Über dieses Buch:
Rom, 1701: Ihre schönen Augen totenstarr, die unschuldigen Körper gezeichnet von schrecklichen Malen … Als der Tiber die Leichen mehrerer Mädchen ans Ufer spült, gerät die Ewige Stadt in Aufruhr. Welchem dunklen Zweck diente ihr Tod? Als die Schwester seines besten Freundes verschwindet, befürchtet der junge Priester Prospero, dass sie das nächste Opfer sein könnte – doch wohin er sich auch wendet, er stößt auf eine unerbittliche Mauer des Schweigens. Und warum versucht ausgerechnet der mächtigste Mann der Kirche, Prospero von seiner Suche nach der Wahrheit abzubringen? Ein atemloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt …
Die spannende Krimireihe um Prospero Lambertini – der später als Papst Benedikt XIV. in die Weltgeschichte einging!
Über den Autor:
Nicholas Lessing studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Nach seiner Promotion war er Regieassistent, Dramaturg und Regisseur, ehe er für Theater und Rundfunk schrieb und als Übersetzer aus dem Russischen arbeitete. Für das Fernsehen war er als Autor (u.a. diverser Krimidrehbücher) und Produzent bei führenden Produktionsfirmen tätig. Unter anderem Namen schreibt er Sachbücher über den Vatikan und Kirchengeschichte. Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in der Nähe von Berlin.
Nicholas Lessing veröffentlichte bei dotbooks außerdem:
Sein Blut komme über uns
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eBook-Neuausgabe November 2018
Copyright © der Originalausgabe 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock.com/pirtuss, eukukulka und Blue Planet Studio
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96148-400-3
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Nicholas Lessing
Und stehe auf von den Toten
Roman
dotbooks.
Für Cornelia und Antonia Sophia
Hinter diesen Taten steckte eindeutig der Teufel. Bestürzt sah Papst Benedikt XIV. von dem Dossier auf. Nur die Kerze auf dem Schreibtisch erhellte notdürftig die geheimen Akten.
Der Papst rieb sich die brennenden Augen. Dann fasste er seinen Entschluss. Niemals dürfte die Öffentlichkeit davon erfahren. Bei Bekanntwerden der Morde würde unter den Katholiken erst Unruhe, dann Angst auflodern und eine nicht mehr zu kontrollierende Hysterie auslösen. Freunde würden Freunde denunzieren, Nachbarn sich mit tödlichem Argwohn begegnen und Leichen geschändet werden. Denn das Böse breitete sich immer wie eine Seuche aus, die keinen verschonte.
Als Bischof der Bischöfe stand er in der Pflicht, die Menschen zu beschützen. Gleichzeitig beschlich ihn das lähmende Gefühl der Vergeblichkeit. Denn es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er diesem Grauen begegnete, welches die Beauftragten der Kurie in den Schriftstücken so penibel dokumentiert hatten.
Warum musste das Verderben immer wieder nach den gleichen grausamen Mustern ablaufen? Konnte das Böse nicht ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden? Benedikt XIV. blickte noch einmal auf den Bericht, der zuoberst lag. Er sah es genau vor sich, wie die Bauern, getrieben von Angst und Aberglauben, in ihrer Verzweiflung schließlich die Kapelle stürmten, den Sarg öffneten und die Leiche pfählten. Wäre es nicht sicherer gewesen, den Kadaver zu verbrennen? Aber wer konnte das schon mit Gewissheit sagen?
Seit Jahrtausenden dachten die Menschen unentwegt über die Natur des Bösen nach und besaßen dennoch so lächerlich geringe Kenntnisse darüber. Der Teufel kannte genau wie die römischen Narren zum Karneval viele Verkleidungen und für jeden Menschen das richtige Versprechen, um ihn zu verführen. Diese Erfahrung hatte er leider schon allzu oft gemacht, als er noch jung war und Prospero Lambertini hieß.
Er wehrte sich gegen den Gedanken, den er letztlich doch akzeptieren musste. Wenn das Böse ihn vor vielen Jahren schon einmal in dieser Maskerade angegriffen hatte, dann würde er nur in der Vergangenheit die Mittel finden, mit denen er den alten Feind besiegen konnte. Aber alles in ihm sträubte sich davor, in die versiegelte Hölle seiner Erinnerung zu steigen. Man sollte die Gespenster der Vergangenheit nicht wecken. Doch besaß er eine andere Möglichkeit? Wollte er den Menschen helfen, musste er sich die mühsam verdrängten Ereignisse ins Gedächtnis rufen, auch um den Preis, dass längst vernarbte Wunden wieder aufplatzten. Wie ein fremdes Leben erschien ihm die Zeit, als er mit dem Satan persönlich gerungen hatte. Damals war er bei weitem jünger gewesen und wusste noch nicht, wer sein Gegner war in diesem Kampf auf Leben und Tod ...
Was war sie doch für ein Glückskind! Mutter und Vater hatten ihr erlaubt, den Bruder in Rom zu besuchen. Ihre Freundinnen in Orvieto waren vor Neid geplatzt, als sie davon erfahren hatten.
Kaum in der Ewigen Stadt angekommen, bestürmte Cäcilia den Bruder, sie zum Römischen Karneval mitzunehmen. »Zum Karneval? Ich? Niemals!«, rief er aus, als verlangte man von ihm, seine Ehre zu brechen. Entschieden schüttelte er den Kopf.
»Warst du denn schon einmal dort?«
»Ich muss nicht in die Hölle hinabsteigen, um zu wissen, dass es dort heiß ist und die armen Seelen der Sünder gepeinigt werden.«
»Aber Bruder, es ist nicht die Hölle, es ist ein Volksfest. Wie kann es ein Werk des Teufels sein, wenn der gütige Herr Papst es genehmigt hat?«
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass der Karneval für ihn allenfalls eine Notiz in einer Chronik oder den Gegenstand eines gelehrten Kommentars in einem Traktat abgab. Er war und blieb ein Büchermensch. Deshalb setzte sie geschickt auf die Kraft der Verführung und schlug ihm vor, in die Maske des Philosophen Platon zu schlüpfen. Die Chance, einmal der größte Philosoph des Altertums zu sein, wenn auch nur für ein paar Stunden, war für den Bibliothekar der Vaticana am Ende einfach zu verlockend. Er trank und aß zwar mäßig und interessierte sich weder für Frauen noch für Männer. Aber deshalb war er nicht ohne Verlangen, und wenn dieses auch rein geistiger Natur war, so loderte es dennoch nicht weniger verzehrend in seinen Adern. Der alte Grieche Platon galt als der Gott der Philosophen schlechthin. In der Verkleidung durfte der kleine Bibliothekar sich für ein paar kostbare Stunden zum Herren der Denker aufschwingen. Cäcilia wusste, dass er dieser Vorstellung nicht würde widerstehen können. Sie selbst hingegen streifte mit der Art von Bescheidenheit, die schon an Koketterie grenzt, das unförmige Narrenkostüm des Pulcinells über wie so viele andere auch. Der um ihren jungen Körper schlackernde Stoff verlieh ihr einen unwiderstehlichen Charme, den Reiz des Knabenhaften.
