält Gruppen zusammen?
Teil II: Politik
12 Konservative gegen Progressive: Warum ist die Welt so polarisiert?
13 Globalisierung als Bedrohung: Wie kann man den Rechtsruck erklären?
14 Konservative Grüne, fremdenfeindliche Linke, autoritäre Liberale: Kann man rechts und links verwechseln?
15 Status, Rang und Dominanz: Warum sehnen sich Menschen nach Hierarchie?
16 Starke Führer und glorreiche Nationen: Wie werden Menschen autoritär?
17 Der Abscheu vor dem Anderen: Wie entsteht Fremdenfeindlichkeit?
18 Framing und Populismus: Wie bestimmt die Sprache die Politik?
19 Verletzende Worte und hasserfüllte Taten: Wie entsteht politische Gewalt?
20 Anders gleich oder gemeinsam verschieden: Wie prägt uns die Gruppenidentität?
21 Gesinnungsterror oder Minderheitenschutz: Warum ist politische Korrektheit so umstritten?
Teil III : Gesellschaft
22 Jung, neugierig und migrantisch: Warum beginnt Fortschritt in den Städten?
23 Mitgefühl statt Autorität: Warum ist die Zukunft weiblich?
24 Schmeckt nicht gut, aber teuer: Inwiefern ist ein Dinner ein politisches Manifest?
25 Detox, Bio und Impfverweigerung: Wie heilig ist die Natur?
26 Katzen, Kleidung und Körper: Wann ist das Private politisch?
27 Identität und moralische Eindeutigkeit: Was wäre ich ohne meinen Charakter?
28 Emotionaler Elefant und vernünftiger Reiter: Denkt man besser mit dem Bauch oder dem Kopf?
29 Die progressive Revolution: Warum ist Offenheit die Tugend der Zukunft?
Ausblick:
Die Zukunft der freien Gesellschaft
Anhang
Dank
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Sachregister
Einleitung
Der Mensch, das moralische Tier
Konservative Landbewohner* mögen Hunde, moderne Städter lieber Katzen. Wer im Schlafzimmer bügelt, wählt eher rechts, und wer sich nackt auf dem Sofa lümmelt, eher links. In diesem Buch geht es um Erkenntnisse wie diese aus weltweiten Untersuchungen: inwiefern Kleidung unsere politische Gesinnung widerspiegelt, warum Menschen in Ländern, in denen es viele Parasiten gibt, streng religiös leben und warum mit der Globalisierung das Zeitalter der Neophilie angebrochen ist, die Verehrung des Neuen. Es geht um die alten Stämme, die durch Herkunft und Tradition bestimmt sind, und die neuen digitalen Stämme, die eine gemeinsame Vision von der Zukunft verbindet. Ich zeige, warum Angst nicht fremdenfeindlich macht und wie Persönlichkeitstests an Kindern verraten, welche politischen Vorlieben sie als Erwachsene haben werden. In all den Fällen wird deutlich: Unsere Emotionen prägen unsere Moral und damit unsere politischen Präferenzen.
Die Idee zu diesem Buch entstand, nachdem mich, wie viele andere, zwei Ereignisse politisch aufgerüttelt hatten, die mich intensiver über Polarisierung in der Politik und den sozialen Medien nachdenken ließen.
Das erste war die Finanzkrise 2008. Sie hat Millionen in den Ruin getrieben. Viele Staaten haben mit Steuergeldern Banken gerettet, doch die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Geschehnisse ließen mich ratlos zurück.
Das zweite Ereignis war die Flüchtlingssituation im Sommer 2015. Tausende ertranken im Meer, und keiner hat ihnen geholfen. Über eine Millionen Migranten kamen nach Deutschland, und niemand hatte einen Plan, ob und wie man sie integrieren kann. Durch ganz Europa ging ein Rechtsruck, und in den USA kam kurz darauf Donald Trump an die Macht.
Die Welt ist in Unruhe. Besonders in den sozialen Netzen eskalieren die Diskussionen. Nur wenige sind bereit, ihren selbst gewählten Gegnern offen und neutral zuzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Selbst Wissenschaftler und Journalisten stürzen sich vorschnell in überhitzte Debatten. Die Angst vor den Rechtspopulisten lähmt seitdem die progressiven (linksliberalen) wie die konservativen Parteien in Deutschland. Drängende Themen wie der Klimawandel oder globale Gerechtigkeit sind in den Hintergrund getreten. Politikern, die Probleme durchdenken wollen, wird Tatenlosigkeit vorgeworfen.
In mir und vielen Kollegen hat das die Überzeugung verstärkt, dass auch Philosophen Farbe bekennen müssen. Seit 2015 entstanden so Konferenzen zum Populismus, Initiativen für die Demokratie und Ratgeber zum Umgang mit Fake News. Wenn sich der Weltgeist beim Erfolg autoritärer Politiker etwas gedacht hat, dann vielleicht, dass Wahrheit, Freiheit und Demokratie jetzt keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. Sie sind mehr als die angenehme Hintergrundmusik, deren Verschwinden erst ins Bewusstsein tritt, wenn der Plattenspieler leerläuft. Spätestens am Rechtsruck zeigt sich, dass der zivilisatorische Fortschritt seit Ende des Zweiten Weltkrieges kein Automatismus ist, sondern dass wir die Werte der freien Gesellschaft aktiv verteidigen müssen.
