Impressum:
1. Auflage 2018
©opyright 2018 by Autor
Covergestaltung: Bettina Schwaigert
Korrektur: Simon Schwaigert
Lektorat und Satz: Denise Bretz
ISBN: 9783957910936
eISBN: 9783957910943
Alle Autorinnen und Autoren stellen ihr Honorar dem Projekt »Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge« zur Verfügung. Initiiert von Amnesty International wird hier versucht Menschen mit Traumaerfahrung durch therapeutische Angebote wie Musiktherapie eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen.
Weitere Informationen unter:
www.amnesty.de/hilfe-fuer-traumatisierte-fluechtlinge
Unsichtbar Verlag | Dieselstr. 1 | 86420 Diedorf
27 + 1 erleuchtende Liebeserklärungen an die Popmusik
herausgegeben von Marc Huttenlocher
und Sebastian Schwaigert
DIE IDEE ODER WIE ES DAZU KAM
DIE MINEN VON MORIA
Berni Mayer
THE NEW CHRISTY MINSTRELS
Deniz Jaspersen
SCHÖN DICH ZU SEHEN, ANGELA.
Dota
I’VE BEEN LOOKING FOR POPMUSIK
Marc Huttenlocher (Go Go Gazelle)
JEDER SCHEITERT SO GUT ER KANN
Guido Scholz (Kapelle Petra)
WASCHEN, LEGEN UND MUSIKGESCHMACK
Hirsch (Montreal)
RADLERHOSENAXL
Koje
VON MÜSSEN, DÜRFEN, WOLLEN UND KÖNNEN
Ingo Knollmann (Donots)
WIE DER SCHERBEN-BASSIST SEINEN BASS ENTDECKTE
Kai Sichtermann (Ton Steine Scherben)
SMELLS LIKE HEIMORGEL
Mambo Kurt
ONKEL DIETERS KELLER
Oliver Uschmann
ZWISCHEN VERGILBTEN BOOKLETS
Jänz Jensen (Staatspunkrott)
DIE KASSETTE IST TOT
Tomas Tulpe
LOVE HURTS
Max Richard Leßmann
ICH DARF DAS TATSÄCHLICH BERUFLICH MACHEN ?!?!
Sibbi (Itchy)
ES KAM, WIE ES KOMMEN MUSSTE …
Stefan Üblacker
ALS CHRIS CORNELL DA VORNE STAND
Sebi Beyer (Massendefekt)
ICH HASSE UND LIEBE SIE
Charly Klauser
MEIN EINSTIEG IN DIE POPMUSIK ODER: »WIE BON JOVI MEIN LEBEN VERÄNDERT HAT«
Marco Pogo (Turbobier)
WIESO AUSGERECHNET EIN KOMPLETT LEERES BLATT PAPIER DARAN SCHULD SEIN SOLL, DASS MIR MUSIK AN SICH GAR NICHT SO WICHTIG IST.
Weiherer
POGO MIT VATTERN IN DER STADTHALLE
Oliver Arnold (Radio Havanna)
JON, JIM, BRUCE & HARTMUT
Mario Radetzky (Blackout Problems)
POPSTARS VOL. 99
Florian Kiesling (Van Holzen)
JUST LIKE HEAVEN
Tommy Finke
WELCOME TO PARADISE
Jo Halbig (Killerpilze)
DAS WENDLAND
Sascha Madsen (Madsen)
EIN CREDO FÜR DEN RHYTHMUS
Stoppok
PSYCHO KILLER
Vom Ritchie (Die Toten Hosen)
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN
DANKSAGUNG
Sebastian Schwaigert und Marc Huttenlocher sind Musiker, Geschichtenerzähler und fungieren bei Potzblitz als Initiatoren, Jäger und Sammler. Nach einem gemeinsamen Auftritt mit ihrer Band lagen beide im selben Doppelbett. Aufgekratzt und hundemüde, ambitioniert noch ein Bier aufmachen, dann aber nicht austrinken und quasseln. Das hatte sich in 15 gemeinsamen Jahren des Musizierens zu einer schönen Tradition entwickelt. Selten wurde diese Gewohnheit zum großen Treffen der Philosophen, aber allzu oft schmiedete man ganz kindlich Pläne für die Zukunft oder sinnierte über Vergangenes.
