Über dieses Buch:
Rom, 1700: Der kleine Körper totenblass, in seinen Adern kein einziger Tropfen Blut … Wie ein Ritualopfer aufgebahrt, findet man den Leichnam eines armen Fischerjungen in einer Synagoge – und schon bald droht zwischen vergeltungshungrigen Christen und Juden rohe Gewalt auszubrechen. Ein Schuldiger ist schnell gefunden, doch welchen Grund sollte der Rabbi der Synagoge für solch eine Teufelstat haben? Der junge Priester Prospero, macht sich gemeinsam mit der Tochter des Angeklagten auf die Suche nach der Wahrheit – und kommt dabei den Geheimnissen der Mächtigen gefährlich nahe! Was sie entdecken, könnte die Grundfesten des Vatikans erschüttern …
Der große Auftakt der historischen Krimireihe um Prospero Lambertini – der später als Papst Benedikt XIV. in die Weltgeschichte einging!
Über den Autor:
Nicholas Lessing studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Nach seiner Promotion war er Regieassistent, Dramaturg und Regisseur, ehe er für Theater und Rundfunk schrieb und als Übersetzer aus dem Russischen arbeitete. Für das Fernsehen war er als Autor (u.a. diverser Krimidrehbücher) und Produzent bei führenden Produktionsfirmen tätig. Unter anderem Namen schreibt er Sachbücher über den Vatikan und Kirchengeschichte. Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in der Nähe von Berlin.
Nicholas Lessing veröffentlicht bei dotbooks in der Prospero-Lambertini-Reihe auch:
Und stehe auf von den Toten
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eBook-Neuausgabe November 2018
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shuterstock.com/Samot, Apostrophe, pirtuss und enkukulka
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-399-0
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Nicholas Lessing
Sein Blut komme über uns
Roman
dotbooks.
Für Cornelia und Antonia Sophia
Die Kutsche jagte durch die klirrend kalte Nacht, hinweg über die holprige Gebirgsstraße. Rücksichtslos trieb der Kutscher die sechs Pferde an, begleitet von dem fahlen Licht des Vollmondes. Im Inneren der Kutsche saß der Kardinal und wurde grob durchgeschüttelt. Schließlich musste er noch im schützenden Dunkel der Nacht Rom erreichen, sollte sein riskantes Unternehmen überhaupt Aussicht auf Erfolg haben. Keinen Tag länger durfte er die Sühne aufschieben.
Ein kurzer Zwischenaufenthalt in Orvieto hatte den Kirchenfürsten durch eine unerwartete Begegnung nur noch mehr in Eile versetzt. Die launige Führung des Kanonikus durch den Dom nach einem köstlichen Mahl mit gebratenen Nieren und umbrischem Rotwein endete in einer jähen Konfrontation mit der eigenen Schuld. Dabei hatte der Kanonikus nur beabsichtigt, ihm die Kunstwerke Fra Angelicos und Signorellis zu präsentieren. Von einem Fresco Signorellis aber blickten ihn plötzlich die Augen des toten Angelo an. Augenblicklich gefror ihm das Blut in den Adern. Mühsam versuchte er, seine Aufregung mit Scherzen und Komplimenten für die Kunst zu überspielen. Aber das Bild ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Mehr noch, es quälte ihn geradezu. Man erzählte, dass ein von Trauer überwältigter Signorelli seinen Sohn, der in der Stadt Cortona erschlagen worden war, nackt ausgezogen und mit zitternder Hand und wundem Herzen gezeichnet haben soll. Der Junge auf dem Bild glich dem toten Fischersohn in der Synagoge aufs Haar.
Längst hatten sie den Felsen von Orvieto hinter sich gelassen und tauchten in das nördliche Latium ein. Die Landschaft erweckte den Eindruck, ein trunkener Geselle habe in grauer Vorzeit aus lauter Übermut Schluchten in den vulkanischen Tuffstein gehauen und sie dann aus Reue über seine Gewalttat am anderen Morgen unter verworrenen Buschwäldern verborgen.
Endlich öffnete sich das Gebirge und gab den Blick auf die Tiberebene frei. »Rom«, rief der Kutscher.
»Gut, gut«, erwiderte der Kardinal hellwach, zog den Vorhang am Fenster zur Seite und sah kurz hinaus. Das sandige Wasser des Tibers wirkte in der Nacht wie ein Strom aus Pech. Wer etwas auf sich hielt, lag längst im Bett und schlief. Ein kluger Mann vermied es, zu dieser Stunde, zur Stunde der Hexen und Meuchelmörder, in der Ewigen Stadt anzukommen. Der Kardinal wusste aus eigener Erfahrung, dass die Hölle nach Mitternacht ihre Pforten öffnete und ihre dunkelsten Kreaturen auf die Stadt losließ. Die Fischer würden am anderen Morgen wieder Leichen aus dem Fluss ziehen.
Die elegante Kuppel des Petersdoms schwebte mahnend über den Dächern der Stadt, als sei sie der Geist Gottes selbst, der seine Untergebenen wohlwollend, jedoch mit einer anmutigen Strenge regierte. Der Kardinal befand sich noch in andächtiger Bewunderung über das imposante Bild, als der Fuhrmann energisch die Zügel anzog. Wiehernd kamen die Pferde vor dem Stadttor zum Stehen.
Erneut schaute der Kardinal aus dem Fenster. Seine Anspannung wuchs. Ungeduldig beobachtete er den Kutscher dabei, wie der vom Bock sprang, einen Schmerzenslaut ausstieß, fluchte und zum Tor humpelte. Mit dem hölzernen Knauf seiner Peitsche schlug der Mann heftig gegen das Tor: »He, ihr Schlafmützen! Aufwachen! Lasst uns rein!«
Nichts rührte sich. Wieder klopfte er an, wieder brüllte er, nun mit ganzer Kraft: »Macht das Tor auf, ihr Halunken, für seine Eminenz Prospero der Heiligen Römischen Kirche Kardinal Lambertini.«
Seine Worte waren kaum verklungen, da setzte auch schon rege Geschäftigkeit ein. Das Tor öffnete sich einen Spalt. Prospero der Heiligen Römischen Kirche Kardinal Lambertini erblickte einen Soldaten, der im Gehen noch rasch einen Hut auf seinen kahlen Schädel setzte. Der Soldat, dem man die Schläfrigkeit anmerkte, raunte dem Fuhrmann im Vorbeigehen zu: »Gnade dir Gott, du Landei, wenn du gelogen hast!«
Dann stand er vor ihm. Prospero zählte fünfundsechzig Jahre, wirkte aber sehr viel jünger. Das lag vor allem an seinen verschmitzten großen blauen Augen, in denen sich Güte und Klugheit deutlich und lebhaft widerspiegelten. Seine hohe Stirn verriet, dass er ganz der Intellektuelle war, doch seine roten Pausbacken ließen auch den Liebhaber der Gaumenfreuden erkennen. Die große Nase über einem Mund, der eingerahmt war von Lachfältchen, verlieh seinem Gesicht eher ein angenehmes denn ein schönes Aussehen. Sein volles kastanienbraunes Haar wurde von ersten grauen Strähnen durchzogen. In den letzten Jahren beobachtete er sehr zu seinem Missvergnügen, dass sich Ansätze eines Doppelkinns bemerkbar machten. Doch andererseits war das vielleicht für einen Seelsorger gar nicht so übel, wenn eine gewisse Weichheit im Gesicht den Eindruck des scharfen Denkers milderte. Lange hatten die beiden Seelen in seiner Brust, der Wissenschaftler und der Priester, miteinander gerungen. Dieser Kampf hatte sich erst beruhigt, seitdem er als Erzbischof nach Bologna zurückgekehrt war.
