Der Postbote von Girifalco oder Eine kurze Geschichte über den Zufall

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Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. zitiert aus: Platon und Gernot Krapinger (Hg.): Der Staat. S. 447f. Ditzingen 2017. Übersetzt von Gernot Krapinger. Reclams Universalbibliothek, Bd. 19512; mit freundlicher Genehmigung der Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Gefördert durch das Europäische Übersetzerkollegium, Straelen

Assunta Teresa Rosanò

den Himmeln, Winden, Meeren,

all den verschwimmenden Formen des Universums.[*]

Lorenzo Calogero

Vom Reiter, der sich irrt, und vom Mond, von der wohlriechenden Carmela, dem Dialektdichter Francesco Zaccone und von einem mit dem Herzen versiegelten Liebesbrief

Colajizzu wurde von seinem Esel abgeworfen. Er war gerade von den Feldern in Cannavù zurückgekehrt und schien wütender als üblich, denn er prügelte das arme Vieh mit dem Stechginsterzweig windelweich. Das Tier ertrug es geduldig, schrie nur iah! und hinkte weiter, doch als Colajizzu zielte, um ihm einen kräftigen Tritt unter die Flanke zu versetzen, dort, wo es sich am Tag zuvor an einem Dornbusch eine Schramme geholt hatte, blieb der Esel schlagartig stehen und rührte sich nicht mehr vom Fleck. Colajizzu, außer sich, weil Rocco Pìrru ihm das Wasser von seinem Acker gestohlen hatte, versuchte, dem Tier auf die Kruppe zu springen und es damit zum Weitergehen zu bewegen, doch je wütender er auf ihn einschlug, desto stolzer wurde die Haltung des Esels. Er hatte es satt, von Pìrru verhöhnt, verraten und verkauft zu werden und sich bei seiner Heimkehr von den Vorwürfen seiner Frau erniedrigen zu lassen, und nun musste er sich noch

Ich hab hier das Sagen, ich werd dir schon zeigen, wo’s langgeht, stieß Colajizzu erbittert hervor, doch sein Triumph war nur von kurzer Dauer. Der Esel keilte mitten auf dem Platz unter den Blicken der gemütlich dasitzenden Dorfbewohner aus und warf den Bauern ab, der auf dem Boden landete wie eine weich gekochte Birne. Alle fingen an zu lachen, griffen sich an den Hintern und überschütteten ihn mit Spott. Alle bis auf drei: Franco Mendicisa, ein Freund des Unglücklichen, der ihm zu Hilfe eilte; Pepè Mardente, dem ein unbarmherziges Schicksal das Augenlicht geraubt hatte; und ein Herr mit einer großen, schweren Umhängetasche, der sich niemals über das Unglück anderer lustig machte und Colajizzus weltliches Scheitern als Beispiel für die Worte betrachtete, die er wenige Tage zuvor niedergeschrieben hatte:

 

Wir leben in der Überzeugung, die Welt und das Leben unter Kontrolle zu haben, doch eine kleine Abweichung reicht aus, damit die Illusion zutage tritt. Es ist wie beim Reiten: Wir glauben, das Tier am Zügel zu führen, aber

Was sind unsere Gewissheiten wert, wenn jedes Tierchen sie zerstören kann?

Kommen wir im Leben einigermaßen zurecht, dann liegt das nicht an unseren reiterlichen Fähigkeiten. Vielmehr verdanken wir es dem Mut des Pferdes und der Großherzigkeit der Maus.

 

Der Postbote des Dorfs war ein einsamer Mann ohne nennenswerten Ehrgeiz, dafür mit einer umso größeren Leidenschaft fürs Philosophieren und einer Begeisterung für Liebesbriefe. Er erkannte sie, ohne sie zu öffnen, als trügen sie auf dem Umschlag den Stempel der Liebenden. Er hatte Liebesbriefe jeder Art gesehen: elegante, unechte, solche, die auf die Rückseite eines Wahlkampf-Flugblatts oder auf Klopapier geschrieben worden waren, auf die herausgerissene letzte Seite eines Romans oder auf noch mit Mehl bestäubtes Brotpapier. Liebesbriefe, die einen träumen lassen und um den Schlaf bringen, magische Liebesbriefe, die dieselben Dinge mit immer neuen Worten sagen, so sorgfältig ziseliert, als wäre die Unvollkommenheit des Briefs furchterregender als der furchterregendste Rivale. Und dann die ganz besonderen Liebesbriefe, die er am behutsamsten öffnete, ganz zuletzt …