»Man müsste den ganzen Kram mal in einem Buch festhalten«, stammelte Sebi.
Hutti nickte und schlief ein.
In den allermeisten Fällen verlässt diese Art der Pläne wenn überhaupt nur bruchstückhaft das Hotelzimmer. Die Idee zu Potzblitz aber hat es als Ganzes überlebt und strahlt uns nun – ziemlich genau ein Jahr nach der Initialzündung – als Sammlung von 27 + 1 Texten über erleuchtende Liebeserklärungen an die Popmusik entgegen.
Um allen Dogmatikern gleich im Vorfeld das Wasser abzugraben: Dies ist kein Sachbuch über Popmusik – keine Erhebung oder wissenschaftliche Abhandlung. Es stellt vielmehr den einzelnen Menschen in den Vordergrund – seine ganz individuelle und subjektive Beziehung zu eben jener Popmusik, die bezüglich Genre und Stilistik so weit wie möglich definiert ist und von der man annimmt, dass sie unterhalten, bewegen und dabei möglichst viele Menschen erreichen möchte. Ob Popmusik nach John Miles nun die erste und letzte große Liebe im Leben ist, muss jeder für sich entscheiden. Für alle am Buch beteiligten Künstlerinnen und Künstler ist sie jedenfalls ein ständiger Begleiter und sprudelt unermüdlich und in regelmäßigen Abständen besondere Momente und Erinnerungen an die Oberfläche. Sollte es bei dir, liebe Leserin und lieber Leser, durch die Texte von Potzblitz nun auch zu sprudeln beginnen, dann kann das nur gut sein.
Viel Vergnügen!
von Berni Mayer
Bofrost, Bertelsmann und Beatles.
So lauteten die Koordinaten meiner mittleren Kindheit im Ödland Niederbayerns, am Rande des sogenannten Gäubodens, wo sich Fuchs und Hase gar nicht »Gute Nacht« hätten sagen können, weil sich in der vollkommen von Nutzfeldern overdubbten Landschaft längst kein Tier mehr blicken ließ.
Für die Jüngeren: Bofrost war ein Tiefkühl-Lieferant und der Tiefkühl-Lifestyle galt auch vor Tschernobyl schon als schick. Jahre bevor die zwangseingedeutschte italienische Küche ihren Siegeszug in Form von Parmesan zum Selberreiben, Espresso-Maschinen und abgepackter Mortadella antrat, freuten sich Hunderttausende von Menschen auf ihren wöchentlichen Kühllaster mit geschmacksarmen Kroketten, uniform verpacktem Wassereis und geriffelten Tiefkühlpommes. Wir Kinder stürmten vom geringsten Motorengeräusch euphorisiert vor die Haustür, um dem Bofrost-Fahrer den ihm gebührenden Hoflieferanten-Empfang zu bescheren.
Wenn nicht bei Bofrost bestellt wurde, dann beim Bertelsmann Buchclub, oft der einzige Zugang zur Weltliteratur, wenn man grade nicht von der Kunsthandwerk betreibenden Tante den neusten Kleinen Vampir geschenkt bekam und sich heimlich vor dem brachialen Lumpi gruselte.
Im Bertelsmann Buchclub, so scheint es mir zumindest im Nachhinein, gab es fast ausschließlich teure Hardcover-Varianten von Bestsellern mit hässlicherem Einband. Das hielt meinen sonst nur Stern lesenden Vater (bis zu den Hitler-Tagebüchern zumindest) natürlich nicht davon ab, sich alle drei Teile vom Herrn der Ringe zu bestellen und nach ein paar Wochen wegzulegen.
»Was ist denn das?«, fragte ich ihn. »Das ist zu kompliziert für dich«, antwortete er.
