Für Zoë Anne
Alle glücklichen Familien gleichen einander.
Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.
Leo Tolstoi, ›Anna Karenina‹
Marilyn Monroe stirbt an Tabletten-Überdosis
Jamaika feiert Unabhängigkeit
Nelson Mandela wegen unerlaubten Grenzübertritts in Südafrika verhaftet
Trenton, New Jersey: Stromausfall im St. Mercy Hospital
Auffahrunfall an der New Jersey Turnpike: zwölf Fahrzeuge beteiligt, schlimmster Unfall in der Geschichte des Staates
Das schwangere junge Mädchen betritt schwankend die Trenton Family Clinic. Sie sieht aus, als hätte sie das Rote Meer geteilt, um dorthin zu gelangen. Die untere Hälfte ihres Kleides ist von Fruchtwasser durchtränkt, die obere Hälfte fleckig von Schweiß. Sie steht im Wartezimmer neben dem Aufnahmeschalter, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und atmet schnell und stoßweise. Kein Ausweis, keine Versicherungskarte. Der gesamte Inhalt ihrer Plastikhandtasche: ein Dollar neununddreißig, eine halbe Rolle bunte Necco-Wafers, ein angekauter Bleistift und ein Halskettenanhänger in Form einer Hand mit einem Auge in der Mitte. Das Mädchen ist sechzehn, vielleicht siebzehn, hat schneeweiße Haut und schwarzes Haar. Sie riecht nach Tabak und Kräutern, die man nicht in einem Supermarkt kaufen kann. Ein stechender Schmerz durchfährt sie, so stark, als würde ihr das Fleisch von den Knochen gerissen. »Hey!«, keucht sie und hält sich an Ablage des Schalterfensters fest. »Hey, ist da wer?«
Doch da ist keiner, jedenfalls keiner mit weißem Kittel, Häubchen oder Namensschild. Die, die da sind, sitzen oder stehen herum, pressen Handtücher auf Wunden und wirken benommen oder verängstigt. Ein älterer Mann in einem Hausmeisterkittel müht sich ab, einen dicken Kerl zunächst von einem Stuhl zu ziehen, dann zu schieben, um ihn auf eine Liege zu bugsieren. Der Patient hat einen Schuh verloren und Blutspritzer auf der Hose. Bei einem seiner Versuche taumelt der Hausmeister gegen die Liege, so dass sie gegen eine Wand stößt.
»Schwester?«, ruft das Mädchen.
Schon an einem normalen Tag hätten sich die Krankenschwestern nicht darum gerissen, diesem Mädchen zu helfen. Sie werden ständig mit armen Kindern wie ihr konfrontiert, wobei die normalerweise nicht weiß sind, nicht in dieser Gegend. Aber dies ist kein normaler Tag. Es ist ein Arschkarten-Sonntag, an dem der größte Teil des Klinikpersonals freihat, im Kino sitzt oder die Füße ins Wasser hält, irgendwo, wo sie der Rekordhitze dieses Augusts entfliehen können. Die Krankenschwestern und der einzige Bereitschaftsarzt sind hinten im Einsatz, überrannt von Traumapatienten – Opfern einer Massenkarambolage –, die aufgrund eines Stromausfalls im St. Mercy’s General Hospital hierhergebracht wurden, weil dies die einzige medizinische Einrichtung im Umkreis von vielen Meilen ist.
Das Mädchen befürchtet, ohnmächtig zu werden. Der einzige Ventilator hat längst den Geist aufgegeben; die Luft ist stickig und riecht rostig nach Blut, nach Bleichmittel und irgendwas Ekligem, das eben jemand über den ganzen Fußboden gekotzt hat. Ein junger Mann, der hier als Hilfspfleger arbeitet, schlurft mit Eimer und Mopp herbei und verteilt die Kotze, so dass sie bis kurz vor die nackten Füße des Mädchens schwappt. Sie drückt sich näher ans Fenster, gerade rechtzeitig vor der nächsten Wehe, die diesmal schmerzhafter, länger und schwerer auszuhalten ist. Die Augen der Aushilfe huschen vom Fußboden zu dem Mädchen. Er kann die dunklen Höfe ihrer Brustwarzen durch den dünnen Stoff ihres Kleides sehen. Das Mädchen stöhnt, und der Junge senkt rasch den Blick.