Dreieinhalb Stunden vor Colajizzus Kapitulation hatte der Postbote den Postsack geleert, um die Briefe in der Reihenfolge ihrer Zustellung zu ordnen. Vor ihm lag kein Haufen Papier, sondern eine Mustersammlung menschlicher Gefühle: ungelebte Träume, heimliches Begehren, zurückgenommene Versprechen, Erklärungen,

An jenem Morgen, er war fast fertig mit dem Sortieren, fiel ihm ein ungewöhnlicher Brief in die Hände. Der Umschlag bestand aus dickem Papier und war mit einem Siegel aus rotem Lack verschlossen, in den der Buchstabe S geprägt war. Einen solchen Brief hatte er nie zuvor gesehen, und gequält von dem Drang, ihn zu öffnen, steckte er den Umschlag in ein Fach der Posttasche. Er setzte die Dienstmütze auf und begab sich auf seine gewohnte Runde.

Als er beschlossen hatte, sich als Postbote zu verdingen, hatte er nicht geahnt, dass diese Arbeit, die weder Berufung noch Kunst war, ihn so nah an die Geheimnisse der Menschen heranführen würde, und darum versuchte er, sie so gut wie möglich zu verrichten. Um Postbote zu sein, braucht man nicht nur gesunde Beine und starke Schultern. Man muss den Inhalt der Briefe erahnen, die Schriftzüge der Menschen erkennen und dann ein Gleichgewicht herstellen: bemessen, verzögern, beschleunigen, lächeln, ablenken … Er achtete auf jedes Detail. Musste er zum Beispiel einem abwesenden Empfänger eine Liebeserklärung zustellen, steckte er sie gut sichtbar oben in den Schlitz im Eingangstor, sodass der Glückliche nur die Hand ausstrecken musste, um den Brief zu pflücken wie eine Frucht vom Baum. Handelte es sich hingegen um einen Abschiedsbrief, ließ er ihm dieselbe bescheidene Behandlung angedeihen wie einer Todesanzeige und schob

Der Postbote von Girifalco war ein würdiger Vertreter einer Berufsgruppe, deren lange und ehrenvolle Geschichte zurückreicht bis zu Hermes, dem Argostöter, deorum nuntium, Göttersohn, scharfäugiger Bote und Wohltäter, der, angetan mit schönen goldenen Sandalen, über das Meer glitt wie eine Möwe auf der Jagd nach Fischen, getragen vom Wind, in Händen den Stab, der die Menschen verzaubert. So wanderte der Postbote auf seiner täglichen Runde durch die Straßen, und zwischen Guten Morgen, Hallo und zu überbringenden Botschaften dachte er an den Mond.

Es war der 7. April 1969; er hatte in der Zeitung gelesen, dass die Amerikaner im Begriff waren, auf dem Mond zu landen. Er blickte in den Himmel: Vielleicht würden Postboten eines fernen Tages auch dort oben Briefe zustellen.

Giovannuzzu hingegen wusste nichts von dieser Mondfahrt. Die Kinderlähmung fesselte ihn an den Rollstuhl, und darum verbrachte er sein Leben auf dem Balkon und betrachtete die Menschen von oben. Da er für immer zum Sitzen gezwungen war, hatte er beschlossen, im ersten Stock zu leben, denn so betrachtete er die Welt aus einer Perspektive, die ihm sonst nicht mehr gehörte. Er konnte die leeren Taschen seiner Existenz mit Fragmenten aus dem Leben anderer füllen, sie ihnen von der Höhe seines Observatoriums aus entwenden: Streit, Verrat, Leidenschaften, Gesichter und Gebärden von der Straße waren sein vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges

»Hast du schon gehört, dass wir zum Mond fliegen, Giovanni?«

Der Postbote erzählte allen die Geschichte von der unmittelbar bevorstehenden Mondlandung und ähnelte dabei Zarathustra, der vom Berg hinabsteigt und sich unter die Menschen begibt, um die Wahrheit zu verkünden. Doch anstelle des Hirten begegnete er Carruba, dem Plakatkleber mit dem unvermeidlichen Zahnstocher zwischen den Lippen, der gerade dabei war, Plakate für die Democrazia Cristiana anzuschlagen. Mit der Seelenruhe war es nun vorbei, denn das verschlafene Girifalco erwachte anlässlich von Erdbeben und Kommunalwahlen zum Leben, und zum Glück kam so ein Erdbeben nicht alle Vierteljahre vor.

