Roman
edition lichtung
Impressum
eBook-Ausgabe 2018
© lichtung verlag GmbH
94234 Viechtach Bahnhofsplatz 2a
www.lichtung-verlag.de
Umschlagfoto: Herbert Pöhnl
eBook ISBN 978-3-941306-82-0
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Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Landes NRW, durch das Förderprogramm der Sparkasse KölnBonn und durch die Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran.
Bei den Recherchen in Prag und Mähren wurde die Autorin von der Olmützer Arbeitsstelle für deutschmährische Literatur (Prof. Ludvík Vaclávek, Prof. Ingeborg Fialová-Fuerst, Mag. Lukas Motyca) sowie von der Gesellschaft für deutsch-tschechische Verständigung (Irene Kuncova) unterstützt.
Die gedruckte Ausgabe ist in der edition lichtung erschienen:
1. Auflage 2018
© lichtung verlag GmbH
ISBN 978-3-941306-76-9
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie unter www.lichtung-verlag.de.
Kapitel I.
Schnee
Tier
Fliegen
Schenkel
Du
Herz
Wasser
Schwammerln
Rot
Blumen
Festnetz
Funker
Gefärbt
Helen
Hunde
Martin
Nichts
Lust
Kapitel II.
Bahnhof
Bundhosen
Mücken
Fische
Partisan
Infusion
Laterne
Prospekt
Lenka
Telefon
Büffet
Maličká
Spiel
Kungfu
Insektenstiche
Zunge
Leben
Zwischenzeugnis
Zoobesuch
Kinderbecher
Brüstung
Accessoire
Moritz
Sommerbluse
Schuhe
Spucke
Post
Bílá Labuť
Tränen
Kürbiscreme
Liebesbriefe
Laissez-faire
Schuld
Karpfen
Superman
Kaffee
Ampel
November
Kleiderbügel
Schinken
Stola
Steine
Schnörkel
Frottee
Privatbesitz
Pierre
Holka modrooká
Karla
Haargummi
Milch
Rohlíky
Hausaufgaben
Zimmer 7
Gespenst
Schlafanzug
Hastrmanek
Koteletten
Arme
Knöchel
Tapete
Tagesausflug
Hunger
Gondel
Höhlen
Mütze
Wolke
Ende
Blaulicht
Märchen
Lkw
Frau Ulova
Piraten
Fotoalbum
Wintergarten
Fettfleck
Lene
Lucerna
Paul
Eishockey
Schritte
Aphrodite
Labe
Dr. Kralova
Katzenpfötchen
Plopp
Sepp
Hanna
Unfall
Kapitel III.
Muttertag
Brummen
Markus
Gartenzaun
Tonka
Taxi
Stümpfe
Millimeter
Klassenfoto
Medaillon
Mutter
Triangel
Sprechstunde
Bein
Geheimnis
Gymnasium
Scherben
Buchsbaum
Über den Autor
Im ersten Moment hast du so getan, als hättest du nichts gesehen, und bist weitergefahren.
Dann ist dir klar geworden, dass das keine Lösung ist. Du hast einen Gang heruntergeschaltet, aber den Wagen nicht zum Stehen gebracht. Ich habe das Kind nicht gefunden, hast du dich schon sagen gehört, denn das hättest du dem Sepp gesagt, dass du das Kind einfach nicht finden konntest.
Doch dann bist du in eine Schneewehe gefahren, du musstest zweimal zurücksetzen und hast dann doch angehalten. Du hast den Motor nicht ausgeschaltet, sondern bist eine Minute im Auto sitzen geblieben. Du hast die Handbremse angezogen und die Fahrertür geöffnet. Du bist ausgestiegen, ein paar Schritte gegangen und vor dem Kind gestanden.
Du hast dich zu ihm hinuntergebeugt. Du hast seinen Arm angefasst, nicht grob, neutral, du hast das Kind neutral angefasst. Du fühltest dich resigniert dabei, wie du schon die ganze Zeit resigniert warst.
Der Schnee hatte das Kind zugedeckt. Wie eine Mutter ihr Kleines zudeckt, bevor sie es aufhebt und wegträgt und an einen sicheren Ort bringt. Das Kind lag in seinem kalten weichen Bett. Es ist das Wesen des Schnees, eisig zu sein, er kann nichts dafür, und das Kind konnte nicht anders als zu frieren, es hätte bis zum bitteren Ende gefroren. Doch dann kamst du und hast es gerettet, wie nur eine Mutter ein Kind retten kann. Und das Kind ist aufgestanden und mit dir und deiner Resignation mitgegangen.
Meine Mutter hat mich gerettet, ohne sie wäre ich erfroren, dachte das Kind, mit allerletzter Kraft, aber das hat es gedacht, das weiß es noch heute. Dass du überhaupt in der Lage wärst, es zu retten, hätte das Kind nie gedacht. Du warst selbst überrascht. Du hast das Kind in eine Decke gewickelt und ihm geholfen, ins Auto zu steigen.
Ich mache dir einen Tee, wenn wir zuhause sind, halte noch ein wenig durch. Und das Kind hat durchgehalten, wie ein Kind durchhält, wenn es von der Mutter gerettet wird.
Du hast es nicht ins Krankenhaus gebracht, du hast gedacht, dass eine Mutter ihr Kind mit nach Hause nehmen will, nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hat. Du hast es mit nach Hause genommen, ihm einen Tee gekocht, du hast ihm gesagt, es solle jetzt in sein Bett gehen.