»He, du!« Eine Krankenschwester, auf deren Namensschild Syl steht, steckt den Kopf ins Wartezimmer, deutet auf den Jungen und verschwindet dann wieder. Er blickt auf – Wer, ich? – und krümmt seine linke Hand unwillkürlich wie um einen imaginären Ball. Das Mädchen schließt die Augen und sieht schwebende orangefarbene und goldene Flecken.
Als die Wehe abgeebbt ist, sind die Putzhilfe und der Hausmeister fort. Sie wartet. Sie geht hin und her, hockt sich auf die Fersen, atmet und vergisst zu atmen; sie wartet auf die nächste Wehe und dann darauf, dass sie wieder vergeht. Sie wartet – es können Minuten oder auch Stunden sein –, bis sie den fleischigen Arm einer Schwester um sich spürt, die sie auf die Füße zieht. »Komm mit mir, du schaffst das alleine. Ist nur um die Ecke.«
»Nur um die Ecke« befindet sich ein großer Saal. Durch Gardinen sind die Betten voneinander abgetrennt; in jedem liegt ein »echter Notfall«, wie die Schwester betont.
»Warte hier«, sagt Syl und eilt davon.
Das Mädchen steht herum. Die Bewegung hat für ein paar Sekunden den Schmerz gedämpft, doch die nächste Kontraktion ist so intensiv, dass sie sich auf die Innenseite der Wange beißt, bis sie Blut schmeckt. Zwischen rauhen Atemzügen – sie hat bereits verstanden, dass es keinen Sinn hat, um Hilfe zu rufen – konzentriert sie sich auf die kleinen Tischchen vor jedem Trennvorhang. Auf den Tischchen stehen rosafarbene, nierenförmige Tabletts mit Arzneimittelfläschchen und Tabletten in Papierbecherchen. Niemand achtet auf sie. Die Schwesternstation ist unbesetzt. Das Mädchen rückt zu einem Tisch neben dem Bett einer bewusstlosen Person mit Atemmaske über dem Gesicht. In einer raschen Bewegung greift sie nach einer Spritze und zwei Flaschen, auf deren Etikett in Schreibmaschinenschrift Morphium steht. Ihre Hand zittert von den Nachwirkungen der Wehen, aber sie würde sich trotzdem sofort spritzen, wenn Syl nicht jeden Moment zurückkehren könnte.
Syl war keineswegs untätig und hat eine Ecke neben den Toiletten in eine Geburtsstation verwandelt, wo eine Infusion wartet. Innerhalb von Minuten hat sie das Mädchen angeschlossen, auf eine Liege gebettet und mit einem Papiertuch bedeckt. Dann untersucht sie, wie weit der Gebärmuttermund geöffnet ist. Das Mädchen umklammert die Fläschchen in der Hand so fest, dass sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen graben.
»Keine Zeit mehr, dich zu betäuben«, sagt Syl in die Öffnung der auseinanderklaffenden Vagina des Mädchens hinein und hastet dann wieder los, um irgendetwas oder irgendjemanden zu holen, vielleicht einen Arzt.
Aber ich kann mich betäuben, denkt das Mädchen, als sie die Spritze in die erste Morphiumflasche sticht. Sie kennt sich aus mit Dilaudid, Nembutal, Chloralhydrat und Opium, das man in Chinatown aus der Wasserpfeife raucht. Sie klopft seitlich gegen die Spritze, damit eventuelle Luftbläschen entweichen, und steckt sie in die Zufuhr ihres Infusionsschlauchs. Als das Mädchen spürt, wie das erste goldene Filigrannetz seine Fühler durch ihren Körper ausstreckt, hat sie das Gefühl, Glück gehabt zu haben – Glück, weil sie im letzten verfügbaren Bett hier, an ihrer letzten Zufluchtsstätte, liegt.
Syl ist zurück und zieht etwas Nasses unter dem Mädchen hervor. Sie blafft die Putzhilfe an, die plötzlich erschienen ist. Dem Mädchen ist das alles egal. Sie fühlt sich warm und offen, als läge sie in der Sonne. Sie blinzelt ein wenig durch die Hitze und schließt dann wieder die Augen. »Der Arzt kommt gleich«, verspricht Syl. Für das Mädchen klingt alles wie unter Wasser. Vielleicht treibt sie auf dem Rücken im Meer, und ihre Ohren sind unter Wasser. Sie ist sich einer Spannung in ihrem Inneren bewusst und des Bedürfnisses, zu drücken und zu pressen. Und dennoch schwebt der Schmerz über ihr, außerhalb ihres Körpers.
