Gegen Ende September konnten im Süden die Abende, auch auf achthundertfünfzig Meter über Meer, noch angenehm warm sein. Darum hatte sich die Gruppe bis zum Dunkelwerden draußen im Garten unterhalten, ein wenig Schafkäse und Brot vom Vortag gegessen, sich gegenseitig vom Landwein eingeschenkt. Ein paar Flaschen waren schon leer. Aus einem Keller in der Nähe roch es nach Trester, der Duft der letzten Rosen lag in der Luft, irgendwo raschelte etwas im Herbstlaub. Eine Eidechse, dachte der Sänger. Er hatte zu den Fluchtrouten, die am Tisch erwogen wurden, kaum etwas gesagt, sein geographisches Vorstellungsvermögen war gering, er hatte sich bloß ab und zu geräuspert, er wusste ja, wie heiser seine Stimme inzwischen war, und schämte sich deswegen. In Clermont-Ferrand würden Helfer auf sie warten, anderswo auch, das Netz der Résistance war mittlerweile erprobt. Er wehrte die Mücken ab, die um seine Ohren sirrten, diesen Ton ertrug er schlecht,

»Du singst uns doch etwas zum Abschied, Jossele«, sagte Lucie, die Hausherrin. Sie bat die Gäste ins Innere des Hauses, in den Salon, wo das Klavier stand.

Schmidt spürte, wie abgekämpft er war, doch er folgte Lucies Wunsch und ging mit Mühe über die drei Steinstufen hinein, aber stützen ließ er sich nicht. Drinnen hatte Lucie, zusammen mit Selma, die ihn auf der Flucht begleiten würde, ein paar Kerzen angezündet, die Gäste hatten sich im Halbkreis gesetzt, um ihm ein letztes Mal zuzuhören. Lucie mit dem dunklen Lockenhaar, Selma die Sanftmütig-Helle, und doch hätten es Schwestern sein können. Er schraubte den Stuhl herunter, so dass seine Füße die Pedale erreichen konnten. Ob die Stimme ihm gehorchen würde, wusste er nicht, aber er wollte es versuchen, und schon lange war ihm klar gewesen, dass er als Letztes in der Villa Phoebus, die nun ein paar Wochen seine Zuflucht gewesen war, die Elegie von Massenet vortragen würde. Etwas Passenderes gab es nicht für diese Stunde. Er spielte, ohne in die Runde zu blicken, die Einleitung. Das Klavier war leicht verstimmt, das obere G zu hoch, das durf‌te ihn jetzt nicht stören. Die ersten Akkorde, dieser Abstieg in Halbtönen,

Rêve d’un bonheur effacé,/mon cœur lassé/T’appelle en vain dans la nuit.

Geliebte hatte er, der Sänger, viele gehabt und sie immer wieder verlassen, wie er nun auch diesen Ort verlassen würde. Nicht um der Einen die Treue zu halten, der Mutter, die starrsinnig in Czernowitz bleiben wollte, sondern dieses Mal, um der Deportation zu entgehen und sein Leben zu retten. Die Deutschen waren unterwegs in Pétains Rumpf-Frankreich und durchsuchten es nach versteckten Juden, sie würden auch nach La Bourboule kommen.

La paix du soir vient adoucir nos douleurs,/Tout nous trahit, tout nous fuit sans retour, sang er. Tout nous trahit sans retour. Ohne Wiederkehr, das waren die letzten Worte, er ließ sie verschweben, die Klaviertöne verklingen. Es blieb lange still im Salon, draußen meldeten sich einzelne Vögel, als

Erstickte Geräusche, jemand weinte in ein Taschentuch, vielleicht noch jemand Zweites. Wie oft hatte er sein Publikum zu Tränen gerührt, und wie oft hatte er es ausgekostet, mit seiner Stimme so viele Menschen zu bannen. Er war sicher, dass Caruso Massenets Elegie nicht besser gesungen hatte als er, Joseph Schmidt, aber Caruso, seit zwei Jahrzehnten tot, war kein Jude gewesen, und er wurde, wie Beniamino Gigli, der Mussolini bewunderte, nach wie vor in Nazideutschland verehrt. Er hingegen, der Sänger Joseph Schmidt, den man als den deutschen Caruso bejubelt hatte, war aus den Blättern und Radiosendern verschwunden, aus Filmen herausgeschnitten, die Schallplatten gab es nicht mehr in den Läden. Ein Verbot nach dem anderen hatte nach 1933 das Wirken der Juden im deutschen Musikleben eingeschränkt, schließlich unmöglich gemacht; wer konnte, war rechtzeitig geflüchtet. Und trotzdem galt vielen das Verstörende, das man jetzt über die Lager vernahm,