Beim Thema »Polarisierung« drängte sich mir vor allem eine Frage auf: Wie kann man den Rechtsruck erklären? Die Wähler der Rechtsparteien in Europa sind ökonomisch abgehängt und haben Abstiegsängste, sagen einige Politologen und Soziologen.1 Das ist wenig überzeugend, wie Untersuchungen zeigen. Ein erheblicher Teil der Rechtswähler ist nämlich gebildet und gut situiert. Außerdem macht Angst allein Menschen nicht fremdenfeindlich. Auch die Diagnose »Systemkritiker« trifft die Sache nicht, denn als Systemkritiker könnte man auch linke Parteien wählen.
Nicht nur der Rechtsruck, sondern auch Phänomene wie der Individualismus akademischer Großstädter oder die Motivation radikaler Impfgegner erscheinen in einem neuen Licht, wenn man aus dem Blickwinkel der Moralpsychologie fragt: Was passiert in uns, wenn wir moralisch und politisch denken, entscheiden und handeln?
Wer sich mit Moralpsychologie beschäftigt, hat ständig Aha-Erlebnisse, besonders bei radikalen Gedankenexperimenten, die einen lange nicht loslassen, wie etwa »Dürfen unfruchtbare erwachsene Geschwister einvernehmlichen Sex haben?« oder »Darf man einen Unschuldigen töten, um fünf andere zu retten?«.2 Versuchspersonen antworten innerhalb einer Fünftelsekunde, so schnell, wie ein Doppelklick auf dem Touchpad dauert.3 Viele Probanden urteilen spontan und dennoch mit starker Gewissheit. Sie sagen: »Beides fühlt sich falsch an.« Doch kaum jemand kann seine Intuition rational mit moralischen Prinzipien begründen.4 Auch wenn die Versuchspersonen das gar nicht bemerken, löst der Fall der Geschwister bei ihnen Unbehagen und die Frage nach dem Töten Angst aus, wie Versuche zeigen.
Die Grundidee dieses Buches lautet daher: Emotionen prägen unsere Moral und damit auch die Politik. Anhand unserer moralischen Emotionen kann man nicht nur den Rechtsruck besser verstehen, sondern auch, warum sich Stadtbewohner und junge Menschen nach Freiheit, Vielfalt und Offenheit sehnen und Ältere und Landbewohner nach Struktur und Tradition, kurz: warum die Welt polarisiert ist.
Inzwischen wurden Hunderte von Studien zu moralischen und politischen Emotionen mit mehr als einer halben Million Versuchspersonen in allen Kulturkreisen der Welt durchgeführt. Aus den Ergebnissen dieser Forschung entspringen die vier Thesen dieses Buches.
Erstens: Moral ist emotional.
Unsere moralischen und damit auch politischen Werte stammen selten aus edlen Prinzipien, die wir aus der Vernunft herleiten, sondern zum Großteil aus Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel, Scham und Schuld. Darum lässt uns Moral nicht kalt. Allerdings zählen zu den moralischen Emotionen nicht nur irrationale Ängste oder die Wut der aufgewiegelten Masse, sondern auch das Mitgefühl mit Schwachen oder die Hemmung, anderen zu schaden. Unsere Gefühle bewerten automatisch unsere Handlungen, indem sie sinngemäß sagen: »Das ist falsch« oder »Das ist richtig«, »Das sollst Du tun« oder »Das sollst Du lassen«.
Zweitens: Moral ist biologisch.
Wer den Menschen verstehen will, darf nicht nur auf Einkommen, Bildungsstand und Schichtzugehörigkeit achten oder auf das, was er sagt. Wir sind nicht nur Kulturwesen, sondern ebenso Naturwesen. Der Mensch hat einen Verstand und ist dennoch Tier geblieben. Er ist anfällig für Stammesdenken, empfänglich für Hierarchien, giert nach Anerkennung und ist ausgestattet mit einer angeborenen Neigung, Angst vor dem Neuen und Unbehagen gegenüber dem Fremden zu empfinden. Diese Neigungen äußern die wenigsten unmittelbar mit Worten, sondern durch ihre Taten, ohne sich dessen immer bewusst zu sein.
Drittens: Moral polarisiert.
Weltweit klafft zwischen Modernisten und Traditionalisten, zwischen Progressiven und Konservativen ein Riss, der größer wird. Es geht dabei um unsere moralische Identität, um die grundlegende Frage, welche Werte und Normen ein gutes Leben und eine gute Gesellschaft ausmachen. Der Riss zeigt sich nicht nur in der Politik, er geht durch die ganze Gesellschaft und betrifft uns alle im Alltag. Die neuen Bruchlinien verlaufen zwischen Alt und Jung, Land und Stadt, Tatort und Netflix, Auto und Fahrrad, Kaufhaus und Amazon, Ehe und Polyamorie, Nationalismus und Internationalismus, zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Viertens: Moral ist eine Entscheidung.
Auch wenn unsere Werte oft archaischen Instinkten entspringen, sind wir unseren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert, sonst gäbe es keinen moralischen Fortschritt, und wir würden immer noch so denken und handeln wie in der Steinzeit. Die Evolution hat uns mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ausgestattet, mit der wir spontane Impulse überdenken und aktiv kontrollieren können. Die gute Nachricht lautet: Wir sind grundsätzlich autonom und können unsere Moral und unsere politische Gesinnung überdenken. Die schlechte: Wir machen von unserer Selbstbestimmung zu selten Gebrauch.