»Nicht pressen, warte auf den Arzt«, befiehlt Syl.
Das Mädchen lacht, weil das Baby schon rausflutscht. Sie stemmt sich hoch auf die Ellbogen und sieht einen mit weißer Schmiere überzogenen Kopf. Der Hals steckt noch in ihr.
»Nicht pressen!«, wiederholt Syl. Als hätte das Mädchen irgendeinen Einfluss darauf. Als hätte sie den Kopf davon abhalten können, seine Augen zu öffnen und den Blick in ihren zu senken. Der Doktor erscheint im blutigen OP-Kittel, doch mit einmal Pressen schlüpft das Baby heraus wie ein Fisch. »Mädchen«, sagt Syl. Doch das weiß die Mutter bereits, weil das Mädchen zu ihr in Gedanken spricht, die niemand anderer hören kann. Ich bin hier, um dich zu lieben, Miriam, sagt das Neugeborene. Als sie ihren Namen hört, fängt Miriam an zu weinen. Vorher war Miriam nicht in der Lage, sich mit irgendeiner anderen Person verbunden zu fühlen, nicht einmal wenn ihre Körper vereint waren und ineinanderschmolzen. Einen Mann in sich zu haben, Bauch an Bauch zu liegen, Schenkel an Schenkel, Stirn an Stirn, ließ sie nur ihre eigene Nichtigkeit spüren. Sie sehnte sich danach, erfüllt zu sein, doch wenn dann jemand in ihr war, wollte sie nur noch flüchten. Jetzt, während sie und ihr Baby getrennt, aber immer noch eins sind, verbunden durch die Nabelschnur, begreift Miriam die Ekstase der Verbundenheit. Ihre Gedanken und die des Babys fließen mühelos durch die Schnur. Miriam stellt sich vor, wie sie, die Augen mit Khol umrandet und in dem blauen Kleid, das ihre Mutter ihr genäht hat, am Meer steht. Sie hebt das Baby zum Himmel wie ein Opfer. Miriam atmet den Schweiß des Kindes ein, seinen süßen Atem, und lauscht seinen Worten. Wir fliegen zur Glückseligkeit, sagt sie, und ihr Baby trägt sie hinauf in die Wolken.
Doch ihr Baby wird ihr weggenommen. Der Arzt hat mit seiner Schere die Nabelschnur durchgeschnitten und den weinenden Säugling Syl gegeben, damit sie ihn irgendwohin bringt, um ihn zu wiegen, zu messen und zu säubern.
Miriam zittert so heftig, dass sie befürchtet, von der Liege zu fallen. Sie ist allein, ihr ganzer Körper schmerzt, und ihr ist furchtbar kalt. Sie wünschte, sie hätte eine Decke. Sie versucht, sich wieder zurück zu dem blauen Kleid, dem Meer zu versetzen – aber jetzt sind es nur noch Gedanken. Sie hat immer noch die andere kleine Flasche; eigentlich wollte sie sie aufheben, aber sie kann nicht warten, sie zittert vor Kälte und spürt ihre Lippen nicht. Sie wird sich später über das Später Gedanken machen müssen, sie braucht die kleine Flasche jetzt.
Whhhhhschsch – heiß breitet sich die Flüssigkeit in ihren Venen aus, und sie hört eine Maschine am Bett eines anderen Patienten piepen. Sie kann mit den Zehen wackeln und die Sonne spüren, so eine Sonne wie auf der Postkarte von der Küste New Jerseys – der, die sie diesem netten Mann geschickt hat, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie von ihm schwanger war. Sie wusste nicht, warum sie das Bedürfnis hatte, nach Süden zu fahren; vielleicht war sie einfach ein verwirrter Vogel, oder es lag daran, dass er hinterher in ihr Haar geweint und sie seinen Schatz genannt hatte. Wie hieß er gleich noch? Irgendetwas mit J, wie Jesse oder James oder Jerry. Er hatte sie bei sich wohnen lassen und nicht gefragt, wohin sie ging und wann sie zurückkehren würde. Er hatte ihr Haar gestreichelt und ihr etwas zu essen zubereitet, aus Kartoffelchips und Dosensuppe. Und er hat dieses Baby gemacht. Wie hätte sie ihm erklären sollen, dass Opium besser als Sex ist? Sie sehnte sich nur danach, die weiße Taube des Rauchs unter einem Glas hervor einzusaugen und anschließend einen Schokoladenriegel zu essen. Was sollte sie mit einem Baby anfangen? Sie hatte nie ein Haustier besessen, obwohl sie Schildkröten mag. Sie verliert ständig sich selbst, wie könnte sie jemand anderem Halt geben? Sie spürt jetzt keine Schmerzen, aber sie weiß, dass sie kommen werden, dass dieser Zustand nur eine gewisse Zeit andauern wird und dass sie hinterher schlimmer leiden wird als während der Wehen und es dann keine kleinen Flaschen oder netten Jerrys mehr für sie geben wird.