So galt meine Aufmerksamkeit zunächst den Winnetou-Hörspielen, die ich deshalb so grandios fand, weil der furchtbare Filmtod von Pierre Brice dort auf wunderbare Weise negiert worden war und er als Elder-States-Apache weiter die Silberbüchse auf gehässige weiße Wild-West-Faschisten richten durfte. (Nicht, dass ich damals schon gewusst hätte, was Faschisten sind.)
Nach Winnetou kamen die Beatles. Das rote und das blaue Best-of-Album faszinierten mich vor allem optisch. Nicht nur die mystische Wandlung von den süßen Buben auf der roten Platte in die bedrohlich unstetig wirkenden Langhaarigen auf der blauen (Paul mal ausgenommen), sondern auch wie ein und dieselbe Band so unglaublich unterschiedlich klingen konnte. Biografischen Wandel, Zeitgeist und Timeline bedachte ich dabei natürlich nicht. Ich hörte zwischen beiden Platten hin und her und trotz Begeisterung für Penny Lane, Ob-La-Di, Ob-La-Da und Hey Jude (minus Coda) waren mir die langhaarigen Beatles zunächst einfach nicht fetzig und direkt genug.
Und wenn ich nicht grade bei einem Botinchen (im Grunde ein Fürst Pückler am Stiel) die Beatles hörte, dann sang ich Mark Knopflers handgezupft nachhaltige Soli von der ersten Dire Straits mit, denn in unserer Bertelsmann-Blase (in der man auch Musikkassetten kaufen konnte) gab es so etwas wie ein aktuelles Popgeschehen nicht.
Doch ähnlich wie Frodo irgendwann mit den Gefährten aufbricht, um den Ring nach Mordor zum Recycling-Hof zu bringen, so brach auch ich irgendwann auf, um mich der Welt des an sich recht stilsicheren elterlichen Plattenschranks zu entziehen und mich den Gefahren der synthesizerregierten Radiomusik auszusetzen.
Five easy steps to pop doom:
1. Die klassische Einstiegsdroge. Martina, die burschikose, aber liebenswerte einbeinige Tochter unserer Haushaltshilfe – die konnten wir uns als alter Klempner-Adel leisten – fing an, mir heimlich die BRAVO zu leihen, die zu der Zeit offenbar ausschließlich über eine Teenie-Band mit dem nachvollziehbaren Bandnamen The Teens zu berichten wusste. Ergänzend dazu kaufte ich mir beim lokalen Bäcker manchmal die Pop/Rocky, von der ich meinen Eltern weismachte, sie wäre nicht so »wild« wie die BRAVO.
2. Es war wieder Martina, die mir irgendwann ein gutes Dutzend Knibbelbilder in die Hand drückte. Coca-Cola hatte damals in seinen Flaschendeckeln Bilder von Popstars samt Songtitel versteckt, und nur durch chirurgisch präzise Herangehensweise konnte man diese zu Sammelzwecken entfernen. Indem ich die Knibbelbilder bald selbst sammelte (ich taumelte von einem Cola-Rausch zum nächsten) und immer wieder in fiktiven Charts anordnete, lernte ich früh altherrenorientierten Rock wie Fleetwood Mac, REO Speed-wagon und Donovan kennen, selbst wenn ich manchmal erst Jahre später die dazugehörigen Songs hörte.
3. Jeden Freitagabend liefen auf Radio Bayern 3 die sogenannten bayerischen Top Ten und in der halben Stunde vorher die Neuzugänge bzw. Vorschläge. Das Platzierungssystem hab ich bis heute nicht verstanden. Gab es ein Hörerbrief-Voting, waren das tatsächlich die Verkaufscharts von Garmisch-Patenkirchen bis Bad Kissingen oder hatte der bierernste Moderator Thomas Brennicke das letzte Wort? Eher nicht, sonst hätte er nicht so eindringlich vor Falcos Jeanny gewarnt und über Bruce & Bongos Geil hergezogen und uns Hörer belehrt, dass diese Vokabel noch vor gar nicht allzu langer Zeit mit einem Paradigma der Unzüchtigkeit konnotiert gewesen war. Nun kam wieder Martina ins Spiel, die mir zeigte, wie ich diese Songs nicht nur jeden Freitag hören und mir dabei neunzig Minuten jeglichen Harndrang verbeißen konnte, sondern wie man sie auf Kassette aufnahm und »on demand« wieder abspielte. Ich denke, »on demand« hat sie nicht gesagt. Mein erstes Erfolgserlebnis war die Aufnahme von Kleine Taschenlampe brenn, der Kollaboration von Nena und Markus, wobei die ersten Sekunden fehlten, weil ich vor lauter Aufregung die gar nicht so komplexe Tastenkombination aus der roten Rec- und der schwarzen Play-Taste vergessen hatte.