Gegen Mittag trieb es die Geschwister zum Corso. Sie tauchten in die bunte Welt der Narren und Spitzbuben ein, in das römischste aller Feste, den Karneval, in dem kein Papst, kein Vikar der Stadt und keine Heilige Inquisition existierten, nur Menschen, die ihre Fantasien lebten.
Der Februar gab sich in diesem Jahr kühler als normalerweise, und das tiefe Blau des römischen Himmels war von einer eisigen Blässe überzogen. Das Firmament wirkte unter dem Firnis des Raureifs unbeseelt wie die starren Züge der Masken und die bunten Kostüme wie lackiert in der kalten, klaren Luft. Auf den Straßen, Gassen und Plätzen der Stadtteile Regola, Parione, Ponte, Pigna, San Eustachio, San Angelo und Trevi galten in den kommenden drei Tagen ausschließlich die Gesetze der Narren. Obwohl für gewöhnlich in diesen drei Tage mehr Menschen verletzt und beraubt wurden oder den Tod fanden als zu anderen Zeiten – oder vielleicht sogar deshalb –, liebte das Volk von Rom, der Poppolo, das Fest und feierte es in derber Ausgelassenheit. Einmal im Jahr zumindest schienen alle Menschen gleich zu sein. Ihre Wünsche hatten durch die Verkleidung Gestalt angenommen und posierten nun für alle sichtbar auf den Straßen wie auf einer riesigen Theaterbühne. Die Grundlage des Vergnügens bestand in der Anonymität. Jeder war vollkommen das, was er vorgab zu sein.
Die Geschwister kämpften sich zum Corso durch, um das traditionelle Pferderennen mitzuerleben. Je näher sie der Rennstrecke kamen, umso dichter wurde das bunte Flickengewand der Leiber. Der Geruch von Schweiß, Fusel, Urin und Schminke hing in der Luft. Das junge Mädchen fragte sich aufgeregt, ob das der Geruch des Abenteuers war. Aufreizend und abstoßend zugleich. Schließlich drängten sich die Menschenmassen wie ein mächtiger Keil zwischen Cäcilia und ihren Bruder und trieben die beiden gleichgültig und unerbittlich auseinander. Sie streckte noch ihre Hand nach ihm aus, vergeblich. Dann hörte sie ihren Bruder rufen, bevor seine dünne Stimme im Tosen des allgemeinen Lärms unterging.
Cäcilia brauchte einen kurzen Moment, ehe sie ihre Situation überschaute, dann aber huschte unwillkürlich ein Lächeln über ihre sinnlichen Lippen. Frei! Das erste Mal in ihrem Leben war sie ohne jede Aufsicht, ohne Amme, ohne Mutter, ohne Vater und ohne Bruder. In der großen Stadt stand sie plötzlich ganz auf sich allein gestellt da. Das Gefühl hob sie wie ein Orkan aus ihrem spießigen Leben und erfüllte sie mit einer ungekannten Kraft. Cäcilia atmete tief durch und spürte, wie wilder Unternehmungsdrang jede Zelle ihres Körpers flutete. Übermütig lachte sie auf. Warum sollte sie ihren brüderlichen Aufpasser suchen und die unverhofft gewonnene Freiheit wieder aufgeben? So eine Gelegenheit würde sich nie wieder bieten. Sie liebte das Abenteuer, das sie daheim im wohlgeordneten Orvieto allenfalls in der Vorstellung unternehmen durfte. Jetzt aber ging durch eine Laune des Schicksals ihr Traum in Erfüllung, die wilde und gefährliche Welt auf eigene Faust zu erkunden. Sie war alt genug, sie war klug genug, was sollte ihr schon passieren? Genügend Geschichten hatte sie gehört, unzählige Romane gelesen.
Amüsiert beobachtete sie, wie man den Leichtsinnigen, die sich unmaskiert ins Gewühl gewagt hatten, den Buckel für den Gesetzesbruch gerbte. Mehr noch als das Kostüm bedeutete die Maske Schutz und Freiheit. Sich unmaskiert hierherzuwagen, galt als Anschlag auf die Freiheit des Karnevals und somit als Hochverrat an der Republik der Närrischen Drei Tage.
Junge Männer in Frauenkleidern sprachen sie an, aber sie erteilte ihnen beherzt eine Abfuhr. Sie ahmten zur Belustigung der Umstehenden verliebte Jungfrauen oder geschäftstüchtige Huren nach. Advokaten bedrohten Passanten damit, Prozesse auf der Grundlage willkürlich erfundener Vergehen gegen sie anzustrengen. Damit brauchte man Cäcilia, der Tochter eines Notars, nicht zu kommen. Und während sie wieder einem als Rechtsanwalt verkleideten Narren den Spaß verdarb, sprach sie ein junger Mann mit wohlklingender Stimme, aber hartem Akzent an.
»Bezaubernder Pulcinell, womit kann ein armer Adept wie ich Gnade vor dir finden?«
»Habe ich dich verurteilt?«
»Ja, zu lebenslangem Dienst.«
»Wodurch?«
»Durch die Anmut deiner Bewegungen, den Wohlklang deiner Stimme, das Silberläuten deines Lachens, den Goldglanz deiner Erscheinung.«
Gott, was sie alles sein sollte! »Gold und Silber, mein Vater wird wohl einen anständigen Preis für mich auf dem Markt erzielen können!« Cäcilia prustete los, wobei ihre Augen spöttisch blitzten. Neugierig musterte sie den Fremden. Er war hochgewachsen, trug ein Barett mit Seitenklappen, die seine Ohren bedeckten, einen geschlitzten Wams, wie sie ihn von den jährlich stattfindenden Umzügen der Tuchmacherzünfte daheim kannte, wenn die Meister und Gesellen sich zur Feier des Tages in die Mode ihres Gründungsjahres 1505 zwängten. Die Schlitze ließen einen tiefblauen Unterstoff unter dem Rot des Wamses erkennen. Über schwarzen Kniestrümpfen trug er eine eher dezente, schwarzrot gestreifte Pluderhose, dazu ein Rapier. Sie sah in ihm einen Edelmann aus längst vergangener Zeit. Stahlblaue Augen sprengten die Sehschlitze der starren Maske mit ihrem respektlosen Funkeln. Etwas an seiner Stimme irritierte Cäcilia. Ihr Klang erinnerte leicht an das Bellen eines Wolfes. Der Fremde schien es zu genießen, dass er begutachtet wurde. Er verbeugte sich galant vor ihr.
»Verzeih einem armen Goldmacher das Stammeln in dem Augenblick, in dem er sein Gold gefunden hat.«
»Wirke ich so starr, so glatt, so kalt leuchtend wie schnödes Gold, mein Herr?«
»Ich meinte nicht das Metall.«
»Sondern?« Sie zog erwartungsvoll die rechte Augenbraue hoch, was aber unter der Maske verborgen blieb.