Die Wirklichkeit ist ein Tier, das neben dem Geschriebenen herläuft. (Elfriede Jelinek)
Heute machst du die Wäsche. Wie du immer an diesen heißen Tagen die Wäsche machst, wie es schon deine Mutter gemacht hat und deine Großmutter, du machst die Wäsche und nichts anderes. Die Leine hat noch der Sepp gespannt, du bist daneben gestanden, hast ihm gesagt, wie er es machen soll, und er hat es genau so gemacht, obwohl man ihm angesehen hat, was er von dem, was du gesagt hast, gehalten hat. Wie man ihm immer angesehen hat, was er von etwas gehalten hat. Er hat die Leine gespannt, vom Kirschbaum zur Birke und von der Birke zur Balkonbrüstung, er hat die Leine dreimal um den Kirschbaum gewickelt und einen Knoten gemacht. Und um die Birke hat er die Leine ebenfalls dreimal gewickelt, genau an der Stelle, wo sich der Stamm geteilt hat, und auch hier hat er einen Knoten gemacht. Und an der Balkonbrüstung hat er die Leine so ineinander verwickelt, mit so einer Kraft und so einer Wut, dass sie bis heute hält, trotz Regen und Wind und Wetter.
Du wäschst alles, was du im Haus findest: die Bettwäsche, die Hand- und Geschirrtücher, die Socken, Pullover, die Röcke und Hosen. Die Unterwäsche. Die kleinen Vorleger aus dem Badezimmer und der Toilette. Den Läufer, der im Flur liegt. Die Kissenbezüge aus dem Wohnzimmer, die Deckerl aus dem Esszimmer, die Topflappen aus der Küche. Als die Wäsche aufgehängt ist, scheint die Sonne immer noch und du holst die Aluminiumleiter, die der Markus dir geschenkt hat, und beginnst die Vorhänge an den Fenstern abzunehmen; du wackelst ein bisschen, aber es geht schon. Nur einmal hast du das Gefühl, gleich wird dir schwindlig, beim großen Vorhang im Wohnzimmer, du ziehst einen Klipp nach dem anderen aus der Vorhangschiene, da verschwimmt das Fensterglas vor deinen Augen, aber du sagst dir, dass das jetzt nicht geht, dass dem Martin damals auch nicht schwindlig werden durfte, als Krieg war, das ist schon lange her, aber trotzdem, es gilt immer noch. Und das hilft auch immer noch, schon ist der Schwindel wie weggeblasen, du denkst an den Martin und an sein Gesicht, und was ihr miteinander gemacht habt, und als sich das blasse Gesicht von Lene dazwischen schiebt, bist du schon fertig mit dem langen Wohnzimmerstore, du hast den Schwindel besiegt und den Vorhang auch. Du steigst wieder herunter von deiner Klappleiter, raffst den Vorhangwust vom Wohnzimmer, vom Esszimmer, von der Küche und vom Schlafzimmer zusammen, trägst alles in die Waschküche und wäschst die nächste Maschinenladung, du riechst deinen Schweiß und spürst ihn, wie er auf deiner Haut kleben bleibt.
Du setzt dich auf die Couch, es sieht ja keiner, dass du am helllichten Tag auf der Couch sitzt, nur die dicke Fleischfliege siehts, die zur Balkontür hereinfliegt, weil du nicht aufgepasst und rechtzeitig das Insektengitter davorgemacht hast. Im Besenschrank wartet der elektrische Fliegenklatscher, den der Markus dir geschenkt hat. Der Pierre wollte dir unbedingt einen schenken, die Oma braucht auch einen, hat er gesagt. Und Helen hat gekichert wie ein junges Mädchen, und die Luisa kichert jetzt auch schon so, aber du hast nichts gesagt, weil du nicht wolltest, dass der Markus denkt, du hättest was gegen die Helen. Du hast es auch nicht gemocht, wenn deine Mutter schlecht über den Sepp geredet hat. So einer bringt nur Unglück, hat sie gesagt, und der Sepp wollte irgendwann nicht mehr hinfahren zu der ganzen Bagage, und dich und die Kinder fahr ich auch nicht mehr hin, hat er gesagt. Du hast sie noch ein paar Mal besucht mit den Kindern, sie war schließlich deine Mutter. Jedes Mal hast du aber irgendetwas vergessen, einmal hattet ihr nichts zu trinken dabei, ein anderes Mal hast du deine Brille nicht aufgehabt und die Abfahrtszeiten und das Gleis nicht richtig lesen können und ihr habt den Bahnhofvorsteher fragen müssen, und bis dahin war der Zug weg und ihr musstet eine Stunde lang auf den neuen warten, am Gleis auf einer Bank mit den Kindern und den Taschen, kein Mensch zu sehen, nur ein Hund, der da rumlief und vor dem du Angst hattest.
Darf ich den streicheln, hat der Markus gefragt, und du hast Nein gesagt und er hat geweint, beide Kinder haben geweint und du hast dir gewünscht, nie gefahren zu sein. Du bist noch ein paar Mal hin, als die Kinder schon größer waren und du sie allein lassen konntest, du hast sie nicht mehr mitgenommen zu deiner Mutter und sie hat auch bald nicht mehr gefragt nach den Enkeln und nach dem Sepp sowieso nicht.
