Blutmond

we deserve them.

Listen to them again: »I love you.«

Julian Barnes

Delilah stützte sich mit den Händen an der rauhen Backsteinmauer des Toilettenhäuschens ab, damit der Kunde sie besser von hinten nehmen konnte. Mit ihren hochhackigen eins achtzig war sie wesentlich größer als er. Außerdem war er nicht sonderlich gut ausgestattet, er hatte keinen richtigen Steifen. Ungeduldig packte er sie im Nacken und stieß sie nach unten. Angst hatte sie nicht. Sollte er gewalttätig werden, würde ihr Zuhälter ihn aufhalten, er beobachtete sie von seinem Posten am schmiedeeisernen Zaun.

Sie fror. Wie jeden Tag, seit sie vor bald einem Jahr hierhergekommen war. Sommers wie winters. Heute war es jedoch schlimmer als sonst, der Wind strich ihr um die nackten Schenkel und drang unter die Daunenjacke. Dieser Januar war einer der kältesten seit Menschengedenken. »Eishölle« hätte sie es genannt, wenn sie gefragt worden wäre. Aber es fragte sie niemand. Die Eisschicht auf dem Gehsteig knackte bei jedem Schritt, wenn sie tagsüber auf der Skelbækgade auf und ab ging. Immerhin trieb sich bei der Kälte auch niemand in den Parks herum, und sie konnte in Ruhe ihre Kunden bedienen.

Sie beugte sich weiter vor, summte vor sich hin und überlegte, was sie ihrem Sohn zum Geburtstag schicken könnte.

Inzwischen bumste der Mann sie entschlossen und gab dazu grunzende Laute von sich.

Delilah legte den Kopf in den Nacken und sah ein Stückchen des Nachthimmels. Da war derselbe Mond, den man in Ghana sehen konnte, dieselbe Sehnsucht. Es fehlte nur noch wenig zum Vollmond.

Sie bemerkte den Penner erst, als ihr Kunde plötzlich anfing zu brüllen.

»Hau ab! Du stinkst nach Pisse!« Er schlug nach dem Mann, ohne von ihr abzulassen.

Der Obdachlose stand direkt neben ihnen und schwankte bedrohlich. Er sah ordentlicher aus als die meisten Penner, aber sogar in der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass er bleich war. Drogensüchtig. Auch bei noch so großen Mengen an Alkohol bekam man nicht diesen dumpfen Blick.

»Hilfe!«

Er flüsterte das Wort so heiser, dass es beinahe im Stöhnen ihres Kunden unterging, doch wenn es ein Wort gab, das sie in allen Sprachen und Lautstärken verstand, dann dieses.

Sie sah den Obdachlosen fragend an, aber er schien sie nicht zu sehen, er öffnete nur den Mund, als wollte er noch etwas sagen. Dann verdrehte er die Augen und ruderte mit den Armen, ein trockenes Röcheln entfuhr seinem weit aufgerissenen Mund.

Er würgte heftig und übergab sich.

Das Erbrochene war dunkel und stank. Zwischen zwei

Er ging in die Knie und fiel in den Schnee.

Tief unter ihnen war das elektrische Kreischen einer S-Bahn zu hören.

Ihr Kunde zog die Hose hoch und lief auf das Tor zur Nørre Voldgade zu.

»Hey, you diddan pay, man!« Delilah schrie vor allem, damit ihr Zuhälter sie hörte. Er würde schon für ihre Bezahlung sorgen, bevor der Mann mit eiskalten Hoden und brühwarmen Lügengeschichten in seinem Familienwagen in eine der Vorstädte nach Hause fuhr.

Sie fischte ein Feuchttuch aus der Packung und wischte die Gleitcreme von den Pobacken, bevor sie sich neben den Obdachlosen hockte und ihn schüttelte. »Yo! Yo, brother, are you okay?«

Bei dem Gestank und dem Anblick seines zerfetzten Mundes wurde ihr übel. »You gonna freeze to death, man.«

Keine Reaktion.

Sie sah sich um, bemerkte aber niemanden. Nicht einmal den Schatten, der wenige Meter entfernt in der Dunkelheit der Büsche stand und sie beobachtete, ohne ein Geräusch von sich zu geben.

