Zunächst sieht es wie ein trauriger Fall von sozialer Vereinsamung aus: Niemand hat bemerkt, dass der 84-jährige Theodor Reifenrath offenbar schon vor Tagen starb. Doch dann entdecken Pia Sander und Oliver von Bodenstein auf dem Grundstück des Toten die sterblichen Überreste mehrerer Frauen. War Reifenrath ein eiskalter Serienmörder, der seine Opfer unter dem Betonfundament des Hundezwingers entsorgt hatte? Im Dorf kann sich das niemand vor- stellen; Theodor Reifenrath und seine Frau Rita hatten jahrzehntelang Pflegekindern ein liebevolles neues Zuhause gegeben. Bei ihren Ermittlungen stoßen Pia Sander und Oliver von Bodenstein jedoch auf dunkle Kapitel in der Vergangenheit der Reifenraths: Kinder, die vom Jugendamt aus der Familie geholt wurden. Eine leibliche Tochter, die an einer Überdosis starb. Ein Nachbarskind, das in einem nahegelegenen Teich ertrank. Und der mysteriöse vermeintliche Selbstmord von Rita Reifenrath. Da verschwindet wieder eine Frau, und Pia muss erkennen, dass nichts so ist, wie es scheint. Gelingt es ihr, das Rätsel rechtzeitig zu lösen und den Mörder zu stoppen?
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1880-6
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Für Andrea
Freundin und Agentin –
danke für deine Freundschaft und Unterstützung
Das K 11 in Hofheim:
Oliver von Bodenstein, Erster Kriminalhauptkommissar, Leiter des K 11
Pia Sander, ehem. Kirchhoff, Kriminalhauptkommissarin, K 11
Dr. Nicola Engel, Kriminaldirektorin, Leiterin der RKI Hofheim
Kai Ostermann, Kriminaloberkommissar, K 11
Kathrin Fachinger, Kriminaloberkommissarin, K 11
Cem Altunay, Kriminalhauptkommissar, K 11
Tariq Omari, Kriminaloberkommissar, K 11
Christian Kröger, Kriminalhauptkommissar, Erkennungsdienst
Stefan Smykalla, Kriminaloberkommissar, Pressesprecher, K 11
Merle Grumbach, Opferschutzbeauftragte der RKI Hofheim
Prof. Dr. Henning Kirchhoff, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Frankfurt
Dr. Frederick Lemmer, Rechtsmediziner
Ronnie Böhme, Sektionshelfer
Dr. Kim Freitag, Forensische Psychiaterin
Dr. David Harding, Profiler
Personen in der Reihenfolge ihres Erscheinens:
Nora Bartels
Fiona Fischer
Ferdinand Fischer
Dr. Christoph Sander, Pias Ehemann
Karoline von Bodenstein, Olivers Ehefrau
Monika Wahl, Zeitungsausträgerin
Polizeioberkommissar Dennis Cordt
Theodor Reifenrath
Jolanda Scheithauer
Bettina Scheithauer, ihre Mutter
Dr. Karl-Heinz Katzenmeier, Nachbar
Uschi Katzenmeier, seine Frau
Dr. Raik Gehrmann, Tierarzt
Sandra Reker
Claas Reker, ihr Ex-Mann
Oberstaatsanwalt Rosenthal
Dr. Fridtjof Reifenrath
Martha Knickfuß
Ramona Lindemann
Sascha Lindemann, ihr Ehemann
Joachim Vogt
Prof. Dr. Martina Siebert
Anja Manthey
Jens Hasselbach, Flughafen
André Doll
Britta Ogartschnik
»Das Böse ist unspektakulär und stets menschlich,
es teilt unser Bett und sitzt mit uns am Tisch.«
(W. H. Auden)
Dieses Buch ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt.