Du stehst auf von deiner Couch, holst den elektrischen Fliegenklatscher aus dem Besenschrank, schon im Flur drückst du auf die Taste und dann schleichst du dich an die Fliege heran, die, als du zurückkommst, mitten auf dem Sofa sitzt, genau in der Mitte, als würde sie darauf warten, dass du ihr etwas zu trinken bringst. Und kurz bevor du sie erreicht hast, fliegt sie mit einem alarmierten Brummen davon. Nach einigem Hin und Her lässt sie sich auf dem Wohnzimmerschrank nieder, direkt auf der Glasvitrine, als wüsste sie, dass du Angst davor hast, die Scheibe einzuschlagen, obwohl du ja weißt, weil der Markus es dir eingebläut hat, dass du die Fliege nicht schlagen, sondern nur berühren sollst.
Der Strom zieht die Fliege auf das Gitter, und wenn sie das innere und äußere Gitter gleichzeitig berührt, ist sie tot, hat er gesagt, sofort tot, und hat es dir an einer Hummel, die auf deiner Agave saß, demonstriert. Es knallte, du bist heftig erschrocken und der Markus hat gelacht und Pierre hat auch gelacht und Luisa und Helen haben natürlich gekichert und du bist den ganzen Tag mit Herzklopfen herumgelaufen und hast dich noch unruhiger gefühlt, als du dich sowieso schon fühlst. Die dicke Hummel ist einfach so dagelegen auf der Fensterbank, du hast dich geekelt, als du sie am Abend entsorgt hast. Wenn es bei der Fliege auch so einen Knall gibt, erschrickst du vielleicht wieder und schlägst vor Schreck die elektrische Klatsche in die Vitrine, dann ist sie hin.
Die Fliege putzt sich gelassen den Rüssel und die Beine, als spürte sie deine Unsicherheit, erst als du den Klatscher bewegst, fliegt sie gemächlich auf den Wohnzimmertisch und von da aus auf die Tapete über der Schrankwand und da sitzt sie und sieht aus wie gemalt.
Du liest in der Zeitung vom Vortag, die da noch liegt, die von heute ist nicht gekommen, aber dir ist egal, ob etwas heute oder gestern passiert ist, was macht ein Tag schon aus, und ab und zu schaust du hinauf zur Fliege und die Fliege schaut herunter zu dir mit ihren hunderten Augen.
Später schläfst du ein und als du aufwachst, ist die Fliege verschwunden. Auf deinen Knien liegt noch der elektrische Fliegenfänger und du kommst dir lächerlich vor. Du gehst ins Bad, du hast rote Flecken im Gesicht vom Schlafen, die Sonne steht nur noch eine Handbreit über dem Waldrand, du gehst in den Keller, holst den leeren Wäschekorb und nimmst ihn mit in den Garten, wo du ihn auf der Mauer vor der Leine abstellst, du befühlst die Wäsche, als wolltest du sie noch einmal kaufen im Geschäft, alles ist trocken geworden außer dem großen Wohnzimmervorhang, du beschließt, ihn über Nacht hängen zu lassen, obwohl das gefährlich ist, es wird viel geklaut heutzutage, mehr als früher, aber du hast heute einfach keine Kraft mehr.
Wenn er weg ist, ist er weg, denkst du und weißt schon, dass es morgen das erste sein wird, was du tun wirst nach dem Aufwachen: nachschauen, ob er noch da ist.
Du weißt nicht mehr, an welchem Tag es angefangen hat, dass du die geworden bist, die du jetzt noch immer bist, obwohl so viel Zeit vergangen ist. Du wirst keine andere mehr. Du warst schon fertig, als du noch gedacht hast, dass das jetzt ewig so weitergehen wird: heute die, morgen eine andere, das sind noch so viele, die du werden kannst. Und mit jeder, die du wirst, werden es mehr, die du werden kannst. Das hast du gedacht, nein gefühlt, wenn du morgens aufgewacht bist, mit den Händen zwischen den Beinen, die Schenkel fest aufeinandergepresst, die Muskeln noch zuckend und tanzend – mit dem Aphroditegefühl, das du so genannt hast, seitdem du das erste Mal die nackte Aphrodite gesehen hast, in dem Buch, das der Martin dir einmal gezeigt hat. Seitdem gehst du heimlich in sein Zimmer und schaust das Bild an. Du hast sofort gewusst, so sieht nur eine aus, die das auch kennt, das Zucken in den Schenkeln und die Innenflanken fest in die Hände gepresst. Halb liegt sie, halb sitzt sie da mit ihrem nackten Körper auf einer von der Nacht zerwühlten Decke und schaut in einen Spiegel, den ihr das Engerl hinhält. Das Engerl ist recht gut beieinander, hast du gedacht, weil du nicht gewusst hast, wo du hinschauen sollst. Im Spiegel ist sie zum Glück nicht nackt, man sieht nur ihr Gesicht, du bist fasziniert vom Gesicht der Aphrodite, das sich im Spiegel selbst anschaut, du schaust durch den Spiegel in ihr Gesicht und siehst ihr dabei zu, beim Blick auf sich selbst: milde und ohne Angst und ein bisschen verschwommen betrachtet sich diese Aphrodite selbst, du weißt, dass du das eigentlich nicht sehen darfst, dass du diese schamlose Person gar nicht kennen darfst. Du hast dir trotzdem gewünscht, dass sie deine Freundin sein könnte, du hast nicht gesehen, dass sie durch den Spiegel hindurch in Wirklichkeit dich anschaut, du hast immer gedacht, sie sieht nur sich selbst.