Das Mondlicht schien klar und kalt auf den Schnee. Sie beugte sich über die Gestalt, griff zu und drehte ihn um. Hob vorsichtig einen Zipfel seiner Jacke und steckte die Hand hinein.

Eine Brief‌tasche. Mit einer erstaunlichen Summe an Bargeld, soweit sie es beurteilen konnte. Sie überprüf‌te sein

Dann schob sie die Schätze in ihr Höschen, schloss den Reißverschluss ihrer Daunenjacke und ging mit raschen Schritten auf die Straßenlaterne zu.

»Ja. Hm, hm. Ørstedspark? Okay, ich komme.«

Polizeiassistent Jeppe Kørner erwachte beim Geräusch seiner eigenen schlaf‌trunkenen Stimme und stand auf. Die Routineabläufe hatte er verinnerlicht, er musste keinen Gedanken daran verschwenden: eine lange kalte Dusche, lange Unterhose unter die Jeans, Notizbuch, eine warme Mütze über das frisch gefönte Haar. Schon wenige Minuten nach dem Anruf stand er im Flur und schloss den Reißverschluss seiner Fleecejacke.

Sein Blick streif‌te sein Spiegelbild, das ihm seltsam unscharf erschien. Er kontrollierte kurz Gesicht und Kleidung. Noch immer hatte er eine gute Farbe, obwohl er bereits vor zwei Wochen in die Dunkelheit und Kälte zurückgekommen war. Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte er sich so eine Reise gegönnt: vier Wochen Westaustralien, von Perth die Küste hinauf bis Broome. Ein erheblicher Teil seiner Ersparnisse war dabei draufgegangen, aber es hatte sich mehr als gelohnt. Er war als ausgebrannter, von Rückenschmerzen gequälter und von Medikamenten abhängiger Mann aufgebrochen. Ohne Glaube an die Liebe, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Jetzt war er wieder in der Spur.

Jeppe nahm die Autoschlüssel vom Haken, überprüf‌te,

Der Wagen startete erst beim dritten Versuch. Jeppe ließ den Motor laufen, während er rasch die Eisblumen von der Frontscheibe kratzte. Vorsichtig fuhr er durch den Schnee in Richtung Innenstadt. Es war halb vier Uhr morgens, und Kopenhagens Straßen glichen einer verlassenen Filmkulisse.

An der Kreuzung Nørre Farimagsgade und H.C. Andersens Boulevard hielt Jeppe an der Bordsteinkante vor dem Ørstedspark. Auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Gitters sah er Licht, vermutlich die Kriminaltechniker vom NKC, des Nationalen Kriminaltechnischen Centers, die bereits ihre Scheinwerfer aufgestellt hatten. Jeppe nickte den beiden Beamten an der Absperrung zu und betrat den direkt hinter dem Tor gelegenen Spielplatz.

Vor dem Toilettenhäuschen war eine Gruppe Spurensicherer in blauen Schutzanzügen zugange. Als Jeppe näher herantrat, sah er einen Schatten im Schnee. Die Leiche. Sie lag in embryonaler Haltung zusammengekrümmt auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen; der ganze Körper war um die Stelle gerollt, an der ihn eine Nabelschnur einst mit Leben versorgte – die letzte Stelle, an der die Wärme verschwindet, bevor man vor Kälte stirbt. Wir verlassen die Welt, wie wir sie betreten.

Jeppe seufzte. Was für eine Verschwendung.

Eine Gestalt kam ihm aus der Gruppe der

»Kørner, willkommen.«

»Ja, danke. Was haben wir?« Jeppe wischte sich mit einem Handschuh diskret über die vor Kälte tränenden Augen. Diese verdammte Kälte!

»Ein Obdachloser, wie es aussieht. Todesursache: Suff und Kälte. Hat überall hingekotzt und sich dann schlafen gelegt.«

»Okay. Irgendetwas Außergewöhnliches?«

»Nicht unmittelbar. Allerdings gibt es keine Zeugen, die Todesursache ist unklar, und der Tote hat keinerlei Papiere bei sich, daher müssen wir den Todesfall bis auf weiteres als verdächtig ansehen. Die Standardprozedur.«