Der Kardinal wusste, dass jeder in der Ewigen Stadt ihn aus seiner Zeit als Inquisitor kannte. Seine spektakulären Ermittlungen wurden in den Wirtshäusern und in den Küchen der reichen Leute, aber auch in den Kellerlöchern und Verschlägen der Armen erzählt, und wie es die Art der Römer war, wurde sehr viel ausgeschmückt und mit unzähligen Anekdoten gewürzt. Es freute ihn keineswegs, dass die Verfehlungen seiner jungen Jahre durch mündliche Überlieferungen im Gedächtnis der Stadt überlebt und mit der Zeit immer monströsere Ausmaße angenommen hatten. Selbst der Soldat am Stadttor, so bemerkte der Kardinal, erkannte ihn. Dieser salutierte nämlich auf Anhieb mit einem über das normale Maß hinausreichenden Eifer. Als er dann noch Anstalten machte, sich umständlich zu entschuldigen, fiel der Kirchenfürst ihm väterlich ins Wort. »Es tut uns leid, dass wir deine Nachtruhe gestört haben, mein Sohn, aber wir haben es sehr eilig.«
»Sehr wohl«, antwortete der Soldat mit einer ungelenken Verbeugung. Prospero hielt ihm seine Hand mit dem Ring hin. Der Soldat küsste das kleine Kreuz aus Ultramarin. Dann brüllte er seinen Kameraden zu: »Macht das Tor auf für Seine Heiligkeit!«
Aus dem Wagen steigend, schüttelte Prospero den Kopf, denn ein Schlüsselsoldat, wie man die Söldner des Papstes nannte, sollte eigentlich wissen, dass die Anrede »Seine Heiligkeit« nur dem Papst zustand. Doch der Pontifex war seit einer Woche tot und ganz Rom fieberte dem heute beginnenden Konklave entgegen. Lambertini ahnte nicht einmal, wer als nächster Stellvertreter Christi aus der Wahl hervorgehen würde. Aussichtsreiche Kandidaten gab es einige. Er zählte nicht zu ihnen. Nur eines wusste der Erzbischof, dass er in seiner Heimatstadt Bologna endlich Glück und Ruhe gefunden hatte und keinesfalls die Cathedra Petri und die Rückkehr in die Ewige Stadt ersehnte.
Schmunzelnd stieg er zu dem Fuhrmann auf den Kutschbock hinauf. Ihm entging dabei nicht, dass der Kutscher ihn erstaunt anblickte, weil der Kardinal sich plötzlich mit ihm gemein machte. »Bevor wir zu Seiner Eminenz Sylvio Valenti Gonzaga fahren, müssen wir noch etwas erledigen. Los, ich führe dich. Halt aber den Mund über unseren Ausflug!«, befahl Prospero Lambertini dem Landsmann, auf dessen Diskretion er setzte.
Den Weg durch die nächtlichen Gassen um die Porta Salaria kannte Prospero Lambertini im Schlaf. Stumm wies er seinem Kutscher die Richtung, die Räder der Karosse polterten hohl über das Kopfsteinpflaster. Bald schon erreichten sie das Forum Romanum.
Die Ruinen ragten Furcht einflößend aus dem Dunkel, überwuchert von Disteln und Dornen. Schmerzhafte Erinnerungen stiegen in ihm auf. Das Forum gehörte je nach Tageszeit erst den Hirten, dann den Mondänen und schließlich den Meuchelmördern. Am Tage hütete das Volk auf dem einst so stolzen Mittelpunkt des römischen Weltreiches seine Kühe. Deshalb nannten die Einheimischen den Ort nur Campo Vaccino, Kuhwiese. In den Abendstunden hingegen feierte die gehobene Gesellschaft hier schaurig-skurrile Feste. Später, in der Nacht, zur Zeit seiner Ankunft, trieb sich allerhand Gesindel auf dem Ruinenfeld herum.
Bald schon hatten sie die Straße erreicht, die von den Römern Cerchi genannt wurde, an der hinter einer hohen Mauer gegenüber des Circus Maximus der jüdische Friedhof lag. Die Gräber der toten Juden erhoben sich über die zerfallenen Prunkbauten ihrer früheren Unterdrücker. Aber Prospero war nicht nach philosophischen Überlegungen zumute.
»Warte hier.« Als er in die ängstlichen Augen des Kutschers sah, fügte er noch scherzhaft hinzu: »Wenn sich ein Gespenst zeigt, hilft das Kruzifix, bei allen anderen Erscheinungen die Peitsche.«
Dann kletterte er vom Kutschbock und hüllte sich in seinen Mantel. Als er eine schäbige Lattentür öffnete und die letzte Ruhestätte der vielen Generationen römischer Juden betrat, verschwand der Mond hinter dichten Wolken, und man konnte meinen, die Dunkelheit wolle den Kardinal verschlingen.
Er ahnte mehr den Weg zwischen den Gräbern, als dass er ihn sah. Einzig in einem kleinen, eingefriedeten Teil standen Grabsteine. Die Päpste gestatteten nur, an den Gräbern der Rabbiner Gedenksteine zu errichten. Den gewöhnlichen Juden, die ihr Leben unter den Augen der Nachfolger Jesu und Petri zubrachten, blieb es verboten, mit einer Stele an ihre geliebten Verstorbenen zu erinnern.