Fest entschlossen, einen der letzten ruhigen Vormittage vor der Wahl zu genießen, begab sich der Postbote auf den Rückweg und dachte erneut an den Mond. Während er die Via Petrarca hinter sich ließ, sann er darüber nach, dass es gar nicht nötig war, an die Grenze der Galaxie zu reisen, um den Mond zu sehen. Es genügte, gegen neun hier vorbeizukommen, wenn die wohlriechende Carmela ohne Höschen auf dem Balkon die Wäsche aufhängte, denn sobald sie sich zu den Leinen emporstreckte, drückten sich die Falten ihres Rocks zwischen die Eisenstäbe des Balkons und blieben dort, wobei sie Einblicke gewährten, die einem den Atem raubten. Als er noch ein Junge war, hatte Carmela gegenüber gewohnt, und damals hatte er sich in ihre braun gebrannte Haut verliebt, in die durchsichtigen Trägerkleidchen, die zum Trocknen

Am Nachmittag zu Hause holte der Postbote die Briefe des Tages aus der Tasche und nahm seine tägliche geheime Tätigkeit auf: Er öffnete und las sie, schrieb sie ab und steckte sie wieder in den Umschlag. Getreu der kindlichen Gewohnheit, sich die besten Bonbons bis zum Schluss aufzubewahren, tat er mit dem versiegelten Brief dasselbe. Er betrachtete ihn von Nahem und drehte ihn mehrmals hin und her. Adressiert war er an Maria Migliazza, Contrada Vasia 12, Girifalco/Catanzaro. Er staunte, weil die Schrift seiner eigenen so sehr ähnelte. Maria Migliazza, zweitgeborenes Kind einer Familie mit fünf Schwestern und zwei Brüdern, Tochter des Krankenpflegers Peppino und Donna Rosinuzzas, war keine schöne Frau.

Nicht nur hatte die Natur an Schönheit und Anmut gespart, nicht nur lastete seit der Spritztour ihrer älteren Schwester mit Vincenzo Campese nach Winterthur das Gewicht des Haushalts allein auf Marias Schultern, was sie ziemlich strapazierte. Nein, zu allem Überfluss hatte sie sich auch noch eine Blutkrankheit zugezogen, die ihre

Der Stempel war unleserlich. Der Postbote hielt den Brief gegen das Licht, aber das Papier war sehr dick. Das Siegel erschwerte ihm das Öffnen. Er versuchte es abzulösen, zuerst mit den Händen, dann mit der Klinge eines Taschenmessers, aber vergeblich. Also beschloss er, es aufzubrechen. Ein trockenes Geräusch erklang, wie wenn etwas Lebendiges entzweibricht. Das Siegel zersprang sauber in zwei Teile, sodass der Konsonant wieder zusammengefügt wurde, wenn er die Stücke aneinanderhielt. Er öffnete den Umschlag und las:

Liebe Teresa,

falls Du Dich fragst, wo Du diese Schrift schon einmal gesehen hast, falls Du im Abstellraum der Erinnerung nach der Schublade suchst, in der Du sie versteckt hast …

Teresa mia, noch immer lässt Dein Name mich erzittern wie Laub, Teresa mia, das Gebet, das ich so lange im Stillen aufgesagt habe und jetzt hinausschreie, Teresa mia, endlich finde ich Dich wieder auf meinem Weg wie ein spät gehaltenes Versprechen, und diesmal für immer!

Es kam ihm vor, als ginge er in der Zeit zurück zu seinem kurzen Aufenthalt in der Schweiz damals, als hielte er einen anderen Brief in der Hand. Zum zweiten Mal hatte er eine Schrift wie seine eigene vor Augen, und er konnte

Kein Absender, weder Unterschrift noch Herkunftsort, und was hatte Teresa eigentlich mit Maria Migliazza zu tun? Das Geheimnis zog ihn in seinen Bann.

Zuallererst musste er ein ähnliches Papier finden, sich Siegellack besorgen und das Siegel nachbilden. Er fügte den zerbrochenen Lack wieder zusammen, legte ein Stück Papier darauf und pauste den Buchstaben mit einem Bleistift durch. Dann nahm er das Blatt und ging aus dem Haus.