Er lehnte mit dem Rücken am narbigen Stamm der mächtigen Trauerweide, deren Äste ins Wasser des Sees hingen, und genoss das seltene Glück, völlig allein zu sein. Dies war sein Lieblingsort. Hier konnte er ungestört seine Gedanken schweifen lassen. Hinter dem Vorhang aus Laub fühlte er sich geborgen und sicher, weil er wusste, dass ihm niemand hierherfolgte. Die Jüngeren entfernten sich nie so weit vom Haus, aus Angst vor den Strafen, die es unweigerlich geben würde, wenn man erwischt wurde. Die Älteren waren zu faul, so weit zu laufen, erst recht an einem so warmen Tag wie heute. Sie hingen am liebsten herum, rauchten heimlich, hörten Musik, drangsalierten die Kleinen und machten sich gegenseitig fertig, bis zum Schluss irgendwer heulte, meistens eins der Mädchen. Er hasste sie. Alle. Aber am meisten hasste er IHN. Wenn er nicht rechtzeitig zurück war, würde ER ihn bestrafen. Manchmal, wenn ER gut gelaunt war, gab es nur eine Tracht Prügel. War ER schlecht gelaunt, wurde es schlimmer. Viel schlimmer. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde vor Angst, nur beim Gedanken daran, und er zwang sich, an andere Dinge zu denken. Am liebsten dachte er an Mama, seine schöne Mama, die so weit weg war. Sie roch so gut. Und wenn sie ihn umarmte, ihn »mein kleiner Prinz« nannte und mit ihm in den Zoo ging oder in ein vornehmes Café in Frankfurt, dann war er glücklich. Früher hatte er geglaubt, was sie ihm versprach, wenn sie ihn besuchen kam. Nämlich, dass sie ihn bald, ganz bald, zu sich holen würde und sie dann eine richtige Familie wären. Immer wenn es besonders schlimm war, hatte er sich ausgemalt, wie es wäre, bei Mama zu wohnen. Er hatte nicht verstanden, warum er hier sein musste, aber der Gedanke, dass es nur vorübergehend war und sie ihn bald holen würde, hatte ihn getröstet und alles ertragen lassen. Manchmal hatte er befürchtet, sie würde ihn vergessen, aber dann kam sie wieder und alles war gut. Wenigstens für ein paar Stunden. Als er noch kleiner war, hatte er beim Abschied geweint und sich an sie geklammert, weil er nicht wollte, dass sie wieder wegfuhr und ihn zurückließ. Das machte er jetzt nicht mehr, schließlich war er schon dreizehn, da heulte man nicht mehr wie ein Baby.
Noch immer hoffte er insgeheim, dass sie ihr Versprechen irgendwann wahr machen würde. Immerhin hatte er eine Mama. Die anderen nicht. Ach, wenn er das doch bloß für sich behalten hätte! Wie dumm von ihm, das ausgerechnet zu IHM zu sagen! Seitdem verspottete ER ihn und sagte gemeine Sachen über Mama. »Du bist nur ein hässlicher, kleiner Bastard«, hatte er einmal gesagt. »Wie blöd bist du eigentlich? Die hat dich abgeschoben, weil sie dich nicht will. Die holt dich niemals, kapiert? Wann schnallst du das endlich, du Trottel?«
Er presste die Augen zusammen, um nicht zu heulen. Es tat so schrecklich weh. Beim letzten Mal, als Mama ihn besucht hatte, hatte er all seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt. Ob sie ihn nicht haben wollte, weil er ein hässlicher, kleiner Bastard sei. Da hatte sie aufgehört zu lächeln und ihn ganz komisch angeguckt. »Das darfst du nie, nie, niemals glauben, mein kleiner Prinz«, hatte sie geflüstert und ihn ganz fest in die Arme genommen. Das war am Muttertag vor zwei Jahren gewesen. Letztes Jahr war sie nicht gekommen. Und heute würde sie wohl auch nicht mehr kommen, um ihn abzuholen.
Er schluckte die Tränen herunter, atmete tief den erdigen Duft ein, den der Waldboden verströmte. Weit über ihm am wolkenlosen blauen Himmel zog ein Bussard träge seine Kreise. Ab und zu ließ er einen Schrei erklingen, der ein bisschen wie das Miauen einer Katze klang. Insekten summten geschäftig um ihn herum. Im Unterholz in der Nähe raschelte irgendein kleines Tier, eine Maus vielleicht. Er stellte sich vor, wie ihr kleines Mäuseherz vor Angst panisch pochte, weil sie den Bussard hörte und nicht wusste, ob und wann er herabstoßen würde, pfeilschnell und lautlos, und wenn sein Schatten über sie fiel, dann war es zu spät, um zu fliehen … Genau wie ich, dachte er. Wie wir alle, wenn wir SEINE Stimme hören und nicht wissen, was als Nächstes passiert.