»Wer hat ihn gefunden?«

Der Einsatzleiter befragte seine Notizen auf einem kleinen Block. »Ein Streifenwagen des Innenstadtreviers fand ihn um 01:54 Uhr leblos, der zuständige Notarzt erklärte ihn um 02:21 Uhr offiziell für tot. Die Techniker sind kurz nach drei gekommen und haben angefangen, ihre Scheinwerfer aufzubauen. Eine verdammte Schufterei bei der Dunkelheit und Glätte.«

»Ist der Rechtsmediziner schon da?«

Der Einsatzleiter hob das Kinn zu einem bestätigenden Nicken in Richtung einer großen Gestalt am Toilettenhäuschen. Kein Geringerer als Nyboe persönlich. Eigentlich war es unter der Würde des dienstältesten Staatlichen Pathologen und Professors der Rechtsmedizin, mitten in der Nacht im Ørstedspark zu stehen.

»Hej, Nyboe, was verschafft uns die Ehre?«

Nyboe war ein hochgewachsener Mann, der sich sein ganzes Leben lang zu seinen Gesprächspartnern hatte hinunterbücken müssen. Inzwischen war sein Nacken krumm, und in den weißen, kurzgeschnittenen Haaren zeigte sich ein blanker Fleck. Seine Augen strahlten jedoch nach wie vor Autorität aus, und mangelnde Selbstsicherheit konnte man ihm gewiss nicht nachsagen.

Er drehte sich um und nickte kurz.

»Ich kann im Winter nicht schlafen. Von Oktober bis März bin ich eine Nachteule. Die Dunkelheit hält mich wach, da kann ich ebenso gut arbeiten.« Nyboe fuhr mit der Hand durch sein spärliches Haupthaar. Er sah müde aus. Verfroren. Jeppe hätte ihm gern seine Mütze angeboten, ließ es aber. Nyboe war nicht der Typ, der diese Art von Fürsorge geschätzt hätte. »Es gibt eine Menge Spuren von Schuhsohlen im Schnee. Aber nachts ist hier im Park trotz der Kälte ja einiges los, daher sollten wir nicht allzu viel erwarten.«

»Was wissen wir bisher?«

»Wir wissen nicht sehr viel, wir sind ja gerade erst gekommen. Aber ich gehe davon aus, dass wir es mit einem obdachlosen Mann zu tun haben, der sich mit billigem Fusel abgefüllt hat, bevor Väterchen Frost ihn zu Bett gebracht hat.«

Jeppe unterdrückte ein Gähnen. »Es gibt also unmittelbar keinen Grund für meine Anwesenheit?«

»Nein. Wir müssen bei der Leichenschau entscheiden,

»Sicher?«

Der Rechtsmediziner sah Jeppe an, als hätte er ihn beleidigt.

»Ich informiere die Streifenwagenbesatzung über meine Resultate, du erhältst dann ihren Bericht.«

»Gut, okay, ich sehe mich nur noch ein bisschen um.«

Nyboe nickte gnädig. »Solange du nicht im Weg stehst.« Er zog seine Handschuhe an und hockte sich neben die Leiche. Jeppe sah ihm über die Schulter.

Der Tote lag neben dem Toilettenhäuschen. Das Gesicht wurde von strähnigen dunklen Locken verborgen, die unter einer Wollmütze hervorlugten; in den Schlagschatten der blendenden Arbeitslampen waren glattrasierte Wangen und helle Haut zu erahnen. Über dem Strickpullover trug er einen dunklen Wollmantel, der durchaus einem Geschäftsmann hätte gehören können, wären da nicht diese aufgenähten Embleme und die Flecken des Erbrochenen gewesen.

So hätte es mir auch ergehen können, ging Jeppe flüchtig durch den Kopf, als er sich ein paar Schritte von der Leiche entfernte. Hätte er sich nicht erneut auf das Leben eingelassen, was wäre dann mit ihm passiert? Nachdem er an Silvester vor einem Jahr von seiner Frau verlassen worden war, hatte Jeppe die folgenden Wochen auf dem Sofa seines besten Freundes Johannes verbracht – und den Rest des Jahres in einem Dämmerschlaf aus Psychopharmaka. Es war eine finstere Zeit gewesen. Doch das Leben hatte ihn wieder.

Jeppe fotografierte die Leiche und das Toilettenhäuschen, notierte sich die wichtigsten Fakten und sagte dem Team gute Nacht, bevor er dem grellen Licht den Rücken kehrte und zurück zum Auto ging. Bis zum Dienstantritt konnte er noch ein paar Stunden schlafen.