4. Jetzt, da ich im Eiltempo zum Chart-Connaisseur geworden war, wollte ich natürlich auch so etwas wie eigenen Geschmack unter Beweis stellen. Mein Vater hatte mir einen alten NDW-Sampler mit dem Titel Tanz mit dem Herzen auf Kassette geschenkt und ab da war NDW mein Jam, wenn auch ein paar Jahre zu spät. In der Kreishauptstadt Straubing eröffnete zu der Zeit gerade ein neuer Levis-Laden, der zur Feier des Tages einen Sampler in grünem Vinyl für 10 DM verkaufte, auf dem jeweils zwei Songs von Nena, Hubert Kah, Relax und Markus drauf waren. Meine erste Schallplatte, Jesus fuckin᾽ Christ, und dann auch noch in grün. Ich war kein Beatles-Hobbit mehr, das elterliche Auenland lag hinter mir, ich hörte jetzt echte Musik, zu dem auch der Rest von Mittelerde abgroovte, um᾽s mal anachronistisch auszudrücken.
5. Auch mein Radiokonsum wuchs schnell über die bayerischen Charts hinaus und nahm geradezu manische Züge an, wenn ich ab 15:00 Uhr mein Zimmer absperrte, um in Ruhe die Gottschalk-Show zu hören, gefolgt von der Jauch-Sendung und eigentlich weiter bis 20:00 Uhr, um dann religiös Pop nach Acht mit Claus Kruesken oder Peter Illmann zu folgen, um gegen neun in halblegaler Uhrzeit unter der Decke mit Kopfhörer Stellung für Fritz Egners Fritz and Hits zu beziehen.
In diesen Tagen kristallisierte sich die eigentliche Bedeutung von Pop für mein Leben heraus. Eine hyperindividuelle Bedeutung, die über die Vorstellung eines guten Songs oder eines Mitsing-Refrains hinausging: seine cineastische Qualität, die letztlich zum einzig ausschlaggebenden Kriterium dafür wurde, ob mir Musik damals gefiel oder nicht.
Dabei musste die Musik nichts Filmisches im herkömmlichen Sinne haben, keinen Refrain wie ein Sonnenuntergang, sie musste nur Bilder in mir heraufbeschwören können, die so lange lebendig blieben, so lange der Song dauerte, und immer wieder lebendig wurden, sobald man ihn erneut abspielte. Sie musste Emotionen konservieren wie Bofrost Kalorien und jede neue Lieferung musste ein Erlebnis sein, bei dem man in Vorfreude aus seinem geistigen Haus stürmte, um dem Lieferanten, also dem Radiomoderator, den gebührendsten Empfang zu bereiten.
Die Geschichten, die Musik in diesen Werktagsnächten Mitte der Achtziger heraufbeschwor, sollten noch früh genug von narzisstischem Gedankengut und Sinnsuche versaut werden. Doch bis es soweit war und das Gift namens Liebeskummer Einlass in mein Leben gefunden hatte, blieb ich vorerst unschuldige und positivistische 11 Jahre alt und die Musik des Jahres 1985 erfüllte nur einen Zweck: Sie bildete den Soundtrack zum Herrn der Ringe.