Zaccone Francesco, ein bedeutender Dialektdichter, besaß die einzige Druckerei in der Gegend. Am frühen Nachmittag war die Werkstatt geschlossen, aber Zaccone, ein sympathischer, freundlicher Mann, war dort. Der Postbote klopfte, und sogleich kam der Dichter zur Tür, die Hände von Druckerschwärze verschmiert. Er war guter Dinge. Der Tag zuvor hatte ihm eine besondere Würdigung seines Gedichts Das Schneckenhaus beschert, und sein Gesicht leuchtete noch wegen dieser Weihe.

»Mein lieber Postbote! Trasìti, hereinspaziert«, sagte er, schloss die Tür und ging ihm voran ins Hinterzimmer. »Ich war gerade dabei, Einladungen für eine Taufe vorzubereiten. Welchem Umstand verdanke ich die Ehre?«

»Ich bräuchte ein wenig Briefpapier.«

Zaccone ging zu einem Tisch, auf dem einige große Kartons dicht beieinanderstanden.

»Falls es Sie interessiert: Das hier ist vor ein paar Tagen gekommen. Sehen Sie es sich selbst an, ich mache nur alles schmutzig.«

Sie fingen an, über Politik und Poesie zu sprechen, und

»Ich brauche ungefähr zwanzig Bögen davon.«

»Nehmen Sie, so viel Sie wollen, das ist für eine Lieferung Briefpapier für Rechtsanwalt Tolone.«

Der Postbote zählte zwanzig Blätter und zwanzig Umschläge ab und schlug sie in ein altes Plakat ein.

»Können Sie zufällig auch ein wenig Siegellack erübrigen?«

Zaccone gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die Fragen stellte; er ließ die Maschine kurzerhand stehen, putzte sich die Hände an der Schürze ab und ging zu einem alten Holzkasten.

»Hier vielleicht …«, sagte er und nahm eine Papiertüte heraus, »ja, roter und schwarzer …«

»Ich hätte gern ein Stück roten.«

»Nehmen Sie ruhig alles, ich brauche ihn sowieso nicht.«

Der Postbote griff nach der Tüte. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Sie machen wohl Witze! Das ist doch nicht der Rede wert!«

Er begab sich zur Tür.

»Eine Sache noch«, sagte er und zog das Blatt heraus, auf das er das S des Siegels gepaust hatte. »Haben Sie so einen Buchstaben?«

Aufmerksam betrachtete Zaccone die Zeichnung.

»Ein hübsches kleines Emblem, wirklich. Haben Sie sich das für eine Todesanzeige ausgedacht?«

Das reichte. Der Postbote dankte ihm und ging fort, nicht ohne Zaccone noch nach seinem neuen Gedichtband

Von einem Siegelstempel, einem Gauner, der Monte Covello verpesten will, und von einem Brief, den der Postbote nicht besitzt, den er aber auch selbst hätte schreiben können

Rocco Melina mit den schwarzen Fingernägeln wohnte an der schmalen Schotterstraße, die vom Kirchlein zum Brunnen von Riganìaddu führt.

Ebenso abgeschieden und abschüssig wie diese Straße verlief zu jener Zeit das Leben von Rocco, Jahrgang 1899, der gleich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert war. Er war in New York gewesen, in Los Angeles und sogar in Chicago, und er hatte sich in jedem infrage kommenden Handwerk versucht, bis er durch einen seltenen Glücksfall eine Stelle in einer Druckerei fand, und mithilfe einer Abendschule und seines eisernen Willens war es ihm gelungen, sich niederzulassen und schließlich zu heiraten.

1946 war er nach Italien zurückgekehrt und hatte sich von seinen Ersparnissen zwei Druckmaschinen gekauft, den Druckereibetrieb jedoch einige Jahre zuvor eingestellt.