»Das Gold, das wir die Seele nennen.«
»Das ist Philosophie. Und davor hat mich mein guter Vater gewarnt.«
»Bitte, begleite mich zum Teatro Tordinone. Ich will nicht philosophieren, sondern tanzen. Oder hat dich dein guter Vater auch davor gewarnt? Zeig ihn mir, und ich will ihn um Erlaubnis bitten.« Cäcilia lachte jetzt aus vollem Halse. Die Vorstellung, wie der freche Cavaliere ihren Vater bitten und sich eine Abfuhr einhandeln würde, die sich gewaschen hatte, belustigte sie. Doch sie wollte nicht über ihren Vater reden. Das berühmt-berüchtigte Teatro di Apollo di Tor di Nona, wie es eigentlich hieß, erregte ihre Neugier.
»Kommst du denn da rein?«
»Hältst du mich für einen Angeber?«
Cäcilia konnte ihr Glück kaum fassen. Nur in der Zeit des Karnevals durften die Theater offiziell betrieben werden. Und zu einem Ball in eines der fünf Spielhäuser der Ewigen Stadt eingeladen zu werden, überstieg bei weitem das, was sie in ihren kühnsten Träumen erhofft hatte. Das Teatro Tordinone galt als das vornehmste von allen. Dort trafen sich nur der Hochadel, die auf andere Art – man fragte besser nicht wie – unverschämt reich gewordenen Gecken und einige verkleidete Kardinäle. Und jede Menge Damen aus der höheren Gesellschaft und aus den teuren Bordellen.
Cäcilia überlegte nicht lange, denn sie sah keinen Grund zur Vorsicht. Sie bewegte sich schließlich mit dem Fremden in der Öffentlichkeit und folgte ihm nicht in ein stilles Kämmerlein, in eine zwielichtige Wirtschaft oder in eine verlassene Gegend. Was sollte ihr also schon geschehen? Sie könnte jederzeit um Hilfe rufen, wenn er zudringlich würde. Aber so wirkte er ohnehin nicht auf sie, nicht wie einer, der sich gewaltsam etwas verschaffen musste. Trotzdem konnte es nicht schaden, sich etwas spröde zu zeigen. »Wenn du versprichst, dich stets ritterlich zu betragen.«
»Bei allem, was mir heilig ist.«
»Weiß ich, was dir heilig ist? Schwör bei deiner Ehre. Obwohl – wenn du vorhast, ehrlos zu handeln, besitzt du keine Ehre, und so wäre auch der Schwur nutzlos. Ach, schwör am besten gar nicht. Wie heißt du?«
»Agrippa. Agrippa von Nettesheim. Und du?«
»Sieht man es nicht? Pulcinella.«
»Ich meine, mit richtigem Namen.«
»Und du? Heißt du wirklich Agrippa?«
»Nein, David von Fünen.«
»Deutscher?«
»Aus Prag. Und du?«
»Cäcilia Velloni«, antwortete sie und fügte dann flunkernd hinzu: »Aus Rom.« Sie wollte nicht, dass er sie für ein Landei hielt.
Er reichte ihr, wie ihr schien etwas zu selbstsicher, dennoch aber elegant, den Arm. »Dann komm, Principessa. So will ich dich nennen. Das passt besser zu dir als Pulcinella.«
Sie hakte sich ein. Ihr Herz klopfte. Ein Abenteuer, ein richtiges Abenteuer. Mit ihr als Hauptperson. Das erste in ihrem Leben. In ihrem verschlafenen Heimatkaff erwartete sie nur eines Tages der Heiratsantrag eines Mannes, dem sie dann so viele Kinder gebären würde, wie er zuvor in der Lage war zu zeugen. Doch bevor das eintreten würde, wollte sie noch etwas Einzigartiges erleben, woran sie sich das ganze Leben erinnern und was ihr schließlich den lauen Abend eines beschaulich geführten Lebens erwärmen sollte.
Sie passierten den Viccolo della Volpe und standen vor dem berühmten Modehaus von Giuseppe Romano.
»Komm, jetzt machen wir aus der drolligen Pulcinella eine richtige Principessa.« Ehe sie etwas erwidern konnte, nahm er ihre Hand und zog sie in das Geschäft. Giuseppe Romano hatte zwar geöffnet, aber zur Sicherheit ein paar handfeste Kerle mit groben Stöcken im Verkaufsraum versammelt. Ein Mann um die vierzig, mit dunklen Augen und wildlockigem, grau meliertem Haar, kam auf die beiden zu. Cäcilias Begleiter schien ihn zu kennen, was sie beruhigte.
»Ah, Signor Romano höchstpersönlich.«
»Womit kann ich dienen, Cavaliere?«
»Mit dem leichtesten von der Welt: diese schöne Närrin in eine Prinzessin zu verwandeln, denn in Wahrheit ist sie eine verkleidete Göttin. Wir müssen nur wieder sichtbar machen, was sie vor uns so geschickt verborgen hat.«
Cäcilia war, als schaute der erfahrene Modehändler durch ihre Verkleidung hindurch, während er sie musterte. Sie errötete.
»Kommen Sie, Signorina«, lud er sie mit vertrauenerweckender Stimme ein. Sie folgte ihm in eines seiner Studios, die vom Ladenraum abgingen.
»Bleiben wir in der Zeit des Cavaliere von Fünen. Reisen wir in Stoffen und Schnitten knapp zweihundert Jahre zurück.«
Er breitete verschiedene Kleidungsstücke auf dem kleinen Tisch aus, der in der Mitte des Studios stand. »Rufen Sie mich, wenn sie mich brauchen.« Damit entfernte er sich diskret und ließ Cäcilia mit den Kleidern allein.
So teure Stoffe und so schöne Schnitte hatte sie noch nie gesehen. Sollte das wirklich für sie sein? Dürfte sie diese Kleider tatsächlich tragen? Ihre Neugier siegte über ihre Befangenheit. Sie streifte das Pulcinellenkostüm ab, auch ihr grauwollenes, ein wenig derbes Unterhemd und schlüpfte in ein langes, mit Spitzen besetztes Unterkleid aus weißer Seide, fein und halbdurchsichtig. Es fühlte sich kühl und zart an, wie ein Schmetterlingsschlag auf der Haut. Die reinste Sünde, dachte sie mit wohligem Schaudern. Nun zog sie das in einem hellen Grün gehaltene Damastkleid darüber, das an den gebauschten Ärmeln geschlitzt und mit goldenen Borten versehen war. Sie schaute in den mannshohen Spiegel.