Miriam weiß, dass ihr Baby hier gut aufgehoben ist. Es wird in eine weiche Decke gewickelt, und die Schwester wäscht es und küsst es auf den Kopf wie in einer Babyshampoo-Werbung.
Miriam denkt an das Kind in Der rote Ballon. Es ist der einzige Film, den sie je gesehen hat. Sie trug Kniestrümpfe, aß klebrige Toffees und trank Limonade, wegen der sie durch die Nase rülpsen musste. Völlig egal, dass der Mann, mit dem sie im Kino war, während des besten Teils seine Hand zwischen ihre Beine schob. Ihr ist alles egal, weil es so schön ist, hier zu liegen – nur noch einen Moment länger, mit schweren Gliedern, dahintreibend – eins, zwei, drei, vier, jetzt gehn wir aus der Tür. Fünf, sechs, sieben, acht, jetzt heißt es ganz schnell aufgewacht.
Miriam setzt sich auf und nimmt den Beutel mit der Kochsalzlösung vom Haken. Niemand ist gekommen, niemand beachtet sie. Sie lässt die Nadel der Infusion im Arm stecken und schiebt den Schlauch und den Beutel unter ihr Kleid. Sie sollte sich daran erinnern, irgendetwas zu tun. Was war das noch? Sie wollte etwas schreiben. Sie blickt sich um, findet ihre Handtasche, sucht nach ihrem Bleistift. Sie glättet ein halbwegs sauberes Stück ihres zerknitterten Blatts Papier und schreibt auf, was sie für den vollen Namen des Vaters und seine Adresse hält. Dann nimmt sie ihre Handtasche, überlegt noch einmal kurz und zieht den Halskettenanhänger in Form einer Hand mit einem Auge in der Mitte heraus – er soll jetzt ihr Baby beschützen. Sie legt ihn auf das Blatt neben Jerrys Namen und verlässt die Klinik. Niemandem fällt es auf. Niemandem außer dem Jugendlichen, der auf seinem Mopp lehnt und sie hinaus in die Tageshitze verschwinden sieht.
Billy Beal rennt. Er rennt, weil sein Paps darauf besteht, dass er das ganze Jahr über trainiert, obwohl die Highschool-Baseballsaison erst im Frühling beginnt. Er rennt durch die frühe Dämmerung und beschleunigt seine Schritte, als er die Scheinwerfer von Pops Kombi an der Rückseite seiner Beine spürt. Von hier an geht es bergauf – er wird seine Zeit von gestern unterbieten oder noch weitere zehn Meilen rennen müssen. »Du fällst zurück!«, ruft Pop. »Gib Gas, Billy Beal. Motivier dich!« Ganz egal, dass Billy Beal der einzige Elftklässler der East Trenton Highschool war, der beim Great-Northern-League-Baseballturnier eingewechselt wurde, als sein Team fünf zu drei im dritten Inning zurücklag und der dann in sechs Innings hintereinander jeweils einen »Strike out the sides« erzielte und so seinem Team den Weg zum Meisterschaftssieg ebnete. Doch für seinen Vater ist er nie gut genug.