Zaghafter Applaus setzte ein, er brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. Es blieb still, abgesehen von vereinzelten Vogelrufen. Dann kam jemand unbeholfen die Treppe herunter, Guy, Lucies dreijähriger Sohn, für den die Stufen noch fast zu hoch waren.

»Mama«, sagte er, »ich will die Musik auch hören.«

»Sie ist zu Ende«, sagte Lucie, »aber du hast sie ja oben gehört, oder nicht?«

Das Kind wurde von der Mutter auf den Schoß gehoben, in die Arme geschlossen, und nun fingen einige der Gäste halblaut miteinander zu reden an. Mit Guy hatte Joseph in den letzten Tagen oft gescherzt, er hatte mit ihm gesungen, auch jiddische Lieder, obwohl Lucie das nicht mochte und noch weniger ihr Mann, der Textilunternehmer mit dem weichen Gesicht. Der Gast hatte Ringelreihen mit Guy getanzt, ihn im Takt an den Armen herumgeschwungen. Er mochte diesen Jungen mit dem

Schmidt stand auf, er fühlte sich körperlich besser als zuvor, aber es lag so viel Unbekanntes vor ihnen, den Fluchtwilligen, dass ihm von Minute zu Minute banger wurde.

»Wir müssen aufbrechen«, sagte er zu Lucies Mann, den er einst in Berlin kennengelernt hatte. Der nickte, ein bisschen zu nachdrücklich. Der Passeur, der Fluchthelfer, war inzwischen eingetroffen und stand bei der Tür im Schatten, ein junger Mann aus der Umgebung, Mitglied der Résistance, er war dunkel gekleidet, mit breitkrempigem Hut. Er würde sie zu Fuß in die Nähe von Clermont-Ferrand bringen; in einem Auto um diese Zeit aus dem kleinen Kurort wegzufahren, wäre zu auf‌fällig gewesen. Wer genau ihre Route vorbereitet hatte, wusste Schmidt nicht, er wollte es auch nicht wissen. Falls die Deutschen ihn erwischen und im berüchtigten Gefängnis von Lyon foltern würden, konnte man ihm keinen Namen abpressen oder

Nun also die Schweiz, das hieß: fünfzig Kilometer bis Clermont-Ferrand, danach fast dreihundert bis Genf. Über die Grenze zu gelangen, auch das hatte man ihm gesagt, würde nicht einfach sein. Die Schweiz hatte in den letzten Monaten ihre Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge rigoros verstärkt, Juden, erkennbar meist am J im Pass, wurden seit August konsequent zurückgewiesen. Man könne bloß hoffen, dass alles gutgehen würde, hatte Mary gesagt. Sie und ihr Mann waren, der Kinder wegen, nicht bei der Flüchtlingsgruppe, sie hofften, sie würden mit gefälschten Pässen in einem Dorf in der Haute-Savoie der Gefangennahme entgehen. Aber Selma Wolkenheim kam mit, die auf die Hilfe ihres wohlhabenden Bruders, Zigarrenfabrikant in Zürich, setzte, dazu zwei Männer, Jakob und Arnold, die Joseph kaum kannte, Juden wie Selma und er. Erst seit drei Tagen waren sie in La Bourboule, fürchteten um ihr Leben und lachten trotzdem noch. Sie waren aus einem Internierungscamp entwichen, wurden inzwischen gesucht, auch sie verfügten über gefälschte Papiere. Darauf hatte Schmidt verzichtet, er galt als staatenlos, obwohl er noch den alten rumänischen Pass auf sich trug. In den neuen Identitätspapieren, die man ihm,

 

Fast Mitternacht, seine Uhr mit Leuchtziffern hatte er noch nicht weggegeben. Zum Schlafen, auch bloß zu einer kurzen Rast, war keine Zeit, der Passeur

