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6. Januar 2015

Liebe Freunde, Kollegen, Studenten, Leser, Fernsehzuschauer und Unbekannte aller Art,

in den letzten Monaten waren so viele verdrehte, abartige oder schlicht erlogene Versionen meines Sturzes durch das Dach im vergangenen Juli in Umlauf, dass ich glaube, einiges klarstellen zu müssen; die längst endgültig verfälschte Wahrheit lässt sich kaum noch rekonstruieren, aber ich will doch versuchen, wenigstens der Flut von unverschämten Behauptungen über mein Privatleben Einhalt zu gebieten.

Zuallererst: Natürlich wäre es mir nie eingefallen, während eines Sommergewitters mit Blitz und Donner und prasselndem Hagel auf den Ziegeln herumzuspazieren, wie einige behauptet haben (als hätten ihnen die dramatischen Elemente noch nicht gereicht). Ich bin erst am Morgen nach dem Gewitter aufs Dach gestiegen, als der Himmel strahlend blau war und die Sonne brannte. Zweitens: Die Idee, ich wäre hinaufgeklettert, um meine Frau mit diesem Theater emotional zu erpressen, ist so grotesk, dass ich mich nicht dazu herablassen würde, sie zu dementieren, wenn nicht so viele sie sofort geglaubt hätten. Wer dieses Gerücht verbreitet hat, hätte einen Preis für die größte Blödheit verdient, auch wenn er offensichtlich die Absicht verfolgte,

Diesbezüglich möchte ich hier noch eine kleine Auswahl von Nachrichten anfügen, die mich via Twitter erreichten (der Kürze halber lasse ich im Ton ähnliche weg, die über andere soziale Netzwerke verbreitet wurden):

#craignolan stolzierte im sturm übers dach, wollte er eindruck schinden bei seiner #catwoman???

@craignolanphd ich drück dich auch wenn du mich bestimmt nicht zurückdrücken kannst, hihihihi

@craignolanphd scheißanthropologe gelähmt endlich eine gute nachricht #thecannibalsaresafe

#crashednolan wird auch einarmig weiternerven OMFG

#crashednolan salonforscher gelähmt = großes geschenk für die anthropologie

Nach #stephenhawking wird uns nun auch #crashednolan aus dem rollstuhl mit pseudogenialen blödheiten bombardieren

@craignolanphd mit deinem kranken kängurugesicht, krepier doch das nächste mal RT

hey @craignolanphd echt schade nur ein stockwerk statt zehn ROFL

#crashednolan wer weiß ob er es wenigstens geschafft hat sein betrogenes frauchen zu rühren LOL

#craigthroughtheroof ich schwöre wenn er nach dem sturz noch mehr von seinen scheißbüchern verkauft wandere ich aus nach #australien

#craigthroughtheroof schade dass er nicht unter den trümmern des hauses begraben liegt #canthaveeverything

#craigthroughtheroof oder wie sich ein tv-akademiker nach kurzem höhenflug in eine lahme ente verwandelt

@craignolanphd hüpfte auf dem dach wie nett nun liegt er nach kurzem flug im bett LMAO

#craigthroughtheroof es gibt genug scheißbesserwisser die man gern abstürzen sähe aber das ist zumindest mal ein anfang #thankgodforthat

Welch wahrhaft wunderbare virtuelle Gemeinschaft, verbunden durch Nächstenliebe und die Liebe zum Akronym (und durch eine befreiende Missachtung aller Zwänge der Interpunktion). Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass LOL im Ergänzungsband von 2011 offiziell ins Oxford English Dictionary aufgenommen wurde? Nein, im Ernst, ich finde es durchaus bemerkenswert, dass sich selbst brillante akademische Köpfe (ja, ich spreche von euch) wie selbstverständlich mit den unzulänglichen Ausdrucksmöglichkeiten der sogenannten neuen Kommunikation zufriedengeben. Und das, obwohl Friedhelm Hillebrand schon 1985, nach aufwendigen Studien, festgestellt hat, dass mindestens

Einen herzlichen Gruß an alle,

Craig Nolan

Als Craig Nolan im Januar 2015 am Schreibtisch seines Arbeitszimmers in der Little St Mary’s Lane in Cambridge an seine erste Ankunft mit Mara in Canciale zurückdenkt, während die Stereoanlange leise Jumping At Shadows von Peter Green spielt und vor den Fenstern am schon beinah dunklen Nachmittag der Regen fällt, schwankt er bei der Erinnerung ständig zwischen Sehnsucht, Fassungslosigkeit und Verärgerung.