Seit ein paar Monaten bist du die erste am Frühstückstisch, seit Lene keine Lust mehr auf den täglichen Wettkampf hat, wer ist schneller gewaschen, wer ist schneller angezogen, wer hat schneller seine Tasche gepackt, seit ein paar Monaten, genauer gesagt seit den Sommerferien, ist sie so langsam wie sonst immer nur der Martin, der schon immer so lang gebraucht hat, um aus dem Bett zu kommen, seit er ein kleiner Bub ist. Ein Siebenschläfer eben, hat die Mutter gesagt, weil er fast bis sieben Uhr schläft, obwohl er um viertel nach sieben schon aus dem Haus sein sollte, denn der Weg ins Bubengymnasium ist weiter als der zum Lyzeum, was ihr nur gerecht findet, Lene und du. Buben brauchen halt mehr Kondition, dafür gibt’s auch mehr Fleisch, hat Lene gesagt und ist rot geworden, und du hast gar nichts verstanden, denn Lene ist noch nie rot geworden, und zum ersten Mal fragst du dich, ob sie auch solche Träume hat wie du, und wenn ja, von wem, vom Martin geht ja nicht, von dem träumst du ja schon. Und dir ist heiß geworden, die Wärme ist wie eine Welle über deinen Körper gezogen und dein Schweiß ist auf der Haut kleben geblieben.
Wenn der Martin nicht da ist, setzt du dich in sein Zimmer, auf sein Bett. Was machst du hier, fragt die Mutter, der Martin hat’s mir erlaubt, sagst du schnell, und die Mutter schaut dich an, sie glaubt dir nicht, aber sie kann dir nichts beweisen.
Der Martin hat einen Freund, der heißt Sepp, du kannst ihn nicht leiden, und noch mehr, als du ihn nicht leiden kannst, hast du Angst vor ihm, und am meisten hast du Angst vor ihm, seit er nicht mehr grantig zu dir ist, sondern freundlich und aufmerksam, er schaut dich komisch an, von der Seite her, und auch wenn du aus dem Zimmer gehst, dann schaut er dir hinterher, du spürst seinen Blick auf deinem Körper, überall, du hast das Gefühl, dich kratzen zu müssen, seine Blicke wegkratzen zu müssen, du wünscht dir, dass er wieder grantig zu dir ist, damit du einen Grund hast, deine Hand wegzuziehen, wenn er dich plötzlich festhält mit diesen Fingern, die weich und roh sind wie Nudelteig.
Er hat Sommersprossen und rote Haare, du hast Angst vor den Roten, denn schon ihre Vorfahren waren Hexen und Zauberer, der Martin hat zwar gesagt, dass das Unsinn ist und Aberglaube, und Aberglaube ist nicht fromm, sondern das Gegenteil von fromm, aber wer weiß das schon. Und die Mutter mag ihn auch nicht und hat einmal geflüstert: Er ist ein Fuchs, nichts als Unglück wird er uns bringen.
Im Radio hat es geheißen, jetzt müssen wir alle zusammenhalten, aber deine Eltern haben abgewunken und gesagt, es reicht, wenn wir in der Familie zusammenhalten, die Familie ist heilig. Und die Kirche ist heilig, eine politische Partei kann doch nichts Heiliges sein, hat dein Vater gesagt, und deine Mutter hat nichts gesagt, aber sie hat ängstlich ausgesehen, und ein paar Tage später ist der Martin eingezogen worden, weil wir jetzt alle zusammenhalten müssen.
Du hast geglaubt, dein Vater würde dem Martin verbieten, in den unheiligen Krieg zu ziehen, aber der Vater hat nichts verboten. Er ist nur stundenlang beim Martin im Zimmer gesessen und hat mit ihm geredet, er hat ernst ausgesehen, und auch als der Martin schon weg und im Krieg war, ist dein Vater oft in Martins Zimmer gesessen und hat immer weniger gesagt. Eines Tages war das Bett von der Lene leer, nur noch die Matratze lag da, und die Magdalena hat mit dem Kinn Richtung Nebenzimmer gedeutet. Martins Zimmer war von da an Lenes Zimmer und dein Vater ist nicht mehr stundenlang auf dem Bett gesessen, und selbst als der Martin schon wieder da war und Lene wieder in das Mädchenzimmer zurückgezogen ist mit ihrem Bettzeug, selbst da blieb es ihrer beider Zimmer in deiner Erinnerung.
Du hast immer nur gegeben, nie genommen. Nie hast du jemandem etwas getan, noch nicht einmal einer Fliege. Da ist so ein Gedanke in dir, der immer in dem Moment verschwindet, in dem du nach ihm greifen möchtest. Indem du ihn begreifen möchtest. Nur dass dann nichts übrig bleibt von dem Gedanken außer wieder ein neues Rätsel in deinem Kopf, in dem so viele andere Rätsel sich ineinander vermischt haben, dass es ein einziger Filz ist; Rätsel, die darauf drängen, vorsichtig voneinander gelöst und entwirrt zu werden, die du schon als Kind gehasst hast, die du auch jetzt wegschiebst, sogar in deinen Träumen noch wegschiebst, weil du dich nicht bedrängen lassen willst. Nach dem Wegschieben wachst du auf, du wälzt dich schon lange nicht mehr im Bett, in der Hoffnung, davon wieder einzuschlafen, das ist vorbei, du stehst lieber auf und überlegst, ob du dich nützlich machen kannst, aber es gibt nichts mehr, für das du nützlich bist. Du machst dir einen Kaffee, einen gehäuften Teelöffel auf zwei Tassen, sodass der Boden der Porzellantasse deutlich durchschimmert.