Apropos Johannes. Jeppe schrieb ihm eine SMS, um ihn an das Bier nach Feierabend zu erinnern, das sie an diesem Abend trinken wollten. Als Schauspieler war Johannes häufig bei Dreharbeiten im Ausland oder musste abends arbeiten; außerdem war er flatterhaft und vergesslich. Johannes hatte ihn mehr als einmal versetzt, doch Jeppe störte es nicht, ihn wie ein Bittsteller an die Verabredung zu erinnern. Eine fünfundzwanzigjährige Freundschaft überlebt auch kleine verletzte Eitelkeiten. Jeppe drehte die Heizung des Wagens hoch und fuhr nach Hause.

Als er die Haustür aufdrückte, hörte er, wie sein Rucksack hinter der Tür umkippte und das Campingbesteck über den Fußboden rollte. Er hatte es immer noch nicht fertiggebracht, ihn in den Keller zu bringen, es kam ihm zu endgültig vor, beinahe illoyal. Der Rucksack war immerhin vier Wochen so etwas wie ein Zuhause gewesen und hatte alles enthalten, was Jeppe brauchte, um in der Welt zurechtzukommen. In dem halbleeren Flur bedeutete der Rucksack

Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Er hatte es mit dem Verkauf nicht eilig. Vielleicht im Frühjahr.

Que sera, sera. Whatever will be, will be …

Der Song setzte sich in seinem Hinterkopf fest, er konnte nicht einschlafen. Die rechte Seite seines Gehirns spielte zu jeder erdenklichen Tageszeit gern unfreiwillige Endlosschleifen von allen möglichen Popsongs. Die Polizeipsychologen nannten es ein Stresssyndrom. Jeppe gähnte und ließ die Musik hinter den Frontallappen spielen.

The future’s not ours to see …

*

»Leck mich!«

Die Polizeiassistentin Anette Werner sah auf ihre Uhr und überlegte, das Projekt zu verschieben. Es war bereits acht, und sie hasste es, zu spät zu kommen. Den ganzen Morgen war sie schon knapp dran. Sie war mit Svends insistierender Morgenerektion an ihrem Hinterteil aufgewacht und hatte kaum Zeit für eine ordentliche Dusche, geschweige denn ein Frühstück gehabt, bevor sie aus dem Haus kam. Aber sie konnte es nicht länger aufschieben. Anette stellte die Parkscheibe ein, warf die Wagentür hinter sich zu und betrat die Steno Apotheke.

»Guten Tag, ich hätte gern ein Blutdruckmessgerät.«

»Haben Sie eine Nummer gezogen?« Die Frau hinter der Theke sah sie durch ihre kräftigen Brillengläser streng an und druckte weiter Etiketten aus.

»Aber hier ist doch sonst niemand.«

»So wird das bei uns aber gemacht.«

Anette ging zum Eingang, zog eine Nummer aus dem Apparat und ging mit dem Zettel zurück zur Kasse.

»Hier!«

»Ich muss Sie erst aufrufen. Wenn Sie bitte einen Schritt zurücktreten und auf die Nummern an der digitalen Anzeige achten würden. Danke.«

Anette spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Wenn Frau Apothekerin sie nicht bald bediente, würde sie ihr persönlich den Nummerndrucker so tief in ihren strammen Apothekerinnenarsch schieben, dass sie die ganze Woche Zettelchen schiss.

Nach einer vollen Minute drückte die Apothekerin Anettes Nummer, und sie durf‌te 499,95 dänische Kronen für ein vollautomatisches, elektrisches Blutdruckmessgerät mit der dazugehörigen Gebrauchsanweisung bezahlen. Die Ermahnung, ihren Hausarzt zu konsultieren, erhielt sie gratis dazu. Als Anette die Apotheke verließ, war ihr Blutdruck so hoch, dass sie im Auto fünf Minuten stillsitzen musste, bevor sie es wagte, den Apparat auszuprobieren.

Füße parallel stellen, Arm locker lassen, kein Stress. Die Manschette entleerte sich, und sie schielte auf das Display der Maschine. 172/118 mmHg. Das war eindeutig zu hoch.