An diesem Morgen, wie an fast jedem Morgen in den letzten zwei Wochen, seitdem das Mädchen ihr Baby in der Klinik zurückgelassen hat, drehen sich Billy Beals Gedanken im Kreis. Es wird mit jedem Tag schlimmer, weil der Schulbeginn wieder um einen Tag näher gerückt ist und damit die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass er sie wiedersehen wird. Wenn die Schule anfängt, hat er seine Sozialstunden abgeleistet und damit keinen Grund mehr, zur Klinik zurückzukehren. Angenommen, sie holt ihr Baby, genau einen Tag nachdem er gegangen ist? Dann würde er sie niemals wiedersehen. Und wenn er sie niemals wiedersieht, kann er ihr nicht den Anhänger zurückgeben, den sie zwischen den schmutzigen Handtüchern liegenlassen hat. Wenn sie käme, würde er irgendetwas sagen wie: »Ich glaube, du hast was vergessen.« Natürlich wird sie nicht wegen des Anhängers zurückkommen, das weiß er. Genauso, wie er weiß, dass sie ihr Baby nicht aufgegeben hat, wenigstens nicht für immer. »Du bist ein Romantiker, Billy Beal«, hat Mom gesagt, als er ihr erzählte, dass das Mädchen zurückkehren würde.
»Konzentriere dich, Sohn!«, ruft Pop aus dem offenen Fenster des Kombis. Sie haben den Fuß des Hügels erreicht, und im Nacken von Billy Beals American-Legion-T-Shirt zeichnet sich ein dunkles, verschwitztes V ab. Er hätte Pitcher bei der American Legion World Series in Kalifornien letzten Monat sein können, wenn er nicht dabei erwischt worden wäre, als er bei Manni Cannernis Überfall auf den Spirituosenladen Schmiere gestanden hat. Acht Wochen gemeinnützige Arbeit in der schlimmsten Klinik von Trenton, damit sei er glimpflich davongekommen, hat der Richter gesagt. Billy Beal dachte bei der Arbeit die ganze Zeit an nichts anderes als an das Baseballspielen, das er verpasste, während er Dreck auf dem Boden der Klinik zusammenschob. Bis das Mädchen hereinkam.
Sie sah ganz anders aus als irgendjemand, den er je gesehen hatte. Vor allem anders als die Mädchen auf seiner Highschool. Wenn sie auf seine Schule gegangen wäre, hätte er sie gefragt, ob sie mit ihm auf den Homecoming-Ball gehen wolle – falls er überhaupt je zu einem Ball gehen oder sich trauen würde, ein Mädchen nach ihrem Namen zu fragen. Klar hat er das Mädchen nicht unter den günstigsten Umständen getroffen – der ganze Vorgang war von viel Geschnaufe und Gekeuche begleitet –, aber ihre Fingernägel waren sauber gewesen, und sie hat ein hübsches Kleid angehabt. Es war egal, dass sie keine Schuhe trug; sie hatte hübsche Füße. Sie schrie nicht, weil sich niemand um sie kümmerte, und flippte wegen der Kotze auf dem Boden nicht aus. Er ist überzeugt, dass sie ihn angesehen hat, als er um sie herum moppte; er war ihr aufgefallen. Was ungewöhnlich war, weil sich Billy Beal unsichtbar fühlte, außer beim Baseball.
Solange sich Billy Beal erinnern kann, war sein Leben von Männern dominiert: von Pop, seinen beiden älteren Brüdern und allem, was mit Baseball zu tun hatte. Falls Highschool-Mädchen dem Lederjacken-Aphrodisiakum-Effekt erlagen, bemerkte Billy Beal nichts davon. Die Mädchen, die er kannte – Cousinen, die nach Corned Beef rochen, weil sie im Lebensmittelladen aushalfen –, waren wie alte Socken. Seine Brüder brachten keine Mädchen mit nach Hause; sie gingen mit ihnen nach Asbury Park, mit Bier, das sie im Laden geklaut hatten, und kamen mit Knutschflecken am Hals nach Hause. Aber Billy Beal war nicht blind. Er bemerkte, wie sich die Mädchen auf der Highschool veränderten: Die Oberteile wurden enger, die Faltenröcke kürzer, und wohin er auch schaute, überall waren Beine. Beine auf den Tribünen, Beine, die unter den Tischen übereinandergeschlagen und wieder gelöst wurden. Mädchenbeine waren erschreckend flaumig und weich; Fohlenoberschenkel und -waden voller blonder Härchen und Söckchen, die manchmal hinunterrutschten und zarte Knöchel entblößten.