Wieder quälten ihn die toten Augen des Jungen, die ihn aus der Ewigkeit anstarrten. Plötzlich riss ihn ein Geräusch, das vom Tor her kommen musste, aus seinen Gedanken. War er etwa nicht allein? Er hielt kurz den Atem an und lauschte angestrengt. Tatsächlich vernahm er jetzt eilige Schritte. Wer trieb sich um diese Zeit außer ihm auf dem Friedhof herum? Wurde er etwa verfolgt? Seltsamerweise empfand er keine Angst. Im Gegenteil, die Ahnung von Gefahr schien seine seit seiner Abreise von Bologna angespannten Nerven sogar zu beruhigen. Wenn Gott ihm diese Nachtgestalt schicken sollte, um den letzten Dienst zu verhindern, dann war es zu bedauern, aber nicht zu ändern. Auf jeden Fall würde er in ihrer Nähe sterben. Fast ein wenig belustigt stellte sich der Kardinal den Skandal vor, falls ihn ausgerechnet mitten in der Nacht auf dem jüdischen Friedhof das Zeitliche segnen sollte. Es würde alle Lambertini-Legenden krönen. Wenn Gott ihm dieses Schicksal vorbestimmt hatte, wohnte dem zumindest eine zarte Ironie inne.
Die Gestalt näherte sich ihm rasch. Prospero versuchte zu erkennen, um wen es sich handelte. Vor ihm stand ein in Lumpen gehüllter Mann, ein Fürst des Elends und der Finsternis.
»Was willst du?«, fragte ihn Prospero streng, jedoch nicht unfreundlich. Anstatt eine Antwort zu geben, zog der Fremde einen Dolch aus seinen Lumpen. »Was gibst du mir für dein Leben?« Prospero öffnete den Mantel, so dass die Soutane des Priesters und vor allem das Zingulum des Kardinals sichtbar wurden. Der Mann hatte Prospero misstrauisch beobachtet, bereit jederzeit zuzustoßen. Dann stieß er ein höhnisches Lachen aus, das sich bald in ein Knurren, dann in ein Bellen verwandelte, das von heftigen Zuckungen begleitet wurde. Die elendige Kreatur spuckte Blut, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und trat näher. Prospero empfand keinen Hass, nur Mitleid mit dem offensichtlich Schwindsüchtigen. »Willst du kurz vor deinem Ende noch eine Sünde auf dich laden?« Der Kardinal spürte, dass seine Worte den Mann, der offensichtlich mit allem abgeschlossen hatte, nicht mehr erreichten. Ihm kam der Psalm 90 in den Sinn: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Der Schwindsüchtige holte aus, um den Dolch ins Herz des Kirchenmannes zu stoßen. Im selben Moment gaben die Wolken den vollen Mond wieder frei und sein helles Strahlen beleuchtete den Friedhof. Zu seinem Erstaunen hielt der Angreifer jäh in seiner Attacke inne und starrte ihn nur ungläubig an: »Lambertini?« In seinen erloschenen Augen blitzte plötzlich jungenhafter Übermut auf.
»Benjamin?« Jetzt erkannte auch Prospero sein Gegenüber wie einen Schatten aus längst vergangener Zeit. Die beiden Männer bestaunten einander überrascht und fassungslos. Benjamin ließ den Dolch sinken. Was war nur aus dem begnadeten Arzt geworden, fragte sich der Kardinal erschüttert. Prospero verspürte den Wunsch, Benjamin tröstend zu umarmen, doch dieser wich schnell einen Schritt zurück. Sein Blick wurde wieder leer und gleichgültig. »Ich weiß, wo du hinwillst. Vergiss die Toten, Prospero, vergiss uns alle! Wer an unserer Ruhe rührt, weckt nur Geister!«
Erneut schoben sich Wolken vor den Mond, und Dunkelheit fiel auf den Friedhof wie schwerer Samt. Benjamin steckte das Messer zurück in seine spärliche Kleidung. »Du hast sie getötet, Prospero!«, stellte er ohne jede Erregung fest. Dann bedachte er den Kardinal mit einem langen Blick, wie man es macht, wenn es endgültig heißt, Abschied zu nehmen, und verschwand in die Finsternis, aus der er gekommen war. Seine Worte brannten indes in Prospero Lambertinis Seele wie Feuer, als hätte ein Windhauch den alten Schwelbrand seines Gewissens zu lodernden Flammen entfacht. Hilflos blickte er sich um. Da lagen sie, die Gebeine der Menschen, die einmal geliebt und gehofft, gehasst und gelitten hatten. Die Steinchen auf den Gräbern erinnerten noch immer an den Auszug aus Ägypten, als die Juden unter Moses' Führung durch die Wüste ins gelobte Land gezogen waren. Die Bemitleidenswerten unter ihnen, die unterwegs starben, bettete man zur letzten Ruhe im Wüstensand unter großen Steinen, damit die Schakale sie nicht ausgraben und ihre Körper fressen konnten. So ein Stein bedeutete seit dieser Zeit: Ich denke an dich.
In die Stille des Friedhofes hinein rief ein Käuzchen seinen einsamen, kläglichen Laut. Während Prospero sinnierte, wie ungerecht das Leben war, stand er unvermittelt vor dem Grab, das er gesucht hatte. Es war die einzige Ruhestätte einer Frau, die sich im eingezäumten Bereich der Rabbiner befand und einen Gedenkstein besaß.
Das Bild traf ihn wie ein Axthieb. Tränen verschleierten seinen Blick. Unter einem siebenarmigen Leuchter stand die Formel UJ – gedacht wird – und darunter der Name »Deborah«.
Der Übermacht der Gefühle folgte eine große Ruhe, die ihn mit einem Mal erfüllte. Aus seiner Soutane zog er ein schwarzes Samtbeutelchen. Behutsam öffnete er es und ein großer Rubin kam zum Vorschein. Liebevoll legte er die Kostbarkeit auf den Grabstein. Es schien dem Kardinal, als könne der Edelstein erst hier aus seinem Inneren heraus zu leuchten beginnen, tiefrot, satt und doch sehnsüchtig zugleich. Er gab Deborah den ungewöhnlichen Talisman zurück, nach fast einem Menschenleben. Vor vierzig Jahren hatte sie ihm das Juwel in die Hand gedrückt. »Tief in ihm brennt das Feuer der Wahrheit, und ohne Wahrheit muss diese Welt erfrieren. Sie braucht das Feuer!« Dann hatte sie gelacht, ihre eigenartiges, befreiendes Lachen, das stets in wilder Freude begann, um dann in das ruhige Lächeln einer wissenden Skeptikerin überzugehen. Er zweifelte nicht daran, dass morgen irgendein armer Schlucker die Sünde begehen und den Stein vom Grab rauben würde. Doch das ganze Leben war schließlich eine Sünde. Viele würden an ihm verdienen, einer dabei den anderen betrügen, bis er wieder in die Hände eines Kardinals finden und als Morgengabe für dessen Mätresse enden würde.
Doch was machte das schon? Heute lag der Rubin auf ihrem Grab und bekannte: Ich, der Kardinal der Alleinseligmachenden Katholischen Kirche, Prospero, denke an dich, Deborah, Tochter des Rabbiners Tranquillo Vita Corcos, der auf hebräisch Manoach Chiskijah Chajim Corcos hieß und ein großer Arzt, Gelehrte, Rabbiner und Wundermann war.