Außer Atem und mit hochroten Wangen stürzte sie kurz darauf in das Büro, das sie sich mit Jeppe Kørner im Polizeipräsidium teilte, und schälte sich aus Mantel und Halstuch. Der dunkle, hohe Korridor, der die Büros der Abteilung für Gewaltkriminalität, Sektion 1 – gemeinhin Mordkommission genannt –, miteinander verband, war verlassen und still. Leer wie ein russisches Winterpalais und tatsächlich auch ebenso kalt.

Zu Beginn des neuen Jahres hatte die Polizei außerordentlich viel zu tun gehabt, außerdem war die Abteilung durch Stress, Grippe und einen Berg an Überstunden, die abgebaut werden mussten, dezimiert. Darüber hinaus litt die gesamte Organisation an einer vollkommen überzogenen Normierung der Umzugsvorbereitungen in das neue Hauptquartier der Polizei auf Teglholmen. Die Abteilung für Drogen- und Bandenkriminalität war bereits umgezogen, aber durch eine fehlerhafte Kalkulation war das neue Gebäude im Verhältnis zum tatsächlichen Bedarf unterdimensioniert, daher konnte die Mordkommission bis auf weiteres im Präsidium bleiben.

»Ich wusste gar nicht, dass wir erst im Laufe des Vormittags zum Dienst antreten müssen? Ist das so eine Art Schichtwechsel, von dem ich nichts mitbekommen habe?« Wenn das ein Witz sein sollte, war er nicht lustig. Nach

»Wenn du so pünktlich hier warst, hättest du uns wenigstens ein Croissant zum Frühstück mitbringen können.« Anette knöpf‌te ihren Cardigan auf und konstatierte dann, dass es zu kalt war, um so dazusitzen. »Ich hatte unterwegs noch etwas zu erledigen. Und ja, ich hatte einen guten Morgen – danke der Nachfrage.«

»Ich habe nicht gefragt.«

»Eben!«

Anette blickte auf das alte Quecksilberthermometer an der Wand. Fünfzehn Grad. Jeppe schien das nicht zu stören. Sie ging in die Hocke und fummelte am Heizkörper.

»Im Übrigen ist das keine gute Idee mit den Croissants, Anette. Das ist nicht gut für uns.«

»Nicht gut für mich, meinst du wohl?« Anette hob den Kopf und blickte ihren Partner mürrisch an. An manchen Tagen war sein erhobener Zeigefinger einfach unerträglich.

»Weißes Mehl ist einfach ungesund. Liest du denn keine Zeitung?« Jeppe bürstete unsichtbare Partikel von seinem Pullover und inspizierte seine Handflächen.

»Um Gottes willen! Komm mir jetzt nicht wieder mit deiner Ernährungspredigt, Jeppe, ich bitte dich! Es ist schon Strafe genug, dass ich den ganzen Tag mit dir in diesem Büro eingesperrt bin.«

Sie richtete sich wieder auf und schaltete ihren Computer ein, um POLSAS zu starten, das veraltete Berichtsystem der Polizei. »Ich gehe kurz in die Küche, ich sterbe vor Hunger.«

Anette marschierte aus dem Büro und spürte, wie

Als sie zurückkam, hatte Jeppe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Unter seinen Stiefeln lag neben den Unterlagen und Notizen zu den Fällen der letzten Monate, die eigentlich als Grundlage für eine Evaluierung der Personalentwicklung dienen sollten, ein Stapel Belege, der sortiert und in die Buchhaltung gebracht werden musste. Es schien mit anderen Worten einer der Tage zu werden, an denen Anette bedauerte, nicht Zahnärztin geworden zu sein.

Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und balancierte dabei auf jeder Hand ein Salamibrot, eine Scheibe fiel jedoch auf den Tisch. Anette hob sie rasch auf und stopf‌te sie sich in den Mund.

Jeppe wandte den Blick ab.

»Da du die morgendliche Besprechung verpasst hast, weißt du vermutlich nichts über den toten Obdachlosen von heute Nacht?«

»Nein. Was ist passiert?« Anette schob ihren Bissen in die Backentasche, um artikulierter zu klingen. »Ein Samstagsopfer?« Es war zwar Donnerstag, doch sie bezog sich

»Tja, sieht so aus. Ich hab’s mir angesehen, aber Nyboe meinte, es sei nichts für uns.«

»Heute Nacht? Wo?«

»Im Ørstedspark. Auf dem Spielplatz an der Farimagsgade. Sie haben mich gegen drei angerufen.«

Anette nickte. »Du meinst den H.C. Ørstedspark.«

»Nein, du Bauerntrampel, er heißt Ørstedspark und nicht anders. Das weiß jeder echte Kopenhagener.« Jeppe verdrehte die Augen.