War sie das wirklich? Oder sah sie jetzt zum ersten Mal ihre wahre Gestalt, die sonst unter der schlichten Kleidung der Notarstochter verborgen blieb? Sie wollte nicht darüber nachdenken, nur einmal, nur für ein paar Stunden, den Traum leben, eine umworbene und edle Fürstin zu sein. Durfte sie ihr Recht, einzigartig zu sein, nicht noch ein wenig verteidigen? Vor Glück klatschte sie mehrere Male in die Hände. Immer wieder drehte sie sich und bewunderte dabei ihr Spiegelbild. Dann seufzte sie. Länger durfte sie die beiden wirklich nicht warten lassen, also riss sie sich gewaltsam von ihrem Anblick los.
»Signor Romano«, rief Cäcilia leise, in einer Mischung aus Furcht und Andacht. Sie hatte eine neue Seite von sich entdeckt, und sie wollte das Bild nicht durch ein zu lautes Wort wie eine Seifenblase zum Zerplatzen bringen. Und doch hatte ihr Empfinden nichts mit Eitelkeit zu tun. Es war vielmehr eine Art Ehrfurcht vor dieser anderen Cäcilia.
So als habe er nur auf ihren Ruf gewartet, stürmte der Modehändler ins Studio, und ein Strahlen erhellte seine Züge. »Madonna mia. Was für eine Schönheit. Lassen Sie uns das Kunstwerk vollenden.« Seine Begeisterung wirkte nicht professionell vorgetäuscht, sondern echt.
Er legte eine Kette aus geschliffenen, ovalen Bernsteinplättchen, die von feinem Gold gerahmt wurden, um ihren Hals. Dann reichte er ihr eine schwarze Halbmaske und befestigte einen Haarkranz aus Gold, an dem eine einzelne Perle hing, in ihrem schwarzen Haar. Von dem Kranz fiel ein Schleier aus lindgrüner Seide etwas nach rechts versetzt über ihren Hinterkopf bis hinab zu ihren Kniekehlen. Giuseppe Romano trat einen Schritt zurück und betrachtete sie. Sichtlich mit seinem Werk zufrieden rief er aus: »Ah, die richtige Mischung aus Unschuld und Geheimnis.«
Er führte sie wieder in den Verkaufsraum zurück, wo ihr Cavaliere auf sie wartete. Dieser erstarrte bei ihrem Anblick. »Teufel eins, Giuseppe, du bist dein Salär wert«, rief er aus.
»Nicht in diesem Fall, hier tat ich nichts dazu!«, wehrte der Modist galant ab. Sie einigten sich dennoch auf eine stattliche Summe Geldes. Cäcilias Herz klopfte vor Freude. Sie konnte es kaum erwarten, sich als Prinzessin verkleidet der Welt zu präsentieren.
Mit dem Rücken stand das Teatro Tordinone längs zum Tiber. Treppen führten zum Wasser herunter, so dass man das Theater auch flusswärts verlassen oder betreten konnte. Für alle, die nur heimlich hierherkommen durften, war der Eingang vom Fluss von unschätzbarem Wert. Die Vorderseite empfing hingegen die vielen teuer verkleideten Menschen mit einem prachtvollen Portal. Kühn krönte den offiziellen Eingang ein geschwungener Bogen, der auf majestätischen Säulen ruhte. Der Weg in die Hölle ist breit und bequem, lästerten deshalb die sittenstrengen Priester in Rom. Sie befanden sich gottlob in deprimierender Minderzahl.
Falsche Cäsaren und unechte Katharina de Medicis, nachgeahmte Achills und die mitleiderregenden Versuche, faltige Matronen in schöne Helenen zu verwandeln, drängten gemeinsam mit Cäcilia zwischen den korinthischen Säulen in das Foyer. Aber was spielte das schon für eine Rolle, denn an jeder Ecke posierten knackige Parise, die sich nur allzu gern von ältlichen Helenen kaufen ließen. Alles war möglich, alt konnte jung werden und jung sich in alt verwandeln, reich in arm, nur nicht arm in reich. Der ganze Karneval war in Wahrheit ein gut verkleideter Markt der Sehnsucht, der jedem reichlich Freude bescherte, der sie auch zu bezahlen vermochte. Aus der Masse der im Foyer tanzenden Menschen stieß bisweilen scharf wie ein Dolch ein ordinäres Lachen hervor, wie man es für gewöhnlich nur von den billigen Kaschemmen oder von den Märkten her kannte. Doch das alles überspielten die triumphierenden Melodien Scarlattis und Corellis.
Cäcilia hielt den Atem an, als fürchtete sie, sich an ihrem eigenen Staunen zu verschlucken. Ihr Begleiter gönnte ihr nicht den Augenblick, sich zu sammeln, sondern riss sie mit sich in die brodelnde Lava der Tanzenden. Und in der Tat ging es hier so wild zu wie auf einem Vulkan. Erst eine Sarabande, dann eine Giga oder Gigue, wie die Franzosen sagten. Und anschließend stimmte das Orchester sogar eine Saltarella an, einen volkstümlichen Springtanz. Cäcilia erschrak, das war mehr als gewagt, das war eindeutig frivol. Doch zugleich verspürte sie eine prickelnde Lust, den Reiz des Verbotenen, den sie niemals zuvor so unmittelbar, so stark empfunden hatte.
Mochte sich das Volk an lüsternen Sprüngen erfreuen, für gebildete Menschen verbot sich ein so sündiger Tanz. Nur vom Teufel Besessene verrenkten in so grotesker Manier die Glieder. Tanz, so hatte sie es gelernt, bedeutete Ebenmaß, Sittlichkeit, erhabene Figuren und nicht wildes, die Wollust anheizendes Hüpfen. Schließlich ging es um Ästhetik und Moral und nicht um die Gier der Körper. Der Aufschrei der Empörung, den sie deshalb erwartete, blieb zu ihrer heimlichen Freude aus. Die höheren Stände genossen es zum Karneval, auch von den sonst verpönten Genüssen des einfachen Volkes zu kosten. Mochten sie auch noch so grob sein.
Ihr Begleiter hüpfte bereits verführerisch zu den Takten der Musik. Nun ärgerte es sie ein wenig, dass sie nicht im Pulcinellenkostüm geblieben war. In der Freiheit der sackartigen Verkleidung hätte sie allen hier gezeigt, was wirkliche Sprünge waren. Ihr königliches Kleid hingegen eignete sich zwar für den höfischen Tanz, nicht aber für das Hopsen des Teufels. Doch wenn sich ehrbare Menschen diesem Laster hingaben, weshalb sollte sie sich dann zurückhalten? Beherzt raffte sie das Kleid und tat es den anderen gleich. Vergebung würde die Beichte schon gewähren. Und sechzig Rosenkränze war der Spaß doch allemal wert.
Bald schon spürte sie die befreiende Wirkung der Saltarella. Sie glaubte nicht mehr zu tanzen, sondern zu fliegen. Ihr Herz raste. So nahe war sie dem Paradies nie zuvor gekommen. Das Glücksgefühl vereinte sie mit der ganzen Welt, als existierten plötzlich weder Raum noch Zeit. Es gab für sie nur noch ein überwältigendes Jetzt.