Wer in Kopenhagen groß wurde, hält andere Werte für unumstößlich als jemand, der in einem Dorf in Afghanistan aufwuchs. Die Kultur prägt unsere Moral. Das ist eine Plattitüde und gleichzeitig nur die halbe Wahrheit. Denn wenn Erziehung und Kultur uns zu moralischen Wesen machen, stellt sich die Frage: Warum haben wir in unserem Kulturkreis nicht alle ungefähr dieselben Werte? Warum empfanden einige im Jahr 2015 Mitgefühl mit den Flüchtlingen und erlebten ihre Ankunft als Bereicherung, während andere die Fremden als Bedrohung sahen und ihnen mit Verachtung begegneten?
Hier spielt nicht Angst die Hauptrolle, wie viele annehmen, sondern eine andere Emotion: Ekel.5 Das ist eine der vielen Überraschungen aus der Forschung. Ekel kann eine moralische Emotion sein, die den Umgang mit Fremden bestimmt. Im Deutschen trifft das Wort »Abscheu« diesen moralisch relevanten Ekel am besten.
Eine Vielzahl an Studien zeigt: Je stärker sich Menschen ekeln, desto traditioneller und konservativer sind sie, und desto »unreiner« und »unnatürlicher« erscheint ihnen alles, was von der Normvorstellung von Leben, Tod und Sex abweicht: Homosexualität, Prostitution, Abtreibung oder Sterbehilfe. Man kann anhand der Ekelneigung weltweit politische Präferenzen zuverlässiger vorhersagen als anhand klassischer Merkmale wie Bildungsstand oder Einkommen.6 In archaischen Zeiten war Ekel vor verdorbener Nahrung und offenen Wunden ein wichtiger Schutz vor Infektionen.7 Dazu zählte auch der Abscheu gegenüber Fremden, die Keime und Parasiten übertragen konnten, gegen die es im heimischen Stamm keine Resistenzen gab. In der heutigen Zeit führt dieser Schutzmechanismus im Extremfall zur Fremdenfeindlichkeit.8
Wer die menschliche Natur ergründen will, darf daher Ekel und andere Emotionen nicht ignorieren, denn sie bilden die Grundlage für sechs moralische Grundprinzipien, die man bei allen Menschen auf der Welt in unterschiedlicher Ausprägung findet: Fürsorge, Fairness und Freiheit auf der einen Seite, sowie Autorität, Loyalität und Reinheit auf der anderen.9 Alle Menschen legen Wert auf die Prinzipien Fürsorge, Fairness und Freiheit. Werden sie verletzt, reagieren wir empört, also mit moralischem Zorn. Bei vielen im Westen stehen diese drei Prinzipien im Mittelpunkt ihrer Moral, daher kann man sie auch die drei progressiven »F«s nennen. Aber in der ganzen übrigen Welt und im Westen insbesondere unter den Konservativen und Rechten spielen daneben die anderen Prinzipien eine wichtige Rolle: Autorität, Loyalität und Reinheit. Werden sie verletzt, verspüren Menschen Abscheu, selbst wenn sie das so nicht beschreiben würden.
In diesem Buch zeige ich, dass die sechs Prinzipien eine heuristische Schablone darstellen, eine Linse, durch die viele gesellschaftliche Phänomene in einem neuen Licht erscheinen. Natürlich gehören nicht alle Menschen eindeutig dem einen oder anderen Lager an, sie verteilen sich auf einem kontinuierlichen Spektrum. Und auch innerhalb einer Person können die sechs Prinzipien ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Typisch ist dennoch, dass die drei progressiven und die drei konservativen Prinzipien im Block zusammen auftauchen.
Viele wundert es, dass Systemkritik, die einst von links ertönte, heute verstärkt am rechten Rand zu hören ist. Doch diese Parallele besteht nur oberflächlich. Linke Systemkritik ist eher antiautoritär. Sie richtet sich gegen die Machthaber, weil Macht grundsätzlich als suspekt gilt. Rechtsradikale Systemkritik hingegen ist autoritär. Die Rechten stellen Macht nicht prinzipiell infrage, sie sind vielmehr überzeugt, dass die Falschen an der Macht sind und dort sitzen, wo sie selbst schalten und walten wollen. Diesen Unterschied kann man ebenfalls mit der Schablone der sechs Prinzipien Fürsorge, Fairness und Freiheit sowie Autorität, Loyalität und Reinheit besser verstehen.
Ein anderes Beispiel ist der Streit um das Kopftuch in Deutschland, der inzwischen zu einer der großen Stellvertreterdebatten geworden ist. Dabei sind die politischen Lager auf den ersten Blick nicht leicht auseinanderzuhalten. Gegen das Kopftuch, das muslimische Frauen tragen, argumentieren sowohl die Konservativen als auch die Linken, doch ihre Motivation ist grundverschieden. Die Konservativen sehen im Kopftuch das Symbol einer fremden Kultur, die sie als Bedrohung betrachten. Die Linken fassen das Kopftuch als ein Mittel zur Unterdrückung der Frau auf. Nur für die Liberalen kann das im Westen getragene Kopftuch ein Ausdruck von Autonomie sein. Mit anderen Worten: Die Konservativen motiviert das Prinzip Loyalität (wir gegen die anderen), die Linken das Prinzip Fürsorge (Schutz vor Unterdrückung) und die Liberalen das Prinzip Freiheit (selbstbestimmtes Leben).10
Ein drittes Beispiel: Wer verfeindete Gruppen wie Neonazis und Islamisten vergleicht, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben, entdeckt erstaunliche Parallelen: Die Gruppen bestehen aus Männern, die loyal und homophob sind, Frauen nicht als gleichwertig ansehen und den Mainstream verachten: das hedonistische, liberale Bürgertum. Und sie sind reaktionär, sie sehnen sich nach einer Vergangenheit, die sie verklären. Beide Gruppen unterscheiden sich also kaum, sie legen Wert auf Extremformen der Prinzipien Autorität, Loyalität und Reinheit. Mit welcher historischen Verklärung sie ihre moralischen Emotionen dann rationalisieren, hängt vom Umfeld ab. Die einen träumen von Großdeutschland, die anderen vom Kalifat.