Er öffnete wieder die Augen und ließ den Blick über den See schweifen, der still dalag, glatt wie eine Glasscheibe. Zwei Libellen brummten über dem Schilf. Ein Wasserläufer krabbelte über das Wasser, in das plötzlich Bewegung kam. Er hob den Kopf und lauschte, hörte in der Ferne Stimmen, dann ein Platschen und das Rauschen von Rudern im Wasser. Das alte Ruderboot, das auf der anderen Seite des Sees im Schilf vertäut lag, war so morsch, dass es streng verboten war, es zu benutzen. Er kroch auf allen vieren näher ans Ufer und linste durch die Schilfhalme. Sein Herzschlag beschleunigte sich und ein Schauer freudigen Triumphs flutete seinen Körper. Die beiden hatten nicht geahnt, dass er ihren kurzen Wortwechsel vorhin nach der Messe belauscht hatte.
»Um zwei am Froschpfuhl?«, hatte ER geraunt, ohne sie anzusehen.
»Lieber um drei«, hatte sie genauso leise geantwortet. »Da sind meine Eltern weg.«
Er hatte gesehen, wie sich ihre Hände berührt hatten, fast wie zufällig in dem Gedränge der Menschen, die sich durch den Mittelgang des Kirchenschiffs Richtung Ausgang schoben. Es hatte definitiv Vorteile, unsichtbar zu sein. Manchmal war es demütigend, aber meistens gefiel es ihm. Jetzt hörte er Noras Stimme, ihr Lachen schwebte glockenhell durch den stillen Nachmittag. Sie lag hinten im Boot, die Ellbogen aufgestützt, ihre sonnengebräunten Beine lässig überkreuzt. Das lange blonde Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern, ein Arm hing ins Wasser. Was sie sprachen, konnte er nicht verstehen, aber ER ließ die Ruder auf einmal durchs Wasser schleifen, stellte sich im Boot aufrecht hin, brachte es zum Schaukeln.
»Ey, hör auf mit dem Scheiß!« Nora richtete sich auf.
»Nur, wenn du mir einen Kuss gibst«, erwiderte ER.
»Ich denk nicht dran!«, sagte Nora hochmütig. »Los, ruder weiter! Sonst frag ich das nächste Mal jemand anders, wenn du so blöd bist.«
Es war wundervoll, sie streiten zu hören. Wie Nora ihn kränkte, mit nadelspitzen Gemeinheiten, die sich mit Widerhaken in der Seele festsetzten. Er wusste genau, wie sich das anfühlte.
Nora. Er hasste sie. Und liebte sie. Sie war das schönste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Und das böseste zugleich.
ER schaukelte das Boot immer heftiger, bis es schließlich kenterte. Nora kreischte auf, als sie ins Wasser fiel, dann folgte ein Hagel empörter Beschimpfungen, aber ER beachtete sie nicht mehr. ER kraulte ans Ufer und verschwand zwischen den Bäumen.
Nun war er ganz alleine mit Nora. Einen kurzen Moment wurde ihm schwindelig, als ihm die Tragweite dieser Tatsache bewusst wurde. Nora. Sie war noch immer im Wasser, kam nicht vom Fleck. Der gekenterte alte Kahn war halb untergegangen.
»Hilfe!«, schrie sie. »Hilfe! Ich hänge fest!«
Zum ersten Mal klang das, was sie von sich gab, ehrlich. Er streifte die Sandalen von den Füßen, zog T-Shirt und Shorts aus und bahnte sich einen Weg durch das Schilf. Kalt und schleimig fühlte sich der Boden unter seinen nackten Fußsohlen an, und er musste aufpassen, dass er sich an den messerscharfen Schilfhalmen nicht verletzte. Nora schrie noch immer um Hilfe, als er aus dem Schilf trat und auf sie zuschwamm. Sie ruderte hektisch mit den Armen, Panik in den Augen. Noch ein paar Schwimmzüge und er war bei ihr. Nie zuvor war er ihr so nahe gewesen.