Ich habe für diese Kurzgeschichte im Vorfeld etliche Songs notiert, ohne zu wissen, in welchem Jahr sie als Single veröffentlicht wurden. Ihre einzige Gemeinsamkeit sollte nur sein, dass ich selbst heute noch Tolkiens mythologische Modelleisenbahn-Welt vor Augen habe, wenn ich sie höre. Vor allem Frodos und Sams ersten schwierige Wochen auf der Flucht vor den Ringgeistern, den Weg durch die Minen von Moria samt *Spoiler* Gandalfs Höllensturz, die erste Begegnung mit dem mysteriösen Streicher, die betrübliche Aufspaltung der Gefährten, die trostlosen Szenarien und wenigen »Hope Spots« auf dem Weg in den großen Krieg von Mittelerde.
Ich habe diese Songs nachgeschlagen und festgestellt, dass sie alle im Jahr 1985 erschienen sind. All diesen Songs ist eine gewisse, manchmal auch frappierend direkte Melancholie gemein. Sie deuten Trauer, Abschied und sogar Tod an. Spielen in einer beschädigten Welt, die aber nicht aufhört, auf Besserung zu hoffen. Eine Welt, an die ich mich mittels der Musik ganz gut erinnern kann. Eine Welt im Kalten Krieg, in der man keinem Russen traut, eine Welt in Angst vor Asylanten und RAF-Terroristen, eine Welt mit Waldsterben und saurem Regen, Gudrun-Pausewang-Büchern und Atombomben. Die Tiefkühlwelt meiner Kindheit auf dem Weg in eine noch frostigere Zukunft. Ein Weg, eine Wanderschaft in die unheilverkündenden Minen von Moria, eine Reise in die Nacht. Begleitet von den Commodores und ihrem jenseitigen Nightshift, der traurigen Liebe in Kool & The Gangs Cherish, dem unheilversprechenden All You Zombies von den Hooters (Re-Release wohlgemerkt) und der melancholischen Verwirrung und Verklärung der Vergangenheit in Marillions Kayleigh. Mit dem spröden Optimismus von A-has Take On Me, dem Phönix-Aus-der-Asche-Blues in Mr. Misters Broken Wings und Bruce Springsteens sehnsüchtigem I’m On Fire.
Bofrost, Bertelsmann und Beatles wurden irgendwann abgelöst von frischem Parmesan, der Buchhandlung Pustet und Powermetal, doch die Zeit, in der Musik angefangen hat, mir nachts Geschichten zu erzählen und meinen Marsch durch Mittelerde zu begleiten, wird für immer tiefgefroren und jederzeit bei Bedarf auftaubar bleiben. Und genau so habe ich auch weiter und Tolkien-unabhängig Musik gehört, denn so habe ich es mir beigebracht. Jeder Song, der mir je was bedeutet hat, speichert eine Geschichte, ein Lebensgefühl und den Teil einer – meist gefahrvollen – Reise durch die eigene Biografie ab. Wie ein gespeicherter Spielstand. Oder um’s altmodischer auszudrücken: wie ein Lesezeichen in einem Buch vom Bertelsmann-Buchclub.
von Deniz Jaspersen
Im Grunde muss man sich schon fragen, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie behaupten, man solle sich das innere Kind bewahren. Kinder sind ja eigentlich ziemlich rücksichtslose kleine Menschen. Sie sind natürlich niedlich und viele sind auch ganz nett, aber wir sind uns doch wohl einig darüber, dass das innere Kind eigentlich ein ziemlicher Arsch ist. Wir sind quasi seit Geburt der perfekte Turbokapitalist. Ich, ich, ich, Nutzenmaximierung, Gewinnmaximierung, eigene Interessen durchsetzen. Ein Kind ist sozusagen fleischgewordene Ellbogengesellschaft.
Wieso sollte man sich das bewahren? Auch der Satz »Ich habe geschlafen wie ein Baby« ist doch völlig irreführend. Jeder, der schon mal eine Nacht mit einem Baby in der Wohnung verbracht hat, weiß, dass die ständig aufwachen, weinen und dann irgendwas wollen. Das ist doch keine gute Nachtruhe. Also, auch aus der Perspektive des Babys, meine ich. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Gemeint ist der offene, unverdorbene Blick, der einem hilft, die Leichtigkeit zu bewahren. Es ist ja in vielerlei Hinsicht auch gut, viele Dinge nicht zu wissen. Vermutlich hat die analytische Herangehensweise weite Teile meines künstlerischen Schaffens ruiniert. Gerade bezogen auf Kreativität würde ich mir persönlich wünschen, weniger zu wissen.