Die Zeit verflog, ohne dass sie noch irgendein Gefühl für die fliehenden Stunden besaß. Der Cavaliere nahm ihre Hand und zog Cäcilia mit sich, weg von der Tanzfläche, schob unzählige Menschen beiseite, um den Weg zur Treppe in den ersten Stock zu bahnen. Sie folgte ihm willig. Er kaufte zwei Gläser voll sprudelndem Wein zur Erfrischung.
»Was ist das?«, fragte Cäcilia außer Atem.
»Der Wein des Teufels«, antwortete ihr Begleiter mit einem spöttischen Lächeln. Wenn er glaubte, ihr damit Angst einjagen zu können, dann irrte er sich, denn sie wusste, dass man ein seltsames Getränk aus Frankreich so nannte, weil die Kellermeister bei seiner Herstellung zum Schutz des Gesichtes Eisenmasken trugen wie die Henker und Folterschergen. Aber sie hatte diesen sogenannten Champagner noch nie gekostet, übrigens keiner in Orvieto.
Der Perlwein sprudelte auf ihrer Zunge. Es war, als ob die kleinen Bläschen sofort ins Blut drangen. Sie gaben ihr das Gefühl zu schweben, alles war auf einmal so licht und leicht.
Sie hatte längst den Überblick verloren, wie viele Gläser sie getrunken hatte, als sie sich plötzlich allein in einer Ecke fand. Sie wunderte sich gerade, wo ihr Begleiter so plötzlich abgeblieben war, als jemand ihr vertraulich zuflüsterte: »Komm, Principessa, Agrippa erwartet dich.« Sie folgte der in einen Domino gewandeten Gestalt ohne Fragen zu stellen durch eine kleine Tür in der Wand. Alles kam ihr so selbstverständlich vor und gleichzeitig so geheimnisvoll, wie man es nur mit dem ganz großen Abenteuer in Verbindung brachte.
Andere Kostümierte warteten mit Fackeln in der Hand und beleuchteten damit das enge Treppenhaus. Wie eine Prinzessin eilte sie die Stufen hinunter und begann sich nun doch allmählich zu wundern. Irgendetwas geschah mit ihr. Es war, als ob sie mühsam aus einem Traum zu erwachen suchte. Schließlich wurde eine Tür geöffnet, die bösartig quietschte, und ein feindselig kühler Wind blies ihr ins Gesicht. Kräftige Arme hoben sie, als ob sie nicht mehr als eine Fasanenfeder wog, in ein Boot, ohne dass man sie um ihr Einverständnis gebeten hätte. Was erlaubten die sich?
Das Funkeln weißgelblicher Lichter unter ihr und über ihr irritierte sie. Obwohl sie nicht genau hätte bestimmen können, was oben und was unten war. Das Boot stieß vom Theaterkai ab. Die Paddel glucksten beim Eintauchen ins Wasser.
Erst nach einer Weile gelang es ihr, sich zu orientieren und zu verstehen, dass unter ihr der Fluss und über ihr der Himmel war, und das Blinken lediglich die Spiegelung der Sterne auf der Oberfläche des Tibers darstellte. Sie riss sich die Maske vom Gesicht, als könnte sie dadurch die letzten Stunden ungeschehen machen. Der Schein der Fackel erhellte die Wasseroberfläche, und sie meinte, ihr Alter Ego vom Grund des Flusses streng zu sich aufblicken zu sehen. Sie erschrak. Die Begegnung mit dem eigenen Doppelgänger bedeutete nach uraltem Volksglauben den baldigen Tod. So hatte es sie die Amme gelehrt. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie sich in Lebensgefahr befand. Das war längst nicht mehr ihr Abenteuer. Nicht der Roman, in dem sie die Hauptfigur geben wollte. In diesem Augenblick wünschte sie sich nur noch zurück in ihr langweiliges Leben. In ihr ödes Orvieto.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie und versuchte, gegen die Angst ankämpfend, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben.
»In die süße Ewigkeit!«, antwortete eine Männerstimme. Sie wollte schreien, doch jemand stopfte ihr brutal einen Knebel in den Mund. Dann sah sie nur noch blaue Augen vor sich, die sie kalt und gefühllos wie ein zappelndes Insekt betrachteten, bevor ihr ein Schmerz an Beinen und Armen verriet, dass man sie fesselte. Der kostbare Schleier wurde ihr vom Kopf gerissen und in den Tiber geworfen. Danach versank die Welt in der Dunkelheit des Sackes, den man über ihren Kopf zog.
Endlich weg!, dachte Prospero Lambertini befreit. Gleich würde er die Stadt verlassen, die er einmal geliebt hatte, inzwischen aber von Tag zu Tag immer weniger mochte. Denn sie hatte sich in einen einzigen Vorwurf verwandelt.
Die Treppe war dunkel und roch muffig nach nassem Mörtel. Die Holzstufen knarrten. Vermutlich war das Haus, in dem er wohnte, älter als die heilige Mutter Kirche, was in Rom keine Unmöglichkeit darstellte. Aber die Miete hielt sich in bezahlbaren Grenzen, und seine Wirtin, eine Seilerswitwe, war freundlich, ohne allzu neugierig zu sein, und kümmerte sich für einen geringen Aufpreis zuverlässig um seine spärliche Garderobe.
Mit eiligen Schritten durchquerte er den schmalen Gang zur Haustür. Wie immer trug er einen schwarzen langen Priesterrock, unter dem am Kragen verschmitzt ein weißes Hemd hervorschaute, außerdem dunkle Hosen und heute noch ein Bündel mit Wechselwäsche, das er über die Schulter geworfen hatte. Vergnügt griff er im gleichen Augenblick nach dem Türriegel, in dem die ungeduldigen Rufe seines Freundes Michele Santini an sein Ohr drangen. Offensichtlich vermutete er ihn noch in der Wohnung.
»Prospero, beeil dich! Wir müssen los! Sonst ist meine Schwester eine alte Frau, bevor sie unter die Haube kommt!« Immer wieder amüsierte ihn der heisere, süditalienische Klang von Micheles Stimme. Ein Lächeln huschte über Prosperos Lippen und ließ seine tiefbraunen Augen funkeln. In drei Tagen, frohlockte er, würden sie in Neapel sein, in einer Stadt, die seine Fantasie befeuerte. Und die römischen Sorgen würden dann weit hinter ihm liegen. Aber treiben lassen würde er sich deshalb trotzdem nicht. Dazu war er viel zu sehr Bolognese.
»Was schreist du so? Wenn wir zu früh kommen, ist sie noch ein Kind!«, antwortete er seinem Freund, als er nun zu ihm auf die Straße trat. Hätte die etwas zu große Nase des jungen Hilfsauditors Lambertini nicht von der Erhabenheit der hohen Stirn abgelenkt, so hätte man sein Antlitz nicht nur als angenehm, sondern auch als schön bezeichnen können. Unter dem Dreispitz quoll widerspenstig das dichte kastanienbraune Haar hervor.