Moralische Fragen bewegen uns, weil sie uns am Herzen liegen. Die Fragen nach Gut und Böse, nach dem gelungenen Leben und der richtigen Politik können wir nicht ignorieren. Unsere Werte machen unsere moralische Identität aus, sie machen uns zu dem, was wir sind.11 Weil die Themen aufgeladen sind, reagieren viele oft erst einmal mit einer Abwehrhaltung gegen neue Argumente, ungewohnte Gedankenexperimente und unwillkommene Erkenntnisse. Das habe ich oft als Reaktion auf meine Vorträge erlebt, aber auch an mir selbst beobachtet. Die wenigsten von uns leben nach hohen ethischen Standards. Stattdessen haben wir uns Strategien angewöhnt, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, wenn wir uns zum Beispiel einreden: »Nicht ich, der Staat muss den Obdachlosen helfen«, »Die anderen essen auch Fleisch« oder »Man kann ohnehin nie alles richtig machen«.
Viele Untersuchungen zeigen, dass unsere Moral den Kern unserer Identität bildet. Daher sind wir für identitätsschützende Denkfehler anfällig: Wir neigen eher dazu, unliebsame Fakten zu ignorieren oder umzudeuten, als dass wir unsere Moral überdenken und unsere Lebensweise ändern.12 Um das zu vermeiden, muss man sich konsequent mit Gegenpositionen konfrontieren – nur so kann man Klarheit über sich selbst gewinnen.
Ich verstehe Moral hier in einem weiten Sinne. Darin geht es nicht nur um Leben und Tod, um Freiheit oder Gerechtigkeit, sondern auch um Urteile über Ernährung, Kleidung, Sex oder Drogen.13 Moral gibt Antworten auf die Frage, was wir für richtig halten und was wir tun sollen. Darum sind Politik und Recht immer schon moralisch, weil sie auf Werten und Normen beruhen.
Außerdem spiegelt die Gegenüberstellung von Progressiven und Konservativen nicht die deutsche Parteienlandschaft wider. Eine sogenannte »konservative« Partei kann progressive Prinzipien vertreten und eine »linke« Partei konservative. Seit Kriegsende haben sich die Werte in Deutschland deutlich zur progressiven Seite verschoben. Wer sich heute als »konservativ« bezeichnet, würde in den USA gerade noch als »Liberaler« durchgehen und in Saudi-Arabien als Revolutionär gelten. Die beiden Lager sind also immer als Gegenpole zu verstehen. In den Wörtern »progressiv« und »konservativ« ist auch keine Wertung enthalten. Sie beschreiben lediglich zwei Lebensstile. Allerdings vertrete ich am Ende des Buches die These, dass sich progressive Prinzipien besser in eine universelle Ethik überführen lassen.
Emotionen bringen uns dazu, so oder so zu handeln, aber sie nötigen oder determinieren uns nicht. Viele Faktoren bestimmen unser Handeln: Erziehung, erlernte Routinen, vernünftige Überlegungen und Grundbedürfnisse wie Hunger und Schlaf. Doch diese Faktoren beruhen oft auf den sechs emotionalen Prinzipien. Wer sich schnell ekelt, wählt zwar nicht zwingend eine konservative Partei, doch die unbewusste Ekelneigung macht ein solches Votum etwas wahrscheinlicher. Aber natürlich sind in der empirischen Welt alle Übergänge fließend, und es gibt immer Ausnahmen.
Das gilt in gleichem Maße für die Polarisierung selbst. Zwischen »Gut« und »Böse« finden sich zahllose Graustufen. Dennoch hegen viele Menschen den Wunsch nach moralischer Eindeutigkeit. Sie wollen andere klar in Freund und Feind und ihre Taten in richtig und falsch einteilen. Moralische Gefühle bestimmen unsere Identität und unsere Gruppenzugehörigkeit, daher ist es ihnen vor allem in sozialen Netzen wichtiger, die richtige Gesinnung zu kommunizieren, als ein moralisch umstrittenes Thema ausgewogen zu diskutieren.14 Doch Moral ist selten so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Wir führen ein Leben, das wir nicht verstehen, verstricken uns in Widersprüche und sind uns oft selbst ein Rätsel. Absolute moralische Gewissheit entspringt meist aus einer Naivität, die Nuancen und Schattierungen missachtet.