Meine musikalische Früherziehung lieferten Fredrik Vahle und Rolf Zuckowski. Diese Musik habe ich mir natürlich nicht ausgesucht, sondern sie wurde mir vorgesetzt. Wenn man als Kind Musik hört, ist das im Grunde wie in der Küche: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Als Kind ist man auch in diesem Bereich seiner Umwelt hilflos ausgeliefert. Meine eigentliche – da selbstgewählte – musikalische Erziehung begann aber mit den New Christy Minstrels.
The New Christy Minstrels sind eine kalifornische Folkband, die 1960 von dem Musiker Randy Sparks gegründet wurde. Sie spielte eigene Lieder, aber überwiegend Cover Songs und Traditionals. Zu Bestzeiten bestand sie aus 14 Leuten, die Besetzung variierte aber stark. Angeblich hatte die Gruppe über die Jahre knapp 300 verschiedene Mitglieder. Darunter auch bekannte Namen wie Kenny Rogers oder Gene Clark von den Byrds. Berühmtestes Mitglied war jedoch John Deutschendorf, der später unter dem Künstlernamen John Denver Karriere machte. Ihr gleichnamiges Debütalbum wurde 1962 in der Rubrik »Beste Performance von einem Chor« sogar mit einem Grammy ausgezeichnet. Zu ihren größten Erfolgen zählte vor allem der Song Green, Green, der in mehreren Sprachen und unter anderem auf Deutsch eingesungen wurde. Bei uns zuhause befand sich kein ganzes Album der Band sondern eine 7“ von dem Lied Three wheels on my waggon. Die B-Seite war das, für Hundeliebhaber durchaus empfehlenswerte, Traditional They gotta quit kickin᾽ my dog around. Three wheels on my waggon erschien erstmals 1961 und wurde ursprünglich für Dick van Dyke geschrieben. Die Autoren waren Bob Hillard und niemand geringerer als Burt Bacharach. Es war sogar Bacharachs erste offiziell erscheinende Auftragsarbeit. In dem Lied geht es um amerikanische Siedler, die von Cherokee-Indianern verfolgt werden. Der Planwagen verliert in jeder Strophe ein weiteres Rad. Das Lied ist – anders als man jetzt denken könnte – ein sehr lustiges. Der Prechorus endet immer mit: »but I am singin᾽ a happy song« und dann kommt der Refrain:
higgity haggity hoggity high
pioneers they never say »die«
a mile up the road there’s a hidden cave
and we can watch those Cherokees
go gallopping by
Das klappt natürlich nicht und als alle Räder weg sind, nehmen die Cherokee die Pioniere gefangen. Dann singen aber alle gemeinsam den Refrain. Also die Siedler singen und die Indianer machen das übliche Indianergeräusch, das entsteht, wenn man einen hohen Ton ruft und sich dabei immer wieder auf den Mund klopft. Ich weiß, was Sie jetzt denken, und Sie haben Recht: Ja, das ist ziemlich rassistisch! Aber sehen Sie mir nach, dass ich das Lied an dieser Stelle nicht weiter historisch oder soziologisch einordnen und die lange und traurige Geschichte der amerikanischen Ureinwohner nicht weiter beleuchten kann.
