Dieser Roman ist ein Werk der Phantasie, einzige Ausnahme bilden einige Orte, öffentliche Persönlichkeiten oder Werke, die dazu dienen, einen Kontext herzustellen; die Romanfiguren und die Ereignisse hat der Autor frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit real existierenden Namen, körperlichen und beruflichen Merkmalen ist daher rein zufällig.
CRAIG NOLAN, PHD
6. Januar 2015
Liebe Freunde, Kollegen, Studenten, Leser, Fernsehzuschauer und Unbekannte aller Art,
in den letzten Monaten waren so viele verdrehte, abartige oder schlicht erlogene Versionen meines Sturzes durch das Dach im vergangenen Juli in Umlauf, dass ich glaube, einiges klarstellen zu müssen; die längst endgültig verfälschte Wahrheit lässt sich kaum noch rekonstruieren, aber ich will doch versuchen, wenigstens der Flut von unverschämten Behauptungen über mein Privatleben Einhalt zu gebieten.
Zuallererst: Natürlich wäre es mir nie eingefallen, während eines Sommergewitters mit Blitz und Donner und prasselndem Hagel auf den Ziegeln herumzuspazieren, wie einige behauptet haben (als hätten ihnen die dramatischen Elemente noch nicht gereicht). Ich bin erst am Morgen nach dem Gewitter aufs Dach gestiegen, als der Himmel strahlend blau war und die Sonne brannte. Zweitens: Die Idee, ich wäre hinaufgeklettert, um meine Frau mit diesem Theater emotional zu erpressen, ist so grotesk, dass ich mich nicht dazu herablassen würde, sie zu dementieren, wenn nicht so viele sie sofort geglaubt hätten. Wer dieses Gerücht verbreitet hat, hätte einen Preis für die größte Blödheit verdient, auch wenn er offensichtlich die Absicht verfolgte, mich als Blödmann hinzustellen. Jedwede Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Mara ist nach und nicht vor meinem Sturz entstanden. Ich bin aus reinen Vernunftgründen aufs Dach gestiegen, nämlich um festzustellen, wo genau der Regen am Vorabend während des schon erwähnten Gewitters ins Haus getropft war. Meine einzige Unvorsichtigkeit (wobei ich bezweifle, dass euch, liebe Freunde, Kollegen, Studenten, Leser, Fernsehzuschauer und Unbekannte aller Art, meine Unvorsichtigkeiten wirklich solche Sorgen bereiten) bestand darin, den Zustand der Ziegel, die schon von Anfang an recht brüchig und vom Wetter stark abgenutzt waren, außer Acht gelassen zu haben. Drittens: Die Verletzungen, die ich mir bei dem Sturz zugezogen habe, bestanden in Verstauchungen zweiten Grades am rechten Fußgelenk (Außenbandruptur des oberen Sprunggelenks) und am rechten Knie (Seitenbandverletzung) und einem Schleudertrauma im Halswirbelbereich (nach der QTF-Klassifizierung ebenfalls zweiten Grades), verursacht durch den Aufprall auf dem Fußboden: Nachdem ich stehend abgestürzt war, bin ich unten auf den Rücken gefallen und habe instinktiv den Kopf gehoben. Der Vollständigkeit halber muss ich auch noch ein paar Prellungen und Platzwunden am rechten Arm und mehrere unbedeutende Hautabschürfungen an beiden Unterarmen erwähnen. Die italienischen Krankenhausärzte haben mir eine Behandlung nach dem sogenannten PRICE-Protokoll verschrieben (Protection, Rest, Ice, Compression and Elevation, was ich sowieso alles schon selbst angewendet hatte), worauf nach meiner Rückkehr nach England ein Reha-Aufenthalt im Spire Cambridge Lea Hospital folgte. Heute sind die Gelenke meines rechten Beins wieder zu fast neunzig Prozent funktionsfähig, versichern mir die Ärzte. Insgesamt war es also durchaus ein sehr unangenehmer Unfall, das kann ich nur bestätigen, er hatte aber ganz bestimmt kein »gebrochenes Rückgrat«, keine »zerschmetterten Beine« und keinen »an der Schulter fast abgerissenen Arm« zur Folge, wie einige von euch vorschnell in die Welt posaunt haben, natürlich ohne jede vorherige Überprüfung der Tatsachen.
Diesbezüglich möchte ich hier noch eine kleine Auswahl von Nachrichten anfügen, die mich via Twitter erreichten (der Kürze halber lasse ich im Ton ähnliche weg, die über andere soziale Netzwerke verbreitet wurden):
#craignolan stolzierte im sturm übers dach, wollte er eindruck schinden bei seiner #catwoman???
@craignolanphd ich drück dich auch wenn du mich bestimmt nicht zurückdrücken kannst, hihihihi
@craignolanphd scheißanthropologe gelähmt endlich eine gute nachricht #thecannibalsaresafe
#crashednolan wird auch einarmig weiternerven OMFG
#crashednolan salonforscher gelähmt = großes geschenk für die anthropologie
Nach #stephenhawking wird uns nun auch #crashednolan aus dem rollstuhl mit pseudogenialen blödheiten bombardieren
@craignolanphd mit deinem kranken kängurugesicht, krepier doch das nächste mal RT
hey @craignolanphd echt schade nur ein stockwerk statt zehn ROFL
@craignolanphd du wolltest wohl die einschaltquote deiner miesen tv-sendung erhöhen, stimmt’s?