Aber nichts von alledem hatte Billy Beal im Entferntesten auf das schwangere Mädchen vorbereiten können. Die wenigen Male, als er Frauen in der Klinik gesehen hatte, die kamen, um ihre Babys auf die Welt zu bringen, wurden diese hinter einen Vorhang gebracht, und er hatte ihre Schreie ausgeblendet, indem er im Geiste Baseballstatistiken verglich. Was in Frauenkörpern so vorging, wollte er lieber nicht wissen, und schon gar nicht, wie ein Baby aus einem Mädchen rauskam – besonders einem Mädchen in seinem Alter. Er hatte hinunter auf das abgenutzte Linoleum geschaut und die Ammoniakdämpfe aus seinem Eimer eingeatmet. Bis Syl vor seinem Gesicht mit den Fingern geschnippt und gefragt hatte: »Bist du taub? Ich hab gesagt, hol Handtücher!« Das Mädchen hatte eine Menge Blut verloren. Er war auf alle viere gegangen und hatte alle möglichen Klumpen und Körperflüssigkeiten aufgewischt, aber nie zuvor hatte er solche Überbleibsel mit einem Gesicht in Verbindung gebracht. Billy Beal sah das Gesicht des Mädchens nicht einfach nur an, sondern prägte es sich in allen Einzelheiten ein. Sie erschreckte oder schockierte ihn nicht. Ihr Gesicht war weich, und sie hatte sich zu ihm umgedreht, und er könnte schwören, dass sie ihm mit den Augen eine verschlüsselte Botschaft übermittelt hatte. Ich kenne dich, Billy Beal, hatte sie gesagt.
Billy Beal denkt über die Augen des Mädchens nach, die praktisch transparent waren, wie leere Coca-Cola-Flaschen, als könne er durch sie hindurch in sie hineingucken. Ob es ihr mit ihm genauso ergangen war? Billy Beal rennt am Briefkasten seines Elternhauses vorbei und wäre vielleicht noch weitergelaufen, wenn Pop nicht die Stoppuhr hochgehalten und gerufen hätte: »Du hast es mit drei Zehntelsekunden geschafft. Manchmal glaube ich, du bist mit dem Kopf woanders, mein Gott noch mal.« Sie gehen zur Haustür hinein, an die ein immergrüner Weihnachtskranz genagelt ist. Billy Beals Mund ist staubtrocken. »Peg? Peg? Hat dieser verdammte Ralphie den Zweitschlüssel mitgenommen? Ich hab ihn nämlich nicht gefunden. Peg, verdammt noch mal!« Pop blickt auf, und da ist Mom mit ihrem schiefen Lächeln und hält ihm den Zweitschlüssel für den Laden hin. Ihr langes, silbernes Haar steckt noch unter dem Nachthaarnetz, und ihr Gesicht ist knittrig wie ein ungemachtes Bett. »Warum hast du nichts gesagt?«, fragt Pop und marschiert an ihr vorbei in die Küche, wo das Frühstück schon auf sie wartet.
Billy Beal geht an den Kühlschrank, trinkt Milch aus der Flasche und genießt die elektrisch gekühlte Luft. Da hatte er eine Eingebung: Sie sollten das Baby aufnehmen! »Wir sollten das Baby aufnehmen«, sagt er.
»Wie bitte?«, fragt Mom.
»Wir sollten das Baby aufnehmen«, wiederholt er, da es absolut Sinn macht.
»Was zum Teufel faselst du da?«, fragt Pop und blickt von seinem Teller mit Schinken und Eiern auf.