»Ich häng mit dem Fuß fest«, keuchte sie und versuchte, seinen Arm zu ergreifen. Er schwamm auf der Stelle. Selbst jetzt, so nass und voller Angst, war sie noch immer wunderschön. Tief in seinem Innern regte sich etwas, das schon lange darauf gewartet hatte, geweckt zu werden. Seine Hände schlossen sich um Noras Hals. Sie wollte wieder schreien, aber er drückte sie unter die Wasseroberfläche. Es war nicht leicht, sie dort zu halten, und wahrscheinlich wäre es ihm nicht gelungen, hätte sich ihr Fuß nicht in den Algen verfangen. Sein Blut begann schneller zu kreisen, als er mit Armen und Beinen ihren Körper umfing. Je verzweifelter sie sich wehrte, desto köstlicher war das Gefühl der Macht. Sie zappelte und kämpfte, aber er war stärker als sie. Mühelos hielt er sie jetzt mit den Knien unter der Wasseroberfläche. Fasziniert beobachtete er Nora beim Sterben, er sah die Todesangst in ihren weit aufgerissenen Augen, die sich in Unglauben verwandelte. Dann brach ihr Blick, wurde stumpf und leer wie der einer Puppe. Er spürte, wie das Leben aus ihr wich. Als ihr Körper erschlaffte, ließ er ihn los. Noras Haare breiteten sich aus und schwebten im Wasser wie ein goldener Fächer. Aus Mund und Nase drangen letzte Luftbläschen. Nora Bartels’ elfengleiche Schönheit war für immer dahin. Weil er es so gewollt hatte. Er sah zu, wie sie versank, kostete das herrliche Gefühl von Macht und Entzücken und Herrschaft noch ein wenig aus, dann schwamm er zurück ans Ufer, zog sich an und rannte los, rannte so schnell, dass seine Lungen brannten. Er erreichte das große Haus, ohne jemandem zu begegnen. Als spätnachmittags die Nachricht kam, ein Kind sei im Froschpfuhl ertrunken, erinnerten sich alle nur an den Jungen, der mit nassen Klamotten gesehen worden war, nicht an ihn. Manchmal war es wirklich von Vorteil, unsichtbar zu sein.
Als er an jenem Abend im Bett lag, wurde ihm klar, dass er an diesem Tag eine wichtige Lektion gelernt hatte, nämlich wie einzigartig und erregend der Moment war, in dem Leben zu Tod wurde. Das Gefühl der Allmacht, das er empfunden hatte, würde er niemals vergessen. Vorsichtig zog er die Haarsträhne hervor, die er Nora im Eifer des Kampfes ausgerissen und an seinem Geheimplatz zwischen der Matratze und dem Bettgestell versteckt hatte, schnupperte daran und presste sie an seine Wange. Ab heute, das wusste er, würde er nie mehr Opfer sein. Ab heute war er ein Jäger.
Dichter Nebel hing wie Watte über dem See, nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit. Im Frühling konnte das Wetter binnen Stunden zwischen Regen und Sonnenschein, Stürmen und Schnee wechseln, aber wenn kein Wind aufkam, dann blieb der Nebel den ganzen Tag lang hängen. Fiona Fischer saß in der Tram Nr. 6, die vom Zoo den Zürichberg hinunterfuhr, wie schon unzählige Male zuvor in ihrem Leben. Aber noch nie war sie so aufgeregt gewesen. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen, darüber nachgedacht, was sie anziehen, was sie sagen sollte. Um 12 Uhr würde sie ihren Vater treffen, an den sie sich nicht mehr erinnerte. Seit Mamas Beerdigung waren vierzehn Tage vergangen. Der Brief, den sie ihm mit der Todesanzeige an eine Adresse nach Basel geschickt hatte, war zurückgekommen: Adressat unbekannt. Da hatte sie den Mut gefunden, Mamas Schreibtisch und die Kontaktliste auf deren Natel zu durchsuchen, und war auf eine Nummer von Ferdinand Fischer gestoßen. Direkt anzurufen hatte sie sich nicht getraut. Wie hätte sie sich melden, was hätte sie sagen sollen? »Hoi, ich bin’s, deine Tochter!« Nein. Unmöglich. So etwas konnte man nicht zu einem Mann sagen, der Frau und Tochter verlassen und sich zwanzig Jahre nicht mehr gemeldet hatte, weder zu Weihnachten noch zu ihrem Geburtstag.