#crashednolan wer weiß ob er es wenigstens geschafft hat sein betrogenes frauchen zu rühren LOL
#craigthroughtheroof ich schwöre wenn er nach dem sturz noch mehr von seinen scheißbüchern verkauft wandere ich aus nach #australien
#craigthroughtheroof schade dass er nicht unter den trümmern des hauses begraben liegt #canthaveeverything
#craigthroughtheroof oder wie sich ein tv-akademiker nach kurzem höhenflug in eine lahme ente verwandelt
@craignolanphd hüpfte auf dem dach wie nett nun liegt er nach kurzem flug im bett LMAO
#craigthroughtheroof es gibt genug scheißbesserwisser die man gern abstürzen sähe aber das ist zumindest mal ein anfang #thankgodforthat
Welch wahrhaft wunderbare virtuelle Gemeinschaft, verbunden durch Nächstenliebe und die Liebe zum Akronym (und durch eine befreiende Missachtung aller Zwänge der Interpunktion). Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass LOL im Ergänzungsband von 2011 offiziell ins Oxford English Dictionary aufgenommen wurde? Nein, im Ernst, ich finde es durchaus bemerkenswert, dass sich selbst brillante akademische Köpfe (ja, ich spreche von euch) wie selbstverständlich mit den unzulänglichen Ausdrucksmöglichkeiten der sogenannten neuen Kommunikation zufriedengeben. Und das, obwohl Friedhelm Hillebrand schon 1985, nach aufwendigen Studien, festgestellt hat, dass mindestens hundertsechzig Zeichen nötig sind, um einen beliebigen Gedanken halbwegs adäquat auszudrücken; es braucht nicht viel, um zu begreifen, dass die Beschränkung auf hundertvierzig Zeichen eine sprachliche und konzeptuelle Regression impliziert, die einem Rückfall in die Steinzeit gleichkommt. Andererseits wissen wir genau, dass das Internet ein großartiges Ventil ist, um jegliche Art von Frustration, Eifersucht und Groll ungestraft abzulassen; die sogenannten sozialen Netzwerke benötigen ständig Nachschub, um aktiv zu bleiben. Der Voyeurismus, das Meinungsgeschwätz und der Geist der Lynchjustiz müssen jeden Tag neue Opfer finden, jeden Tag müssen ungeheure Mengen von Giftmüll in Umlauf gebracht werden. Es ist eine Tatsache, dass Millionen von Menschen rein gar nichts dafür tun, um die Probleme in ihrem Leben zu lösen, ihr Wissen zu erweitern und sich selbst (oder gar die Welt) zu verbessern, sondern lieber hemmungslos die niedrigsten Gefühle ausleben. Im beruhigenden Schutz der Anonymität verbringen sie jede freie Minute damit, sich mittels ihrer Desktops, Laptops, Tablets und Smartphones unsägliche Banalitäten und grobe Übersetzungen ihrer Primärtriebe zu senden. Schwer zu sagen, wie viel Zeit für all diese »freien Minuten« von ihrer Berufstätigkeit und ihren realen persönlichen Beziehungen abgeht, aber ich bin überzeugt, dass die verfügbaren Schätzungen beträchtlich unter dem wirklichen Wert liegen. Falls jemand unter meinen Lesern (wohl die meisten von euch) denkt, ich würde übertreiben, täte er gut daran, endlich aufzuwachen: Der Zug, in dem er gemütlich dahindämmert, rast in Windeseile auf den Abgrund des allgemeinen Schwachsinns zu, dem sollte er ins Auge sehen.
Was die Entwicklungen nach meinem Sturz vom Dach betrifft, werde ich gar nicht erst versuchen, den zahllosen böswilligen Unterstellungen zu widersprechen, die mit gehässigem Eifer in Umlauf gebracht worden sind. Ich möchte lediglich anmerken, dass das meine und Maras Privatsache ist. Und ich wäre glücklich (natürlich wage ich nicht, es wirklich zu hoffen), wenn ihr aufhören würdet, eure individuellen und kollektiven Nasen in meine Angelegenheiten zu stecken.
Einen herzlichen Gruß an alle,
Craig Nolan
Als Craig Nolan im Januar 2015 am Schreibtisch seines Arbeitszimmers in der Little St Mary’s Lane in Cambridge an seine erste Ankunft mit Mara in Canciale zurückdenkt, während die Stereoanlange leise Jumping At Shadows von Peter Green spielt und vor den Fenstern am schon beinah dunklen Nachmittag der Regen fällt, schwankt er bei der Erinnerung ständig zwischen Sehnsucht, Fassungslosigkeit und Verärgerung.
Die zu beantwortende Frage ist immer die gleiche: War es unvermeidlich, dass es so weit kommen musste? Hätte er den Lauf der Ereignisse, die zur jetzigen Situation geführt haben, aufhalten oder zumindest in eine weniger katastrophale Richtung lenken können? Ja, bestimmt, und nein, bestimmt nicht, wie bei allem, was geschieht. Genau genommen hätte er dann gar nicht erst in den alten blauen Bus steigen dürfen, der unverdrossen die kurvige Straße in die immer steiler werdenden Berge hinaufächzte, viel weiter von der Küste weg, als er sich vorgestellt hatte. Er hätte auf seine innere Stimme hören können, die ihm riet, eine vorübergehende sinnliche Anziehung nicht mit einer langfristigen emotionalen und praktischen Verbindung zu verwechseln. Es hätte genügt, eine plötzlich unvermeidliche Arbeitsverpflichtung vorzuschützen, einen Notfall an der Universität, irgendeinen fachlichen Grund, weshalb seine Anwesenheit in der Mongolei oder auf den Salomon-Inseln dringend geboten war. Oder er hätte mit brutaler Offenheit erklären können, dass er sich für eine dauerhafte Beziehung nicht bereit fühle, auch nicht mit einer so interessanten Frau wie ihr; oder darauf pochen, dass seine Tätigkeit und sein unkonventionelles Denken nicht mit einem Lebensstil nach den Standards der sogenannten Reife vereinbar seien. Zumal Mara selbst so stolz war auf ihre Unabhängigkeit, so agil und ruhelos: Alles, was sie zum Zeitpunkt ihrer Begegnung begehrte und praktizierte, war das Gegenteil von Langeweile und Wiederholung. Sie war die freieste, selbständigste Frau, die er je kennengelernt hatte, eine begabte junge Bildhauerin, die gerade mühsam eine lange, schwierige Beziehung zu einem bipolaren Geigenbauer beendet hatte und nicht im Entferntesten daran dachte, von einem Mann Beteuerungen oder Garantien für die Zukunft zu verlangen! Und ihre Beziehung stand ja noch ganz am Anfang, war noch ganz ohne gemeinsame Gewohnheiten, gemeinsame Ausdrucksweisen, Pläne oder andere stabilisierende Elemente. Warum war er bloß in diesen Bus gestiegen, wenn er die möglichen Folgen der kaum einstündigen Fahrt doch schon geahnt hatte? Warum konnte er sich der gegenseitigen Faszination, dem Bröckeln des Widerstands, dem gefährlichen Sich-Aussetzen und dem Leichtsinn, der sicheren Schaden anrichtet, nicht entziehen? Einfach weil ihm schien, im Namen seiner Unabhängigkeit auf die momentane Aufregung zu verzichten sei eine Geste unerträglicher Feigheit, die er hinterher für immer bedauert hätte; es war ihm nicht gelungen, sich uninteressiert, antriebslos und gefühlsgeizig zu geben. Letztlich war das ein vorgezeichneter Weg: zu ahnen, wohin er ihn führen würde, hatte ihn nicht daran gehindert, ihm Schritt für Schritt zu folgen.