Omakaffee, hat der Pierre dazu gesagt, ich will auch Omakaffee, und sich an dich geschmiegt, und jetzt lächelst du, weil du an Pierre denkst, dein gut geratenes Enkelkind, genauso hübsch und gut geraten wie dein Sohn, der Markus, der ein Arzt geworden ist.
Du seufzt und dann seufzt du noch einmal und stellst dir vor, es würde jemand hören, und weißt genau, dass es niemand hört, und das ist auch so ein Punkt, den du nicht verstehst. Du seufzt aus Fleiß noch einmal und stellst dir vor, dass es jemand hört, und schon hört es jemand, endlich, es ist jemand, der in dir drinnen ist.
Es dämmert durch die Ritzen deines Rollos. Du hast versucht zu ignorieren, dass du wach bist, schnell die Augen wieder zugemacht und auf den Schlaf gewartet, der nicht kam. Du hast die Augen lange zugelassen, du hast Angst gehabt vor dem Tag, der immer näher kam, je heller es draußen wurde, wieder ein Tag, der schwer und groß vor dir lag, ohne etwas zu fordern, ohne etwas zu wollen. Die Kirschen sind geerntet und zu Marmelade verarbeitet, drei Tage lang warst du ununterbrochen beschäftigt, bis in die Nacht. Du hast das Mittagessen ausgelassen, du hast Radio gehört und nicht bemerkt, wie Stimmen und Musik in ein gleichmäßiges Rauschen übergegangen sind, weil ganz in der Nähe ein Gewitter war. Irgendwann hast du es leiser gestellt und es dann vergessen. Noch immer ist das Radio an.
Die Wäsche ist gewaschen, sogar die Vorhänge, und wieder aufgehängt hast du sie auch schon, die Böden sind geputzt und die Schränke, die Teppiche gesaugt und die Polster auch, dein Bett frisch überzogen, der Rasen gemäht, die Rosen gestutzt, die Katze der Nachbarn von der Terrasse gejagt, die Zeitung gelesen, Essen für eine Woche vorbereitet, nur schade, dass der Pierre heute nicht kommt, weil sie in Urlaub gefahren sind, drei Wochen, hat Helen gesagt, vielleicht auch länger, hat Markus hinzugefügt, was soll das bedeuten, vielleicht auch länger, aber da hat Helen schon den Motor angelassen. Sie hat zweimal gehupt, dann ist sie langsam angefahren, während die Kinder gewunken haben und du zurückwinken musstest.
Die Schmerzen sind nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist das Jucken, der Juckreiz, der ununterbrochene Juckreiz, selbst wenn sie dir den Verband aufgerissen haben, um ihn auszuwechseln, und du vor Schmerz geschrien hast, selbst dann warst du dankbar, weil das Jucken ein paar Minuten lang aufgehört hat. Der Schmerz war besser als diese Juckerei. Der Schmerz vergeht, aber das Jucken ist geblieben – und eine tiefe Narbe am Fuß, die dich für ewig daran erinnert, wann alles angefangen hat.
Wer so etwas nicht erlebt hat, kann sich das nicht vorstellen, sagst du gerne, dem Sohn, der Schwiegertochter, den Enkelkindern sagst du es, und das ist auch der Grund, warum die Oma so ein gutes Herz hat, warum sie mit allen mitfühlt, denen es schlecht geht, so wie dem Pierre vorhin, als die Luisa ihn getreten hat. Da, sagst du, muss der Pierre sich gefühlt haben wie ich damals, und der Pierre schaut dich ganz erschrocken an.
Die Luisa kichert, und als du sie streng anschaust, lacht sie laut und springt auf und läuft zu ihrer Mutter, und du streichst dem Pierre über den Kopf.
Nicht am Daumen lutschen, Pierre, sagst du, du bist doch schon groß, und Pierre nimmt den Daumen aus dem Mund, weil er doch schon groß ist, weil er doch auch schon groß sein will, er will es ja selbst, und da tut er dir noch mehr leid und du flüsterst ihm was ins Ohr, sein Gesicht hellt sich auf.
Auja, Oma, flüstert er, ganz begeistert, ich hol schnell die Luisa, die freut sich.
Und noch bevor du ihn zurückhalten kannst, ist er dir entwischt und läuft schon seiner großen Schwester in die Arme. Und dabei wolltest du das Geheimnis doch ganz allein mit ihm teilen, nur du und er, und Luisa hätte nichts abbekommen von der Schokolade im Schokoladenversteck.
Aber schon ein paar Minuten später, als der Markus hereinkommt, mit seinem freundlichen Lächeln, ist alles wieder gut, der Markus und sein freundliches Lächeln kommen zusammen herein wie zwei alte Freunde, und die Kinder hörst du im Nebenzimmer toben und lachen, er ist ein wunderbarer Vater, Helen kann sich glücklich schätzen.
Mutter, ich muss etwas mit dir besprechen, sagt Markus und schaut wieder ernst, er ist immer so ernst, früher hat er mehr gelacht.