Die Version des Liedes der New Christy Minstrels ist von 1964 und war viel erfolgreicher als das Original. Mein Vater kaufte die Single Ende der Sechziger während seines Studiums in Linz. Er mochte das Lied sehr gerne und vermutlich habe ich es durch ihn das erste Mal gehört. Ich weiß nicht, was genau mich zu dieser Musik gezogen hatte, aber diese Platte war die erste Nicht-Kindermusik, die ich selbständig aufgelegt habe, um sie zu hören. Ich tat dies im Zimmer meiner Schwester, da sie den Plattenspieler in unserer Familie annektiert hatte. Sie hörte darauf wochenlang In the Ghetto von Elvis Presley in Dauerschleife. Damals fiel mir die Ironie, dass ausgerechnet dieses Lied permanent aus einem wohl betuchten Jugendzimmer in Hamburg West schallte, noch nicht auf. Ich fand es einfach so nur scheußlich. Auch Alexandras Mein Freund der Baum war bei ihr hoch im Kurs. Später kam eine kurze Pur- gefolgt von der obligatorischen Hosen- bzw. Ärzte-Phase. Dann viel türkische Musik, die sie von meiner Mutter kannte, und danach vor allem die mexikanische Band Mana, die hierzulande zwar niemand kennt, aber in Südamerika absolute Megastars sind.
Meine Eltern wiederum hatten nicht unbedingt den versiertesten Musikgeschmack. Meine Mutter wuchs in Istanbul auf und schwärmte in ihrer Jugend für den belgischen Sänger Adamo. Hoch im Kurs war bei ihr auch der Überhit Mama von Heintje. Auch davon gab es eine 7“ im Plattenregal. Auf dem Cover war ein Portrait von Heintje wie er in ein Stück Schokolade beißt. Ich fand das damals schon total quatschig. Wer beißt denn in ein Stück Schokolade? Das steckt man sich doch komplett in den Mund. Einen Riegel, ja, in den beißt man. Aber doch nicht in ein einzelnes Stück. Naja, es soll ja auch Menschen geben, die Schokolade im Mund zergehen lassen. Ich kann Ihnen versichern: In meinem Mund ist noch nie irgendwas geschmolzen. Für meine Mutter ist Musik ohnehin nicht unbedingt identitätsstiftend, sondern eher dazu da, um Emotionen abzurufen. Bei trauriger Musik schwelgt sie mit genüsslichem Blick tief in Erinnerungen und schunkelt dabei hin und her. Bei fröhlicher Musik beginnt sie umgehend zu tanzen. In meiner späteren Jugend hörte sie hauptsächlich türkischen Pop. Sezen Aksu, Kayhan, Tarkan usw.
Mein Vater wiederum hatte eine große Leidenschaft für Country und Folk, die meine Mutter zwar nicht teilte, aber tolerierte. Außerdem pflegt er eine große Liebe für Leonard Cohen. Wenn wir Gäste hatten und er ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte, legte er oft Cohen auf. Damit allen die Tragweite der, zugegebenermaßen ausgezeichneten, Texte bewusst wurde, hat er dann immer in den Gesangspausen die vorherige Zeile wiederholt und so das ganze Lied mitgesprochen. Mir war das immer sehr peinlich. Meine erste Berührung mit Country war John Denver. Nebenbei bemerkt war auch mein erstes Konzert eines von John Denver. Ich kann mich offen gestanden aber nur an Country Roads erinnern und an eine Stretch-Limo, die in der Garage des CCH stand. Mein Vater fand auch so Sachen wie Kenny Rogers gut, der ja witzigerweise auch bei den Minstrels gespielt hat. Außerdem liegt er mir bereits mein ganzes Leben in den Ohren, weil er ein Lied sucht das irgendwie »No News on Radio Africa« enthält. Ich habe das ganze Internet abgesucht, es aber nie gefunden.* Ich glaube, das gibt es gar nicht. Als wir mal nach Namibia in den Urlaub gefahren sind, hat mein Vater einen ganzen Koffer voll mit Countrykassetten mitgebracht. Im Nachhinein glaube ich, er hatte die zweifelsfrei romantische Vorstellung, in der Weite Afrikas mit dem Bulli durch die Wüste zu fahren und dabei Country zu hören. Kann ich heute offen gestanden auch gut nachvollziehen. Wir haben in den fünf Wochen genau keine dieser Kassetten gehört, sondern nur die Mixtapes meiner Schwester. Wir Kinder fanden Country total bescheuert und haben die ganze Zeit gemeckert. Im Nachhinein tut mir das sehr leid. Aber das ist eben genau so ein Beispiel für rücksichtsloses Verhalten von Kindern.