Als sie endlich in Canciale ankamen, ihre Rucksäcke abstellten und sich umsahen, sprach sein Selbsterhaltungstrieb immer noch eine unmissverständliche Sprache. Außer der Übelkeit wegen des vierzigminütigen Gerüttels und der Enttäuschung, die proportional zur Entfernung zum Meer gewachsen war, packte ihn, wenn auch nur nach und nach, das untrügliche Gefühl, dass er dabei war, einen großen, nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Doch verschwand dieses Unbehagen schlagartig, sobald Mara ihn mit dem gleichen Lächeln ansah wie vier Tage zuvor in Mailand, als sie ihm, während er durch die Stadt spaziert war, weil er auf einen Interviewtermin wartete, auf der Piazza Cordusio zufällig begegnet war. Diese Italienerin mit dem Lockenkopf, den kastanienbraunen Augen und den kräftigen, aber zugleich weichen Formen hatte ihn so beeindruckt, dass er sie (in einem damals noch sehr vagen Italienisch und mit einem Übermut, über den er selbst erstaunt war) gefragt hatte: »Perdono, dove è la piazza del Duomo?«, obwohl er genau gewusst hatte, dass der Domplatz keine hundert Meter hinter ihm lag. Daraufhin hatte sie ihn halb amüsiert, halb neugierig gemustert und ihm unerwartet auf Englisch geantwortet: »Seriously?« Und danach hatten sich ihre Lippen zu dem strahlendsten Lächeln geöffnet, das er je gesehen hatte, und mit einem Mal war das gesamte achttägige Programm anlässlich des Erscheinens der italienischen Ausgabe von Das wilde Herz über den Haufen geworfen. Plaudernd waren sie die Via Orefici entlanggegangen, und er hatte sie zu einem Aperitif in der Galleria überredet (sie bestellte einen Americano, er einen Martini). Ihr Gespräch war so anregend, dass er sein Interview im Hotel komplett vergaß und sie zu seinem Vortrag am folgenden Abend einlud. Nach dem Vortrag ließen sie kurzerhand das offizielle Abendessen sausen, suchten sich ein kleines Restaurant, wo sie niemand störte, und waren von da an unzertrennlich. Er sagte alle seine Termine in Florenz, Pisa und Rom ab, und sie verbrachte wesentlich weniger Zeit mit ihren Eltern, als sie sich eigentlich vorgenommen hatte; drei Tage erkundeten sie gemeinsam die Stadt, drei Nächte die Suite des Hotels, die der Verlag für ihn gebucht hatte; am vierten Tag fuhren sie mit dem Taxi zur Stazione Centrale und stiegen in einen Zug nach Ligurien.
Und nach der Busfahrt von der Küste in die Berge stand er also neben diesem wunderbaren südländischen Mädchen mit dem unruhigen Geist und den erstaunlichen künstlerischen Fähigkeiten, die ihn nun wieder auf ihre unwiderstehliche Art anlächelte und fragte, ob ihm die Reise gefallen habe. Er bejahte, ohne zu zögern: glücklich, ein neugieriger und anpassungsfähiger Reisegefährte zu sein, ein experimentierfreudiger Partner, ein international bekannter Akademiker, der sich jedoch nicht zu ernst nahm, ein Forscher, der sich unter den ehemaligen Kannibalen der Korowai ebenso wohl fühlte wie unter den Bewohnern einer italienischen Region, die zu den weniger fremdenfreundlichen zählt. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung, die er in jedem Blick und jedem Wort von Mara wahrnahm, bei jedem Schulterstreifen, berauschte ihn wie eine Droge. Dass er bei einer Frau Aufmerksamkeit und Bewunderung weckte, erlebte er zwar nicht zum ersten Mal, doch bei ihr begeisterte es ihn, weil sie selbst so viel Aufmerksamkeit und Bewunderung verdiente. Ist das vielleicht der springende Punkt? Ist er tatsächlich dermaßen narzisstisch veranlagt, dass er sich von einer naturgemäß vergänglichen Euphorie blenden ließ und dadurch die möglichen Folgen für seine intellektuelle und materielle Unabhängigkeit völlig ignorierte?
Jedenfalls sind die Bilder und Empfindungen dieser ersten Ankunft in Canciale in seiner Erinnerung sehr viel klarer als die Gedanken, die ihm damals durch den Kopf gingen: Er braucht sie sich nur ins Gedächtnis zu rufen, schon sind sie lebendig und pulsierend wieder da. Die Gedanken dagegen sind trüb, lückenhaft, sie kommen nicht an gegen die Kraft der eindrucksvollen Bilder von Mara, die ihn aufgeregt, ungeduldig und doch vorsichtig die enge Straße hinunterführt. Sie geht erst rasch, dann verlangsamt sie ihren Schritt, dreht den Kopf in alle Richtungen, schnuppert in der Luft, nimmt tausend Einzelheiten wahr. Er folgt ihr, und sie weiß um seinen Blick, der auf ihr ruht, und bewegt sich dennoch völlig natürlich in ihrem leichten geblümten Baumwollkleid, das ihren Körper betont und die energischen, eleganten Beine entblößt, die starken, wohlgeformten Füße in den dünnen, von der Sonne gebleichten Ledersandalen. Und weiter: Er folgt ihr und fühlt, sein Gesicht ist zu rosa, sein Haar zu hell und zu schütter, seine Kopfhaut zu sichtbar, die Arme zu unbehaart und die Oberschenkel, Knie und Waden zu stämmig in der kurzen Khakihose mit den zu vielen Taschen. Und weiter: Zusammen gehen sie an den pastellfarben oder zementgrau verputzten Häusern vorbei, an den holzgezimmerten Hühnerställen mit den Wellblechdächern, den kleinen Gemüsebeeten in den Gärten, den Autos und den motorisierten Dreiradkarren am Straßenrand, dem Röhricht, den Müllcontainern und den Robiniensträuchern, um schließlich vor einem kleinen, zweistöckigen Gebäude von verblichenem Rot stehen zu bleiben. Und endlich: Erneut stellt Mara den Rucksack ab, deutet mit vor Rührung glänzenden Augen auf die Fassade, und ein leichtes Zittern überläuft ihre schön geschwungenen Lippen.
Doch klangen nicht auch in dieser begeisterten Wahrnehmung von Formen, Strukturen und Temperaturen schon Misstöne an? War er nicht bestürzt, wie wenig die Realität des Ortes mit den Vorstellungen übereinstimmte, die ihre vorigen Erzählungen genährt hatten, elektrisiert vom Wunsch nach mehr, durchzogen vom fieberhaften Informationsaustausch? Wo war der vielbeschworene Zauber von Canciale, diesem irdischen Paradies, überreich an köstlichen Früchten und bewohnt von einfachen, freigebigen Menschen? Wie viel von dem, was er vor Augen hatte, stimmte mit der automatischen Visualisierung überein, die auf den Erinnerungen an andere Mittelmeerorte basierte, ausgeschmückt durch Fotografien, Filmausschnitte, Werbung, Broschüren von Reisebüros und reine Phantasie?