Die Sonne am hohen Himmel wirkte, als würde sie dort nicht hingehören, bedroht von schwarzen Wolkenfetzen. Es war fast Mittag. Aus dem Fenster des Nachbarhauses schaute jetzt ein verkaterter Mann. »Hol dich der Teufel, du Schreihals!«
Man sah ihm an, dass er dem Fluch nur allzu gern eine deftige Beleidigung hinterhergeschickt hätte. Da er aber die Ursache des Lärms in dem kleinen Priester ausmachte, verstummte er stattdessen. Er kratzte sich verlegen am Geschlechtsteil und rief begütigend: »Verzeihung, Vater, ich konnte ja nicht wissen ...« Dann verzog er sich hustend wieder in seine Wohnung.
Michele schüttelte den Kopf über den Trunkenbold, dann geriet er ins Schwärmen. »Weißt du, Prosperino, in Neapel hält bereits der Frühling Einzug. Bald blüht der Oleander.«
»Dann lass uns gehen, bevor es Sommer wird.«
Prospero schritt so kräftig aus, dass Michele kaum mitkam. Er hoffte inständig, dass die südliche Stadt ihn auf andere Gedanken bringen würde, denn in Rom würde er Deborah niemals vergessen können, das hatten ihm die vergangenen Monate nur allzu deutlich vor Augen geführt. Jeder Ort in der Stadt erinnerte ihn an die schöne Jüdin, an die nur zu denken bereits eine Sünde bedeutete und die ihn dennoch hartnäckig in seinen Träumen sowie in seinen wachen Stunden verfolgte.
Über das bucklige Pflaster kam ihnen scheppernd eine Kutsche entgegen. Sie näherte sich mit großem Tempo. Die beiden Freunde traten an den Straßenrand, um das eilige Gefährt vorbeizulassen, und der Einspänner überholte sie. Ein Mann spähte aus dem Fenster, rief dem Kutscher etwas zu, der den Wagen wenige Schritte von ihnen entfernt zum Stehen brachte. Aus seinem Inneren kletterte geschwind der Auditor Alessandro Caprara, Prosperos Vorgesetzter bei der Sancta Rota Romana. Trotz der Kühle hatte er die obersten Knöpfe seines Priesterrockes geöffnet. Sein gewaltiger Leib dampfte, und das gerötete Gesicht verriet Anspannung. Erleichtert blickte er mit seinen kleinen, flinken Augen zum Himmel auf, bevor er seinen Hilfsauditor anherrschte. »Steig ein, wir müssen zum Papst.«
»Sie selbst haben doch mein Urlaubsgesuch bewilligt!«
»Ich weiß, ich weiß. Der Urlaub ist gestrichen!«
»Aber er ist doch der Trauzeuge meiner Schwester. Es geht um ein heiliges Sakrament ...«, protestierte Michele. Prospero legte dem Freund beschwichtigend die Hand auf die Schulter und wandte sich bittend an seinen Vorgesetzten. »Lassen Sie mich mit ihm gehen, verehrter Alessandro Caprara. Ich erfülle meine Christenpflicht und bin innerhalb einer Woche zurück. Was macht es den Toten schon aus, wenn sie sich sieben Tage länger gedulden müssen. Und dem Papst sagen Sie einfach, dass Sie mich nicht mehr angetroffen haben. Was ja auch beinah der Fall gewesen wäre.«
»Ausgeschlossen! Du kommst mit! Und nun zu dir, junger Freund«, wandte er sich keinen Widerspruch duldend an Michele. »Ich will doch hoffen, dass es in dem so stolzen Königreich Neapel wenigstens einen ehrbaren Mann gibt, der meinen Hilfsauditor bei deiner Schwester als Trauzeuge vertreten kann.« Die unnötige Spitze gegen Micheles süditalienische Abkunft verriet Prospero, wie aufgeregt Caprara im tiefsten Innern seiner Seele tatsächlich war. Sein Vorgesetzter neigte nicht zu Ungerechtigkeiten.
Die Freunde umarmten sich zum Abschied, und kaum saß Prospero in der Kutsche, da trieb der Fuhrmann auch schon das Pferd an. Die Enge des Gefährtes ließ ihn hautnah mit Capraras wallender Leibesfülle in Berührung kommen. Aber er empfand diese Nähe nicht als unangenehm. Obwohl sein Vorgesetzter wie alle beleibten Menschen zur Transpiration neigte, roch er nicht nach abgestandenem Schweiß. Dazu legte der Auditor viel zu viel Wert auf die Pflege seines Körpers. Ein guter Wein, ein vorzügliches Essen, eine humorvolle Unterhaltung mit Freunden, das tägliche Bad und dezente Duftwässer zählten zu seinen unverzichtbaren Freuden.
Prospero fragte sich trotz seines Ärgers, was der Papst um alles in der Welt von ihm wollte. Dass er nicht nur den erfahrenen Richter Caprara, sondern auch ihn einbestellte, erregte seine Besorgnis. Sie hassten einander. Um das Verhältnis zwischen Prosperos Vorgesetztem und dem Papst stand es indes nicht besser. Der ehemalige Kardinal Albani hatte als Papst Klemens XI. bisher Alessandro Caprara noch keine Audienz gewährt. Weit geringere Angehörige der römischen Kurie wurden inzwischen schon zum Pontifex gebeten. Der Affront war offensichtlich. Damit hatte er seinem Hof demonstriert, dass der Stern des einst so mächtigen Mannes unweigerlich im Sinken begriffen war. Niemand staunte darüber, denn der Richter der Rota, Roms oberstem Gerichtshof, galt als treuer Gefolgsmann Carasolis, der einst Albani bekämpft und sich schließlich in die Einöde zurückgezogen hatte.
Weder vergaß Albani, noch verzieh er. Keiner gab für Capraras Karriere noch einen Pfifferling. Seine Kollegen gingen auf Distanz zu ihm, junge karrierewillige Männer bemühten sich nicht um seine Protektion. Niemand wollte bei seinem unweigerlichen Untergang mit in die Tiefe gerissen werden. Und Prospero? Er konnte und wollte seinen Gönner nicht im Stich lassen, auch wenn er die Entwicklung mit wachsender Unruhe verfolgte.
Im vatikanischen Palast erfuhren sie, dass Klemens XI. sie in den Stanzen des Raffaels erwartete. Sie folgten der großen Treppe ins zweite Geschoss des Palastes und betraten den langen Gang. Raffael hatte die Loggien einst zur geistigen Erholung des Papstes geschaffen.
Es passte, dass Gian Francesco Albani sie hier empfing, denn wie der göttliche Raffael war auch er in Urbino geboren, nur eben gute anderthalb Jahrhunderte später. Die schlanke Gestalt des Pontifex verharrte wie eine Skulptur unter einem der Bögen am anderen Ende des Korridors. Er blickte hinaus auf den Garten, vielleicht auch auf die Stadt, denn von hier oben besaß man die schönste Aussicht auf Rom. Da es wegen des Nordwindes empfindlich kühl war, trug er einen roten Mantel und eine mit Hermelinfell gefütterte Samtkappe.