Das vermutlich fünf- bis sechsjährige Ich ist also im Zimmer meiner Schwester und legte alleine besagte Platte der Minstrels auf. Ich weiß zwar nicht mehr, welches Lied ich besser fand, aber ich erinnere mich, dass ich sofort zu tanzen begann. Wer die beiden Lieder hört, wird es verstehen, denn sie sind beide enorm heiter und tanzbar. Allerdings gingen nicht nur meine Beine, sondern auch mein Kopf an. Und in diesem Kopf schwemmte sich ein Gedanke ins Bewusstsein: Bühne. Ich stellte mir vor, dieses Lied aufzuführen. Nein, ich wurde Teil der Minstrels. Natürlich der Frontmann. Ich hatte eine Gitarre in der Hand und spielte. Allerdings kannte mein sechsjähriger Geist keine Konzerte. Es gab für mich noch keine Tourneen, Festivals, Bookingagenturen, Plattenfirmen oder so. Also brachte mich meine Performancefantasie zum einzigen Publikum, das mir bekannt war: Das Traumschiff. Wieso um Gottes Willen das Traumschiff? Ich kann es nicht sagen. Ich habe das nicht mal oft gesehen. Vielleicht hatte ich es auch nur an diesem Tag mal zufällig eingeschaltet. Eventuell war in dieser Folge ja auch eine Band aufgetreten. In meiner Vorstellung waren auf jeden Fall Unmengen von Leuten da und sahen zu. Und glaubt mir, ich konnte liefern. Vor mir das Publikum und natürlich auch der Kapitän. In meiner Erinnerung sieht der dicklich aus, hatte eine blaue Uniform und einen weißen Bart. Aber vermutlich vermische ich da was mit Kapitän Iglo. Denn wie ich bei meiner oberflächlichen Recherche im Vorfeld zu diesem Text herausgefunden habe, sieht Günther König überhaupt nicht so aus und hat auch gar keinen Bart. Er hatte nicht mal eine blaue Uniform. Aber vielleicht ging es ja auch gar nicht um den Kapitän selbst, sondern um Anerkennung. Nicht von irgendwem, sondern von den richtigen Leuten. Vielleicht war es aber auch meine geheime Hörigkeit vor Autoritäten. Ich überlasse diese Fernanalyseaufgabe allen, die sich berufen fühlen, sie zu erbringen. Viel wichtiger aber waren zwei Dinge, die mir schlagartig klar wurden: Ich möchte auf die Bühne und ich will Musik machen. Mir fehlte nur noch eine Gitarre. Das war einfach zu lösen, da mein Bruder eine hatte. Ich musste sie also nur noch bedienen lernen. Das wiederum stellte sich als Lebensaufgabe heraus. Zunächst musste ich meine Eltern bewegen, mir Unterricht zu bezahlen. Sie bestanden allerdings darauf, dass ich Geigenunterricht nehme. Also ging ich diesen Umweg, bis die Lehrerin meine Mutter anrief und ihr sagte, der Junge solle doch lieber Gitarre spielen. Mein erster Gitarrenlehrer hieß Nicos Apostolidis und unterrichtete klassische Gitarre. Nicos hat auch eine beeindruckende Menge an Platten veröffentlicht. Ich empfehle vor allem Samenkorn. Ach, wäre ich doch nur ein Jahr länger dortgeblieben. Vielleicht wäre ich ja wirklich gut geworden und hätte tatsächlich Noten lesen gelernt. Meine musikalischen Ambitionen wurden aber schon bald auf die Probe gestellt, da eine viel größere Macht in mein Leben trat.
Wenn etwas Großes passiert, ist man sich in dem Moment, in dem es geschieht, dessen ja oft gar nicht bewusst. So hat mein Bruder sicher auch nicht gedacht, dass er mein Leben für immer verändern würde, als er mir die Liveplatte Bis zum bitteren Ende von den Toten Hosen in die Hand drückte. Aber mit einem Schlag war nichts mehr wie es war. Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein und als ich Liebeslied