Die Wahrheit (aber welche Wahrheit, die heutige oder die von damals?) ist, dass Canciale ihm unfreundlich, verwahrlost und irgendwie trostlos vorkam; wie die feuchte, weitläufige, ländliche Peripherie eines Dörfchens im Apenninvorland, das sich zwischen Licht und Schatten an die steilen Berghänge klammerte. In nichts glich es dem sonnigen Ort, den er bis zu diesem Moment vor sich gesehen hatte: keine Spur von leuchtend weißen Häuschen, von tief purpurroten Bougainvilleen, von aufs kobaltblaue Meer hinausschauenden Terrassen. So weit das Auge reichte nur dunkelgrüne Abhänge, dazwischen die helleren Linien von größtenteils verwilderten Olivenhainen, hier und da einige zusammengeschusterte, ungepflegte kleine Gebäude, primitive Gemüsegärten, illegal errichtete Garagen, wildwucherndes Unkraut, Drahtzäune und Laternen mit unverhältnismäßig großen Masten. Das Häuschen, in dem Mara bis zu ihrem späteren Umzug nach Cambridge wohnte und für das sie auch danach hartnäckig weiter Jahr für Jahr die Miete bezahlte, war eher armselig als faszinierend. Es lag direkt an der Straße (auch wenn sie schmal und kaum befahren war), mit wenigen Quadratmetern ungepflegtem und auf einer Seite von der Sonne versengtem Rasen, ohne dass ein selbst symbolischer Zaun den öffentlichen vom privaten Raum trennte. Und dann die schrundige Eingangstür, von der die Farbe abblätterte, die fahlgrünen Fensterläden, die verrosteten, löchrigen Regenrinnen und Fallrohre. Ganz zu schweigen von dem Riss in der Fassade oder dem jämmerlichen Zustand der Trockensteinmäuerchen, die die schmalen Oliventerrassen hinter dem Haus stützten und überwuchert waren von einem undurchdringlichen Dschungel aus Brombeergestrüpp und Kletterpflanzen.
Doch in Craig Nolans heutiger Erinnerung, die sich aus lückenhaften Gedanken und sehr lebendigen Bildern und Empfindungen zusammensetzt, betrachtet Mara ihr ligurisches Häuschen, als wäre es ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert oder eine ihr unendlich teure Person. Ohne sich noch einmal zu ihm umzuwenden, zieht sie einen Schlüssel an einem roten Bändchen heraus und dreht ihn mit Mühe im Schloss; mehrmals rüttelt sie an der Klinke und stemmt sich mit der Schulter gegen die Tür, bis sie endlich aufspringt. Ein so ungestümer Einsatz ihrer Körperkraft muss unweigerlich seine Besorgnis geweckt haben, in Kombination mit der Bewunderung, die man beim Anblick bedeutender Gesten empfindet; doch auch diese Daten fehlen ihm jetzt.
In allen Einzelheiten sehr präsent ist ihm dagegen der Moment, in dem er ihr ins Haus folgt wie in einen Traum, der nicht seiner ist und in dem er, wie er weiß, nichts entscheiden kann. Das Wohnzimmer mit der Kochnische ist so ärmlich wie bezaubernd, man spürt die Feuchtigkeit und den Charme später Hippiejahre. Es riecht nach Staub, Patschuli, Fichtenholz, Schimmel. Mit dem gleichen, beinah gewaltsamen Schwung, mit dem sie zuvor die Tür geöffnet hat, stößt Mara die Fenster auf, und Licht durchflutet den kleinen Raum. Nun erkennt man zwei etwa sechzig Zentimeter hohe Skulpturen, eine Katze aus Stein, die sich die Pfote leckt, und eine in aufmerksamer Haltung aus Holz. Außerdem einige schiefe, wer weiß wo aufgegabelte alte Stühle, einen nachlässig weiß gestrichenen alten Schrank, bunte nepalesische Stoffe an den Wänden, niedrige Regale voller Bücher mit vom vielen Lesen abgegriffenen Rücken. Auf einem Bord steht eine Schwarzweißfotografie von Mara im Badeanzug, mit einem wilden, sinnlichen Ausdruck. Dann ein Wecker und gleich daneben ein kleineres Farbfoto, das sie mit Strohhut auf einem Mäuerchen sitzend zeigt. Auch hier beunruhigen die selbstbewusste Haltung, der stolze Blick, das erahnbare Einverständnis mit dem Urheber des Schnappschusses. Es gibt noch ein zweites Farbfoto, von einem Mann in einer Lautenbauwerkstatt, mit einer unfertigen Gitarre in der Hand; seine Haltung ist entsetzlich borniert, stumpfer Blick, die Lippen angespannt durch die programmierte Verweigerung eines Lächelns.
Obwohl die damaligen Gedanken kaum lesbar sind, gibt es keinen Zweifel: Genau an diesem Punkt, als ihm die greifbaren Belege für Maras vorheriges Leben ins Auge sprangen, verspürte Craig Nolan das verzweifelte Bedürfnis, sich das noch verfügbare Territorium anzueignen, es um jeden Preis zu besitzen und zu markieren. Ihm war plötzlich so schwindelig, dass er sich an den Türrahmen lehnen musste; der Schock hatte alle seine Reflexe verlangsamt, wie ein Pistolenschuss, der zwischen den Wänden nachhallt.
»Alles gut?« In Maras Augen blitzte Unsicherheit auf, bezaubernd, glühend.
»Bestens.« Craig Nolan zwang sich zu einem verzerrten Lächeln.
»Gefällt es dir?« Sie senkte den Blick, während sie mit dem Fuß einige am Boden herumliegende CDs wegschob. Mit wem hatte sie die gehört? Und wann?
»O ja, sehr.« Atemlos machte Craig Nolan ein paar fahrige Bewegungen, als schwimme er in einem reißenden Wasserlauf gegen den Strom.
Danach gab es kein Halten mehr, sie waren übereinander hergefallen, hatten sich wie wild umarmt, geküsst, die Kleider vom Leib gerissen und auf dem alten, klapprigen Sofa geliebt, das zweifellos schon wer weiß wie viele bedeutsame Momente in Mara Abbiatis Leben vor Craig Nolan miterlebt hatte. Die Erinnerung an ihren ersten Sex im Haus von Canciale ist noch lebendiger als die an ihre Ankunft und noch stärker von widersprüchlichen Gefühlen gekennzeichnet. Sein Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, wie in den Nächten im Mailänder Hotel, hatte sich sofort verflüchtigt, ebenso wie der Vorteil des Älterseins, der größeren Erfahrung und Bildung – er war Mara ganz und gar ausgeliefert: Der Gegensatz zwischen ihrer Impulsivität, ihrer Körperwärme, ihrer Art zu atmen und seinem Gefühl von unwiederbringlichem Verlust war so riesengroß, dass er wie eine nasse Decke auf ihm lastete. Und doch hatte er mit verzweifeltem Eifer zu der wachsenden Spannung beigetragen, zu dem überhitzten Hin und Her, zu dem Keuchen und Sich-Worte-ins-Ohr-Hauchen, zu dem jugendlich wilden Spiel, das von den unergründlichen Tiefen ihrer animalischen Natur beherrscht wurde. Heute ist ihm klar, dass er wohl tausendmal besser daran getan hätte, ein winziges bisschen auf Distanz zu gehen und wenigstens einen kleinen Teil seines Humors zu aktivieren; spät, gewiss, doch vielleicht hätte es noch eine Möglichkeit gegeben, das Abdriften aufzuhalten und ein Minimum an Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Aber er tat es nicht, von daher sind diese nachträglichen Überlegungen absolut müßig: vergeudete Energie.