»Ja, bitte?«

Rocco Melina saß mit dem Rücken zu ihm an der Werkbank unter dem großen Fenster. Es roch durchdringend nach Druckfarbe. Der große Raum wurde fast vollständig von den Maschinen in Anspruch genommen, die, in einer Ecke stehend, mit ihm zusammen gealtert waren. Wie die vielen Holzspäne zu seinen Füßen verrieten, war der passionierte Handwerker in seine Lieblingsbeschäftigung vertieft. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit waren Gussformen und Lettern Mangelware gewesen, sodass er sich sehr hatte plagen müssen, und da er als Kind häufig in der Tischlerwerkstatt seines Vaters geholfen hatte, beschloss er, seine Lettern selbst herzustellen, indem er sie aus Heideholz schnitzte: zuerst alle Buchstaben in Druckschrift, dann in Schreibschrift und schließlich sein Meisterwerk, die Darstellung des Gemeindewappens mit dem Turm und dem Falken. Er wollte das althergebrachte Handwerk nicht aufgeben, und wie es oftmals demjenigen geschieht, der die Vergangenheit nicht als vergangen betrachten will, hatte die Zeit ihrerseits beschlossen, ihn als Teil der Vergangenheit zu betrachten.

Er verbrachte seine Tage und diesen Augenblick damit, kleine Holzwürfel mit Landschaften, Gesichtern, Buchstaben und Erinnerungen zu versehen. Auf diese Art hielt er seinen Geist beschäftigt und dachte weder an seinen Sohn Pietro, der ebenfalls nach Amerika gegangen war, noch an seine Gewissensbisse, weil er nicht in der Lage gewesen war, ihn zu Hause zu ernähren. In irgendeiner Schublade steckte noch der erste Brief, den ihm Pietro

Dear Tata,

ich schreibe Dir diesen Brief, um Dir zu sagen, dass ich möchte, dass auch Du hierherkommst, jetzt, wo Dein Sohn in Amerika ist, denn in Italien gibt es für uns nichts mehr zu tun.

Dein Sohn ist ins bisiness eingestiegen: eine Druckerei, lauter langweiliges Zeug (Gesetze der Bruderschaft) für die ehrenwerten Freimaurer der Mazzini-Loge, auch habe ich mir das Leben – genannt laif – für tensausend und sikstin dollari versichert, das sind zehntausendsechzehn Dollar.

Ich wohne in der Malberri Stritt, so heißt die Straße, und ich habe viel Geld. Die Frauen heißen hier uìmen, die Liebe lav, das Papier peper. Wenn Du fragen willst: Hast Du mich verstanden?, musst Du nur sagen: Anderstend-ju? Das Unglück, das wir so gut kennen, heißt hier trabbel, und uai sagt man, um zu fragen: warum? Und nicht beleidigt sein, wenn sie fuzzi zu Dir sagen, der fuzzi ist hier nämlich der Fuß, und stell Dir vor, uns Kalabresen nennen sie Italiener.

Die Namen der Orte überall sind sehr nais: Labbock, Filladelfia, Cicàco, Nuiork, Wichita. Mein lieber, guter Papa, schwere Arbeit hat hier einen hässlichen Namen, der mir Angst macht: uork. Die Hacke nennen sie einfach schowwel. Und wenn Du einen fragen willst: Was hast Du?, dann musst Du sagen: Wazza-metta-visju?

Ich weiß noch, als ich ein Kind war, bin ich barfuß gegangen, und Nasci und Bifaru haben mich verspottet. Gesegnet seien der Tag und die Tränen und die Trauer, als ich in dieses freie Land gefahren bin, denn wenn ich geblieben wäre, säße ich jetzt vielleicht im Gefängnis. Hier dagegen lasse ich es mir mit den Misses und Görls gut gehen, denn die Americani sind nicht eifersüchtig wie wir Calabresi, die sind nämlich dumm: Wenn Du vor ihren Augen ihre Frau anfasst, schreien sie noch hurra!

Pietro hatte fast einen Monat gebraucht, um diesen Brief zu schreiben; er hatte sich dabei von Michele Pane helfen lassen, einem befreundeten Emigranten aus Kalabrien, einer, der Gedichte schrieb, die einem das Herz aufgehen ließen. Doch im Alter von siebzig Jahren noch einmal den Atlantik zu überqueren, fiel Rocco überhaupt nicht ein, denn er wünschte sich, im Dorf zu sterben und neben seiner Gattin – Gott hab sie selig – begraben zu werden. Kein Spaziergang auf der Seventieth Street war so viel wert wie die Ewigkeit an ihrer Seite. Das Letzte, was er sich auf dieser Welt noch erhoffte, war ein nach Salz und Meer duftender Brief, der die lang ersehnte Rückkehr seines Sohnes ins Dorf verkündete, und sei es nur für wenige Tage, gerade lange genug, um ihn daran zu erinnern, dass er Pietros Vater war.