Doch nicht an den Rabbiner, der ihn tief beeindruckt hatte, dachte Prospero in diesen Minuten, sondern an sie, an die Frau, die er immer noch liebte und nach der er sich bis zu seinem letzten Seufzer auf Erden verzehren würde.
Wider Erwarten befand sich Prospero Lambertini ein halbes Jahr später noch immer im Konklave. Der römische Sommer verwandelte den Vatikanischen Palast in einen Backofen. Längst hatte Prospero in Bologna zurück sein wollen, doch zwei gleich große Parteien unter den Wahlmännern verhinderten die Einigung auf einen Kandidaten als neuen Pontifex. Und nur Gott allein wusste, wie lange die gegenseitige Blockade noch andauern würde.
Der große Saal neben der Sixtinischen Kapelle diente den Kirchenfürsten als Unterkunft. Man hatte kleine Zellen aus Holz errichtet, die ein Bett, zwei Stühle und einen Tisch enthielten. Zudem waren die Zellen mit grünem oder violettem Stoff ausgeschlagen, je nachdem, welcher Partei der Bewohner angehörte. Prospero ging gegen zwei Uhr morgens, wie es ihm inzwischen zur Gewohnheit geworden war, mit einer flackernden Kerze in der Hand und nur mit einer leichten Hose und seinem Nachtmantel bekleidet durch die dunklen Gänge zwischen den Holzverschläge hindurch.
Vor der Zelle Gonzagas blieb er stehen und klopfte an. Doch statt des fröhlichen »Herein«, wie es jeden Abend in Vorfreude auf das nächtliche Schachspiel aus der Kammer klang, trat der alte Freund ihm an der Tür ein wenig förmlich entgegen. Prospero wunderte sich. Ihm fiel sofort eine merkwürdige Veränderung im Verhalten des Kardinals auf. Gonzaga begrüßte ihn zum ersten Mal in den vier Jahrzehnten, in denen sie nun schon einander herzlich verbunden waren, mit einer fremden Demut in der Stimme.
Kaum hatte Prospero Lambertini die Partie eröffnet, betrat Annibale Albani, den er nicht sonderlich schätzte, die Zelle. Albani war ein Protegé des verstorbenen Papstes Klemens XII. und der Neffe Klemens XI. So intrigant wie politisch begabt, vertrat er die Günstlinge des verblichenen Pontifex. Wortlos ging er vor Prospero in die Knie und huldigte ihm mit einem Handkuss. Als kurz darauf Albanis Widersacher, Corsini, erschien, um Prospero ebenfalls zu ehren und ihm die anderen Papstwähler folgten, ganz gleich, ob sie der französischen oder der österreichischen Partei angehörten, begriff er, dass die Kardinäle sich auf ihn als neuen Pontifex geeinigt hatten. Alles in ihm sträubte sich gegen diesen Gedanken. Ein Traum, ein Irrtum, ein mitternächtlicher Scherz, all dies war er bereit anzunehmen, nur nicht diese Zumutung für die Wirklichkeit zu halten. Einer jähen Eingebung folgend, wäre er am liebsten fortgerannt und hätte sich weit weg von Rom versteckt, wie seinerzeit der bedeutende Papst Gregor der Große. Nie hatte er daran gezweifelt, dass der Heilige Geist mittels der Kardinäle die Wahl des Stellvertreters Christi selbst vornahm. Doch diesmal dünkte ihm, dass nicht der Heilige Geist die Kür bestritten hatte, sondern der Teufel, der ihn verführen wollte. Wie von selbst fiel ihm die Versuchung Christi ein, die Matthäus beschrieb: Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Denn nichts Geringeres widerfuhr nun Prospero Lambertini. Die Reiche dieser Welt wurden ihm zu Füßen gelegt, denn als Papst würde er das Oberhaupt aller wahren Christen sein, nicht so sehr wie Gott selbst, aber weit mehr als der Mensch, Stellvertreter Gottes, Stellvertreter Christi auf Erden. Weder Freude noch Triumph empfand Prospero angesichts der unerwarteten und unverhofften und dennoch einzigartigen Erhöhung.
Er musste jetzt allein sein. Deshalb verabschiedete er sich schnell und zog sich in seine Zelle zurück. Die Zeit bis zum Wahlgang wollte er nutzen, um Gott auf den Knien anzuflehen, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Doch im tiefsten Innern seiner Seele wusste er, dass Gott seine Entscheidung unwiderruflich getroffen hatte.
Als er wenige Stunden später, am Vormittag des 17. August 1740 die Sixtinische Kapelle betrat, und alle Anwesenden ihm ehrerbietig zulächelten, hegte er keinen Zweifel mehr über den Ausgang des nun anstehenden offiziellen Wahlganges. Der Herr hatte ihn nicht erhört!
Ein Kardinal nach dem anderen legte seinen Stimmzettel in die Urne. Während die Wahl fortschritt, vertiefte sich Prospero Lambertini schicksalsergeben in Michelangelos Fresko vom »Jüngsten Gericht«, das der Künstler an die Stirnseite der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte.
Kein anderes Bild hätte ihm eindringlicher als Warnung vor Augen geführt werden können. Von dem Bild aus schaute ihn sein künftiger Richter an. Neben dem großen Weltenrichter, an ihn geschmiegt und doch den Kopf abgewandt, als lebe sie bei aller Verbundenheit mit ihm in einer eigenen Welt: Maria. Zu seiner Verwunderung erinnerte ihn die Gottesmutter des Michelangelo plötzlich an Deborah. In diesem verwirrenden Moment, in dem er der Nachfolger Christi auf Erden werden sollte, mit der Gewalt, zu binden und zu lösen, spürte er die ganze Tragweite des Gerichts, der Verantwortung, der er sich um alles in der Welt entziehen wollte. Doch schon griff der Kardinaldiakon Morini in die Wahlurne und fischte Zettel für Zettel heraus. Seine Stimme klang wie der Schuldspruch der Geschworenen: »Lambertini ... Lambertini ... Lambertini ...«
Als Morini die Auszählung beendet hatte, wandten sich die Kardinäle zufrieden dem gewählten Pontifex zu. So war die unwillkürliche Prophezeiung des Schlüsselsoldaten am Stadttor in der nächtlichen Stunde der Ankunft in Rom schließlich doch noch in Erfüllung gegangen. Damals hatte er nur darüber gelächelt, eher nachsichtig als wirklich erheitert.
»Nimmst du die Wahl an?«
»Ja.«
»Wie willst du von nun an heißen?«
Prospero überlegte kurz, dann entschied er sich, aus Dankbarkeit dem Manne im Namen zu folgen, der ihn vor vielen Jahren zum Kardinal erhoben hatte: »Benedikt.«
Auch wenn er sich für unwürdig hielt, wollte er sich als Papst stets bemühen, diesem Namen zu entsprechen: Benedikt, der Gesegnete. Ja, ein Segen wollte er sein. Das war er nicht nur den Christen schuldig, sondern allen Menschen, vor allem aber Deborah.