Am nächsten Tag wachten sie vom Lärm eines dreirädrigen Motorkarrens auf, der brummte wie ein fettes Insekt. Kurz darauf krähte ein Hahn, und dann iahte sogar noch ein Esel. Craig Nolan ging ins Bad und zog sich etwas über. Als er wieder herunterkam, stand die Tür weit offen, und Mara hockte, nackt unter ihrer fast durchsichtigen indischen Leinentunika, draußen auf der Straße und verteilte Trockenfutter an einige wie aus dem Nichts aufgetauchte halbwilde Katzen. Ein paar Sekunden schaute er zu und erklärte ihr dann, er sei allergisch gegen Katzen (tatsächlich spürte er schon, wie es ihn im Hals kratzte und seine Augen brannten). Sie nahm ihn nicht ernst, lächelte ihm zu und verteilte weiter Futter und Streicheleinheiten.
Später saßen sie am Küchentisch und tranken bitteren Kaffee, danach streifte Mara sich etwas Dezenteres über und zog ihn hinter sich her, um eine alte Nachbarin namens Launa zu begrüßen, die allein im Haus gegenüber wohnte. Wie Blutsverwandte umarmten und küssten sich die beiden Frauen an der Tür, dann begannen sie, ohne sich um ihn zu kümmern, Neuigkeiten auszutauschen, manche sehr laut, andere im Flüsterton. Erst nach einer Weile beschloss Mara, sich umzudrehen und mit einer ihrer malerischen Gesten auf ihn zu zeigen, worauf Signora Launa ihn mit ihren kleinen, blauen Augen musterte. In unverständlichem Dialekt stellte sie ihm einige Fragen, neugierig, leicht misstrauisch und mit einem Hauch von Boshaftigkeit.
»Non capisco.« Craig Nolan schüttelte den Kopf und dachte wieder einmal, dass alle zu der Annahme neigen, ein berühmter Anthropologe müsse selbstverständlich über alle linguistischen und kulturellen Barrieren hinweg kommunizieren können. Allerdings hielt Mara nichts für selbstverständlich, und Signora Launa hatte ja keine Ahnung, wer er war.
»Sie will wissen, ob du mich gut behandelst«, erklärte Mara belustigt, aber nicht ganz im Scherz. Noch eine Alarmglocke, die jedoch ebenso ungehört verhallte wie die vorherigen.
»Und was hast du gesagt?« Er lachte krampfhaft, um die Angst vor dem unvermeidlichen Urteil zu überspielen: wie ein Mann aus einem fernen Stamm, mit langsamen Reflexen und wenig Chancen, die Frau seiner Träume zu erobern. Warum war er plötzlich so ungeschickt, wo war die Schlagfertigkeit geblieben, mit der er sonst auf unbedarfte Fragen seiner Studenten in Cambridge reagierte oder diesen Dummkopf Tim Upton von der BBC abfertigte? Mit einem Mal war er verunsichert, das Gespräch flößte ihm eine Befangenheit ein, wie er sie vorher nur in der schlimmsten Phase seiner Pubertät, damals in Leeds, erlebt hatte; und das hatte gewiss nicht nur sprachliche Gründe, sondern hing mit seinem allgemeinen Kontrollverlust zusammen.
Mara lachte und plauderte weiter mit der alten Frau, doch ihre Ausdrucksfreude und sprechende Gestik, die er in Mailand mit Vergnügen und Bewunderung beobachtet hatte, als sie zum Essen ausgegangen waren (und auch viel getrunken hatten), verunsicherte ihn hier zutiefst. Als sie Signora Launa dann endlich verließen, fühlte er sich sehr erleichtert.
Mara dagegen strahlte und deutete hinter sich: »Ist sie nicht phantastisch?«
»Sagenhaft.« Craig Nolan wollte einfach keine interessante Bemerkung einfallen, er musste sich mit ein paar Oberflächlichkeiten behelfen. »Allein wie sie einen ansieht, da merkt man gleich, dass sie eine scharfe Beobachterin ist.«
»Auf jeden Fall!« Mara war offenbar glücklich über sein Urteil. »Und was sie schon alles erlebt hat, unglaublich, bei Gelegenheit muss ich sie mal bitten, dir davon zu erzählen.«
»Ich bin schon ganz gespannt.« Und tatsächlich, in jenem fiebrigen Stadium ihrer Bekanntschaft hätte er jeden ihrer Vorschläge mit Begeisterung aufgenommen. Alles wäre ihm recht gewesen: sich am Gleitschirm von einem Felsen zu stürzen, ein Krokodil am Kopf zu streicheln, sich mit dem langweiligsten Menschen der Welt zu unterhalten. Bereitwillig trank er jeden Wein, den sie ihm vorsetzte, aß jede Speise, fand alle sympathisch, die sie ihm als Freundin oder Freund vorstellte. Es war die Phase der schier unbegrenzten Anpassung, wie man sie am Anfang jeder intensiven Liebesbeziehung unweigerlich durchläuft, und vorbehaltlos nahm er genau jenes mimetisch-opportunistische Verhalten an, das er in mehreren Studien untersucht und ausführlich beschrieben hatte: was ihn jedoch, wie man später sehen konnte, kein bisschen gegen die Folgen immun machte.
Irgendwann schleifte Mara ihn dann auch mit ins Zentrum von Canciale, erst das kurvige Sträßchen bis zur Staatsstraße hinauf und von dort durch weitere Kurven bis zu der kleinen, schrägen Piazza, von wo man nach Aussage der Einwohner an klaren Tagen in weiter Ferne ein Fitzelchen Meer sehen konnte. Daher, so erzählte sie ihm, stamme auch der Name des Dorfes, eine Kurzform von cannocciale, dem ligurischen Wort für Fernglas. Worauf er erwiderte, dass die Etymologie von Ortsnamen zwar oft ziemlich fragwürdig sei, in diesem Fall aber doch plausibel klinge. Obwohl es an diesem speziellen Morgen dunstig und vom Meer nichts zu sehen war. Auch in die Bar schleppte sie ihn, zu Carlo, einem klapperdürren Typ mit Ziegenbärtchen und ebensolchen Augen, der sie beinah genauso überschwenglich begrüßte wie Signora Launa. Zwar fühlte sich Craig Nolan bei dem folgenden angeregten Gespräch noch mehr ausgeschlossen, zugleich kam er aber zu der Einsicht, dass er hier Zugang zu einer kleinen Gemeinschaft bekam, zu der er künftig vielleicht nicht uninteressante Studien betreiben könnte. Der Cappuccino, den Carlo für sie zubereitete, wobei er zum Schluss den duftigen Milchschaum mit Kakao bestäubte, schmeckte vorzüglich, ebenso wie die Focaccia, die Mara nach einem weiteren Austausch von Küssen und Umarmungen mit der Bäckerin in dem nahe gelegenen Laden kaufte. Gierig wie Verhungernde bissen sie hinein, setzten sich auf eine in den rissigen Zement gerammte Bank und verschlangen dort das noch warme, knusprige, salzige, fettige Gebäck. Am nächsten Tag fuhren sie mit dem Bus an die Küste zurück und nahmen den Zug nach Lerici, um im spiegelglatten Meer zu baden. Auf den Felsen ausgestreckt, unterhielten sie sich über Byron, der 1822 im gleichen Wasser gebadet hatte, und plauderten, lachten, küssten sich und schwammen, bis es Zeit war, wieder in den Zug und dann in den Bus zu steigen, der nach Canciale hinaufkletterte.