Die zu beantwortende Frage ist immer die gleiche: War es unvermeidlich, dass es so weit kommen musste? Hätte er den Lauf der Ereignisse, die zur jetzigen Situation geführt haben, aufhalten oder zumindest in eine weniger katastrophale Richtung lenken können? Ja, bestimmt, und nein, bestimmt nicht, wie bei allem, was geschieht. Genau genommen hätte er dann gar nicht erst in den alten blauen Bus steigen dürfen, der unverdrossen die kurvige Straße in die immer steiler werdenden Berge hinaufächzte, viel weiter von der Küste weg, als er sich vorgestellt hatte. Er hätte auf seine innere Stimme hören können, die ihm riet, eine vorübergehende sinnliche Anziehung nicht mit einer langfristigen emotionalen und praktischen Verbindung zu verwechseln. Es hätte genügt, eine plötzlich unvermeidliche Arbeitsverpflichtung vorzuschützen, einen Notfall an der

Als sie endlich in Canciale ankamen, ihre Rucksäcke abstellten und sich umsahen, sprach sein Selbsterhaltungstrieb immer noch eine unmissverständliche Sprache. Außer der Übelkeit wegen des vierzigminütigen Gerüttels und der Enttäuschung, die proportional zur Entfernung zum Meer gewachsen war, packte ihn, wenn auch nur nach und nach, das untrügliche Gefühl, dass er dabei war, einen großen, nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Doch verschwand dieses Unbehagen schlagartig, sobald Mara ihn mit dem gleichen Lächeln ansah wie vier Tage zuvor in Mailand, als sie ihm, während er durch die Stadt spaziert war, weil er auf einen Interviewtermin wartete, auf der Piazza Cordusio zufällig begegnet war. Diese Italienerin mit dem Lockenkopf, den kastanienbraunen Augen und den kräftigen, aber zugleich weichen Formen hatte ihn so beeindruckt, dass er sie (in einem damals noch sehr vagen Italienisch und mit einem Übermut, über den er selbst erstaunt war) gefragt hatte: »Perdono, dove è la piazza del Duomo?«, obwohl er genau gewusst hatte, dass der Domplatz keine hundert Meter hinter ihm lag. Daraufhin hatte sie ihn halb amüsiert, halb neugierig gemustert und ihm unerwartet auf Englisch geantwortet: »Seriously?« Und danach hatten sich ihre Lippen zu dem strahlendsten Lächeln geöffnet, das er je gesehen hatte, und mit einem Mal war das gesamte achttägige Programm anlässlich des Erscheinens der italienischen Ausgabe von Das wilde Herz über den Haufen geworfen. Plaudernd waren sie die Via Oref‌ici

Und nach der Busfahrt von der Küste in die Berge stand er also neben diesem wunderbaren südländischen Mädchen mit dem unruhigen Geist und den erstaunlichen künstlerischen Fähigkeiten, die ihn nun wieder auf ihre unwiderstehliche Art anlächelte und fragte, ob ihm die Reise gefallen habe. Er bejahte, ohne zu zögern: glücklich, ein neugieriger und anpassungsfähiger Reisegefährte zu sein, ein experimentierfreudiger Partner, ein international bekannter Akademiker, der sich jedoch nicht zu ernst nahm, ein Forscher, der sich unter den ehemaligen Kannibalen der Korowai ebenso wohl fühlte wie unter den Bewohnern einer italienischen Region, die zu den weniger fremdenfreundlichen zählt. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung, die er in jedem Blick und jedem Wort von Mara wahrnahm, bei jedem Schulterstreifen, berauschte ihn wie eine Droge. Dass er bei einer Frau Aufmerksamkeit und Bewunderung weckte,