Dieses Buch liefert eine Diagnose von Moral und Kultur, die sich auf weltweite psychologische Studien stützt. Für eine Gesellschaftsanalyse mag es übergründlich wirken, so deutlich auf messbaren Daten zu bestehen. Doch der Ansatz ist bewusst als Gegenmodell zu freihändigen Kulturdiagnosen konzipiert, die oft einem weit verbreiteten Denkfehler aufsitzen, dem Bestätigungsirrtum: Wir alle neigen nämlich dazu, eher nach Hinweisen zu suchen, die unsere eigenen Thesen bestätigen, als nach solchen, die ihnen widersprechen.15 Die moderne Kultur ist aber so vielfältig, dass man für jede noch so abstruse These Belege findet, daher braucht man Daten.
Der Bestätigungsirrtum wirkt auch in der Theorie. Wer beispielsweise durch die Schriften von Freud, Foucault oder Adorno geprägt ist, neigt dazu, sich in diesen Gedankengebäuden heimisch zu fühlen und die Welt durch ihre schwarzen Hornbrillen zu sehen. Doch auch hier muss man sich immer fragen, ob die Theorien dem empirischen Test standhalten. Die Moralpsychologie bestätigt manche ihrer Annahmen, widerlegt allerdings auch andere.
Nicht nur die Politik, auch die Erforschung des Menschen ist polarisiert, denn sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaftler wollen ihn ergründen. Psychologen und Evolutionsbiologen überschätzen tendenziell den Einfluss der Natur, Geisteswissenschaftler den der Kultur. Allen ist gemein, dass sie stillschweigend Annahmen über den Menschen voraussetzen, die sie selten explizit formulieren.
Beide Strömungen gehören zusammen. Geisteswissenschaften ohne Naturwissenschaften sind leer, Naturwissenschaften ohne Geisteswissenschaften sind blind. Mein Buch steht daher im Geiste einer »dritten Kultur«, wie der britische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow sie nennt.16 Es schlägt die Brücke zwischen den beiden Lagern, indem es sie gleichermaßen ernst nimmt – in der Hoffnung, zumindest die offensichtlichen Fallstricke auf beiden Seiten zu vermeiden.
Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt: Moral, Politik und Gesellschaft. In den Kapiteln über Moral geht es auch um Leben und Tod, also um Themen, die so fundamental sind, dass man sich manchmal etwas mehr Zeit nehmen muss, um sie zu durchdenken. Fragen wie »Darf man einen Menschen töten, um fünf zu retten?« betreffen nicht nur den Kern unserer Werte, mit ihnen sichert man sich auch die volle Aufmerksamkeit beim nächsten Familientreffen.
Emotionen prägen nicht nur unsere Moral, sondern spalten auch die Gesellschaft. Diese Polarisierung steht im Mittelpunkt der Abschnitte »Politik« und »Gesellschaft«. Doch obwohl Moral eine biologische Grundlage hat, sind wir unseren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert, sondern können lernen, die gefährlichen zu überdenken, denn auch unsere Vernunft ist ein Ergebnis der Evolution.
Aristoteles sagt, als vernünftige Tiere seien wir nicht nur für unsere Taten, sondern auch für unseren Charakter verantwortlich.17 Bei Albert Camus heißt es: »Von einem bestimmten Alter an ist jeder Mensch für sein Gesicht verantwortlich.«18 Ganz besonders jedoch sind wir für unsere Moral verantwortlich. Wir müssen uns mit unseren Emotionen auseinandersetzen, um uns selbst besser zu verstehen.
* Aus stilistischen Gründen stehen Personalpronomen und allgemeine Ausdrücke für Frauen, Männer und andere. Das grammatische Geschlecht spiegelt nicht das biologische oder soziale wider.
Laufen Sie gerne nackt in Ihrer Wohnung herum? Bestellen Sie sich im Restaurant immer ein unbekanntes Gericht? Stehen Sie oft im Mittelpunkt der Party? Neigen Sie zu Melancholie? Macht es Ihnen Spaß, anderen zu helfen?
Solche Fragen verwenden Psychologen, um die Persönlichkeit von Menschen zu analysieren. Wer sich ohne Kleidung auf seinem Sofa fläzt, hat üblicherweise einen niedrigen Wert bei Gewissenhaftigkeit, und wer neue Speisen probiert, einen hohen bei Offenheit. Wer Partys liebt, befindet sich, wenig überraschend, weit oben auf der Skala der Extrovertiertheit. Melancholie deutet auf emotionale Instabilität hin. Und wer anderen hilft, hat einen hohen Wert bei Verträglichkeit.
Diese Zusammenhänge haben Psychologen seit über vierzig Jahren in Tausenden von Versuchen in allen Teilen der Welt erforscht. Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Instabilität werden wegen der englischen Anfangsbuchstaben »OCEAN-Merkmale« oder auch »BIG-5-Merkmale« genannt.19 Die fünf Persönlichkeitsmerkmale sind jeweils unabhängig voneinander ausgeprägt. Ihre Werte variieren zwischen Individuen stark, und sie bleiben über das ganze Leben hinweg relativ konstant.20 Der BIG-5-Persönlichkeitstest ist einer der verlässlichsten in der Psychologie.21 Allerdings ist bis heute umstritten, welche Untermerkmale die bekannten fünf haben und ob man der Vollständigkeit halber noch weitere Merkmale annehmen sollte.22 Die Ergebnisse der Forschung finden jedenfalls breite Anwendung, bei der Partnervermittlung auf Online-Dating-Plattformen ebenso wie in den Personalabteilungen von Unternehmen.