Sie schritten den Gang entlang auf ihn zu. Über ihren Köpfen schufen Baldachingewölbe Räume für Fresken und reizvolle optische Täuschungen. Antike Säulen und das auf ihnen ruhende Gebälk schienen in den blauen Himmel zu streben, als ob die Stanzen nicht überdacht seien. Prospero, der bisher nur durch seinen Freund Velloni Kenntnis von Raffaels Werk erhalten hatte, staunte trotz seiner Anspannung über die meisterhafte Ausführung der biblischen Geschichte auf den Deckenmalereien. Die Szenen, die von den Hoffnungen und Drangsalen des auserwählten Volkes berichteten, beruhigten den jungen Mann. Sie schienen ihm zuzuflüstern: Gott verlässt die seinen nicht. Und den Beistand Gottes konnte er wahrhaftig gebrauchen, wenn er unter diesen Umständen zu dessen Stellvertreter auf Erden gerufen wurde.
Auf dem glänzend polierten Marmor knieten sie vor ihrem obersten Dienstherrn nieder. Er reichte nachlässig die rechte Hand zum Kusse, dann befahl er den beiden Männern, sich zu erheben. Erst jetzt löste er sich von dem Stadtpanorama und wandte sich ihnen zu. Prospero erschrak bei seinem Anblick. Seit den Tagen unmittelbar vor dem Konklave hatte er den Kirchenfürsten nicht mehr gesehen. Er schien seitdem nicht um ein, sondern um mindestens fünf Jahre gealtert zu sein. Klemens wirkte, als ob er der Erholung dringend bedurfte. Sorgen verdunkelten seine feinen Gesichtszüge. Die Nase schien spitzer als gewöhnlich, die Mundwinkel hingen tiefer und sorgten so für die Anmutung eines Doppelkinns. Seine Augen waren verschattet, und seine Stirn lag in tiefen Falten.
»Wenn ich nicht so viel zu tun gehabt hätte, dann hätte ich dich, mein treuer Alessandro, schon früher zu mir gebeten.« Immer die freundliche Sphinx – so kannte ihn Prospero, als einen Meister der trügerischen Schmeichelei.
Der Papst deutete ein Lächeln an. »Aber jetzt, guter Freund, benötige ich deine Hilfe, die du dem Heiligen Vater loyal und gläubig gewähren wirst wie auch schon meinen verehrten Vorgängern.«
»Worauf sich Eure Heiligkeit verlassen können.«
»Alles, was wir besprechen, unterliegt bei Strafe der Exkommunikation der strengsten Geheimhaltung. Haben wir uns verstanden?« Sie nickten.
»Gut. Die Großtante Kaiser Leopolds I., die selige Elisabeth von Bartaszoly, hat es verdient, zur Ehre der Altäre erhoben zu werden. Ich wünsche, dass die Akten schnell und zügig bearbeitet werden. Du, Lambertini, reist sobald als möglich in die Südsteiermark, wo die selige Elisabeth begraben liegt, um die Leiche, wie es vorgeschrieben ist, zu exhumieren und in Augenschein zu nehmen. Binnen eines Monats legt ihr mir die Akten mit der Schlussrelation vor, die unter allen Umständen ein Votum für die Heiligsprechung enthält. Haben wir uns verstanden?«
»Aber wenn ...«, wandte Prospero ein, kam aber nicht weiter, denn der Papst fiel ihm in herrischem Ton ins Wort.
»Sie wird heiliggesprochen!«
Prospero merkte, dass er zitterte. Was der Stellvertreter Christi von ihm verlangte, war ungeheuerlich. Es bedeutete, den Prozess der Heiligsprechung im Zweifelsfall zu beugen. Dabei hatten die Auditoren unparteiisch zu sein und ohne Ansehen der Person zu ermitteln. Jemanden zur Ehre der Altäre zu erheben, war eine sehr ernste Sache, die höchste Ehre, die die Kirche zu vergeben hatte.
Klemens XI. funkelte ihn an. »Wir wollen dem Kaiser nur Unsere Liebe beweisen. Demut, Lambertini, Demut! Glaubst du nicht, dass der liebe Gott mächtig genug ist, jemanden, den er im Himmel nicht dulden will, des Paradieses zu verweisen? Wir haben zwar von unserem Herrn die Gewalt, auf Erden und im Himmel zu lösen und zu binden, übertragen bekommen, aber Wir sind nur die vorletzte, nicht die letzte Instanz.«
In Prospero brodelte es. Klemens war offensichtlich immer noch das, was er schon als Kardinal gewesen war, ein Gauner, der sich immer alle Hintertüren offenhielt, und so letztlich nie für etwas verantwortlich gemacht werden konnte. Der junge Hilfsauditor zwang sich, seine Wut zu unterdrücken und freundlich und devot zu wirken, wie es einem Priester im Angesicht des Heiligen Vaters zukam. Caprara antwortete für ihn, und Prospero war ihm dafür dankbar. »Es wird geschehen, wie es Eure Heiligkeit wünschen.«
Klemens XI. schlug ein Kreuz über den beiden Untersuchungsrichtern zum Zeichen, dass die Audienz beendet war. Die beiden Mitarbeiter der Rota verneigten sich. »Gelobt sei Jesus Christus.«
Und der Papst antwortete: »In Ewigkeit. Amen.«
»Ach, Lambertini?«, rief er ihm mit sanfter Stimme hinterher. Prospero blieb stehen und wandte sich erneut dem Pontifex zu. Der lächelte das allerliebenswürdigste Albani-Lächeln. »Streng dich an! Erzbischof Muzio Gaeta von Bari bat mich darum, ihm einen fähigen jungen Priester als Pfarrer für die Chiesa di San Rocco in Valenzano zu schicken. Ich bin mir noch nicht sicher, ob du in Rom oder in Valenzano besser aufgehoben wärst.«
»Das liegt in Gottes Hand«, antwortete Prospero. Es verunsicherte ihn, dass Klemens XI. entgegen seines Naturells, das sich lieber im Ungefähren aufhielt, so deutlich geworden war. Er drohte unverhohlen damit, ihn in den trostlosesten Winkel Italiens abzuschieben, dorthin, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.
Auf dem Weg zur Kutsche schwieg Caprara eisern, denn im Vatikan besaßen die Wände Ohren. Sobald sie die Kutsche erreichten, wandte sich Prospero an seinen erfahrenen Vorgesetzten. »Was treibt den Papst dazu, das Kanonisationsverfahren zu beugen? Vielleicht ist die selige Elisabeth wirklich eine Heilige. Aber ob heilig oder nicht, er will sie zur Ehre der Altäre erheben! Warum diese eindeutige Vorgabe?«
»Ich weiß es nicht. Aber eine so schwere Sünde lädt man nur auf sich, wenn es um das schiere Überleben geht!« Prospero sah den alten Fuchs verwundert an. Zumindest in den letzten Jahrhunderten hatte sich kein Pontifex über seinen Sturz Gedanken machen müssen. Einmal gewählt blieb er es, bis Gott der Herr ihn zu sich nahm.