Wie in Trance folgte Prospero dem Kardinaldiakon und hatte keinen Blick mehr für die Gemälde, die von Aposteln, Heiligen und den Heldentaten der Päpste im Kampf gegen den Antichrist erzählten. Für ihn hieß es Abschiednehmen von seinem beschaulichen Bologna, von dem Leben, das er als Prospero Lambertini geführt hatte. Nun war er Benedikt XIV. Zu Prospero Lambertini würde er erst wieder nach seinem Tod werden. Er spürte, wie seine Beine ihn kaum noch trugen.
In dem kleinen, nüchternen Raum nahe der Sixtinischen Kapelle erwartete ihn bereits der Ornat des Papstes. Prospero empfand die Bezeichnung Tränenzimmer für den schmucklosen Umkleideraum immer als etwas sehr pathetisch. Nun aber begriff er, dass die gestandenen Kirchenfürsten unmittelbar nach ihrer Wahl, während sie Kleidung und Leben wechselten, im Angesicht der enormen Verantwortung in Tränen ausbrachen. Niemand verließ das Ankleidezimmer als derselbe Mann, als der er hineingegangen war. Kurz vor dem Tränenzimmer blieb Prospero jedoch plötzlich vor einer kleinen Kapelle stehen.
»Diakon«, rief er. »Morini, warte!« Der Diakon wandte sich um.
»Einen Augenblick bitte.« Er musste beichten. Mit aller Gewalt drängte es in seinem Inneren, sich von der Last zu befreien, von seinem bisherigen Leben, von der Sünde des Daseins als einfacher Mensch. Morini nickte zaghaft, und so betrat er die kleine Kapelle, die sich vor dem Tränenzimmer befand. Vor dem einfach gehaltenen Altar kniete er nieder und hob die Hände ineinander verschlungen zum Himmel.
Unterdessen hatte sich die Kunde in Rom wie ein Lauffeuer verbreitet, dass weißer Rauch über dem Petersdom gesichtet worden war. Wenig später hoben sämtliche Glocken Roms zu prächtigem Geläut an, das die ganze Stadt erfüllte und verkündete, dass Gott der Christenheit einen neuen Papst geschenkt hatte. Voller Neugier eilten die Römer zum Petersplatz. Die Juden des Ghettos, die sich dort nicht blicken lassen durften, hofften, dass die Wahl nicht auf einen hartherzigen Eiferer gefallen war, sondern auf einen toleranten Mann, der ihnen die Freiheiten eines menschenwürdigen Lebens gewährte.
Was sie, wie übrigens auch die Christen, niemals erfahren würden, war, dass der neue Papst ein halbes Jahr zuvor um Mitternacht auf ihrem Friedhof einen wertvollen Rubin zum Gedenken auf das Grab einer jüdischen Frau gelegt hatte. Benjamin würde es ihnen nicht mehr verraten können, denn er lag zu dieser Stunde entkräftet am Ufer der Tiberinsel, auf der sich in uralter Zeit ein Heiligtum des Äskulaps befunden hatte. Seine Seele begab sich zum Herren Adonai und ließ nur den geschundenen Körper einer armen Kreatur zurück.
Indessen ließ Benedikt XIV. die Neugierigen warten, denn er hatte eine Verabredung mit Gott, den er von seinen Verfehlungen berichten, den er um Verzeihung bitten musste. So betete der frisch gewählte Papst am Vormittag des 17. August im Jahre des Herren 1740 zu dem Einen Gott das Confiteor:
Ich bekenne Gott dem Allmächtigen,
der seligen, allzeit reinen Jungfrau Maria,
dem hl. Erzengel Michael,
dem hl. Johannes dem Täufer,
den hll. Aposteln Petrus und Paulus,
allen Heiligen,
und Euch, Brüdern:
Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken,
durch meine Schuld, durch meine Schuld,
durch meine große Schuld ...
Laut und ohrenbetäubend drang der Schrei aus der großen Synagoge. Es war kein menschlicher Schrei, weder hoch noch tief, nicht schrill, und auch nicht hohl. Unmöglich zu entscheiden, ob eine Frau oder ein Mann ihn ausgestoßen hatte. Doch seine Botschaft war einfach: Das Böse hatte seine Ketten gesprengt und würde nun Seele um Seele in Besitz nehmen. Selbst Prospero, der sich zu dieser Stunde am 7. Juni des Jubeljahres 1700 weit entfernt vom jüdischen Viertel befunden hatte, meinte später, sich an ihn zu erinnern. Dieser Schrei sollte auch sein Leben verändern.
Benjamin wurde durch den Schreckenslaut aus dem Tiefschlaf gerissen. Bis weit nach Mitternacht hatte der Arzt medizinische und naturphilosophische Schriften studiert. Wie immer. Deshalb schlief er für gewöhnlich bis in den Vormittag hinein. Doch nun war er hellwach, und sein Herz raste. Kaum hatte er die Augen aufgeschlagen, sprang er nur mit seinem langen Hemd bekleidet aus dem Bett. Hastig zog er seine schwarze Hose an und knöpfte eilig die bunte Weste über dem Hemd zu. Zum Schluss schlüpfte er in die baumwollenen Kniestrümpfe, quälte sich im Stehen in die Schnallenschuhe, nahm den Rock vom Stuhl und trat endlich in den Korridor hinaus. Im gleichen Augenblick stürmte seine Schwester in den Flur und stieß an der Tür mit ihrem hageren Ehemann Jehuda zusammen. Sie schubste ihn einfach zur Seite, so dass er ins Straucheln geriet, sich mitten auf dem Flur auf den Hintern setzte und nur noch die hinter seiner Frau ins Schloss fallende Tür sah.
Jehudas und Benjamins Blicke kreuzten sich. Der Arzt wusste, dass sein Schwager ihn für einen Schmarotzer hielt, weil er sich standhaft weigerte, viel Geld damit zu verdienen, Menschen zu behandeln, sondern stattdessen nur in Schriften las und Leichen aufschnitt. Doch gegen Benjamins Schwester, die ihren kleinen Bruder abgöttisch liebte, vermochte der Geldverleiher sich nicht durchzusetzen. Also stellte er dem ungeliebten Bücherwurm, der mit den Rabbinern stundenlang Gespräche führte, ein Zimmer zur Verfügung und fütterte ihn durch.