Was genau verbirgt sich hinter den Merkmalen? Statt von Offenheit könnte man auch von Aufgeschlossenheit oder Neugier sprechen. Wer offen ist, mag neue Eindrücke, abstrakte Ideen und extraordinäre Wörter. Besonders gut erkennbar sind offene Menschen laut einer Studie an einem oder mehreren der folgenden Merkmale: Sie schreiben Gedichte, besuchen Kunstaustellungen, lesen Bücher und basteln Geschenke für andere.23
Statt »Gewissenhaftigkeit« könnte man auch »Pflichtbewusstsein« oder »Verlässlichkeit« sagen. Gewissenhafte Personen lieben Ordnung, Details und Struktur. Sie haben immer einen Plan und geben sich selten Tagträumen hin. Typisch ist, dass sie hart arbeiten, sich selten bei Terminen verspäten und ihre T-Shirts im Schrank akkurat zusammenlegen. Ein anderes Wort für »Extrovertiertheit« ist »Geselligkeit«. Extrovertierte sind gerne von Leuten umgeben. Starke Indikatoren für extrovertierte Personen sind den Untersuchungen zufolge, dass sie ins Solarium gehen, sich die Haare färben, schmutzige Witze erzählen und immer mal wieder nachts in einer schummrigen Bar versacken. Manchmal genau in dieser Reihenfolge.
Wer einen hohen Wert bei Verträglichkeit hat, man könnte auch sagen: bei Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft, ist empathisch, freundlich und generös. Verträgliche Personen sehnen sich nach Bindung und sozialer Harmonie, gehen Konflikten aus dem Weg und verurteilen Aggression. Sie neigen dazu, Bettlern Geld zu geben und Ehrenämter zu übernehmen.
Andere Wörter für emotionale Instabilität sind »Labilität« und »Verletzlichkeit«. Emotional labile Personen sind neurotisch, leiden unter Ängsten, Stimmungsschwankungen und fühlen sich schnell angespannt. Laut der Forschung ist besonders typisch für Personen mit emotionaler Instabilität, wenig überraschend, dass sie Antidepressiva und Schlaftabletten nehmen und schon mal bei einem Psychotherapeuten waren.
In der Arbeitswelt kann man den Einfluss der Persönlichkeitsmerkmale gut nachweisen. So sind beispielsweise Gewissenhaftigkeit und emotionale starke Faktoren für beruflichen Erfolg.24 Die fünf Persönlichkeitsmerkmale wirken sich allerdings auf die gesamte Lebensführung aus. Sind Menschen offen oder verschlossen? Leicht zu verunsichern oder nicht aus der Ruhe zu bringen? Ist ihnen Pflichterfüllung wichtig, Fürsorge oder Autonomie? Oder alles zusammen? Der Schritt von diesen grundlegenden Charaktermerkmalen zu moralischen und politischen Vorlieben ist nicht weit.
Das Persönlichkeitsmerkmal Offenheit sagt besonders zuverlässig vorher, dass jemand progressiv wählt, also links oder liberal. Die Progressiven haben auch durchgängig höhere Werte bei Verträglichkeit, besonders bei einem der Untermerkmale, nämlich Mitgefühl. Das kam in einer großen Vergleichsstudie heraus, in der die Testergebnisse von 20000 Probanden aus zahlreichen Untersuchungen zusammenliefen.25 Ein hoher Wert bei Gewissenhaftigkeit hingegen bedeutet nicht nur, dass Versuchspersonen ordentlich, systematisch und überlegt sind. Er zeigt auch an, dass sie eher konservative oder traditionalistische Parteien wählen.26 Ist bei Konservativen das Merkmal Verträglichkeit ausgeprägt, handelt es sich dabei eher um den Aspekt Höflichkeit als um den Aspekt Mitgefühl.27
Die amerikanische Sozialpsychologin Dana Carney und ihre Kollegen wollten herausfinden, ob man die politische Orientierung auch ohne Fragebögen bestimmen kann.28 Dazu schauten sich die Forscher zum Beispiel die Schlafzimmer und Schreibtische von Versuchspersonen an. Ein guter Indikator für Offenheit ist, wenn jemand Andenken und Fotos von Reisen in seiner Wohnung ausstellt und wenn Kunst an den Wänden hängt. Gewissenhafte Menschen halten Ordnung. Auf ihren Schreibtischen liegen oft Verwaltungsutensilien wie Kalender und Briefmarken. Zudem sind ihre Schlafzimmer gut gelüftet und man findet dort Haushaltsgeräte wie Bügeleisen.
Man merkt: Auch was im Schlafzimmer passiert, hängt von Persönlichkeitsmerkmalen ab.
Übrigens können auch beide Merkmale, Gewissenhaftigkeit und Offenheit, ausgeprägt sein. Darüber schweigt die Studie zwar, aber man denkt sofort an jemanden, der seine Urlaubsbilder akkurat auf dem Schreibtisch aufreiht.
Anhand der Schlaf- und Arbeitszimmer jedenfalls konnten die Forscher die politische Orientierung ihrer Testpersonen gut vorhersagen. Manchmal bestätigt die Forschung also auch altbekannte Klischees. Tagträumer, die sich nackt aufs Sofa fläzen und in einem Einmachglas Sand aus Ko Samui aufbewahren, wählen eher linksliberal. Menschen mit aufgeräumten Schreibtischen, die gerne bügeln, wählen eher konservativ.