»Sag mal, wohnst du nicht in Valby?«

»Nur mittelfristig.«

»Hm.« Anette brummte skeptisch und überlegte, ob sie noch weiter mit ihm diskutieren wollte.

Es wurde still im Büro, mal abgesehen von Anettes Schmatzen und dem Knarren der Stühle. Jedes Blatt der Akten auf ihrem Schreibtisch würde sie ein kleines Stück ihrer Lebenszeit kosten.

Der laute Klingelton des Telefons zerriss die Stille und versetzte beiden einen Schock. Das Festnetztelefon. Es klingelte selten. Jeppe sah Anette mit hochgezogenen Brauen an, räusperte sich und nahm ab.

Sie betrachtete ihn, als er »ja« und »okay« sagte, und leckte sich dabei die Finger ab. Vielleicht war es ja etwas Interessantes, ein Grund, das Büro verlassen zu können. Jeppe legte mit einem verwirrten Blick auf.

»Das ist doch merkwürdig …«

»Was?«

»Wir müssen uns bereithalten.«

Jeppe faltete die Hände und schüttelte schockiert den Kopf. Dann sah er sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. »Im Laufe des Tages kommt jemand und kümmert sich um die Heizung. Sie wollten nur sichergehen, dass jemand da ist, der die Handwerker hereinlassen kann.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein breites Grinsen.

Anette knüllte ihre Serviette zusammen und warf sie ihm an den Kopf.

»Verarschen kann ich mich alleine! Sehr komisch!«

»Ich find’s lustig.« Jeppe lächelte zufrieden.

Anette aß langsam ihr Brot auf, bevor sie anfing, in ihren Schubladen nach Lakritz zu suchen, um den unangenehmen Nachgeschmack der Wurst zu vertreiben. Sie hörte, wie Jeppe seine Füße vom Schreibtisch nahm, seinen Computer hochfuhr, tief seufzte und anfing zu schreiben.

Die Tür wurde geöffnet, und die Polizeikommissarin steckte ihren Kopf herein. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Ingrid Dam Jensen, aber jeder nannte sie PK. Sie hatte nichts dagegen.

»Geht es einigermaßen mit der Temperatur?«

Anette ließ ein »Brrrr« hören.

»Ja, schon ziemlich übel. Kørner, kommst du mal bitte in mein Büro?« Die Polizeikommissarin schloss die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten.

Jeppe und Anette sahen sich an.

»Was sie wohl will?« Jeppe stand auf.

»Hoffentlich etwas, das uns hier rausbringt.« Anette erhob sich ebenfalls und ging auf die Tür zu. »Ich muss nur noch mal für kleine Mädchen, dann bin ich bereit, sofort

Es machte Spaß, zarte Seelen zu ärgern.

*

»Au, zum Kuckuck!«

Esther de Laurenti stellte die heiße Kaffeetasse ab und wedelte mit der Hand, als könnte das den Schmerz verdrängen. Sie blickte auf ihre geröteten Fingerspitzen und zog den Ärmel über die Hand, um dann die Tasse noch mal am Henkel zu packen und zu ihrem Lieblingsplatz am Fenster zu stellen.

Einer der Gründe, warum sie sich für diese Wohnung entschieden hatte, war die tiefe Fensterbank über dem Heizkörper, auf der man warm und behaglich über das graue Wasser des Peblingesø sehen konnte. Sie hatte Sitzkissen für die Fensterbank genäht, die perfekt passten, denn hier saß sie häufiger als an jedem anderen Ort der Wohnung, inklusive ihres pfirsichfarbenen Ohrensessels und des Chesterf‌ield-Sofas.

Allmählich gewöhnte sie sich an ihre neue Umgebung: das fremde Stadtviertel, die Geräusche der Dielen, der ungewohnte Geruch auf der Küchentreppe. Dennoch hatte sie noch immer ein wenig Sehnsucht nach der alten Wohnung in der Klosterstræde. Das Haus in der Kopenhagener Innenstadt war über siebzig Jahre im Familienbesitz gewesen und wurde nun von den beiden erwachsenen Kindern eines wohlhabenden Ziegeleibesitzers bewohnt.