Jedenfalls sind die Bilder und Empfindungen dieser ersten Ankunft in Canciale in seiner Erinnerung sehr viel klarer als die Gedanken, die ihm damals durch den Kopf gingen: Er braucht sie sich nur ins Gedächtnis zu rufen, schon sind sie lebendig und pulsierend wieder da. Die Gedanken dagegen sind trüb, lückenhaft, sie kommen nicht an gegen die Kraft der eindrucksvollen Bilder von Mara, die ihn aufgeregt, ungeduldig und doch vorsichtig die enge Straße hinunterführt. Sie geht erst rasch, dann verlangsamt sie ihren Schritt, dreht den Kopf in alle Richtungen, schnuppert in der Luft, nimmt tausend Einzelheiten wahr. Er folgt ihr, und sie weiß um seinen Blick, der auf ihr ruht, und bewegt sich dennoch völlig natürlich in ihrem leichten geblümten Baumwollkleid, das ihren Körper betont und die energischen, eleganten Beine entblößt, die starken, wohlgeformten Füße in den dünnen, von der Sonne gebleichten Ledersandalen. Und weiter: Er folgt ihr und fühlt, sein Gesicht ist zu rosa, sein Haar zu hell und zu schütter, seine Kopfhaut zu sichtbar, die Arme zu unbehaart und die Oberschenkel, Knie und Waden zu stämmig in der kurzen Khakihose mit den zu vielen Taschen. Und weiter: Zusammen gehen sie an den pastellfarben oder zementgrau verputzten Häusern vorbei, an den holzgezimmerten Hühnerställen mit

Doch klangen nicht auch in dieser begeisterten Wahrnehmung von Formen, Strukturen und Temperaturen schon Misstöne an? War er nicht bestürzt, wie wenig die Realität des Ortes mit den Vorstellungen übereinstimmte, die ihre vorigen Erzählungen genährt hatten, elektrisiert vom Wunsch nach mehr, durchzogen vom fieberhaften Informationsaustausch? Wo war der vielbeschworene Zauber von Canciale, diesem irdischen Paradies, überreich an köstlichen Früchten und bewohnt von einfachen, freigebigen Menschen? Wie viel von dem, was er vor Augen hatte, stimmte mit der automatischen Visualisierung überein, die auf den Erinnerungen an andere Mittelmeerorte basierte, ausgeschmückt durch Fotografien, Filmausschnitte, Werbung, Broschüren von Reisebüros und reine Phantasie?

Die Wahrheit (aber welche Wahrheit, die heutige oder die von damals?) ist, dass Canciale ihm unfreundlich, verwahrlost und irgendwie trostlos vorkam; wie die feuchte, weitläufige, ländliche Peripherie eines Dörfchens im Apenninvorland, das sich zwischen Licht und Schatten an die steilen Berghänge klammerte. In nichts glich es dem sonnigen Ort, den er bis zu diesem Moment vor sich gesehen hatte: keine

Doch in Craig Nolans heutiger Erinnerung, die sich aus lückenhaften Gedanken und sehr lebendigen Bildern und Empfindungen zusammensetzt, betrachtet Mara ihr ligurisches Häuschen, als wäre es ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert oder eine ihr unendlich teure Person. Ohne sich noch einmal zu ihm umzuwenden, zieht sie einen Schlüssel

In allen Einzelheiten sehr präsent ist ihm dagegen der Moment, in dem er ihr ins Haus folgt wie in einen Traum, der nicht seiner ist und in dem er, wie er weiß, nichts entscheiden kann. Das Wohnzimmer mit der Kochnische ist so ärmlich wie bezaubernd, man spürt die Feuchtigkeit und den Charme später Hippiejahre. Es riecht nach Staub, Patschuli, Fichtenholz, Schimmel. Mit dem gleichen, beinah gewaltsamen Schwung, mit dem sie zuvor die Tür geöffnet hat, stößt Mara die Fenster auf, und Licht durchflutet den kleinen Raum. Nun erkennt man zwei etwa sechzig Zentimeter hohe Skulpturen, eine Katze aus Stein, die sich die Pfote leckt, und eine in aufmerksamer Haltung aus Holz. Außerdem einige schiefe, wer weiß wo aufgegabelte alte Stühle, einen nachlässig weiß gestrichenen alten Schrank, bunte nepalesische Stoffe an den Wänden, niedrige Regale voller Bücher mit vom vielen Lesen abgegriffenen Rücken. Auf einem Bord steht eine Schwarzweißfotografie von Mara im Badeanzug, mit einem wilden, sinnlichen Ausdruck. Dann ein Wecker und gleich daneben ein kleineres Farbfoto, das sie mit Strohhut auf einem Mäuerchen sitzend zeigt. Auch hier beunruhigen die selbstbewusste Haltung, der stolze Blick, das erahnbare Einverständnis mit dem

Obwohl die damaligen Gedanken kaum lesbar sind, gibt es keinen Zweifel: Genau an diesem Punkt, als ihm die greifbaren Belege für Maras vorheriges Leben ins Auge sprangen, verspürte Craig Nolan das verzweifelte Bedürfnis, sich das noch verfügbare Territorium anzueignen, es um jeden Preis zu besitzen und zu markieren. Ihm war plötzlich so schwindelig, dass er sich an den Türrahmen lehnen musste; der Schock hatte alle seine Reflexe verlangsamt, wie ein Pistolenschuss, der zwischen den Wänden nachhallt.