Vielleicht wäre Benjamin selbst Rabbiner geworden, aber die Panik schnürte ihm den Hals zu, wenn er vor vielen Menschen reden sollte. Für ein öffentliches Amt fehlte ihm jede Eignung. Als Gesprächspartner in kleinem Kreis schätzte man ihn hingegen sehr. Und nicht nur in der jüdischen Gemeinde Roms. Manchmal diskutierte er sogar in der Sapienza, der Universität, an der er auch praktischen Unterricht in Anatomie und Pathologie erteilte.
Benjamin half seinem Schwager wieder auf die Beine. Der zischelte nur mürrisch anstelle eines Dankes. Benjamin kannte Jehudas Übellaunigkeit zur Genüge und hielt sich nicht damit auf, denn er musste den Ursprung des Schreis ausfindig machen.
Auf der Straße wimmelte es bereits von Menschen. Die Großfamilie aus der unteren Etage drängelte sich direkt vor ihm in Richtung Synagoge, während hinter Benjamin die Mieter aus den oberen Stockwerken nachstürmten. Ein langer, wieselflinker Mann namens Ahab, der unter dem Dach wohnte, entbot Benjamin einen kurzen Gruß. Der Arzt stellte überrascht fest, dass der sich nicht auf den Weg zur Synagoge befand wie alle anderen, sondern schon von dort zurückkehrte. »Ersparen Sie sich den Anblick, mein Freund.«
Ahab tauchte häufig an Orten auf, an denen man ihn nicht vermutete, auch wusste niemand, wie alt er war und womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Nur eins stand fest: dass er seltsam allgegenwärtig war.
Benjamin wurde vom Strudel der Menschen in die große Synagoge mitgerissen. Über deren säulenbewehrtem Eingang prangten Bilder des siebenarmigen Leuchters, der Harfe Davids und der Zither Miriams. Die Sonne über der Stadt kämpfte sich langsam unter ihrem morgendlichen Schleier hervor. Es würde ein heißer Tag werden. Aus der Synagoge waren Klagegesänge zu vernehmen, langsam anhebende Laute des großen Jammers.
Mit mulmigem Gefühl betrat Benjamin den Scuola del Tempio, den Gebetsraum der Tempelgemeinde, der auch er angehörte. Er hielt kurz inne. Es dauerte ein paar Minuten, ehe sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Feine Staubkörnchen spielten im Licht und stoben wie farbiges Mehl um die Fenster der Synagoge. Vor Benjamin teilte sich die Menschenmenge und gab einen schmalen Gang frei. So stand er unvermittelt dem greisen Synagogendiener Schlomo gegenüber. Ihm stockte das Herz, denn zu Füßen Schlomos lag die Leiche eines Knaben, der wie auf ein unsichtbares Kreuz geschlagen vor dem bestickten Thoravorhang ruhte. Das Kind erinnerte ihn an einen Engel, den der Tod zwar überrascht, dem er aber nicht die Unschuld zu rauben vermocht hatte. Der Arzt schätzte das Alter des brünetten Jungen auf vierzehn Jahre.
Der kleine Körper wirkte so leicht, als fehle ihm die Seele. Das leblose Grau der Haut und das bleiche Fleisch des Jungen deuteten darauf hin, dass sich kein Tropfen Blut mehr in seinen Adern befand. Wer immer es aufgefangen hatte, war sorgfältig vorgegangen. Nicht einen roten Fleck entdeckte Benjamin am Handgelenk. Das kann nur das Werk eines Teufels sein, dachte er mit Schaudern. Benjamins Blick fiel nun auf die neben dem Kopf des toten Jungen drapierte silberne Hand. Es war der Jad, die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger, die zum Vorlesen aus der Thora diente, um die Zeile nicht zu verlieren. Die mahnende Hand neben der Leiche schien eine Botschaft zu beinhalten, die Benjamin aber nicht verstand. Die grausame Entweihung des sakralen Objektes bestürzte ihn. Die Inszenierung wirkte ungeheuer bedrohlich. Der Zeigefinger, der auf den Kopf des Knaben wies, leuchtete blutrot und bildete einen bizarren Kontrast zur silbernen Farbe der übrigen Hand. Das einzige Blut, das an diesem Ort des Grauens zu sehen war, fand sich an der silberne Kuppe des Zeigefingers. Welcher grausame Gott, durchfuhr es Benjamin, trieb hier seinen Schabernack?
Obwohl ihn diese Fragen zutiefst quälten, hinderten sie ihn nicht daran, die Leiche weiter mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu untersuchen. Nun fiel ihm die geöffnete Halsschlagader auf. Die starren Augen erinnerten ihn an braune Glasmurmeln, so hart, kalt und unbelebt. Benjamins Gehirn arbeitete fieberhaft. Was aber, wenn ein Wahnsinniger dieses teuflische Ritual vollzogen hätte? Wenn ein Jude die christliche Legende vom Ritualmord für bare Münze genommen hätte? Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nein, kein Wahnsinniger, entschied der Arzt, dafür war zu viel kalte Präzision am Werk. Der Teufel selbst hatte diesen Engel getötet, denn seit Erschaffung der Welt führen die Engel und die Teufel einen erbitterten Krieg. Und es kommt in diesen grausam geführten Kämpfen vor, dass ein Engel oder ein Teufel ermordet wird wie ein sterblicher Mensch.
Die Tatumstände verrieten Benjamin, dass der Mörder fast pedantisch genau alles dafür getan hatte, um Unheil über die leidgeprüfte jüdische Gemeinde zu bringen. Warum sollte das ein Jude tun? Die intakte Vorhaut des Jungen bestätigte die Vermutung des Arztes, dass es sich um ein christliches Kind handelte. Er zweifelte nicht daran, dass man einen Juden für den Mörder halten würde. Die geöffneten Adern legten den Schluss nahe, dass es der Täter auf das Blut des Jungen abgesehen hatte, Blut, das er für ein satanisches Ritual benötigte. Das Wort Ritualmord brannte in seinem Inneren auf. Christen würden die Juden verdächtigen, aus dem Blut des unschuldigen Knaben ihre Mazze für den Sabbat herzustellen.
Erst jetzt sah er zu Schlomo, der immer noch erstarrt dastand und die Fäuste ballte. Mein Gott, wie Hiob, dachte Benjamin plötzlich, wie Hiob. Wollte der Herr die Juden des römischen Ghettos prüfen? Ihnen alles nehmen, um zu testen, ob sie in ihrer Gottesliebe zweifelnd oder wankend würden?
Er musste den Rabbi holen. Nur der besaß die Autorität zu entscheiden, was nun zu unternehmen sei. Der Rabbi Tranquillo Corcos galt zwar zu Recht als der größte Kenner der Engel, doch der tote Junge bewies Benjamins Theorie von der Sterblichkeit der Boten Gottes. Ein weiteres Mal sah er in das schöne Gesicht des Knaben.