Es ist zwecklos, noch weiter ins Detail zu gehen, auch wenn es inzwischen etliches gibt, was mit Nachdruck in die Erinnerung drängt. Die Vertrautheit mit einem Ort entwickelt sich ja nicht linear, sondern in Schüben: Auf einmal merkt man, dass man Nuancen schätzt, die einem kurz zuvor noch gar nicht bewusst waren, und bald ist man überzeugt, einen privilegierten Zugang zu jenem sehr begrenzten Ausschnitt der Welt zu haben. Man lernt Namen, entschlüsselt Insider-Codes, übernimmt Gewohnheiten; im Laufe weniger Tage oder Wochen oder Monate oder Jahre scheint es einem, als hätte man eine bedeutungsvolle, dauerhafte Bindung aufgebaut und Wurzeln geschlagen. Jeder braucht Orte, an denen er sich zu Hause fühlt, Orte, durch die er seinen Charakter und seinen Geschmack definiert und denen er seine Erinnerungen und Vorstellungen anvertraut.
So kam es, dass Craig Nolan nicht nur vier sehr angenehme Tage in Canciale verbrachte, sondern im darauffolgenden Jahr, als er mit Mara zurückkehrte, auch ein erstaunliches Gefühl der Zugehörigkeit empfand. Vielleicht weil er sich einbildete, damit die kulturelle und charakterliche Kluft zu überbrücken, die ihn von ihr trennte, vielleicht aber auch nur, weil er in die Idee verliebt war, ein Pied-à-terre in Italien zu besitzen: das alte Klischee des Angelsachsen, der unwiderstehlich vom Zauber des Mittelmeers angezogen wird. Jedenfalls hörte er irgendwann auf, sie dauernd dafür zu kritisieren, dass sie weiter die Miete für einen so unbequemen und wenig genutzten Ort bezahlte, und als sie ihn dann im April 2007 in der Universität anrief, um ihm (aufgeregt und zugleich beunruhigt) mitzuteilen, dass die Erben des ursprünglichen Besitzers des Hauses in Canciale nach jahrelangen Streitereien endlich bereit waren, es zu verkaufen, hatte er gar nicht erst versucht, sie davon abzubringen, sondern sogar spontan beschlossen, sich zu fünfzig Prozent am Kauf zu beteiligen. Zudem waren sie damals gerade frisch verheiratet, und gemeinsam ein Haus in Italien zu erwerben kam für ihn der Besiegelung einer beidseitigen Verpflichtung gleich, einem Zeichen der Reife, einem Geschenk, einem Zugeständnis. Außerdem würde es das ideale Refugium sein, um in den Semesterferien an seinen Essays zu arbeiten, und auch, o ja: eine Errungenschaft, mit der er vor Freunden, Kollegen und Studenten diskret angeben konnte.
Wie man es auch dreht und wendet, heute zu bereuen, dass er das Haus in Canciale gekauft hat, ist unlogisch und vollkommen sinnlos. Jedes Ereignis ist das Ergebnis einer endlosen Kette von miteinander verknüpften Ereignissen; sich vorzustellen, wie die Gegenwart aussehen würde, wenn man im Nachhinein ein Kettenglied austauschen könnte, ist reine Zeitverschwendung. Im Übrigen hätte alles auch noch viel schlimmer enden können: Er hätte in Cambridge unters Auto kommen oder damals, als er zum ersten Mal mit Mara im Golf der Dichter schwimmen war, von einem Motorboot erfasst werden können, um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen. Was keineswegs heißen soll, dass es Craig Nolan gelungen wäre, eine distanzierte philosophische Haltung zu den Geschehnissen einzunehmen. Ganz im Gegenteil.
»Craaaaaaig!« Mara hörte sich schreien, während sie sich bemühte, den lähmenden Schreck abzuschütteln, der sie erfasst hatte, als sie sah, wie sich kraack das Dach auftat und Craig wie in Zeitlupe plumps darin verschwand, Knie, Taille, Schultern, Kopf, bis er nicht mehr zu sehen war. Ein langer Moment der Stille und dann STROK der Aufprall, bei dem alle Wände mmmbrrr erzitterten.
Mit Händen, Knien und Füßen bahnte sie sich trampelnd einen Weg durch das Dickicht des Terrassenstreifens mit den verwilderten Olivenbäumen hinter dem Haus, sprang vom Mäuerchen hinunter, rannte mit bis zum Hals klopfendem Herzen über den dürren Rasen des Gärtchens, schrie noch einmal »Craaaaaaig!«, während sie über die Treppe hinauf ins Schlafzimmer stürmte, wo eine dicke, weißgraue Staubwolke in der Luft waberte. Noch hoffte sie inständig, Craig könnte bei dem Sturz wundersamerweise auf dem Bett gelandet sein, doch eigentlich wusste sie schon, dass es nicht so war: Dann hätte sie so etwas wie sgwoinnk gehört und nicht dieses schreckliche STROK. Und da lag er, ausgestreckt auf dem Fußboden, zwischen Putzbrocken, Holzsplittern und spitzen Ziegelscherben. Er glich einem Milizionär irgendeines Kriegs im Mittleren Osten, nachdem das Haus, in das er sich geflüchtet hatte, von der Armee mit Granaten beschossen worden war, ungeachtet aller möglichen Kollateralschäden. Den Kopf leicht gehoben, sah er sie mit einem seltsamen Ausdruck an, in dem sich Erstaunen, Verlegenheit und Schmerz mischten; der rechte Arm hatte blutige Striemen, im Haar und auf der Haut klebte Staub.
Doch als sie sich neben ihn hockte und fragte, ob er sich sehr weh getan habe, erwiderte er: »Bloß ein bisschen am rechten Bein.« Allerdings brauchte man nur seinen Tonfall zu hören, zu beobachten, wie er mit der Hand nach seinem Knie tastete, aber nicht hinkam, und das Loch in der Decke zu sehen, um zu begreifen, dass seine stoische Haltung nur Fassade war.