»Alles gut?« In Maras Augen blitzte Unsicherheit auf, bezaubernd, glühend.

»Bestens.« Craig Nolan zwang sich zu einem verzerrten Lächeln.

»Gefällt es dir?« Sie senkte den Blick, während sie mit dem Fuß einige am Boden herumliegende CDs wegschob. Mit wem hatte sie die gehört? Und wann?

»O ja, sehr.« Atemlos machte Craig Nolan ein paar fahrige Bewegungen, als schwimme er in einem reißenden Wasserlauf gegen den Strom.

Danach gab es kein Halten mehr, sie waren übereinander hergefallen, hatten sich wie wild umarmt, geküsst, die Kleider vom Leib gerissen und auf dem alten, klapprigen Sofa geliebt, das zweifellos schon wer weiß wie viele bedeutsame Momente in Mara Abbiatis Leben vor Craig Nolan miterlebt hatte. Die Erinnerung an ihren ersten Sex im

Am nächsten Tag wachten sie vom Lärm eines dreirädrigen Motorkarrens auf, der brummte wie ein fettes Insekt. Kurz darauf krähte ein Hahn, und dann iahte sogar noch ein Esel. Craig Nolan ging ins Bad und zog sich etwas über. Als er wieder herunterkam, stand die Tür weit offen, und Mara hockte, nackt unter ihrer fast durchsichtigen indischen Leinentunika, draußen auf der Straße und verteilte

Später saßen sie am Küchentisch und tranken bitteren Kaffee, danach streif‌te Mara sich etwas Dezenteres über und zog ihn hinter sich her, um eine alte Nachbarin namens Launa zu begrüßen, die allein im Haus gegenüber wohnte. Wie Blutsverwandte umarmten und küssten sich die beiden Frauen an der Tür, dann begannen sie, ohne sich um ihn zu kümmern, Neuigkeiten auszutauschen, manche sehr laut, andere im Flüsterton. Erst nach einer Weile beschloss Mara, sich umzudrehen und mit einer ihrer malerischen Gesten auf ihn zu zeigen, worauf Signora Launa ihn mit ihren kleinen, blauen Augen musterte. In unverständlichem Dialekt stellte sie ihm einige Fragen, neugierig, leicht misstrauisch und mit einem Hauch von Boshaftigkeit.

»Non capisco.« Craig Nolan schüttelte den Kopf und dachte wieder einmal, dass alle zu der Annahme neigen, ein berühmter Anthropologe müsse selbstverständlich über alle linguistischen und kulturellen Barrieren hinweg kommunizieren können. Allerdings hielt Mara nichts für selbstverständlich, und Signora Launa hatte ja keine Ahnung, wer er war.

»Sie will wissen, ob du mich gut behandelst«, erklärte Mara belustigt, aber nicht ganz im Scherz. Noch eine Alarmglocke, die jedoch ebenso ungehört verhallte wie die vorherigen.

Mara lachte und plauderte weiter mit der alten Frau, doch ihre Ausdrucksfreude und sprechende Gestik, die er in Mailand mit Vergnügen und Bewunderung beobachtet hatte, als sie zum Essen ausgegangen waren (und auch viel getrunken hatten), verunsicherte ihn hier zutiefst. Als sie Signora Launa dann endlich verließen, fühlte er sich sehr erleichtert.

Mara dagegen strahlte und deutete hinter sich: »Ist sie nicht phantastisch?«

»Sagenhaft.« Craig Nolan wollte einfach keine interessante Bemerkung einfallen, er musste sich mit ein paar Oberflächlichkeiten behelfen. »Allein wie sie einen ansieht, da merkt man gleich, dass sie eine scharfe Beobachterin ist.«

»Auf jeden Fall!« Mara war offenbar glücklich über sein Urteil. »Und was sie schon alles erlebt hat, unglaublich, bei Gelegenheit muss ich sie mal bitten, dir davon zu erzählen.«