Die Männer warteten draußen, im schwachen Mondschein. Zum Glück ließen die Wolken immer wieder Lücken frei. Ernst Mayer, Lucies Mann, der die Umarmung bloß andeutete, hatte Schmidt ein Couvert zugesteckt, darin waren die sechstausend Francs, um die er ihn gebeten hatte, er bekomme sie von künftigen Gagen zurück, hatte er Mayer zugesichert, war aber keineswegs sicher, ob dies möglich sein würde. Erst ein paar Jahre war es her, da hatte er sehr viel Geld verdient. Ein Drittel davon bekam sein Onkel Leo Engel, der Impresario, ein Drittel die Mutter und die Geschwister in Czernowitz; das

Sie gingen auf Nebenwegen, einer hinter dem andern. Wenn das Mondlicht verschwand, war es mühsam voranzukommen. Dann wieder verwirrten ihn fahle Lichtstreifen links und rechts. Er stolperte oft, fühlte sich zeitweise blind, die Rucksackriemen schnitten sich in die Schultern ein, trotz des Leinenkittels, den ihm Lucie überlassen hatte. Das lange Gehen hatte ihn schon als Kind rasch ermüdet, nicht aber das Singen und Tänzeln. Und jetzt schmerzten ihn nach einer Stunde die Oberschenkel, die Füße; ja, solche Anstrengungen waren ihm fremd, aber er musste sich durchbeißen, in der Nähe von Häusern den Hustenreiz unterdrücken, die Halsschmerzen, den Druck auf der Brust ignorieren. Man konnte versuchen, in eine Art Trance zu gelangen, innerlich zu singen, was er doch am besten konnte, und weil nun ab und zu Sterne zu sehen waren, versuchte er, sich an E lucevan le stelle aus der Tosca zu erinnern. Schwer fiel es ihm nicht, er war bekannt dafür, wie viele Opernpartien er

»Du musst still sein, Joseph«, flüsterte Selma, die hinter ihm ging.

Sie war eine der wenigen Vertrauten, die ihn nicht Jossele oder Joschi nannten, und er wusste gar nicht, ob ihm dies gefiel oder nicht.

 

Wie lange gingen sie schon? Zwei Stunden, drei? Er zwang seine Füße, ihm zu gehorchen, widerstand dem Drang, einfach hinzusinken ins feuchte Gras. Es gab Weiher, denen man ausweichen musste, hin und wieder das Quaken von Fröschen, Entengeschnatter. Oder waren es menschliche Stimmen? Die Angst stieg in ihm hoch wie etwas Hartes, Scharfkantiges, er fürchtete, dass er plötzlich wieder Blut spucken würde wie vorgestern. Er hatte es niemandem gesagt, sie hätten ihm sonst die Flucht ausgeredet, alle miteinander, mehrstimmig, dachte er, und nun musste er doch für ein paar Schritte lächeln. Jeder Grund zum Lächeln lenkte ihn ab. Doch diesem Chor der Besorgten konnte sein strahlender Tenor nicht mehr wie einst im Sch’ma Israel, in der großen Synagoge von Berlin, entsteigen. Diese Zeit würde nicht wiederkommen. Nur

Sie gelangten auf eine ungeteerte Straße mit Radspuren und kamen zu ein paar Gehöften, knapp erkennbar im schwachen Licht, ein Hund begann zu bellen. Am Rand der Siedlung gab es, als Anbau zu einem Bauernhof, einen Stall, vor dem der namenlose Passeur ihnen zu warten befahl. Er klopf‌te an eine Tür, jemand öffnete, der Hund verstummte, ein Mann, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, wies ihnen den Weg in den Stall, brachte ihnen einen großen Krug Wasser. Sie lagerten sich in der vorderen Hälfte auf einer Schicht Stroh. Es war angenehm warm hier drin. Schmidt trank ein paar Schlucke, reichte den Krug weiter an Selma, die ihn aufgefordert hatte, sich sitzend an sie zu lehnen. Hinter ihnen, vermutlich neben einer Futterkrippe, lagen, dem Geruch und den Geräuschen nach, ein paar Kühe. Eine, die sich gestört fühlte, muhte unwillig. Es war aber noch zu früh, um sie zu melken. Ein Glöckchen klingelte kaum hörbar, vermutlich gab es auch die eine oder andere Ziege hier