Caprara begann laut nachzudenken. »Eines steht fest, die Heiligsprechung hat politische Gründe. Denn auf keiner anderen Ebene droht dem Heiligen Vater Gefahr. Wovor fürchtet sich also Klemens XI.? Weshalb will er dem Kaiser zu Diensten sein?«
Er verstummte kurz, bevor er seinem Assistenten Anweisungen erteilte. »Hör zu, wir gehen getrennt vor: Du bereitest unverzüglich die Akten für das Verfahren vor, während ich meine alten Verbindungen nutze, um herauszufinden, was hier eigentlich vorgeht.«
»Warum ausgerechnet wir? Es gäbe andere Auditoren, die willfähriger sind. Wenn etwas schnell und problemlos gehen soll, würde ich nicht mich fragen.«
Capraras Miene verdüsterte sich. »Ganz einfach. Man steckt einem Fremden Diebesgut in die Tasche und beobachtet aus sicherer Entfernung, ob er damit durch die Kontrolle kommt oder es entdeckt wird.«
»Man kann es nach der Sperre wieder an sich bringen, man kann aber auch rufen: Haltet den Dieb. Man ist immer fein raus.«
»So ist es. Aber nicht mit uns. Ich werde doch auf meine alten Tage nicht zu einer Marionette in einer abgefeimten Komödie.«
»Wenigstens in einer Hinsicht spielt er mit offenen Karten«, spottete der Hilfsauditor bitter.
»Wer? Albani?«
»Ja, denn die Chiesa San Rocco ist mir sicher, so oder so!«
Gleich hinter der Piazza Agionale gerieten sie in einen Stau. Narren verstopften die enge Gasse. Caprara und Prospero stiegen aus.
»Bring die Kutsche zurück«, befahl der Auditor dem Kutscher. »Die wenigen Schritte zum Palazzo della Cancelleria schaffen wir auch zu Fuß. Und gib das Reisebündel von Dottore Lambertini bei seiner Wirtin ab. Er braucht es jetzt nicht mehr.«
Am liebsten hätte Prospero widersprochen. Stattdessen warf er nur einen wehmütigen Blick auf das Bündel. Wie gerne er doch jetzt auf dem Weg nach Neapel wäre!
Der Fuhrmann nickte, brummte etwas zur Bestätigung und wendete das Gefährt, um über die Brücke wieder Richtung Borgo und weiter nach Trastevere zu fahren, in den volkstümlichen Stadtteil, der sich so sehr von den übrigen Rioni der Metropole unterschied und in dem Prospero Quartier genommen hatte.
Die Masken vor ihnen amüsierten sich im Gegensatz zu Prospero köstlich.
Er konnte ihre Rufe nicht überhören, die sich gegenseitig zu überbieten trachteten in dem Drang, die meisten Lacher auf ihre Seite zu ziehen. Häme, Gemeinheit und schlichte Dummheit wölbten sich wie Warzen aus dem allgemeinen Gelächter. »Du suchst deine Schwester?«, höhnte ein Bass.
»Nimm meine für einen Scudi die Stunde«, bot ein anderer an, der seiner Stimme nach zu urteilen einem Wiesel gleichen musste.
»Die Schwester des Scudis ist der Scudi«, scherzte ein Weiterer. »Er soll zwei Scudi geben, dafür suchen wir ihm auch einen Bruder, der warm ist.«
»Oh, meine Lenden kennen seine Schwester, sie sind nach einer Woche immer noch lahm«, schrie ein Vierter, sicherlich auch im täglichen Leben ein Angeber. Darauf schien ein Fünfter mit Piepsstimme nur gewartet zu haben.
»Ich habe deine Schwester gesehen. Sie ritt unter mir! Ein prachtvolle Stute!«
Plötzlich durchschnitt eine kreischende Frauenstimme die allgemeine Heiterkeit: »Seht euch vor, ehrbare Narren, die kleine Bestie hat ein Messer! Schlagt ihn tot und seine Schwester, die Hure, gleich mit, wenn jemand sie findet!«
»Tod!«, forderte unerbittlich die Menge. Jemand, der auf einen Spaß mit dem Messer antwortete, gehörte ihrer Meinung nach erschlagen. Caprara bahnte sich einen Weg durch die Menschen, und Prospero folgte ihm. Wie angewurzelt blieb der Hilfsauditor stehen. Das Schauspiel, das sich ihm darbot, überraschte und erschütterte ihn. In der Mitte stand gebückt ein Asket, dessen weiße Toga Blutflecken aufwies. Neben ihm lag am Boden eine zertrampelte Maske, die vermutlich den ehrwürdigen Philosophen Platon dargestellt hatte. Wild wie ein gehetztes Tier blickte er um sich. Prospero vermutete, dass eine der Masken, vielleicht das Wiesel, ihm den Dolch zugespielt hatte, um die Stimmung weiter anzuheizen. Denn dass dieser junge Mann keine Waffe außer seinem Kopf und seiner Feder zu benutzen pflegte, wusste der Hilfsauditor nur zu gut. Der arme Asket war sein guter Freund Velloni.
Ein kurzes Aufflackern in dessen Augen verriet Prospero, dass er die Leute durchschaute. Offenbar hatte Velloni beschlossen, die Menge so lange mit dem Messer zu provozieren, bis sie ihn schließlich vor Wut in Stücke reißen würde. Welch verquerer, welch grausamer Vorsatz. Prospero gefror das Blut in den Adern vor dem Ausmaß der Tragödie, deren vorausgegangene Aufzüge er verpasst hatte. Was war mit seinem Freund geschehen? Was hatte ihn nur in diese Lage gebracht? So hatte er ihn in den vielen Jahren, die sie sich inzwischen kannten, noch nie gesehen. Eins jedoch sprang ihm überdeutlich ins Auge: Nichts, was der Poppolo Velloni antun könnte, keine Qual schien in dessen Vorstellung größer zu sein, als die Schmerzen, die er im Augenblick litt. Er hoffte auf Erlösung und hatte sich selbst bereits verurteilt. Nun bat er nur noch um die Vollstreckung des Urteils.
Zum ersten Mal in seinem Leben verstand der Hilfsauditor das Sprachbild, dass jemand »außer sich« sei. Ja, der Freund war außer sich. Die Augen, mit denen er für gewöhnlich alte Handschriften entzifferte, hatten alle Ruhe verloren und stierten irre. Der schmächtige Körper zitterte, nicht aber vor Angst, sondern aus Todessehnsucht. Gleich würde er sich auf einen der Umstehenden stürzen, um dann endlich aus dem Leben geprügelt zu werden.