Brauchst du Geld, Bub?, fragst du ihn, du siehst dich schon bei der Sparkasse, am Schalter, die ganz Jungen haben dort das Sagen, wortlos hat dir einer einen Überweisungszettel in die Hand gedrückt und deinem verständnislosen Blick hinterhergeschickt: Das füllen Sie jetzt schön aus, und dann kommen Sie wieder an den Schalter, wie jeder andere Kunde auch.
Da hat der Markus, als du ihm die Geschichte erzählt hast, bei der Bank angerufen, beim Geschäftsführer. Du weißt nicht, was er ihm alles gesagt hat, aber es wird schon das Richtige gewesen sein, seitdem sind sie so freundlich wie früher, eigentlich noch freundlicher, anders freundlich, und ein junges Mädel hilft dir, sobald du die Bank betrittst, beim Ausfüllen deiner Formulare, inzwischen weiß sie schon, an wen die Überweisungen gehen, an den Markus zum Beispiel – an den Herrn Sohn, wie gehts denn dem Herrn Sohn, Frau Walter, fragt sie dich, wie es sich gehört, oder an die Strobag, an das Finanzamt, an die Friedhofsverwaltung.
Wenn der Markus Geld braucht, kannst du ihm 3000 geben. So viel hast du zusammengespart, du brauchst ja nicht mehr viel, das bisschen Kartoffelsuppe, den Bohnenkaffee, den Orangensaft, haltbare Milch, eine leichte Butter, Graubrot, und einmal die Woche gehst du in den Löwen zum Essen mit den Frauen vom Schützenverein, alle miteinander Witwen wie du auch. Nein, sagt Markus, ich brauch doch kein Geld von dir, Mutter, aber du hast so viele Kosten, die Praxis, die Kinder, wir haben genug Geld, Mutter, die Helen verdient doch auch genügend.
Jetzt gibt’s erstmal Kuchen, rufst du, und da kommen sie schon angesprungen und du packst den Pierre und drückst ihm ein Busserl auf die Wange.
Mögt ihr einen Kuchen, Kinder, jaa, rufen die Kinder, und der Markus lacht jetzt auch wieder und schüttelt leicht den Kopf, na also, er hat es ja nicht verlernt, das wär noch schöner, wenn seine alte Mutter ihn nicht mehr zum Lachen bringen könnte.
Du besuchst die Nachbarin im Krankenhaus, du hast keine Lust, aber du tust es trotzdem, du hoffst, dass die Nachbarin auch dich einmal besuchen wird, wenn du im Krankenhaus landest, womit zwar nicht zu rechnen ist, aber es kann schnell gehen. Die Nachbarin schaut dir mit erlebnishungrigem Blick aus dem weißen Krankenhausbett entgegen, ihre Hand umklammert die ebenfalls weiße Triangel, die auf Höhe ihres Kopfes hängt, sie umklammert sie, als sitze sie im Auto auf dem Beifahrersitz und die Geschwindigkeit ist viel zu hoch für sie und ihr Alter. Sie fragt dich nicht, wie du hergekommen bist, ob mit dem Bus oder mit dem Taxi, sie stürzt sich auf dich und legt los, kaum bist du zur Tür herein. Du kannst sie nur schlecht verstehen, von heute auf morgen scheint sie einen Sprachfehler bekommen zu haben, sie lispelt, sie bekommt die Zähne nicht richtig auseinander. Ihre Tochter, eine Steuerberaterin, wird dir später erzählen, dass sie sich durch den Überfall so aufgeregt habe, dass sie einen Schlaganfall erlitten habe, aber Markus wird sagen, das sei ein Schmarrn, das eine habe mit dem anderen nicht zu tun.
Du wirst dies der Nachbarstochter sagen, und da diese nur Steuerberaterin ist, der Markus aber Arzt, wird sie sicher einsehen, dass sie gar nicht recht haben kann, aber sie wird weiter bei ihrer Theorie bleiben, denn das eine habe ja offensichtlich sehr viel mit dem anderen zu tun, und selbst du kommst ein bisschen ins Zweifeln, denn es wäre schon ein großer Zufall, wenn beide Ereignisse unabhängig voneinander stattgefunden hätten, Überfall und Schlaganfall, da kommt dir eine Idee und du fragst gleich nach, ob Ihre werte Frau Mutter sich nicht vielleicht den Überfall nur eingebildet habe, ob sozusagen der Überfall Folge des Schlaganfalls gewesen sei, und nicht andersherum.
Die Nachbarin erzählt und erzählt und erzählt, du kannst ihr kaum folgen, sie ist rücksichtslos, sie muss doch merken, dass kein Mensch ihr folgen kann, und schon gar nicht du, du weißt nicht, was du machen sollst, du willst ihr nicht sagen, dass du sie für rücksichtslos hältst, du willst ihr aber auch nicht mehr zuhören, du willst nicht gehen, weil du gerade gekommen bist, du willst aber auch nicht bleiben, du stehst wie einer Eingebung folgend auf, gehst in das kleine Bad nebenan und bringst der Nachbarin ein Glas Wasser, du hältst es ihr hin, sie nimmt es, sie schaut das Glas an, sie hört auf zu sprechen, sie trinkt aus dem Glas, zuerst nur ein Schluckerl, dann das ganze Glas aus, du nimmst das Glas, gehst noch einmal ins Bad, füllst das Glas noch einmal auf, lässt die Nachbarin noch einmal alles austrinken, dann setzt du dich hin, nimmst ihre Hand und fragst sie, wie das denn passiert sei.