Auch Schlafen ging jetzt nicht, die Brust schmerzte, einer der Begleiter schnarchte laut, die Tiere waren zu unruhig, er selbst ja auch, bloße Hoffnungen, dass die Flucht glücken würde, halfen nicht. Die Erinnerungen an das Kind in Davideny hatten auch das Bild von Otto aus der Versenkung geholt, Otto, der doch gar nicht sein Sohn sein sollte und es trotzdem war, knapp sieben nun. Er hatte Lotte geschwängert und es erst nicht geglaubt, denn er war doch geübt darin aufzupassen. In Wien, auf einer Gesellschaft, hatte er sie kennengelernt, eine elegante Bewunderin, jünger als er und verheiratet, er hatte gedacht, es sei eine Affäre, dann war sie ihm, schwanger, nachgereist, hatte Geld und eine legale Verbindung gewollt, er war zu schwach, sie abzuschütteln, und dass sie in der Tat ein Kind bekam, rührte ihn. Aber die Vaterrolle im Ernst übernehmen, das konnte er nicht, er reiste zu viel herum. Das Kind, das sie ihm bei ihren Begegnungen in die Arme legte, war ihm fremd, sein Kopf schien zu groß, nie streckte es die Ärmchen nach ihm aus, und so unbeholfen ging Schmidt mit ihm um, dass es jedes Mal rasch zu weinen begann. Seiner Mamuschka wagte er gar nicht, deswegen zu schreiben. Es war unschön, wie er sich

Dann schlief er doch eine Weile, Selma hatte

Näher kommendes Motorengeräusch weckte ihn aus dem Halbschlaf, im Dunkel flüsterte Selma ihm zu: »Steh auf, wir müssen weiter«, da wusste er gleich, dass er nicht dort war, wohin er sich gewünscht hatte, im Land der Kindheit, in der Bukowina, auch der Passeur, Antoine, ließ sich, nahe bei ihm, vernehmen: »Vite maintenant, vite!« Einer der zwei halbfremden Begleiter, es war Jakob, zündete ein Streichholz an, das aber Antoine gleich zornig ausblies. Sie tappten hinaus ins Freie, wo es um eine Spur heller war. Fast hätte Schmidt den Rucksack vergessen. Das Auto stand auf der Straße, schwarz wie ein urweltliches Tier, der Motor war abgestellt, die Scheinwerfer brannten nicht. Der Chauffeur winkte sie zu sich heran, auch er schien jung zu sein. »Montez, vite!«, befahl er. Sie stiegen ein, Selma zuerst, nach ihr kam Schmidt, dann die zwei andern, Jakob und Arnold, der Passeur – ein freundlicheres Wort für Menschenschmuggler,

Nun wurde es deutlich heller, sie waren im freien Feld, weit und breit keine Gehöfte, der Fahrer traute sich, die Scheinwerfer einzuschalten. Das Lichtband vor ihnen schien zu tanzen, dann wieder zu ermatten, brachte in den angrenzenden Weiden Momente lang Kühe ins Licht, die man draußen gelassen hatte, vorbeigleitende Fellflecken, Hörner, es wurde, und das war ein Trost, alles zu Rhythmus, den die Musik vorgab, die in ihm erklang, so lange, bis die Augen ihm zufielen und er nur noch eine Weile den Schweißgeruch ringsum in der Nase hatte, auch seinen eigenen, grundiert von Selmas schwachem, schon fast verduftetem Parfum. So eng zu sitzen wurde zur Qual, auch der Rucksack auf seinen Knien wurde immer schwerer, er ruckte hin und her. Arnold protestierte. »Du bist doch der Kleinste«, fuhr er ihn an, »halt dich still, andere leiden bei Gott stärker als du.« Selma ertrug es besser, obwohl er deutlich hörte, wie erkältet auch sie war. Das hatte ihm Lotte oft genug vorgeworfen: »Frauen halten mehr aus als Männer wie

Er hatte die Antwort verweigert, er wusste ja auch keine eindeutige. All das mochte stimmen oder nichts, das Wesentliche war, dass sich beim Singen seine Existenz erweiterte, über ihn selbst hinauswuchs. Es sei seine Form von Frömmigkeit, hatte er Mary später gesagt, sie hatte ihn ausgelacht auf ihre Weise, nie hätte sie ihn angeschrien wie Lotte. Und jetzt, in die Enge getrieben, war ihm seine Stimme abhandengekommen. Von Tag zu Tag verlor sie mehr von ihrem Schmelz, ihrer Tiefe; die Heiserkeit, die schon lange im Hintergrund gelauert hatte, sein Schreckgespenst, nahm hinterhältig Besitz von ihr. Er spürte, dass ihm die Tränen kamen, und legte, in einer nur halb bewussten Geste,