»Darf ich reinkommen?«

Rocco drehte sich um. Seine Haut war dunkel wie mit Druckerschwärze gefärbt, der Schnurrbart schwarz und gepflegt, die Brille, an der ein Bügel durch einen Draht ersetzt war, saß ihm tief auf der Nase. Er trug eine dunkle Baskenmütze und einen grauen Kittel.

»Trasìti, herein

Er legte die Ahle auf das Tischchen, nahm die Brille ab

Der Postbote hatte ganz vergessen, dass er für gewöhnlich nur deshalb mit der Dienstmütze auf dem Kopf ein Haus betrat, um etwas abzuliefern, wodurch sein Erscheinen eine unvorhersehbare Abfolge von Hoffnungen auslöste.

»Nein, verzeihen Sie, ich wollte Sie nur um einen Gefallen bitten …«

Roccos Enttäuschung war offenkundig, und der Postbote bedauerte, dass er nichts für ihn in seiner großen Tasche hatte, denn am Abend zuvor – Ich Esel! – hätte er sich an den Schreibtisch setzen und ihn schreiben können, den ersehnten Brief von Pietro aus New York, als Entschädigung für den Gefallen, um den er Rocco bitten würde. Nichts Außergewöhnliches hätte es sein müssen – Uns geht es gut, und Dir, wie geht es Dir so ganz allein? Es tut mir weh, nicht bei Dir zu sein, kann es kaum erwarten, Dich wiederzusehen, ich denke immerzu an Dich … –, all die abgedroschenen Worte der Zuneigung, die der einzige Trost für einsame, alte, sich selbst überlassene Eltern sind.

»Nur eine Kleinigkeit.«

»Ja?«

Er zog das Blatt aus der Tasche, auf das er am Tag zuvor den Buchstaben des Siegels gepaust hatte.

»Ich wollte Sie fragen, ob Sie so einen Stempel für mich anfertigen können.«

Melina streckte die Hand aus. Sie sah aus, als habe sie

Schon lange war niemand mehr mit einem derartigen Wunsch an den Drucker herangetreten. Er hielt sich den Brief dicht vor die Augen, musste aber dennoch die Brille aufsetzen. Den Draht klemmte er sich hinters Ohr, wie man es auch mit einer widerspenstigen Haarsträhne macht.

»Ja, das kriege ich hin«, nickte Rocco zufrieden.

»Wann soll ich wiederkommen?«

»Aspettàti«, antwortete er und trat an die Werkbank heran, »warten Sie einen Moment.«

Er setzte sich wieder. Aus einem schäbigen Weidenkorb links neben dem Tisch nahm er ein Stück Heideholz und betrachtete es, wobei er es dicht vor die Augen hielt und es hin und her drehte. Mit einem spitzen Bleistift zeichnete er den Buchstaben vom Blatt mit wenigen geschickten, knappen Strichen auf den ebenmäßigsten Bereich der Oberfläche. Er spannte das Holz in einen Schraubstock, griff nach einem Hohlmeißel mit hauchdünner Klinge und fing an zu schnitzen. Hin und wieder hielt er inne und betrachtete sein Werk, wechselte einige Male die Spitze, um die Umrisse zu vervollkommnen. Wie ein Traumbild bestaunte der Postbote diesen Mann, der an jedem Tag seines Lebens etwas in die Oberfläche eines Stücks Baumheide geschnitzt hatte, und hätte er alle

Fünf Minuten vergingen. Sie kamen dem Postboten vor wie ein Augenblick in einem Mythos, zeitlos und ewig. Rocco Melina löste das Holz aus dem Schraubstock und betrachtete es zufrieden aus der Nähe. Er hob es an den Mund, blies darauf und putzte es mit dem Lappen ab, der aus der Tasche seines Kittels hervorlugte. Er drückte die Form zuerst auf ein Stempelkissen, dann auf ein Stück Packpapier. Er legte die beiden Zettel nebeneinander und forderte den schweigenden Beobachter auf, die Buchstaben zu vergleichen. Der Postbote war verblüfft über ihre Ähnlichkeit. Er fragte Melina, wie viel er ihm für seine Mühe schuldig sei, doch der Alte entgegnete, wo er denn hindenke, auf keinen Fall nähme er etwas von ihm an, diese Gefälligkeit würde ihm vermutlich früher oder später von selbst vergolten werden. Der Postbote bedankte sich und verließ die Werkstatt, um seine Runde fortzusetzen.