Die Nachbarin war in der Stadt, sie wollte Sandalen kaufen für den Sommer, sie brauchte neue Sandalen, weil ihre Füße größer geworden sind, ihr Körper schrumpfe, sagt sie, sie sagt nicht schrumpfen sondern schlumpfen, aber du verstehst jetzt glücklicherweise, was sie meint, vielleicht liegt es auch daran, dass sie dich beim Sprechen anschaut, komischerweise versteht man einen Menschen besser, wenn der einen anschaut, je mehr ich schlumpfe, sagt die Nachbarin, desto größer werden meine Füße.
Ihr lacht in geheimer Übereinstimmung, bevor sie wieder ernst wird und zu einem angemessenen Gesichtsausdruck zurückfindet, ein paar Meter vor dem Schuhgeschäft ist es passiert, zwei Männer, sagt sie, Südländer, natürlich, sagt sie, hätten sie in einen Hauseingang gedrängt, es ging alles ganz schnell, sie sagt schell, und schon war die Handtasche weg, und die Ausländer waren weg, und sie selbst war auch weg, in Ohnmacht gefallen, aber es war ja gar keine Ohnmacht, sondern ein Schlaganfall, ausgelöst durch den Überfall.
Der Auszubildende vom Schuhgeschäft habe sie gerettet, er habe sie entdeckt, als er Zigaretten holen wollte, unerlaubterweise übrigens während der Arbeitszeit, aber da durch seine unerlaubte Entfernung vom Arbeitsplatz ihr Leben gerettet wurde und der Auszubildende sogar in der Zeitung stand, mit Bild vor dem Schuhgeschäft, konnten sie ihm schlecht kündigen, was sie sonst getan hätten, zu Recht, wie du insgeheim findest.
Es war ein absoluter Zufall, dass der Auszubildende deine Nachbarin gerettet hat, eigentlich wollte er Zigaretten holen; dass er die Nachbarin da liegen sah, war lediglich eine Begleiterscheinung. Er hat sie auch schon besucht, der Lebensretter die Nachbarin, sie holt umständlich aus ihrem Nachtkasterl eine Zeitung, die auf der richtigen Seite aufgeschlagen ist, sie zeigt dir den jungen Mann, einen unscheinbaren, etwas hochmütig dreinschauenden jungen Mann, nicht so groß wie dein Sohn Markus und auch nicht so gutaussehend. Trotzdem bist du neidisch, dass die Nachbarin von so einem jungen Mann gerettet wird, und nicht nur gerettet, sondern auch von ihm besucht, mit Blumen und Pralinen, als habe sie sein Leben gerettet, aber nein, sie wird noch belohnt dafür; sogar der Name der Nachbarin ist in dem Artikel erwähnt.
Die Zeitung fällt auf den Boden, du hebst sie auf, und weil du schon einmal in Bewegung bist, stehst du auf und legst die Zeitung wieder vorsichtig ins Nachtkasterl der Nachbarin, die sich noch immer an der Triangel festkrallt, ihre Fingernägel sind rosafarben lackiert, bestimmt wegen des Lebensretters. Vorsichtig sagst du, ich muss wieder, gehen Sie schon?, ach bleiben Sie doch noch, ach nein, ich muss wirklich, und die Nachbarin lässt endlich die Triangel los und greift mit beiden Händen nach deiner Hand und bedankt sich überschwänglich für deinen Besuch, und dann greift sie noch einmal zum Nachtkasterl, eine Etage tiefer, und holt die Packung Pralinen, die ihr der auszubildende Lebensretter dagelassen hat, drückt sie dir in die Hand und sagt, für die Enkelkinder.
Aber auf gar keinen Fall, bitte nehmen Sie sie, ich darf ja nicht mehr, ich darf nicht so viel Zucker, sonst bekomme ich gleich noch einen Schlaganfall, aber ich kann doch unmöglich, doch Sie können, ich bitte Sie, und schließlich nimmst du die Pralinen, steckst sie in die Handtasche, du verlässt gut gelaunt das Krankenhaus.
Ihr seid mit dem Onkel früh aufgebrochen in den Wald, in die Schwammerln seid ihr gegangen, ganz früh, noch im Dunkeln aufgestanden, die Tante hat euch einen Kaffee gemacht, einen echten Bohnenkaffee, der erste Bohnenkaffee in deinem Leben, zuhause hat es den Kaffee nur für deine Mutter gegeben und die Magdalena hat ab und zu eine Tasse von der Mutter bekommen, wenn sie wieder einmal so müde war, dass sie am Tisch oder in dem kleinen Büro, das die Eltern neben der Garage für sie eingerichtet hatten, eingeschlafen war. Die Magdalena kennst du nur als die, die im Büro neben der Garage arbeitet oder das Haus putzt oder halt schläft, noch nie ist sie mit irgendwelchen Freundinnen mitgegangen oder mit euch kleineren Geschwistern, nie zum Schlittschuhlaufen oder in die Wochenschau, und selbst in die Schule ist sie nur sechs Jahre lang gegangen.
Der Onkel hat dir über den Kopf gestrichen und dich mein Resl genannt, das Resl gefällt dir, es klingt so fröhlich, und wenn der Onkel Resl sagt, dann fühlst du dich leicht, nicht so trampert, wie wenn die Mutter dich Theresa ruft.
Ja, was ist denn schon wieder?
Und schon fängst du dir eine Watschn ein, für den Ton, in dem man nicht mit der Mutter redet.