»Ich bin schon ganz gespannt.« Und tatsächlich, in

Irgendwann schleif‌te Mara ihn dann auch mit ins Zentrum von Canciale, erst das kurvige Sträßchen bis zur Staatsstraße hinauf und von dort durch weitere Kurven bis zu der kleinen, schrägen Piazza, von wo man nach Aussage der Einwohner an klaren Tagen in weiter Ferne ein Fitzelchen Meer sehen konnte. Daher, so erzählte sie ihm, stamme auch der Name des Dorfes, eine Kurzform von cannocciale, dem ligurischen Wort für Fernglas. Worauf er erwiderte, dass die Etymologie von Ortsnamen zwar oft ziemlich fragwürdig sei, in diesem Fall aber doch plausibel klinge. Obwohl es an diesem speziellen Morgen dunstig und vom Meer nichts zu sehen war. Auch in die Bar schleppte sie ihn, zu Carlo, einem klapperdürren Typ mit Ziegenbärtchen und ebensolchen Augen, der sie beinah genauso überschwenglich begrüßte wie Signora Launa. Zwar fühlte sich

Es ist zwecklos, noch weiter ins Detail zu gehen, auch wenn es inzwischen etliches gibt, was mit Nachdruck in die Erinnerung drängt. Die Vertrautheit mit einem Ort entwickelt sich ja nicht linear, sondern in Schüben: Auf einmal merkt man, dass man Nuancen schätzt, die einem kurz zuvor noch gar nicht bewusst waren, und bald ist man überzeugt, einen privilegierten Zugang zu jenem sehr begrenzten Ausschnitt der Welt zu haben. Man lernt Namen, entschlüsselt Insider-Codes, übernimmt Gewohnheiten; im Laufe weniger Tage oder Wochen oder Monate oder

So kam es, dass Craig Nolan nicht nur vier sehr angenehme Tage in Canciale verbrachte, sondern im darauf‌folgenden Jahr, als er mit Mara zurückkehrte, auch ein erstaunliches Gefühl der Zugehörigkeit empfand. Vielleicht weil er sich einbildete, damit die kulturelle und charakterliche Kluft zu überbrücken, die ihn von ihr trennte, vielleicht aber auch nur, weil er in die Idee verliebt war, ein Pied-à-terre in Italien zu besitzen: das alte Klischee des Angelsachsen, der unwiderstehlich vom Zauber des Mittelmeers angezogen wird. Jedenfalls hörte er irgendwann auf, sie dauernd dafür zu kritisieren, dass sie weiter die Miete für einen so unbequemen und wenig genutzten Ort bezahlte, und als sie ihn dann im April 2007 in der Universität anrief, um ihm (aufgeregt und zugleich beunruhigt) mitzuteilen, dass die Erben des ursprünglichen Besitzers des Hauses in Canciale nach jahrelangen Streitereien endlich bereit waren, es zu verkaufen, hatte er gar nicht erst versucht, sie davon abzubringen, sondern sogar spontan beschlossen, sich zu fünfzig Prozent am Kauf zu beteiligen. Zudem waren sie damals gerade frisch verheiratet, und gemeinsam ein Haus in Italien zu erwerben kam für ihn der Besiegelung einer beidseitigen Verpflichtung gleich, einem Zeichen der Reife, einem Geschenk, einem Zugeständnis. Außerdem würde es das ideale Refugium sein, um in den

Wie man es auch dreht und wendet, heute zu bereuen, dass er das Haus in Canciale gekauft hat, ist unlogisch und vollkommen sinnlos. Jedes Ereignis ist das Ergebnis einer endlosen Kette von miteinander verknüpf‌ten Ereignissen; sich vorzustellen, wie die Gegenwart aussehen würde, wenn man im Nachhinein ein Kettenglied austauschen könnte, ist reine Zeitverschwendung. Im Übrigen hätte alles auch noch viel schlimmer enden können: Er hätte in Cambridge unters Auto kommen oder damals, als er zum ersten Mal mit Mara im Golf der Dichter schwimmen war, von einem Motorboot erfasst werden können, um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen. Was keineswegs heißen soll, dass es Craig Nolan gelungen wäre, eine distanzierte philosophische Haltung zu den Geschehnissen einzunehmen. Ganz im Gegenteil.

»Craaaaaaig!« Mara hörte sich schreien, während sie sich bemühte, den lähmenden Schreck abzuschütteln, der sie erfasst hatte, als sie sah, wie sich kraack das Dach auf‌tat und Craig wie in Zeitlupe plumps darin verschwand, Knie, Taille, Schultern, Kopf, bis er nicht mehr zu sehen war. Ein langer Moment der Stille und dann STROK der Aufprall, bei dem alle Wände mmmbrrr erzitterten.