Vor sechs Monaten war sie von einem Mann halb totgeschlagen worden, der ihre junge Mieterin Julie und ihren geliebten Gesangslehrer Kristof‌fer ermordet hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch am Leben war; ein Wunder, für das sie dankbar war. Aber durch diese Ereignisse war ihr gewohntes Dasein aus den Fugen geraten, sie hätte unmöglich weiter in ihrem Elternhaus leben können.

Daher wohnte sie mit ihrem dreiundachtzigjährigen Mieter Gregers nun hier. Gregers hatte dankbar eingewilligt, als sie ihm anbot, mit ihr und ihren beiden Hunden Dóxa und Epistéme zusammenzuziehen. Es funktionierte gut. Sogar die Möpse hatten sich schnell eingewöhnt. Sie hoffte nur, dass ihr innerer Kompass sich bald auf die neue Wohnung einstellen würde, damit sie nicht jedes Mal automatisch in Richtung Innenstadt ging, wenn sie nach Hause wollte.

Glücklicherweise schien Gregers sich wider alle Erwartungen in der neuen Umgebung ebenfalls wohl zu fühlen, obwohl er sich einst geschworen hatte, niemals in ein Viertel außerhalb der alten Stadtwälle zu ziehen. In kurzer Zeit

Dennoch: Gregers gefiel es in Nørrebro. Sogar das Zusammenwohnen hatte sich als überraschend unproblematisch erwiesen. Gregers hatte zwei Zimmer mit Blick auf die Straße, Esther zwei Zimmer hinaus zum See. Die Küche und das Badezimmer in der Mitte der Wohnung teilten sie sich. Zweimal in der Woche wurde ein gemeinsamer Einkauf an die Wohnungstür geliefert, und jeden Donnerstag kam die sorgfältige Ania zum Putzen. Privilegiert und komfortabel. Gregers war ruhig und benötigte nicht viel mehr als den Kaffee, den er sich in seiner Teeküche zubereitete. Im Grunde sahen sie sich nur, wenn Esther ihn am Samstag zum Frühstück oder hin und wieder zum Abendessen einlud.

Wider Erwarten funktionierte auch alles andere reibungslos. Esthers Rippen waren ordentlich zusammengewachsen, und sie kam ihren Reha-Übungen mit einer Ausdauer nach, die sie selbst überraschte. Sie weigerte sich, mit achtundsechzig Jahren als invalid zu gelten. Im Herbst hatte

Auch an lange Reisen war nicht zu denken, schließlich konnte sie einen so alten und gebrechlichen Menschen wie Gregers nicht allein lassen. Und ehrlich gesagt, fühlte auch sie sich ein wenig gebrechlich.

Sie hatte erwogen, sich einfach mit Rotwein totzusaufen, doch dieser Plan kam ihr dann doch – in Anbetracht dessen, was sie gerade überlebt hatte – einigermaßen schwachsinnig vor. Es waren genügend Leben vergeudet worden, und sie empfand eine Art Verpflichtung, das Beste aus der Zeit zu machen, die ihr noch blieb.

Die Frage war nur, was?

Vorsichtig nippte Esther an ihrem Kaffee und überflog die Vorderseite der Politiken, die Gregers ihr jeden Vormittag hinlegte, wenn er sie gelesen hatte. Sie überflog den Leitartikel und blätterte lustlos die einzelnen Teile durch. Dóxa und Epistéme lagen zusammengerollt am Boden und sahen nicht aus, als wollten sie an diesem dunklen, kühlen Morgen Gassi gehen. Vielleicht sollte sie stattdessen ein wenig Musik hören?

Im letzten Sommer hatte sie mit Kristof‌fer die Rolle der

Sie zog die Pagliacci aus den italienischen Opernplatten im Regal; noch immer Vinyl, sie hatte schon damals keine Lust gehabt umzusatteln, obwohl sie nach und nach andere Angebote der digitalen Welt genutzt hatte. Aber ein Musikträger sollte nach wie vor vorsichtig aus seiner Hülle genommen und auf den Plattenspieler gelegt werden, sich im Uhrzeigersinn drehen und mit einer Plattenbürste abgestaubt werden.