Plötzlich brach das beunruhigte Gemurmel und verzweifelte Klagen der Juden ab, und es trat Stille ein. Sie hatten ihn nicht zufällig nach vorn geschoben, denn sie kannten den Ruf seiner Gelehrsamkeit. Scheu wie er war, überwand er sich schließlich: »Lasst alles, wie es ist. Ich hole den Rabbiner.«
Die päpstlichen Polizisten, die Sbirren, hatten die Juden der Synagoge verwiesen und das Gebäude anschließend abgeriegelt, um den Ort des Verbrechens untersuchen zu können. Der Untersuchungsrichter Monsignore Spigola war ein im Dienste der Rota, des obersten römischen Gerichtes, ergrauter Prälat. Der Polizeipräsident des Distrikts von San Angelo, dem die Polizeiaufsicht über das Ghetto unterstand, zog den Auditor zu dem Fall zu, weil die Untersuchung des Verbrechens seine Kompetenzen bei Weitem überschritt. Spigola wies die Sbirren an, den Rabbiner zu verhaften. Man ließ ihn weder in die Synagoge, noch nahm man Notiz von seinem Protest. Nur der Monsignore sagte kopfschüttelnd zu Tranquillo Corcos, als die Sbirren ihn mit gefesselten Händen an ihm vorbeiführten: »Dass ihr es nicht lassen könnt!«
An diesem Morgen empfand der Untersuchungsrichter bleiernes Mitleid mit sich selbst. Warum musste er sich kurz vor dem Ruhestand noch mit dieser unappetitlichen Sache beschäftigen, einer Sache, die nur Verdruss erzeugen würde? Einem jungen, karrierewilligen Auditor, wie man die Richter im Dienst der Kirche nannte, konnte sie Ruhm einbringen, einem alten nur die Gesundheit nehmen. So verfügte er, dass der Rabbiner in einer geschlossenen Kutsche, sofort und ohne Aufsehen zu erregen, in die Engelsburg zu bringen sei, denn er wollte nicht riskieren, dass er dem Volk von Rom, dem Popolo, in die Hände fiel. Sobald die Nachricht von dem Ritualmord die Runde durch die Quartiere der Stadt gemacht hatte, würde ein unvorstellbarer Aufruhr durch die Straßen gehen. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Und solche Nachrichten, das wusste Spigola, besaßen kräftige Flügel. Er erwartete ein regelrechtes Beben in Rom.
Dem Hauptmann der Sbirren befahl der Auditor knapp, den Leichnam in das Hospiz San Michele a Ripa zu bringen. Außerdem schickte er einen Boten zur Rota und forderte Verstärkung an, um die Haupt- und Nebeneingänge zum Ghetto zu besetzen. Er selbst nahm sich vor, den Ort des grausigen Geschehens später in Ruhe anzusehen. Das hatte keine Eile, denn es gab Wichtigeres. Zunächst würde er nämlich in der nur wenige Schritte entfernten Kirche Santa Maria in Campitelli die Terz beten, die der Aussendung des Heiligen Geistes gewidmet ist. Bei dieser Gelegenheit würde er die »Madonna del Portico« bitten, dabei zu helfen, dass der Heilige Geist besonders in die Herzen der Gewalttätigen unter den Römern fahren würde und sie mit Weisheit, vor allem aber mit Mäßigung erfüllte.
Eine kurz abgefasste Depesche über den Vorfall schickte er durch einen weiteren Boten an den Kardinal Carasoli, der innerhalb der Kurie als Kardinalvikar von Rom für die städtischen Angelegenheiten zuständig und Spigolas höchster Vorgesetzter war – sah man vom Papst ab. Spigola achtete Carasoli, aber er fürchtete ihn auch. Wie würde er auf eine solche unerquickliche Ritualmordgeschichte reagieren?
Während sich das Unheil über das Ghetto zusammenbraute, schritt Prospero Lambertini aufgeregt zum Palazzo della Cancellaria, der eine halbe Stunde von der Synagoge entfernt lag. Obwohl er sich gründlich auf das wichtigste Gespräch seines noch jungen Lebens vorbereitet hatte, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Vom Ausgang der Unterredung hing es ab, ob es ihm gelang, in der römischen Kurie Fuß zu fassen oder ob er als Landpfarrer in der Provinz Dienst tun müsste. Fernab der Literatur. Fernab der Wissenschaft. Fernab der Politik. Ein Leben gänzlich bestimmt vom unerbittlichen Rosenkranz der Taufen, Einsegnungen, Ohrenbeichten und Sterbesakramenten.
Nach dem morgendlichen Gebet hatte er sich sorgfältig umgekleidet. Seine Auswahl an Kleidungsstücken war allerdings sehr überschaubar, da er vom schmalen Stipendium des Papstes lebte. Er trug in der schlichten Eleganz eines französischen Abbés ein schwarzes Gewand mit kleinem weißen Kragen, eine ebenfalls schwarze Hose, ein weißes Hemd, dunkle Weste und baumwollene Kniestrümpfe. Es musste genügen, dass Hemd, Rock, Hose und Strümpfe sauber und ohne Löcher oder fadenscheinig glänzende Stellen waren.
Die Glocken der Stadt schlugen neun Uhr, und einige Römer vermochten sogar, die einzelnen Glocken am Klang zu unterscheiden. Prospero aber schien es, als läuteten sie nur für ihn, gleichzeitig mahnend und Glück verheißend. Aber Glück war nur das eine, Begabung das andere. Er hatte erfolgreich an der Gregoriana studiert und im Kirchenrecht promoviert. Und wie zum Lohn für seinen Fleiß hatte ihn der ebenfalls aus Bologna stammende Alessandro Caprara in den Palazzo eingeladen. Das Arbeitszimmer des Auditors befand sich im zweiten Stock des Gebäudes.
Als Prospero den imposanten Bau betrat, spürte er die eigenartige Atmosphäre, die hastige Geschäftigkeit, das Kommen und Gehen. Ihm fielen die Grüppchen von zwei bis drei Männern auf, die in eine Unterhaltung vertieft eine besondere Wichtigkeit ausstrahlten, als läge auf ihren Schultern das gesamte Wohl der Welt. Mühsam nur zwang er sich, gemessenen Schrittes die große Freitreppe hinaufzugehen. Am liebsten wäre er wie ein Knabe gerannt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Doch wurde dieser Gedanke bereits im Ansatz vereitelt, denn eine antike Justitia blickte streng und prüfend auf ihn herab. »Entschuldigung«, sagte er leise zur Statue der Göttin der Gerechtigkeit und schlug kurz, aber nicht ohne ein jungenhaftes Lächeln die Augen nieder.