Judenfrei – Jakob spuckte das Wort beinahe aus – solle nun auch Vichy-Frankreich werden, durch das sie, als Juden, ja gerade fuhren. Die Wehrmacht, sagte er, werde die ganze Südzone besetzen, als Antwort auf das Vorrücken der Alliierten in Nordafrika; die Vichy-Truppen seien dort vernichtend geschlagen. Schmidt spürte, wie sich seine Brust wieder zusammenschnürte, wie es ihn beinahe würgte vor Angst. Wäre er doch schon in der Schweiz! Wunderdinge hatte er gehört vom Kleinstaat, der eingekesselt war von Nazis und Faschisten und doch bisher, unter Entbehrungen,

Gegen halb neun erreichten sie Clermont-Ferrand, bei trübem Tageslicht, unter verhangenem Himmel. Man hatte beschlossen, das vorgesehene Hotel nun doch für einen längeren Zwischenhalt tagsüber aufzusuchen, dann am frühen Abend Richtung Lyon weiterzufahren, außerhalb der Großstadt erneut eine Weile zu schlafen, notfalls unter freiem Himmel, wenn der neue Fluchthelfer nicht am vorgesehenen Ort auf sie warten würde. Und am übernächsten Tag sollten sie zu Fuß weiter bis zur Schweizer Grenze. All dem hatte Schmidt, dank Selma, wieder aufmerksam zugehört, sie hatte ihn in den Arm gekniffen und ihn beschworen, jetzt gefälligst die Ohren zu spitzen. Das Hotel hieß Ravel, es machte einen heruntergekommenen Eindruck; deutsche Offiziere, die den Luxus suchten, logierten hier nicht, auch keine hochrangigen Gendarmen, eher Handwerker auf Montage, Vertreter. Der Wirt, in einer fleckigen weißen Schürze, empfing sie mit einem Nicken am Eingang.

Dann sagte der Wirt doch einen Satz, den Arnold übersetzte: »Von den Leuten hier drin verrät keiner was. Dafür verbürge ich mich.« Er streckte die Hand aus, Schmidt gab ihm ein paar Scheine von der Summe, die Mayer ihm überlassen hatte, er zählte sie nicht nach, und Selma sagte: »So idealistisch sind sie gar nicht, diese Leute.«

»Sie können es sich in dieser Zeit wohl auch nicht leisten«, entgegnete Schmidt.

Ihr Gepäck ließen sie hinter der Schranke der Rezeption. Ein Zimmer mit drei Betten, auf deren Matratzen bloß ein Leintuch lag, wurde ihnen zugewiesen. In der schmutzigen Etagentoilette konnten sie sich erleichtern, flüchtig Hände und Gesicht waschen. Sie zogen die Schuhe aus, Schmidt legte sich auf das Bett beim Fenster, neben Selma, die ihn mit einer Geste zu sich einlud. Wenn er im Auto die bedrängende Körpernähe kaum noch ertragen hatte, so suchte er sie jetzt wieder, und Selma ließ es zu, dass er seinen Kopf in die Beuge ihres ausgestreckten Arms legte und sich seitlich zu ihr hin kuschelte. Wie ein kleines Kind, dachte er, aber er kam jetzt nicht aus ohne diese Nähe, ohne das Gefühl von Wärme, die von ihr ausging. Sie ließ

»Ich weiß nicht, wie lange ich das durchstehe«, murmelte er.

»Ich auch nicht, aber wir müssen es versuchen.« Ihre Stimme war inzwischen belegter als seine, zeitweise fast nur noch ein Flüstern. »Mein Bruder wird uns helfen und die verlangte Kaution hinterlegen. Ich bin sicher.«

»Wirklich?« Er dachte an Zürich, wo Selmas Bruder, Julius Orlow, als Zigarrenfabrikant in einem herrschaftlichen Haus residierte. Wenn sie Glück hatten, würden sie dorthin gelangen, zu ihm, in die Stadt am See, die ihm noch vor