Immer schaut sie dich entweder wütend oder gar nicht an, und du schaust sie bewundernd an, du willst immer nur so sein wie sie, voller Geheimnisse und Unberechenbarkeit, auch die Lene hat Angst vor ihr, dein Vater sowieso, und bei der Magdalena weißt du es nicht, bei der Magdalena weiß niemand etwas, die Magdalena ist gar nichts Eigenständiges, sie ist eher so etwas Ähnliches wie ein Körperteil von der Mutter, der Körperteil, der Mutters Befehle ausführt und dich manchmal einen ganzen Tag lang ins Zimmer einsperrt und dann nachmittags einen Teller eingeweichtes Brot hereinbringt und auf den Boden stellt, wortlos, auf den Boden und nicht wenigstens auf den Tisch, weil die Mutter der Magdalena gesagt hat, stells ihr auf den Boden, damit sie es sich merkt, und die Magdalena stellt es dir auf den Boden, damit du es dir merkst. Dann hasst du die Magdalena, weil sie die Mutter nicht davor bewahrt, so gemein zu sein. Die Magdalena hat die Mutter aufgestachelt, allein durch ihre Existenz und durch ihre Willigkeit.
Nur der Martin hat vor der Mutter und auch vor der Magdalena keine Angst, er hat eigentlich nie Angst, er hat immer ein reines Gewissen.
Der Onkel hat gelacht, als du deine Tasse nicht ausgetrunken hast, weil der Kaffee zwar gut gerochen hat, aber irgendwie bitter geschmeckt, du hast gefragt, ob du ein bisschen Zucker haben kannst, aber die Tante hat dich streng angesehen und der Onkel hat gelacht.
Zucker in den Kaffee, wo kommen wir denn da hin?
Dann hat er dir wieder über den Kopf gestreichelt, ganz sanft, er hat eine Locke von dir genommen und sie hinter dein Ohr gesteckt und dir dabei in die Augen geschaut. Er hat ganz kleine, lustige grüne Augen. Du lernst es schon noch, Resl, hat er gesagt, er hat es so gesagt, dass die anderen es nicht gehört haben, du hast genickt und dich ein bisschen undankbar gefühlt, weil du das wertvolle Gut nicht zu schätzen wusstest, nicht ohne Zucker, und hast gehofft, dass der Onkel es nicht der Mutter erzählt.
Als ihr im Wald wart, hat der Onkel euch sein größtes Geheimnis verraten, den Bunker im Wald, der mit Ästen und Tannengrün bedeckt war, damit die Amis uns nicht von oben sehen können, und wenn es einmal Fliegeralarm gibt, dann laufen wir alle ganz schnell in den Wald und in den Bunker, auch du, Resl, gell?
Du hast brav genickt, damit der Onkel nicht merkt, wie du erschrocken bist, wieso denn Fliegeralarm, der Fliegeralarm ist doch der Grund, warum ihr überhaupt beim Onkel seid, weil es da keine Flieger und keine Amis geben soll, und jetzt sagt der Onkel was vom Fliegeralarm.
Es ist zwar unwahrscheinlich, sagte der Onkel, aber gewiss weiß man es nie, und deshalb habe ich euch das Versteck gezeigt, falls es einmal so weit ist. Und gleich in der Nacht darauf war es auch schon so weit, du warst sofort wach, und die Lene und der Martin waren auch wach. Die Magdalena musstet ihr zum Glück nicht wecken, weil sie bei den Eltern geblieben war, denn einer musste der Mutter bei der Arbeit helfen; zuhause habt ihr die Magdalena jedes Mal wecken müssen, weil sie nicht von allein wach wurde, selbst vom Fliegeralarm wurde sie nicht wach, sie wird noch ihren eigenen Tod verschlafen, hat dein Vater einmal gesagt, als er nicht gemerkt hat, dass du zuhörst.
Mit dem Onkel seid ihr durch den Wald gelaufen, du hast deine Schuhe vergessen und bist barfuß über den Boden gelaufen, du bist mit dem Zeh an einer Wurzel hängen geblieben, du bist aufgestanden, weitergelaufen, bis zum Bunker, und erst als du in Sicherheit auf der Holzbank gesessen bist, die der Onkel selbst gezimmert hat – da hast du den Schmerz gemerkt; bis heute steht dein großer Zeh ein Stück weg von den anderen, er muss komplett durchgebrochen, an der Wurzel muss er durchgebrochen sein und du hast geweint, der Onkel hat dich auf seinen Schoß gezogen und dich gestreichelt und mit dir geredet und du hast geweint, aber du hast dein Weinen gar nicht gehört, weil es draußen so laut war von den Amis und ihren Bomben.
Und als dann alles still und dunkel war und nur noch du und er in den feuchten Bunker gestarrt habt, wo es nach Erde und warmem Urin roch, hat der Onkel dir eine Praline in den Mund geschoben, du hast seinen warmen Atem an deinem Hals gespürt und warst froh, dass jemand so nah bei dir war, und bist wieder eingeschlafen. Da hat der Martin dich auf einmal am Arm gepackt und dich vom Schoß des Onkels heruntergezogen, sofort hat der große Zeh wieder wehgetan, hat gepocht und gebrannt, du hast wieder angefangen zu weinen, alles auf einmal hat wehgetan, du kommst sofort her, hat der Martin böse gesagt, und du hast gehorcht, weil der Martin sonst nie so mit dir gesprochen hat, und du hast versucht nicht mehr zu weinen.