Nur ungern stellte er die Post in der Gemeindeverwaltung zu, denn im Rathaus schwirrten einige Gestalten herum, deren bloßer Anblick ihn abstieß wie ein Geschwür auf der Haut. Und sein Abscheu war noch größer geworden, seitdem er von einer Angelegenheit erfahren hatte, von der noch zu berichten sein wird. Die zahlreichen Briefe, die das Rathaus täglich erreichten und verließen, waren keine vergnügliche Lektüre: Reiseabrechnungen, politische Verlautbarungen, Ausschreibungen. Der Postbote hatte nichts allzu Spannendes erwartet, als er ungefähr ein halbes Jahr zuvor einen Brief des Bürgermeisters geöffnet hatte:

ich wende mich an Sie auf ausdrückliche Aufforderung des Herrn Abgeordneten Mizzini, dem im Hause des Bauunternehmers Fracazzi die Ehre zuteilwurde, Ihre Bekanntschaft zu machen.

Bei vorbezeichneter Gelegenheit deuteten Sie ihm die edle Absicht an, Ihre Aktivitäten auf unsere südlichen Gefilde auszudehnen.

Von obiger Angelegenheit berichtete mir der Herr Abgeordnete auf meine ausdrückliche Bitte hin, auf dem Gebiet unserer Gemeinde einen Industrialisierungsprozess einzuleiten. Die weitverbreitete Unzufriedenheit wegen des Mangels an Arbeitsplätzen stellt das Vertrauen der Wähler zu uns auf eine harte Probe, und ich würde diese Unmutsbekundungen gern verstummen lassen.

Der Berg Monte Covello, überaus üppig mit Kiefern und Tannen bewachsen, weist zahlreiche für Ihre Interessen geeignete Standorte auf.

Es ist meine große Hoffnung, dass diese Einladung Ihre Billigung findet; der Herr Abgeordnete wäre überaus erfreut, als Vermittler und Gewährsmann für die Zahlung der Ablösesumme in dieser Sache zu fungieren.

In Erwartung Ihrer Nachricht verbleibe ich

hochachtungsvoll,

Ihr …

Muzio Quattrones Antwort ließ nur einen Monat auf sich warten:

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

Ihr Brief kommt passend wie die Faust aufs Auge, wie wir hier in Rom gern sagen.

Tatsächlich sind wir gerade dabei, unsere geschäftlichen Aktivitäten auszuweiten, und darum bin ich dem Herrn Abgeordneten dankbar, dass er Ihnen meinen Namen genannt hat.

Wir brauchen Land, viel Land, mindestens 40 Hektar, und zwar weit entfernt von besiedeltem Gebiet. Außerdem müssen zahlreiche Faktoren beurteilt werden, unter anderem die Friedfertigkeit der Einwohner und der Zustand der Straßen.

Ich bin mir jedoch sicher, dass, sobald diese Ungewissheiten beseitigt sind, die Sache mit dem Segen des Herrn Abgeordneten Mizzini, den Sie bitte von mir grüßen möchten, in Gang kommen wird.

Mit zuversichtlichen Grüßen.

In den darauffolgenden Wochen war dem Postboten eine gewisse Unrast aufgefallen. Vermessungstechniker, Architekten der Gemeinde und Techniker des Regierungsbezirks sahen sich gründlich auf dem Monte Covello um, stellten Messungen für den Straßenbau an und zogen die Grundeigentümer der Gegend zurate. Das Ergebnis schlug sich in einem am 4. Februar 1969 versendeten Brief nieder.

Verehrter Commendatore,

 

da das Gelingen der Angelegenheit mir und dem Herrn Abgeordneten sehr am Herzen liegt, habe ich mir angesichts der von Ihnen vorgebrachten Überlegungen erlaubt, zusammen mit dem technischen Personal der Gemeinde und der Provinz eine Reihe von Kontrollen bezüglich des fraglichen Gebiets in Gang zu bringen.