»Gar nichts, mach die Tür zu, Billy, der Kühlschrank frisst sonst zu viel Strom.«
Billy Beal wischt sich mit dem Handrücken Milch vom Mund. »Nur als Übergangslösung, bis sie zurückkommt. Es wäre eine gute Sache. Meinst du nicht auch, Mom?«
Pop juckt von seinem Stuhl auf wie ein Springteufel. »Du lieber Himmel, du weißt davon, Peg? Ich glaube es nicht! Ich kann es einfach nicht glauben, dass du hinter meinem Rücken ein Mädchen … Wer ist es? Wer ist die kleine Schlampe? Wie konnte das bloß passieren, du dämlicher Idiot?« – »Moment mal, ganz ruhig«, sagt Mom und quetscht sich zwischen Vater und Sohn. »Geh mir aus dem Weg, Frau! Jetzt kannst du ihn nicht mehr beschützen!« Pop wirft sich in die Brust wie ein Gorilla. »Ich bring dich um, Billy Beal! Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, du wärst im Knast gelandet!« – »Al, Al, Al, du hast das missverstanden!« Mom wedelt mit den Händen. Pop schiebt sie aus dem Weg, trommelt mit den Fäusten auf die Brust seines Sohnes ein und schubst ihn rückwärts auf einen Stuhl. »Was soll das, hä?« Rumms. »Bist du bescheuert, oder was?« Rumms. »Was wird jetzt aus deinem Baseballstipendium? Du behämmerter Schwachkopf, du blöder! Du hast nur deswegen einen Kopf auf dem Hals, damit’s nicht reinregnet!« Pop hüpft hin und her und ringt mit Billy, in dem Versuch, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
»Al, Al, Al!«, schreit Mom und zerrt an seinem Hemd. »Es ist nicht sein Baby!«
»Ich erwürge dich, du …« Pop nutzt sein Gewicht zu seinem Vorteil und will sich gerade auf seinen Sohn setzen, als Mom ihm ins Ohr schreit: »Hör auf, Al! Ich hab gesagt, es ist nicht sein Baby!« Paps schaut zu Mom auf, und Billy windet sich unter ihm hervor.
»Verdammt, Pop!«, keucht Billy und hebt angewidert die Hände.
»Willst du mich umbringen?«, fragt ihn Pop. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Schon dafür sollte ich dir eine knallen.« Billy Beal schaut hinunter auf den Fußboden und stellt sich vor, wie sein Vater mit seinen hundertzehn Kilogramm vor ihm herhechelt, während er ihm mit dem Kombi in den Hintern fährt. Stirb, denkt er, stirb!
»Scheißbaby, was hat er mit einem Baby zu tun?«
»Es wäre das Richtige«, sagt Billy mit ausdruckslosem Blick.
»Wenn ich du wäre, würde ich jetzt die Klappe halten … Okay.« Pop knallt seine Tasse hin und katapultiert Kaffeespritzer ins Universum. »Seit wann hat er Ideen, von denen ich nichts weiß? Was zum Teufel ist hier eigentlich los?«
»Geh auf dein Zimmer, Billy.«
»Aber du hast gesagt, ich soll was essen …«
»Ihr zwei raubt mir wirklich den letzten Nerv!« Mom greift schwungvoll nach Billys gefülltem Teller und drückt ihn ihrem Sohn in die Hand. »Ab«, sagt sie und scheucht ihn mit den Händen weg. »Husch, husch.« Ihr Blick sagt ihm, er solle sich jetzt besser aus dem Staub machen, wenn sie irgendetwas für ihn tun soll.
»Peg, du hast mir eine Menge zu erklären«, sagt Pop ohne eine Spur von Ironie.
Billy Beal wandert in seinem Zimmer auf und ab und bringt die Dielenbretter absichtlich zum Knarren. Er hasst es, wie ein kleines Kind behandelt und auf sein Zimmer geschickt zu werden. Er hasst es, wenn Mom ihn betüddelt und Pop ihn drangsaliert und ihm für alles die Schuld gibt.
Seine Idee ist einfach genial! Sie ist so einfach, dass er sich fragt, warum er nicht schon früher draufgekommen ist. Denn wenn Mom das Baby nehmen würde, wären alle Probleme auf einmal gelöst. Das Mädchen würde zu ihm kommen, und Mom würde ihr erzählen, dass er, Billy Beal, ihr Baby davor beschützt hat, zu einem Mündel des Staates zu werden, wie Mom es ausgedrückt hat. Das Mädchen würde total dankbar sein, mit ihm ein Malzbier trinken gehen, und er könnte ihr eine Schnur für ihren Anhänger machen und sie ihr als Überraschung um den Hals legen. Und Mom kann so gut mit Kindern umgehen, dass sie dem Mädchen helfen würde, sich um ihr Baby zu kümmern, und vielleicht würde sie für eine Weile bleiben. Mom hat so etwas schon für Wildfremde getan, und das Mädchen ist … Na ja, im Grunde kennt er sie ja gar nicht, aber nach dem, was sie zusammen durchgemacht haben, fühlt er sich ihr trotzdem nahe. Mom muss ihn diesmal unterstützen, sie muss einfach!