Mit Händen, Knien und Füßen bahnte sie sich trampelnd einen Weg durch das Dickicht des Terrassenstreifens mit den verwilderten Olivenbäumen hinter dem Haus, sprang vom Mäuerchen hinunter, rannte mit bis zum Hals klopfendem Herzen über den dürren Rasen des Gärtchens, schrie noch einmal »Craaaaaaig!«, während sie über die Treppe hinauf ins Schlafzimmer stürmte, wo eine dicke, weißgraue Staubwolke in der Luft waberte. Noch hoffte sie inständig, Craig könnte bei dem Sturz wundersamerweise auf dem Bett gelandet sein, doch eigentlich wusste sie schon, dass es nicht so war: Dann hätte sie so etwas wie sgwoinnk gehört und nicht dieses schreckliche STROK. Und da lag er, ausgestreckt auf dem Fußboden, zwischen Putzbrocken, Holzsplittern und spitzen Ziegelscherben. Er glich einem Milizionär irgendeines Kriegs im Mittleren Osten, nachdem das Haus, in das er sich geflüchtet hatte, von der Armee mit

Doch als sie sich neben ihn hockte und fragte, ob er sich sehr weh getan habe, erwiderte er: »Bloß ein bisschen am rechten Bein.« Allerdings brauchte man nur seinen Tonfall zu hören, zu beobachten, wie er mit der Hand nach seinem Knie tastete, aber nicht hinkam, und das Loch in der Decke zu sehen, um zu begreifen, dass seine stoische Haltung nur Fassade war.

Sie hatte Ohrensausen vor Schreck, vor Aufregung, Hast und Besorgnis, ihn in diesem Zustand zu sehen, und wollte eigentlich sofort einen Krankenwagen rufen. Doch er fuhr sie an, das komme überhaupt nicht in Frage, die italienischen Ärzte würden ihn höchstens noch ganz zum Krüppel machen, außerdem sei es gar nicht nötig, schließlich sei es ja nur ein saublöder Sturz durch das morsche Dach eines saublöden Hauses in einem saublöden Dorf gewesen.

Daraufhin holte sie seine Brille, die es weit fort geschleudert hatte, und setzte sie ihm wieder auf, obwohl ein Bügel zerbrochen und die Gläser ganz staubig waren; dann half sie ihm, der vor Schmerz grunzend das Gesicht verzog, langsam aufzustehen, Stufe für Stufe die Treppe hinunterzuhumpeln, während sie ihn am weniger beschädigten Arm stützte, sich auf dem Sofa auszustrecken und den rechten Fuß auf einen Stuhl zu legen, damit das Bein etwas erhöht lagerte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, war aber

»Nimm die Eiswürfel aus dem Kühlfach, tu sie in zwei Lappen, und knote sie zu.« Craigs Stimme klang genervt, das erschreckte sie noch mehr.

Sie ging zum Kühlschrank, holte die Eisschale heraus, kippte die Würfel auf zwei Küchentücher, verknotete sie zu Beuteln und legte sie ihm sehr vorsichtig auf Knie und Fußgelenk.

»Aua! Pass doch auf!« Unwillkürlich brüllte Craig los, er musste also wirklich starke Schmerzen haben.

Vorsichtig versuchte sie, die Eisbeutel ohne Druck zurechtzurücken, auch wenn es nicht leicht war; anschließend tränkte sie ein Tuch mit Wasserstoffperoxid und begann, die Verletzungen an seinem Arm zu säubern. Ab und zu sah sie ihm ins Gesicht, konnte ihm aber nichts entnehmen.

Craig wiederholte noch mehrmals, er wolle nichts wissen von Krankenhäusern und Ärzten, er habe schon viel schlimmere Unfälle an viel schwerer erreichbaren Orten gehabt und sei immer bestens allein zurechtgekommen. Es sei nur dumm gewesen, sagte er, das Dach nicht mit einem Stock zu sondieren, bevor er darauf herumlief, er hätte doch wissen müssen, dass das Haus mies gebaut war. Überhaupt sei es Schwachsinn gewesen, erst jahrelang stur die Miete zu zahlen und es dann auch noch zu kaufen, statt es aufzugeben und irgendwo anders, in einem zivilisierteren oder auch primitiveren Land, etwas Besseres zu suchen, einfach um sich weiterzuentwickeln und nicht krankhaft am schon Bekannten festzuhalten.

»In dich war ich total verliebt.« Craigs Gesicht verkrampf‌te sich vor Anstrengung, nur ja nicht zuzugeben, dass ihn das Bein höllisch schmerzte.

»Und jetzt nicht mehr?« Ihr war sehr wohl bewusst, dass es nicht der beste Augenblick war, um über diese Dinge zu reden, aber schließlich hatte er das Thema angeschnitten. Es war heiß, sie waren verschwitzt und kurzatmig.