Sie musste Gregers Bescheid geben, dass sie Musik hören wollte. Für eine halbtaube Person war Gregers überraschend geräuschempfindlich, vor allem bei ihren Opern. Esther steckte die Platte zurück in die Hülle und ging über den Flur zu Gregers’ Zimmern. Seine Türen waren geschlossen. Vielleicht war er gar nicht da? Seit er hier lebte, ging er gern nach draußen, um in dem quirligen Viertel unterwegs zu sein. Die Spaziergänge taten ihm gut. Esther stellte sich dicht vor seine Wohnzimmertür. Das Radio lief. Das kleine Radio wurde morgens mit der Kaffeemaschine angestellt und lief in der Regel den ganzen Tag, bis er ins Bett ging. Sie klopf‌te und öffnete vorsichtig die Tür.

»Ach, nichts, Gregers, ich wollte dir nur sagen, dass ich eine Platte hören will.«

»AH, WAS?«, krächzte er.

»Nur damit du Bescheid weißt …«

»Diese verdammte Leierkastenmusik, die macht mich noch verrückt.« Gregers erhob sich mühsam und drehte die Musik leiser. »Ich finde, sie sollten jeden Tag Mads & das Monopol senden. Dann würde ich meine Gebühren mit Freude bezahlen.«

»Nicht du bezahlst die Gebühren, sondern ich.«

»Jedenfalls wäre das ein guter Dienst am Kunden, wenn du mich fragst. Letzten Samstag ging es um ein Dilemma, das dich sicher auch interessiert hätte.«

»Okay, das kannst du mir ja bei Gelegenheit mal erzählen …«

»Eine ältere Dame hat ihnen geschrieben, weil ihre erwachsene Tochter nicht will, dass sie Wein trinkt, wenn sie auf die Enkelkinder aufpasst. Die Dame hat sich darüber geärgert, denn sie trinkt seit zwanzig Jahren jeden Abend eine halbe Flasche Weißwein, warum sollte sie jetzt ihre Gewohnheiten ändern, nur weil die Tochter ihre puritanische Ader entdeckt? Du weißt schon, eine von den jungen Frauen, die Coca-Cola zum Essen trinken. Ist das etwa gesünder?«

»Es ist sicher nicht unvernünftig, nüchtern zu sein, wenn man die Verantwortung für kleine Kinder trägt.« Esther wollte sich zurückziehen und die Tür schließen.

»Soweit ich weiß, habe ich keine Enkelkinder. Jedenfalls muss ich auf keine aufpassen.«

»Du hast aber deine Hunde – und mich! Was ist, wenn ich hinfalle, und du bist stockbesoffen?« Gregers bekam rote Flecken am Hals.

»Ich bin nie so betrunken, dass ich nicht die Ambulanz rufen könnte.«

»Na gut, die Prominentenrunde war jedenfalls mit dir einer Meinung, dass die Großmutter verantwortungslos handelt und die Finger vom Wein lassen sollte, wenn sie auf ihre Enkel aufpasst. Aber das lässt sich ja leicht sagen, wenn man zur besten Sendezeit klug daherschwatzt.«

»Jetzt verstehe ich dich nicht: Bist du der Meinung, die Dame sollte ihren Wein trinken dürfen oder nicht?«

Gregers sah sie an, als hätte sie eine wichtige Pointe verpasst. »Es geht um die Diskussion, liebe Esther, um die Debatte. Nicht ums Resultat. – He, das ist gut!« Gregers drehte die Musik lauter. »Das ist von Clif‌f Richard …«

Und als Gregers wieder einmal damit anfing, dass man heute nicht mehr miteinander rede, schloss sie vorsichtig die Tür und ging hinüber zu sich. Liebevoll ließ sie ihren Blick über das Regal mit den Langspielplatten gleiten. Puccini, Verdi, Strauss, Wagner, sie hatte eine Vorliebe für das Schwülstige. Aber waren so nicht alle Opern? Der unzensierte Spielplatz der Gefühle? Sie legte Pagliacci auf, setzte den Tonarm auf die Platte und drehte den Lautstärkeregler hoch. Das knisternde Geräusch der Nadel in der Rille! Esther spürte, wie ihr etwas durch die Brust fuhr, etwas Junges und Wildes.