Mom braucht eine Weile, bis sie Pop die Geschichte mit dem Mädchen und ihrem Baby erzählt hat, hauptsächlich weil Pops häufige Wutausbrüche, bei denen er jedes Mal Kaffee verschüttet, sie bremsen. Irgendwann hört er auf herumzufuchteln, so dass sie sich um den Saft und den Kaffee kümmern kann, die ihren Weg auf seine Hose gefunden haben. »Keine Ahnung, warum ihm diese Geschichte so am Herzen liegt, aber es ist eine Tatsache. Wobei er sich damit zum allerersten Mal wirklich für etwas anderes engagiert als für Baseball. Er zeigt ein bisschen Mitgefühl, was man von dir nicht gerade behaupten kann.« Mom tupft Pops Hose mit einem angefeuchteten Küchenhandtuch ab.
»Mitgefühl? Für eine Negerschlampe, die ihr eigenes Baby in einer Klinik zurücklässt? Dieses Mädchen kommt nie zurück, das weißt du ganz genau. Das Blag hat jetzt der Staat am Hals, nicht wir. – Du reibst es rein, nicht raus!«
»Ich muss die Flecken abtupfen. Außerdem ist sie weiß, nicht dass das einen Unterschied ausmachen sollte.«
»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du es für eine gute Idee hältst, oder? Denn wenn, würde ich dir sagen, dass du wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank hast. Oder ich würde glauben, hier geht’s gar nicht um den Jungen, sondern um dich. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass meine Frau nicht arbeiten geht! Ich versorge diese Familie, und ist der Laden etwa nicht gut genug für dich? Willst du wieder auf kleine Hosenscheißer aufpassen, die niemand haben will, als wäre das hier ein beschissenes Sommerlager? Ich habe dir das einmal erlaubt, und das wirst du mir für immer unter die Nase reiben. Pflegekinder! Du hast gleich eine gepflegte Beule am Kopf, wenn du so weitermachst!« Er spuckt beim Reden, und weißer Schaum bildet sich in seinen Mundwinkeln.
»Das geht zu weit, Albert Beal!«, erwidert Mom, lässt das Handtuch fallen, dreht ihm den Rücken zu und fängt an, Geschirr zu spülen. Das Schweigen zwischen ihnen wird nur vom Rauschen des Wassers aus dem Hahn und dem Reiben von Gummihandschuhen über Porzellan durchbrochen.
Billy Beal hat gehört, dass Pop das Mädchen als Schlampe beschimpft hat. Die Wände sind zwar ohnehin dünn, aber Paps kommuniziert nur auf zwei Arten: laut und lauter. Billy könnte seinen Vater überwältigen; das weiß er längst. Er ist stark und schnell und müsste sich eigentlich nicht mehr rumschubsen lassen. Seit einer ganzen Weile schon hat er keinen Mucks mehr von unten gehört. Das Schweigen seiner Eltern geht ihm mehr auf die Nerven als ihre Streitereien.
Pop und Mom sitzen in der Küche und lauschen dem Ticken der Budweiser-Wanduhr, die Pop umsonst in Wally’s Spirituosenladen bekommen hat. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagt Mom: »Na schön. Ich nehme deine Entschuldigung an. Also, ich habe mir gedacht, jetzt, wo Terry in den Südpazifik versetzt wird –«
»Nicht in den Südpazifik«, erwidert Pop.
»Egal wohin, wir haben dann ein Zimmer frei.«
»Vor China, wie heißt es noch mal? Wo ist Ralphie? Er weiß es. Ralphie! Ralphie!« Keine Antwort. »Sag nicht, dass er schon wieder nicht nach Hause gekommen ist!«
Good Luck Charm von Elvis dröhnt auf einmal so laut, dass Mom die Stimme erheben muss:
»Können wir nicht mal was für Billy tun? Und wenn wir es machen würden, ich meine falls, wäre es ja nur vorübergehend, bis das Jugendamt ein Zuhause für das Kind gefunden hätte.« Pop geht zum Schrank, nimmt einen Besen raus und stößt mit dem Stiel gegen die Decke. »Mach dieses Gejaule leiser, verdammt noch mal! Und du, glaub bloß nicht, ich denk drüber nach, denn das tue ich nicht!« Mom reicht Pop ein Lunchpaket, das sie eigentlich gestern Abend für Billy vorbereitet hat.
»Vietnam«, sagt sie. »Die schicken Terry in ein Land, das Vietnam heißt.«