»Was soll das jetzt?« Craig fasste sich in den Nacken, kniff die Augen zu und presste die Lippen zusammen. Jeder Italiener wäre schon längst in Tränen ausgebrochen, hätte vor Schmerz geschrien und sie angefleht, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Diese stoische Haltung hatte sie schon immer faszinierend gefunden, auch wenn damit eine extreme Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken, einherging: Es sind zwei Seiten derselben Medaille, bestehend aus der Kontrolle der Vernunft über die Regungen des Herzens. »Ich hätte alles gesagt, nur um dir eine Freude zu machen.«

»Auch wenn es gar nicht stimmte?« Sie rückte etwas von ihm ab: Er sah aus wie ein wehrloses Opfer, was ihren instinktiven Drang zu helfen noch verstärkte und die Bedeutung seiner Worte überwog; dennoch blieben sie im Raum stehen, man konnte sie nicht einfach so wegwischen. »Also war alles nur eine hundsgemeine Lüge? Und in Wahrheit

»Aber nein, was zum Teufel redest du da.« Craig streckte die Hand aus und berührte den Eisbeutel auf seinem Knie; er schloss die Augen, schluckte, biss die Zähne zusammen.

»Tut es sehr weh?« Sie hörte auf, seinen Arm zu säubern, und versuchte einzuschätzen, ob die Folgen des Sturzes womöglich doch schlimmer waren. Sie nahm ihm den Eisbeutel vom Knie: Es war noch geschwollener und röter als vorher.

»Alles nur, weil ich stocksteif runtergefallen bin wie eine Holzpuppe.« So wie er gebaut war, musste ihm diese Plumpheit unverzeihlich vorkommen, wie eine Schuld. »Ich hätte den Aufprall mit den Knien abfedern müssen.«

»Du hättest dich umbringen können.« Wieder betrachtete sie ihn. Mit all dem Staub in den Haaren und Augenbrauen sah er aus wie ein plötzlich gealterter Junge oder aber wie ein sturer, harter Mann, der sich niemals umstimmen lassen würde. So war Craig: Sie hatte gedacht, es sei ihr gelungen, ihn ein Stück weit von seiner früheren Einstellung abzubringen, aber nein, schon war er wieder der Alte, entschiedener noch als zuvor. In diesem Moment größter Verletzlichkeit weckte sein Verhalten eine tiefe Zärtlichkeit in ihr – und eine ebenso heftige Wut.

»Das wäre wirklich ein idiotischer Tod gewesen.« Craig versuchte zu lachen, schaffte es aber nicht; er fing an zu husten, hielt sich mit einer Hand den Nacken. Dann wollte er das rechte Bein bewegen, doch auch das misslang. »Ich kann mir schon die Kommentare an der Uni und im Internet vorstellen. Und die entsprechenden Tweets.«

»Gar nichts! Das war bloß so dahingesagt!« Er schrie sie an, vielleicht auch wegen der Schmerzen.

Wieder warf sie einen prüfenden Blick auf sein Knie und sein Fußgelenk: noch geschwollener, noch röter, trotz der Eispackungen schien sich ihr Zustand eindeutig zu verschlechtern. »Hör zu, wir fahren jetzt ins Krankenhaus!«

»Nein!« Craigs Weigerung klang schrecklich endgültig.

Sie bedrängte ihn erneut, im einen Moment verängstigt, weil er so angeschlagen war, im nächsten überzeugt, dass ihn nichts unterkriegen konnte: Er machte die körperlichen Schäden durch all die Dinge wett, die er wusste und so gewandt in Worte fassen konnte. Von Anfang an hatte sie ihn dafür bewundert, wie er noch die größten Schwierigkeiten mit seiner höheren Beobachtungs- und Verarbeitungsgabe bewältigte, ohne sich je von der scheinbaren Unabänderlichkeit einer Sache erdrücken zu lassen. Er gebrauchte seine Intelligenz und seinen Humor, wo jeder andere schon längst vor Angst aufgegeben hätte. Doch in diesem Fall konnte die Vernunft nicht über die Tatsachen siegen, das war klar. »Du musst dich von einem Facharzt untersuchen lassen, Craig!«

»Ich brauche keinen Kurpfuscher von Facharzt!« Er brüllte noch lauter, richtete sich unter größter Anstrengung auf dem Sofa auf und streif‌te sich mit der Linken Staub und Kalkbröckchen aus den Haaren und vom Hemd.