Fiona hatte oft an ihn gedacht und versucht, sich an sein Gesicht oder seine Stimme zu erinnern – vergeblich. Manchmal hatte sie geglaubt, sein Lachen zu hören, einen bestimmten Geruch zu riechen, den sie mit ihm verband. Aber im Laufe der Jahre war es mehr und mehr verblasst. Und Fotos von ihm gab es keine. Das hatte sie sehr traurig gemacht, denn sie hatte sich danach gesehnt, einen Vater zu haben, einen Papa, wie alle ihre Freundinnen. Selbst die, deren Eltern geschieden waren, hatten Kontakt zu ihren Vätern. Sie war die Einzige, die unter Frauen aufgewachsen war, wie in einem Kloster. Ihr ganzes Leben lang hatte sie allein mit ihrer Mutter und ihrer Näni in deren Haus im Heubeeriweg auf dem Zürichberg verbracht. Im Sommer waren sie zu dritt in die Toskana gefahren, im Winter Skilaufen im Wallis. Sie hatte die Ballettschule besuchen und Tennis spielen dürfen, und später hatte sie mit ihrer Clique im Sommer die Nachmittage im Strandbad Mythenquai verbracht. Es war kein schlechtes Leben gewesen, nein, aber eben ein vaterloses. Von ihrem Vater hatte ihre Mutter, wenn überhaupt, nur verächtlich gesprochen. Er hatte sie beide im Stich gelassen, so viel hatte Fiona begriffen. Als sie klein gewesen war, hatte sie geglaubt, er sei ihretwegen weggegangen. Irgendwann hatte sie herausgefunden, dass er nicht einmal Unterhalt für sie bezahlte. »Der grässliche Hunne! Deine Mutter wollte freiwillig kein Geld von ihm«, hatte die Näni einmal gesagt und gegrummelt, er sei sowieso ein komischer Typ gewesen. Durch diese Bemerkung hatte Fiona erst erfahren, dass ihr Erzeuger Deutscher war.
Die Tram stoppte an der Haltestelle Flunterner Kirche, Fiona stieg aus und wartete zusammen mit einer Gruppe japanischer Touristen auf die Tram der Linie 5, die bis hinunter zum Bellevue fuhr. Sie fand einen Fensterplatz im Mittelteil der Tram, die heute, am Sonntag, halb leer war. Fiona hatte den Namen »Ferdinand Fischer« bei Google eingegeben und ein paar Hunderttausend Treffer erhalten. Da sie keine Ahnung hatte, wo er lebte, wie er aussah und was er beruflich machte, hatte sie es bald aufgegeben. Schlussendlich hatte sie ihrem Vater eine SMS geschickt, an deren Wortlaut sie lange und sorgfältig gefeilt hatte. Zu ihrem Erstaunen hatte er, der vor zwanzig Jahren so sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwunden war, nur eine Stunde später geantwortet und war mit einem Treffen einverstanden gewesen. Um 12 Uhr im Café Odeon am Limmatquai hatte er vorgeschlagen, ausgerechnet. Ihr wäre ein ruhigerer Ort lieber gewesen, denn sie hatte so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte. Stellen musste. Außer ihm hatte sie schließlich niemanden mehr auf der ganzen Welt.
Die blau-weiße Tram rumpelte am Universitätsspital vorbei. Drei Haltestellen weiter, am Bellevue, stieg sie aus, schulterte den kleinen blauen Rucksack und überquerte die Straße. Ihr Magen krampfte sich vor Aufregung zusammen, als sie das Café betrat. Stickige Luft schlug ihr entgegen, es roch nach nasser Wolle, frisch gebrühtem Kaffee und Knoblauch. Jeder Platz am Tresen war besetzt, wie auch die meisten Tische. Fiona schob sich durch die Leute und blickte sich suchend um. Ganz hinten in der Ecke neben einem Haken, an dem Tageszeitungen in Holzklemmen hingen, war noch ein Tischchen frei. Ein Touristenpärchen hatte es auch erspäht, aber Fiona gewann den Wettlauf. Zehn vor zwölf. Sie hatte unbedingt etwas früher da sein wollen, um in Ruhe alle Männer studieren zu können, die ins Café kamen. Vielleicht würde er sie erkennen … wobei sie ihrer Mutter nicht im Geringsten ähnelte. Mama war brünett, klein und mollig gewesen, bevor der Krebs und zig Chemotherapien sie bis auf die Knochen ausgezehrt hatten. Fiona betrachtete sich in der verspiegelten Wand gegenüber und sah eine blasse junge Frau mit langem dunkelblonden Haar und großen blauen Augen, deren Gesicht zu knochig war, um wirklich hübsch zu sein. Erschöpft sah sie aus. Und so fühlte sie sich auch. Erschöpft und leer und kraftlos. Mamas lange Krankheit war auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen. Sie wog nur noch 51 Kilo, und das bei einer Größe von 1,76 m, alle Klamotten schlotterten um sie herum. Mama hatte sich geweigert, in ein Hospiz zu gehen, und Fiona hatte sie bis zum letzten Atemzug gepflegt. Selbst kurze Ausflüge zu MIGROS oder zur Apotheke hatte sie jedes Mal wie eine Befreiung empfunden und war sofort von schlechtem Gewissen gequält worden, wenn sie sich rasch einen Latte macchiato gegönnt oder ein Eis gegessen hatte.