Sie hatte Ohrensausen vor Schreck, vor Aufregung, Hast und Besorgnis, ihn in diesem Zustand zu sehen, und wollte eigentlich sofort einen Krankenwagen rufen. Doch er fuhr sie an, das komme überhaupt nicht in Frage, die italienischen Ärzte würden ihn höchstens noch ganz zum Krüppel machen, außerdem sei es gar nicht nötig, schließlich sei es ja nur ein saublöder Sturz durch das morsche Dach eines saublöden Hauses in einem saublöden Dorf gewesen.
Daraufhin holte sie seine Brille, die es weit fort geschleudert hatte, und setzte sie ihm wieder auf, obwohl ein Bügel zerbrochen und die Gläser ganz staubig waren; dann half sie ihm, der vor Schmerz grunzend das Gesicht verzog, langsam aufzustehen, Stufe für Stufe die Treppe hinunterzuhumpeln, während sie ihn am weniger beschädigten Arm stützte, sich auf dem Sofa auszustrecken und den rechten Fuß auf einen Stuhl zu legen, damit das Bein etwas erhöht lagerte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, war aber fassungslos, wie tief die Schnitte an der Innenseite des rechten Arms gingen, fast durch bis zur Schulter, und wie sehr das rechte Fußgelenk und das rechte Knie anschwollen.
»Nimm die Eiswürfel aus dem Kühlfach, tu sie in zwei Lappen, und knote sie zu.« Craigs Stimme klang genervt, das erschreckte sie noch mehr.
Sie ging zum Kühlschrank, holte die Eisschale heraus, kippte die Würfel auf zwei Küchentücher, verknotete sie zu Beuteln und legte sie ihm sehr vorsichtig auf Knie und Fußgelenk.
»Aua! Pass doch auf!« Unwillkürlich brüllte Craig los, er musste also wirklich starke Schmerzen haben.
Vorsichtig versuchte sie, die Eisbeutel ohne Druck zurechtzurücken, auch wenn es nicht leicht war; anschließend tränkte sie ein Tuch mit Wasserstoffperoxid und begann, die Verletzungen an seinem Arm zu säubern. Ab und zu sah sie ihm ins Gesicht, konnte ihm aber nichts entnehmen.
Craig wiederholte noch mehrmals, er wolle nichts wissen von Krankenhäusern und Ärzten, er habe schon viel schlimmere Unfälle an viel schwerer erreichbaren Orten gehabt und sei immer bestens allein zurechtgekommen. Es sei nur dumm gewesen, sagte er, das Dach nicht mit einem Stock zu sondieren, bevor er darauf herumlief, er hätte doch wissen müssen, dass das Haus mies gebaut war. Überhaupt sei es Schwachsinn gewesen, erst jahrelang stur die Miete zu zahlen und es dann auch noch zu kaufen, statt es aufzugeben und irgendwo anders, in einem zivilisierteren oder auch primitiveren Land, etwas Besseres zu suchen, einfach um sich weiterzuentwickeln und nicht krankhaft am schon Bekannten festzuhalten.
»Aber du fandst es doch so toll, als du es zum ersten Mal gesehen hast.« Kränkung und Enttäuschung mischten sich in ihr mit dem Schock, während sie ihm die blutenden Wunden am Arm weiter mit dem wasserstoffperoxidgetränkten Tuch abtupfte, das sich rot und röter färbte und schon voller Kalkkrümel und Ziegelsplitter war. »Hast du damals nicht gesagt, du wärst total verliebt in diesen Ort?«
»In dich war ich total verliebt.« Craigs Gesicht verkrampfte sich vor Anstrengung, nur ja nicht zuzugeben, dass ihn das Bein höllisch schmerzte.
»Und jetzt nicht mehr?« Ihr war sehr wohl bewusst, dass es nicht der beste Augenblick war, um über diese Dinge zu reden, aber schließlich hatte er das Thema angeschnitten. Es war heiß, sie waren verschwitzt und kurzatmig.
»Was soll das jetzt?« Craig fasste sich in den Nacken, kniff die Augen zu und presste die Lippen zusammen. Jeder Italiener wäre schon längst in Tränen ausgebrochen, hätte vor Schmerz geschrien und sie angefleht, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Diese stoische Haltung hatte sie schon immer faszinierend gefunden, auch wenn damit eine extreme Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken, einherging: Es sind zwei Seiten derselben Medaille, bestehend aus der Kontrolle der Vernunft über die Regungen des Herzens. »Ich hätte alles gesagt, nur um dir eine Freude zu machen.«
»Auch wenn es gar nicht stimmte?« Sie rückte etwas von ihm ab: Er sah aus wie ein wehrloses Opfer, was ihren instinktiven Drang zu helfen noch verstärkte und die Bedeutung seiner Worte überwog; dennoch blieben sie im Raum stehen, man konnte sie nicht einfach so wegwischen. »Also war alles nur eine hundsgemeine Lüge? Und in Wahrheit fandst du das Haus entsetzlich und dachtest, ich wäre bescheuert, weil ich so daran hing?«
»Aber nein, was zum Teufel redest du da.« Craig streckte die Hand aus und berührte den Eisbeutel auf seinem Knie; er schloss die Augen, schluckte, biss die Zähne zusammen.
»Tut es sehr weh?« Sie hörte auf, seinen Arm zu säubern, und versuchte einzuschätzen, ob die Folgen des Sturzes womöglich doch schlimmer waren. Sie nahm ihm den Eisbeutel vom Knie: Es war noch geschwollener und röter als vorher.
»Alles nur, weil ich stocksteif runtergefallen bin wie eine Holzpuppe.« So wie er gebaut war, musste ihm diese Plumpheit unverzeihlich vorkommen, wie eine Schuld. »Ich hätte den Aufprall mit den Knien abfedern müssen.«
»Du hättest dich umbringen können.« Wieder betrachtete sie ihn. Mit all dem Staub in den Haaren und Augenbrauen sah er aus wie ein plötzlich gealterter Junge oder aber wie ein sturer, harter Mann, der sich niemals umstimmen lassen würde. So war Craig: Sie hatte gedacht, es sei ihr gelungen, ihn ein Stück weit von seiner früheren Einstellung abzubringen, aber nein, schon war er wieder der Alte, entschiedener noch als zuvor. In diesem Moment größter Verletzlichkeit weckte sein Verhalten eine tiefe Zärtlichkeit in ihr – und eine ebenso heftige Wut.
»Das wäre wirklich ein idiotischer Tod gewesen.« Craig versuchte zu lachen, schaffte es aber nicht; er fing an zu husten, hielt sich mit einer Hand den Nacken. Dann wollte er das rechte Bein bewegen, doch auch das misslang. »Ich kann mir schon die Kommentare an der Uni und im Internet vorstellen. Und die entsprechenden Tweets.«
»Was zum Teufel scheren dich die Tweets?« Angesichts seiner aktuellen Lage fand sie diese Sorge total abwegig.