»Aber vielleicht ist dein Fußgelenk gebrochen!« Je sturer er an seiner heroischen Haltung festhielt, umso mehr geriet sie in Panik. »Vielleicht auch das Knie!«

»Schau nur, wie dick sie sind!« Sie fragte sich, ob sie beide in ein Rollenspiel hineingeraten waren, aus dem sie nicht mehr herauskamen: starker Mann und verstörte Frau.

»Das sind bloß Verstauchungen, ich habe schon Schlimmeres gesehen.« Seine Stimme und sein Blick waren beinah feindselig. »Nur keine Panik, das bringt nichts.«

Kopfschüttelnd dachte sie daran, wie er ihr einmal erklärt hatte, das Wort »Panik« leite sich von dem Hirtengott Pan und dessen Fähigkeit ab, durch plötzliche Geräusche im Wald unter Ziegen, Schafen und Menschen Angst und Schrecken zu verbreiten. Zunächst sei es ein Adjektiv gewesen, hatte er hinzugesetzt, kein Substantiv: panischer Schrecken. Wie bei allen seinen Erklärungen war sie überrascht, aber auch ein wenig perplex gewesen.

»Trotzdem werde ich für die nächsten zwei Monate ein hinkender Krüppel sein, verdammt noch mal!« Wieder verzog Craig das Gesicht. »Machst du jetzt noch diese paar elenden Kratzer sauber, oder soll ich’s selber machen?!«

»Ich mach ja schon, ich mach ja schon.« Im Spülbecken wusch sie das Tuch aus, tränkte es erneut mit Wasserstoffperoxid und machte sich wieder an seinem Arm zu schaffen. Das Eis in den Beuteln auf Craigs Knie und Fußgelenk war in der Hitze mittlerweile fast ganz geschmolzen, das Wasser rann an seinem Bein hinunter und tropf‌te auf den Boden.

Eine Weile schwiegen sie; er verzog nur ab und zu das Gesicht vor Schmerz. »Scheißmorsches Dach! Scheißmorsches Haus!« Dann wieder Schweigen.

»Ist das nicht etwas Gutes?« Craig schnitt eine Grimasse, vor Schmerz, aber bestimmt auch weil er sich in die Enge getrieben fühlte. »Ist das nicht ein wunderbarer Liebesbeweis?«

Mara Abbiati suchte nach einer passenden Antwort, konnte sich aber für keine der sich bietenden Alternativen entscheiden, sie war zu erschüttert. Auf dem Sofa sitzend, wartete sie darauf, dass ihr Mann endlich aufhörte, den starken Mann zu geben. Ab und zu kam ihr der Himmel in den Sinn, den sie durch das Loch im Dach des Schlafzimmers gesehen hatte: tiefblau, am glühend heißen Julitag.

Sie brauchte noch eine gute halbe Stunde, bis sie Craig überzeugt hatte, dass es doch besser war, nach La Spezia ins Krankenhaus zu fahren, um sich untersuchen zu lassen.

Zwei Tage nach dem Sturz weisen die Verletzungen an Craig Nolans rechtem Arm und den Handgelenken schon hellrotes Granulationsgewebe auf. Die in den Schnittwunden vorhandenen Zellen sind nun fast alle Makrophagen, neugebildete Blutgefäße und Fibroblasten, die die Heilung vorantreiben. Fußgelenk und Knie dagegen sind nach wie vor geschwollen und schmerzen, ruhiggestellt in Elastikschienen, die sie ihm in La Spezia verpasst haben; die Bänder werden gut zwei Monate brauchen, um ganz zu verheilen. Schmerzen an Hals und Nacken vervollständigen das hübsche Gesamtbild, falls der Rest noch nicht genügen sollte. Die Diagnose und Prognose, die er sich selbst gestellt hatte, war richtig: Die Krankenhausärzte konnten sie, wenn auch widerwillig, nur bestätigen. Damit die Schwellung zurückgeht, wird er ein paar nichtsteroidale, entzündungshemmende Tabletten nehmen, aber keinesfalls diese Schmerzmittel, mit denen sie ihn am ersten Tag vollgepumpt haben. Er braucht einen klaren Kopf zum Arbeiten, da ja von Wanderungen und Schwimmen für diesen Sommer keine Rede mehr sein kann. Sich so vorsichtig bewegen zu müssen deprimiert ihn zutiefst: Er fühlt sich wie ein Krüppel, ein Dummkopf.

Manchmal denkt er, wenn die Anthropologie ihn nicht