Was das Straßennetz betrifft, so ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass sich derzeit eine Straße im Bau befindet, die Girifalco mit Lamezia Terme verbinden wird, sodass die Autobahn in weniger als einer halben Stunde erreichbar ist. Offensichtlich ist der Herr Abgeordnete ernsthaft bestrebt, dafür zu sorgen, dass die Arbeiten in möglichst kurzer Zeit abgeschlossen werden.

Und zu guter Letzt müssen Sie hinsichtlich der Bewohner keine Bedenken haben, denn ich kenne meine Mitbürger gut und weiß, dass ich ihnen nur einen Arbeitsplatz und ein gutes Auskommen auf Lebenszeit versprechen muss, damit sie zufrieden sind und sich ruhig verhalten.

Wie Sie sehen, bemühen wir uns nach Kräften.

Ich hoffe, dass die Dokumentation Ihren Vorstellungen entspricht.

Hochachtungsvoll.

Dem Schreiben waren ungefähr zehn Seiten mit technischen Daten beigefügt. Die Antwort des Bauunternehmers kam nach etwa drei Wochen:

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

 

mit größtem Vergnügen nehme ich Ihr umsichtiges Vorgehen zur Kenntnis, das mich sehr auf den Erfolg der Angelegenheit hoffen lässt.

Die beigefügte Dokumentation ist recht umfangreich, Ihr Berg dort scheint alle Voraussetzungen zu erfüllen, um unsere große Deponie aufzunehmen – vorausgesetzt natürlich, dass die Beschaffung sämtlicher Grundstücke in die Wege geleitet und abgeschlossen wird.

Selbstverständlich ist die Fertigstellung des Straßenabschnitts unverzichtbar, aber die diesbezügliche Garantie des

In Erwartung weiterer Nachrichten verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen.

Eine Mülldeponie in Girifalco! Der Postbote konnte kaum glauben, dass die Leute aus dem Dorf, so schlitzohrig sie auch sein mochten, in der Lage waren, etwas so Abscheuliches auszuhecken, denn er malte sich bereits aus, wie Lastwagen und Züge mit lauter Abfall, Dreck und Mist aus Norditalien beladen und nach Girifalco gebracht wurden, um dieses kleine Paradies auf Erden für immer zu verseuchen.

Der Bürgermeister

ich beziehe mich auf Ihr o.g. Schreiben und kann Ihnen nach gründlicher Durchsicht der Katasterkarten sowie nach Besichtigung der Örtlichkeiten durch den eigens dafür eingerichteten Ausschuss mitteilen, dass drei für die Mülldeponie geeignete Standorte ermittelt wurden, die auf der Karte 7/D mit den volkstümlichen Namen Chiapparusi, Roccavù und Mangraviti ausgewiesen sind.

Ein Teil des Landes befindet sich in öffentlicher Hand, andere Parzellen gehören alten Bauern, die vermutlich leicht zum Verkauf zu überreden sein werden.

Doch bevor wir weitere Maßnahmen ergreifen, halte ich es für unverzichtbar, einen Mann Ihres Vertrauens zur endgültigen Entscheidungsfindung vor Ort zu benennen.

Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe

mit freundlichen Grüßen.

Er schrieb den Brief ab, steckte ihn in einen neuen Umschlag und tippte auf der Schreibmaschine den Vor- und Nachnamen sowie die Adresse des Empfängers darauf.

Ja, ich denke schon, und Du fragst Dich nach dem Grund. Dasselbe frage ich mich auch.

Ich muss nur Deinen Namen hören, Rosa, und schon zittere ich wie Laub – diesen Namen, der wie ein Echo durch die Stille der Nacht hallt, den Namen, den ich hinausschreien möchte, damit Du mich hörst und zu mir gelaufen kommst, diesmal für immer, damit wir unser Liebesversprechen halten können.

Ich muss Dir das sagen, Du musst um meinen Schmerz wissen, damit Du verstehst, was ich Dir jetzt schreiben werde.

An jenem Tag

Er faltete das Blatt zusammen, steckte es in seinen Umschlag und ließ den Siegellack zur gleichen Form wie den roten Fleck des zerbrochenen Siegels schmelzen, dann drückte er den Stempel hinein. Nicht einmal der geheimnisvolle Verfasser hätte die Fälschung bemerkt. Er legte den Brief zu dem des Bürgermeisters auf das Tischchen an der Haustür – der Hafen, in dem die Briefe bis zu ihrer Reise ohne Wiederkehr vor Anker gingen.