»Gar nichts! Das war bloß so dahingesagt!« Er schrie sie an, vielleicht auch wegen der Schmerzen.
Wieder warf sie einen prüfenden Blick auf sein Knie und sein Fußgelenk: noch geschwollener, noch röter, trotz der Eispackungen schien sich ihr Zustand eindeutig zu verschlechtern. »Hör zu, wir fahren jetzt ins Krankenhaus!«
»Nein!« Craigs Weigerung klang schrecklich endgültig.
Sie bedrängte ihn erneut, im einen Moment verängstigt, weil er so angeschlagen war, im nächsten überzeugt, dass ihn nichts unterkriegen konnte: Er machte die körperlichen Schäden durch all die Dinge wett, die er wusste und so gewandt in Worte fassen konnte. Von Anfang an hatte sie ihn dafür bewundert, wie er noch die größten Schwierigkeiten mit seiner höheren Beobachtungs- und Verarbeitungsgabe bewältigte, ohne sich je von der scheinbaren Unabänderlichkeit einer Sache erdrücken zu lassen. Er gebrauchte seine Intelligenz und seinen Humor, wo jeder andere schon längst vor Angst aufgegeben hätte. Doch in diesem Fall konnte die Vernunft nicht über die Tatsachen siegen, das war klar. »Du musst dich von einem Facharzt untersuchen lassen, Craig!«
»Ich brauche keinen Kurpfuscher von Facharzt!« Er brüllte noch lauter, richtete sich unter größter Anstrengung auf dem Sofa auf und streifte sich mit der Linken Staub und Kalkbröckchen aus den Haaren und vom Hemd.
»Aber vielleicht ist dein Fußgelenk gebrochen!« Je sturer er an seiner heroischen Haltung festhielt, umso mehr geriet sie in Panik. »Vielleicht auch das Knie!«
»Da ist nichts gebrochen, Mara.« Sein rechthaberischer Ton schüchterte sie immer noch ein; nicht mehr ganz so wie am Anfang, aber doch.
»Schau nur, wie dick sie sind!« Sie fragte sich, ob sie beide in ein Rollenspiel hineingeraten waren, aus dem sie nicht mehr herauskamen: starker Mann und verstörte Frau.
»Das sind bloß Verstauchungen, ich habe schon Schlimmeres gesehen.« Seine Stimme und sein Blick waren beinah feindselig. »Nur keine Panik, das bringt nichts.«
Kopfschüttelnd dachte sie daran, wie er ihr einmal erklärt hatte, das Wort »Panik« leite sich von dem Hirtengott Pan und dessen Fähigkeit ab, durch plötzliche Geräusche im Wald unter Ziegen, Schafen und Menschen Angst und Schrecken zu verbreiten. Zunächst sei es ein Adjektiv gewesen, hatte er hinzugesetzt, kein Substantiv: panischer Schrecken. Wie bei allen seinen Erklärungen war sie überrascht, aber auch ein wenig perplex gewesen.
»Trotzdem werde ich für die nächsten zwei Monate ein hinkender Krüppel sein, verdammt noch mal!« Wieder verzog Craig das Gesicht. »Machst du jetzt noch diese paar elenden Kratzer sauber, oder soll ich’s selber machen?!«
»Ich mach ja schon, ich mach ja schon.« Im Spülbecken wusch sie das Tuch aus, tränkte es erneut mit Wasserstoffperoxid und machte sich wieder an seinem Arm zu schaffen. Das Eis in den Beuteln auf Craigs Knie und Fußgelenk war in der Hitze mittlerweile fast ganz geschmolzen, das Wasser rann an seinem Bein hinunter und tropfte auf den Boden.
Eine Weile schwiegen sie; er verzog nur ab und zu das Gesicht vor Schmerz. »Scheißmorsches Dach! Scheißmorsches Haus!« Dann wieder Schweigen.
Als sie mit dem Säubern der Verletzungen am Arm fertig war, nahm sie Craig die Brille ab, putzte die Gläser, wusch ihm das Gesicht und setzte sie ihm wieder auf. Dabei studierte sie erneut seine Gesichtszüge: Ihr war, als kenne sie sie nur zu gut und gleichzeitig überhaupt nicht. »Hättest du wirklich alles gesagt, nur um mir eine Freude zu machen?«
»Ist das nicht etwas Gutes?« Craig schnitt eine Grimasse, vor Schmerz, aber bestimmt auch weil er sich in die Enge getrieben fühlte. »Ist das nicht ein wunderbarer Liebesbeweis?«
Mara Abbiati suchte nach einer passenden Antwort, konnte sich aber für keine der sich bietenden Alternativen entscheiden, sie war zu erschüttert. Auf dem Sofa sitzend, wartete sie darauf, dass ihr Mann endlich aufhörte, den starken Mann zu geben. Ab und zu kam ihr der Himmel in den Sinn, den sie durch das Loch im Dach des Schlafzimmers gesehen hatte: tiefblau, am glühend heißen Julitag.
Sie brauchte noch eine gute halbe Stunde, bis sie Craig überzeugt hatte, dass es doch besser war, nach La Spezia ins Krankenhaus zu fahren, um sich untersuchen zu lassen.
Zwei Tage nach dem Sturz weisen die Verletzungen an Craig Nolans rechtem Arm und den Handgelenken schon hellrotes Granulationsgewebe auf. Die in den Schnittwunden vorhandenen Zellen sind nun fast alle Makrophagen, neugebildete Blutgefäße und Fibroblasten, die die Heilung vorantreiben. Fußgelenk und Knie dagegen sind nach wie vor geschwollen und schmerzen, ruhiggestellt in Elastikschienen, die sie ihm in La Spezia verpasst haben; die Bänder werden gut zwei Monate brauchen, um ganz zu verheilen. Schmerzen an Hals und Nacken vervollständigen das hübsche Gesamtbild, falls der Rest noch nicht genügen sollte. Die Diagnose und Prognose, die er sich selbst gestellt hatte, war richtig: Die Krankenhausärzte konnten sie, wenn auch widerwillig, nur bestätigen. Damit die Schwellung zurückgeht, wird er ein paar nichtsteroidale, entzündungshemmende Tabletten nehmen, aber keinesfalls diese Schmerzmittel, mit denen sie ihn am ersten Tag vollgepumpt haben. Er braucht einen klaren Kopf zum Arbeiten, da ja von Wanderungen und Schwimmen für diesen Sommer keine Rede mehr sein kann. Sich so vorsichtig bewegen zu müssen deprimiert ihn zutiefst: Er fühlt sich wie ein Krüppel, ein Dummkopf.
Manchmal denkt er, wenn die Anthropologie ihn nicht