»Hoi!« Ein junger dunkelhaariger Kellner blieb vor ihrem Tisch stehen. »Darf’s schon was sein?«
Fiona schreckte aus ihren Gedanken hoch und starrte ihn irritiert an.
»Äh … nein, ich … ich warte noch auf jemanden«, stammelte sie. Sie warf einen Blick auf ihr Natel. Punkt 12 Uhr. Das Café war voll, die Geräuschkulisse enorm hoch. Fiona war einen solchen Lärm und so viele Menschen nicht mehr gewohnt. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, hinaus an die frische Luft, und sie hoffte fast, er würde nicht mehr kommen. Doch in diesem Moment trat jemand an ihren Tisch. Fiona verspürte einen Stich der Enttäuschung bei seinem Anblick. Sie hatte nicht gerade George Clooney erwartet, aber auch nicht diesen schwammigen Mann Mitte fünfzig mit schütterem braunen Haar, das an den Schläfen grau wurde, einem konturlosen Allerweltgesicht und braunen Augen hinter den Gläsern einer Goldrandbrille. Seine Kleidung sah teuer aus, genauso wie die Uhr, die er am Handgelenk trug.
»Ich bin Ferdinand Fischer. Sind Sie Fiona?«, fragte er und schuf mit der Anrede eine Distanz, die Fiona entmutigte.
»Ja.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und stand auf. Seine Hand fühlte sich an wie ein toter Fisch und Fiona ertappte sich dabei, dass sie ihre Handfläche verstohlen an ihrer Jeans abwischte, als sie wieder saß. »Danke, dass du gekommen bist.«
Ein holpriger Beginn.
»Ja, gerne.« Er musterte sie mit unverhohlener Neugier, sodass sie sich unwohl zu fühlen begann. »Sie … äh … du bist eine schöne Frau geworden. Du erinnerst mich an die junge Uma Thurman.«
Fiona spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und sie senkte verlegen den Blick. Glücklicherweise kehrte der Kellner in diesem Moment zurück und bewahrte sie davor, darauf eine Antwort geben zu müssen. Ihr fiel auf, dass ihr Vater nicht in die Karte blickte, um seine Bestellung – Rindstatar Classic und ein Feldschlösschen vom Fass – aufzugeben; sie bestellte einen Schinken-Käse-Toast, das günstigste Gericht, und eine kleine Apfelschorle. Bis die Getränke und das Essen kamen, machten sie Konversation. Fiona erzählte, dass sie vor drei Jahren am MNG Rämibühl ihre Matura bestanden und sich an der Université de Fribourg für ein Studium der Mathematik eingeschrieben hatte, aber dann war die Mama krank geworden, und sie hatte ihre Pläne bis auf Weiteres auf Eis legen müssen. Was sie ihm nicht erzählte, war, dass Silvan und sie deswegen in Streit geraten waren. Sie hatte angenommen, dass ihre Mutter wieder gesund würde, aber das war nicht der Fall gewesen, und so hatte sie die letzten drei Jahre mit der Pflege der Schwerstkranken verbracht. Er hörte ihr aufmerksam zu, kondolierte ihr ohne echtes Mitleid und wollte wissen, ob ihre Großmutter noch lebe und sie nach wie vor im Haus in Fluntern wohne. Recht schnell kamen ihre Bestellungen, ihr Vater steckte sich die weiße Stoffserviette in den Hemdkragen und begann mit gutem Appetit zu essen. Fiona nahm das Besteck zur Hand und schnitt zögerlich eine Ecke des Toasts ab. Vorhin hatte sie Hunger gehabt, aber der Appetit war ihr vergangen.