Inzwischen hat sich diese Analyse verfeinert, weil Forscher auf die Daten aus sozialen Netzen zugreifen können. So untersuchten die Psychologen Michal Kosinski und David Stillwell von der Universität Cambridge 58000 amerikanische Facebook-User mit einer App, die gleichzeitig ein Persönlichkeitstest ist und Informationen über die »Likes« der Nutzer abfragt.29 Zusammen erstellten die Forscher so ein Datenprofil der Teilnehmer und konnten das Wahlverhalten anhand von Vorlieben vorhersagen. Politische Neigungen sind mit Persönlichkeitsmerkmalen verbunden und diese wiederum mit Likes. Das zeigen Kosinski und Stillwell mit einem Beispiel: Wer die Kinderfigur »Hello Kitty« mag, eine rosa Stummelschwanzkatze mit Schleife im Haar, hat einen hohen Wert bei Offenheit, einen niedrigen bei Gewissenhaftigkeit und wählt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Demokraten.
Sowohl Offenheit als auch Gewissenhaftigkeit hängen also mit moralischen und politischen Vorlieben zusammen. Wer sehr offen ist, bestellt sich gerne unbekannte Speisen im Restaurant und legt Wert auf Vielfalt, Freiheit und Selbstverwirklichung. Wer hingegen eher verschlossen ist, verhält sich Unbekanntem gegenüber scheu und vorsichtig, würde sich zum Beispiel unter keinen Umständen auf öffentliche Toiletten setzen und legt Wert auf Ordnung, Vertrautheit und Tradition.
Auch ein hoher Wert bei Gewissenhaftigkeit sagt politische Vorlieben voraus. Wer als US-Bürger zu den Gewissenhaften zählt, hält die Todesstrafe tendenziell für richtig und verhält sich eher regelkonform. Wer wenig gewissenhaft ist, spricht sich gegen die Todesstrafe aus und neigt dazu, Autoritäten anzuzweifeln.30 Ein hoher Wert bei Gewissenhaftigkeit macht es zudem wahrscheinlicher, dass Menschen zum Autoritarismus neigen, was man als Extremform des konservativen Denkens ansehen kann.31 Ein niedriger Wert bei Offenheit macht es wahrscheinlicher, dass Menschen ihre Loyalität zu einer Gruppe so stark betonen, dass sie »sozial dominant« denken und handeln, also andere Gruppen als minderwertig ansehen.32
Kann man am Verhalten von vierjährigen Kindern vorhersagen, was sie als Erwachsene über Abtreibung oder eine gesetzliche Krankenversicherung denken? Ein Versuch in den USA hat genau das nachgewiesen. In einer Langzeitstudie, die 1969 begann, verfolgten Forscher das Leben von über hundert Personen vom Kindergarten an bis in das Berufsleben hinein.33 Dabei entdeckten sie einen erstaunlichen Zusammenhang zwischen Charaktermerkmalen der Kinder und ihrem späteren Wahlverhalten. Kinder, die von ihren Betreuern in der Vorschule als vital, aufgeschlossen, motiviert, weniger konform und mit starken ästhetischen Interessen beschrieben wurden, gaben im Erwachsenenalter häufiger an, politisch progressiv ausgerichtet zu sein. Kinder, die als ängstlich, vorsichtig, gehemmt, starrköpfig, unsicher, konventionell, ruhig und aufrichtig galten, wählten später eher konservativ. Nicht nur das. Die »konservativen« Kinder, und zwar sowohl Jungen als auch Mädchen, hatten deutlich mehr stereotype Auffassungen von Geschlechterrollen als die »progressiven« Kinder. Vor allem die konservativen Jungen fielen dadurch auf, dass sie oft ungefragt Ratschläge erteilten. Mansplaining, also männliche Besserwisserei, beginnt offenbar schon im Kindergarten. Im Intelligenzquotienten unterschieden sich die zwei Gruppen allerdings nicht.
Erziehung spielt bei den Persönlichkeitsmerkmalen ebenso eine Rolle wie angeborene Neigungen. Zwar kommen Kinder mit einem neugierigen oder einem vorsichtigen Temperament auf die Welt, werden dann aber noch von den Eltern in die eine oder andere Richtung gelenkt. Dabei geht der Einfluss etwa zu gleichen Teilen auf Natur und Kultur zurück, wie eine Metastudie gezeigt hat, in die über 2700 Veröffentlichungen zu 15 Millionen Zwillingen einflossen.34 Noch genauer ausgedrückt: Die Varianz, also die Streuung zwischen den IQ-Werten, ist nur zur Hälfte von Umweltfaktoren bestimmt. Ganz gleich, wie gut oder schlecht Eltern ihre Kinder erziehen, für das Endergebnis sind sie nur zum Teil verantwortlich. Der andere Teil geht auf die Gene zurück. Selbst bei Affen und Hunden kann man unterschiedlich ausgeprägte Temperamente wie Neugier oder Reizbarkeit beobachten – mögliche Vorformen von Offenheit und emotionaler Labilität.35 So oder so können sich beim Menschen Persönlichkeitsmerkmale im Laufe des Lebens weiterhin verändern. Das braucht allerdings Zeit. Gut nachgewiesen ist, dass wir im Alter tatsächlich reifer werden, also etwas verträglicher, gewissenhafter und emotional stabiler.36
Offenheit zeigt progressives Denken an, Gewissenhaftigkeit hingegen eher traditionelles. Da beide Merkmale unabhängig voneinander sind, lautete die Preisfrage: Wie verhält sich jemand, der sowohl offen als auch gewissenhaft ist, und zwar nicht nur in der Politik, sondern bei der Arbeit und im Leben? Meine Vermutung ist, dass erfolgreiche Wissenschaftler, Unternehmer, Erfinder und Künstler beide Eigenschaften verbinden. Sie müssen einerseits offen sein und neue Ideen entwickeln; Kreativität ist für Offenheit der Indikator schlechthin. Andererseits müssen sie diszipliniert, strukturiert und ehrgeizig arbeiten, um Erfolg zu haben. Dazu benötigen sie Gewissenhaftigkeit. Sie neigen also sowohl zum progressiven als auch zum konservativen Denken und liegen damit zumindest ihrem Persönlichkeitsprofil nach in der Mitte der Gesellschaft.