Im ersten Stock öffneten sich links und rechts der Treppe lange und breite Korridore. Vor der Büste eines Jupiters sprachen zwei Monsignori mit einem Jesuitenpater. Prospero trat unbefangen zu ihnen: »Entschuldigen Sie, wie komme ich zu Monsignore Caprara?« Die drei Würdenträger sahen den jungen Mann, der es gewagt hatte, ihre Unterhaltung zu stören, strafend an. Sein bologneser Dialekt machte ihn in ihren Augen ohnehin zu einem Hinterwäldler. Kaum erwartete Prospero noch eine Antwort auf seine Frage, da ließ sich einer der beiden Monsignori herab: »Dort entlang. Die fünfte Tür.« Prospero bedankte sich und ahmte in Gedanken die näselnde Sprechweise des Prälaten spöttisch nach, verbat sich aber sogleich seine Respektlosigkeit. Schließlich stand er vor der Tür des Auditors, klopfte und trat ein.
Caprara saß in dem großen Raum in einer Ecke an einem kleinen Sekretär mit dem Rücken zur Tür. Der Raum wurde beherrscht von einem etwas zu geschwungenen Tisch aus schwarzem Mahagoni, zwei Sofas und zwei Stühlen.
Bedächtig setzte der Auditor noch einen Punkt unter ein Dokument, das er gerade verfasst hatte, und wandte sich dann mit einem herzlichen Lächeln Prospero zu. Er trug die Soutane wegen der Hitze halb geöffnet. Diese freundliche Art der Leute aus Bologna vermisste er in Rom, weshalb er sich immer wieder freute, einen Landsmann zu treffen.
Alessandro Caprara war ein kleiner, rundlicher Mann um die fünfzig mit außerordentlich klug in die Welt blickenden Augen. Er diente wie Spigola der Rota als Auditor, als Richter, nur, dass Caprara in der Sektion des Gerichtshofes arbeitete, die sich ausschließlich mit den Selig- und Heiligsprechungen beschäftigte. Erst wenn die Rota bestätigte, dass ein Christ die Wunder, die ihm zugeschrieben worden waren, auch tatsächlich bewirkt hatte, kam das Verfahren vor das Kardinalskollegium und von dort vor den Papst, um eine Heiligsprechung zu erwirken. Kein künftiger Heiliger kam also an Caprara vorbei. Mit großzügiger Geste forderte dieser nun seinen Gast auf, Platz zu nehmen. Prospero wählte das bequemere der beiden Sofas und musste feststellen, dass es dann doch ein wenig zu bequem war, denn er sank tief in die Polster ein.
Der Gastgeber ließ sich hingegen auf den Stuhl an der Stirnseite nieder. Der Auditor hatte sehr viel Gutes über seinen jungen Landsmann gehört. Er wollte ihm ein wenig auf den Zahn fühlen.
»Erste Lektion, wenn man die Möglichkeit hat: immer die Möbel wählen, in denen man nicht versinkt. Es ist besser, ein wenig unbequem, aber dafür höher zu sitzen. Die Römer lieben es, auf andere herabzublicken. Wir wollen ihnen doch diese Chance nicht geben, lieber Landsmann.« Caprara fiel, wie es Prospero schien, bewusst aus seiner makellosen Aussprache in den Dialekt der Leute aus Bologna zurück. »Wann wirst du eigentlich zum Priester geweiht? Du wirst es doch bald? Oder?«
»Am kommenden Sonntag in der Kirche Santa Maria in Trastevere«, antwortete Prospero stolz. Er freute sich auf den bedeutendsten Tag in seinem Leben, an dem er endlich aufgenommen werden würde in die Dienerschaft des Herrn, in die Gemeinschaft der Nachfolger der Jünger, als treuer Soldat Christi. Mochten die Tage und Stunden bis zum Sonntag nur wie im Schlaf verfliegen.
»Ausgezeichnet!«, rief der Auditor gut gelaunt aus. »Dann wird dich der beste Kardinal unserer Mutter Kirche, seine Eminenz Francesco Carasoli persönlich zum Priester weihen, weil ihm als Titularbischof der Basilika dort das Weihesakrament obliegt.« Caprara rieb sich vergnügt die Hände. Man konnte ihm ansehen, dass er diesen Zufall für eine glückliche Fügung hielt. Dann schlug er einen geschäftsmäßigen Ton an. »Deine Zeugnisse sind blendend, alles, was man über dich hört, ist Lob. Ich muss dir nicht sagen, dass die Kommission für Selig- und Heiligsprechung die wichtigste und vornehmste Sektion der Rota ist. Sie ist aber auch die gefährlichste.«
Prospero hatte während des Studiums die Kurie so gründlich kennengelernt, dass er um den Ruf jeder Sektion der Verwaltung wusste. »Ein sicherer Glaube schützt uns«, antwortete er deshalb beherzt.
Caprara musste lächeln. »Das meine ich nicht. Es geht nicht darum, dass du Schwierigkeiten mit der Inquisition bekommen könntest. Die Gefahren sind weitaus größer als in anderen Sektionen, weil die Anfechtungen auch größer sind. Es gibt mächtige Familien, die alles unternehmen würden, damit ein verstorbenes Mitglied der Familie selig- oder gar heiliggesprochen wird. Und, lieber Landsmann, wenn ich alles sage, dann meine ich wirklich alles. In diesem Amt kann man reich werden. Wenn man in dem Amt reich wird, taugt man nicht dafür.«
»Bei aller Bescheidenheit, das meinte ich damit, dass ein sicherer Glaube uns schützt.«
Sein Lächeln verriet, dass der Gastgeber offensichtlich Gefallen an der Prüfung fand. »Welches ist die gefährlichste Art der Bestechung?«
»Nicht durch Drohung und nicht durch Erpressung, auch nicht durch Geld, sondern ...«
Der Auditor schaute ihn gespannt an. »Sondern?«
»Durch Gunst! Gunst ist das gefährlichste Mittel der Korruption.«
»Und warum?«
»Weil wir alle geliebt werden wollen.«
»Sehr gut. Vergiss das niemals«, schloss Caprara mit sichtlichem Vergnügen das kleine Examen. Dann erhob er sich, ging zum Sekretär und nahm das Schreiben, rollte es ein und versiegelte es anschließend. Danach drückte er es Prospero in die Hand. »Du wirst ab heute als Hilfsauditor bei mir anfangen. Dir wird bereits am ersten Tag eine hohe Ehre zuteil. Lass sie dir nicht zu Kopf steigen, lieber Landsmann, und sei auf der Hut. Seine Eminenz Francesco Kardinal Carasoli möchte dich kennenlernen. Er erwartet dich in einer Viertelstunde im Palazzo Carasoli.«
Prospero war überrascht und erschrocken zugleich. Der zweitmächtigste Mann der Kirche wünschte ihn zu sehen, der Mann, der ihn in einer knappen Woche zum Priester weihen würde. Nun verstand er Capraras Freude. »Was möchte er von mir?«