»Bist … du öfter hier?«, erkundigte sie sich. Es fühlte sich komisch an, diesen Fremden zu duzen.
»Zwei bis drei Mal pro Woche«, antwortete er kauend. »Ich arbeite auf der anderen Seite der Limmat. Als Wirtschaftsprüfer.«
»Ach! Tatsächlich?« Fiona konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Der vertraute Schmerz aus Jugendtagen traf sie unvorbereitet mitten ins Herz. Ihr Vater arbeitete in Zürich! Vielleicht, nein, ganz sicher, war sie ihm schon ein Mal über den Weg gelaufen, denn Zürich war eine kleine Stadt! Weshalb hatte er sie dann in all den Jahren nicht ein Mal kontaktiert und sie besucht? Warum hatte sie mit dem Stigma der Vaterlosigkeit aufwachsen müssen? Und als Wirtschaftsprüfer verdiente er sicherlich genug Geld, um Unterhalt für sie zahlen zu können, wenn er sie schon nicht hatte sehen wollen! Ob Mama darüber Bescheid gewusst hatte?
»Wir wohnen auf der anderen Seeseite, in Wädenswil«, sagte Ferdinand Fischer beiläufig und häufte Tatar auf seine Gabel. »Mein Mann und ich haben uns dort vor ein paar Jahren ein Haus gekauft.«
Fiona starrte ihn so entgeistert an, als ob er sie in den Magen geboxt hätte. Mein Mann und ich … Kurz befielen sie Zweifel, ob sie überhaupt dem richtigen Ferdinand Fischer gegenübersaß. Was, wenn sie sich geirrt hatte? Aber nein, er musste es sein, denn woher hätte er sonst von ihrer Näni und dem Haus wissen sollen? Als ihr Vater ihre Fassungslosigkeit bemerkte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht.
»Sag bloß …«, begann er mit deutlichem Unbehagen, brach kopfschüttelnd ab und legte das Besteck beiseite. Er betrachtete sie. »Nein. Oh mein Gott. Du weißt es tatsächlich nicht.« Nun schien er fassungslos zu sein. »Ich hätte es wissen müssen, dass sie …« Er verstummte, wirkte plötzlich hilflos.
»Was weiß ich nicht? Und was hättest du wissen müssen?« Fiona kämpfte mit den Tränen und hasste sich dafür, weil sie sich nicht besser im Griff hatte. Dass mein weggelaufener Vater ein Schwuler ist, der all die Jahre keine fünf Kilometer von mir entfernt gelebt hat und mich trotzdem niemals sehen wollte? Ihre Stimme bebte. »Hast du deswegen keinen Unterhalt bezahlt und mich nie besucht? War ich dir … peinlich? Hast du dich geschämt, vor deinem Mann, dass du ein Kind hast?«
Den letzten Satz hatte sie fast geschrien, und die Leute an den Nachbartischen guckten neugierig herüber, doch das bemerkte sie nicht.
»Fiona, bitte!« Dem Mann, den sie für ihren Vater hielt, war die ganze Situation sichtlich unangenehm. Er streckte besänftigend die Hand aus, aber sie zuckte vor ihm zurück. »Es war alles ganz anders!«
»Ich will es nicht hören! Es tut mir leid, dass ich dich kontaktiert habe!« Tränenblind raffte sie ihre Sachen zusammen, stopfte das Natel in ihren Rucksack und ergriff ihre Jacke. Keine Sekunde länger konnte sie das alles ertragen! Sie musste weg von hier, hinaus, an die frische Luft.
»Warte, Fiona!«, bat Ferdinand Fischer sie eindringlich und erhob sich halb, die Serviette noch immer im Hemdkragen. »Du musst die Wahrheit erfahren, wenn sie sie dir nicht erzählt hat! Ich bin nicht dein Vater! Und Christine war auch nicht deine Mutter!«