Noch allgemeiner kann man alle fünf Persönlichkeitsmerkmale zwei übergeordneten Neigungen des Menschen zuordnen, nämlich Stabilität und Flexibilität.37 Beide Neigungen findet man auch bei Tieren und anderen Organismen.38 Stabilität als Metaeigenschaft umfasst Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität, und sorgt dafür, dass ein Organismus seine Funktionen aufrechterhält. Flexibilität als Metaeigenschaft umfasst Offenheit und Extrovertiertheit und drückt sich im Bedürfnis von Organismen aus, neue Informationen über ihre Umgebung zu gewinnen. Beim Menschen beruhen diese Neigungen vermutlich auf unterschiedlichen Systemen für Botenstoffe im Hirn. Der Neurotransmitter Serotonin sorgt eher für Stabilität und Erhaltung, der Neurotransmitter Dopamin eher für Flexibilität und Neugier.39 Stabilität zeigt sich unter anderem in festem Schlaf,40 Flexibilität hingegen in Tätigkeiten, die in die Welt hinausgreifen, wie beispielsweise in der Nahrungssuche, im Forschungsdrang oder im Bedürfnis, neue Leute kennenzulernen.
Bei unserer Persönlichkeit, aber auch bei unseren Emotionen, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, läuft die Zweiteilung immer auf dasselbe hinaus. Der progressive Typus ist offen und neugierig; der konservative Typus hingegen traditionell, verschlossen und im Extremfall fremdenfeindlich.
Diese Zweitteilung betrifft ein zentrales Thema des Buches, nämlich die Frage, warum die Globalisierung und die Digitalisierung die Spaltung der Gesellschaften vergrößern. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es leicht, Traditionalist zu sein: die Religion übernahm man von den Eltern, zum Dating ging man zum Tanztee oder in die Disco, Freundschaften schloss man beim Sport oder im Beruf, die Ausbildung führte unmittelbar zu einem Arbeitsplatz, den man bis zum Lebensende behielt, und das eigene Auto war ein Symbol für Status und Autonomie und damit der größte Stolz. In Zeiten von Tinder, Snapchat, Home Office und selbstfahrenden Autos herrscht hingegen ein Zwang zum Progressiven. Das sieht man schon daran, dass die Phänomene meist englische Label haben. Vielfalt zeichnet nun gerade Großstädte und das Ideal der jüngeren Generation aus, die Offenheit zum Lebensstil erkoren hat. Wer die neuesten Apps und Hashtags nicht kennt, gehört nicht zur digitalen Bohème.41
Als Persönlichkeitsmerkmal ist Offenheit damit die Voraussetzung und zugleich die Folge der Globalisierung: Waren, Kapital, Menschen, Nahrungsmittel, Sitten und Ideen bewegen sich weltweit. Sie durchdringen nicht nur die Grenzen, sondern lösen sie oft sogar auf – die Staatsgrenzen, die kulturellen Identitäten, die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die Barrieren des Patriarchats, die Demarkationslinien von Kategorien und damit den gesamten alten moralischen Rahmen. Offene, also neugierige und experimentierfreudige Menschen haben diese Entwicklung befördert. Diese Entwicklung wiederum fordert von allen Offenheit und belohnt diejenigen, bei denen dieses Persönlichkeitsmerkmal ausgeprägt ist.
In den folgenden Kapiteln geht es darum, warum Persönlichkeitsmerkmale und besonders Emotionen wie Angst, Zorn, Ekel, Mitgefühl, Scham und Schuld unsere Moral und unsere politischen Neigungen prägen, kurz: warum sie den Kern unserer moralischen Identität ausmachen.
Kurz gefasst
Wir haben fünf voneinander unabhängige Persönlichkeitsmerkmale, die sich in früher Kindheit äußern und deren Werte sich im Leben wenig verändern: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Instabilität. Ein hoher Wert bei Offenheit sagt eine progressive Moral voraus, ein hoher Wert bei Gewissenhaftigkeit eine konservative. Das zeigt sich nicht nur im Wahlverhalten der Menschen, sondern auch in ihrer Einrichtung und ihrem Konsum. Persönlichkeitsmerkmale gehen zur Hälfte auf Gene, zur anderen auf Erziehung zurück. Daher kann man am Charakter von Vorschulkindern mit hoher Treffsicherheit ihr Wahlverhalten als Erwachsene ablesen. Die Globalisierung belohnt die Progressiven, die offen und neugierig sind. Die Jahrhunderte zuvor war Konservativismus eine erfolgreichere Strategie.