Gegen Ende September konnten im Süden die Abende, auch auf achthundertfünfzig Meter über Meer, noch angenehm warm sein. Darum hatte sich die Gruppe bis zum Dunkelwerden draußen im Garten unterhalten, ein wenig Schafkäse und Brot vom Vortag gegessen, sich gegenseitig vom Landwein eingeschenkt. Ein paar Flaschen waren schon leer. Aus einem Keller in der Nähe roch es nach Trester, der Duft der letzten Rosen lag in der Luft, irgendwo raschelte etwas im Herbstlaub. Eine Eidechse, dachte der Sänger. Er hatte zu den Fluchtrouten, die am Tisch erwogen wurden, kaum etwas gesagt, sein geographisches Vorstellungsvermögen war gering, er hatte sich bloß ab und zu geräuspert, er wusste ja, wie heiser seine Stimme inzwischen war, und schämte sich deswegen. In Clermont-Ferrand würden Helfer auf sie warten, anderswo auch, das Netz der Résistance war mittlerweile erprobt. Er wehrte die Mücken ab, die um seine Ohren sirrten, diesen Ton ertrug er schlecht, zudem brachte die Nacht einen kühleren Hauch auf die Haut.
»Du singst uns doch etwas zum Abschied, Jossele«, sagte Lucie, die Hausherrin. Sie bat die Gäste ins Innere des Hauses, in den Salon, wo das Klavier stand.
Schmidt spürte, wie abgekämpft er war, doch er folgte Lucies Wunsch und ging mit Mühe über die drei Steinstufen hinein, aber stützen ließ er sich nicht. Drinnen hatte Lucie, zusammen mit Selma, die ihn auf der Flucht begleiten würde, ein paar Kerzen angezündet, die Gäste hatten sich im Halbkreis gesetzt, um ihm ein letztes Mal zuzuhören. Lucie mit dem dunklen Lockenhaar, Selma die Sanftmütig-Helle, und doch hätten es Schwestern sein können. Er schraubte den Stuhl herunter, so dass seine Füße die Pedale erreichen konnten. Ob die Stimme ihm gehorchen würde, wusste er nicht, aber er wollte es versuchen, und schon lange war ihm klar gewesen, dass er als Letztes in der Villa Phoebus, die nun ein paar Wochen seine Zuflucht gewesen war, die Elegie von Massenet vortragen würde. Etwas Passenderes gab es nicht für diese Stunde. Er spielte, ohne in die Runde zu blicken, die Einleitung. Das Klavier war leicht verstimmt, das obere G zu hoch, das durfte ihn jetzt nicht stören. Die ersten Akkorde, dieser Abstieg in Halbtönen, erklangen, eigentlich hätte ein Cello sie spielen müssen, aber die Töne unter seinen Fingern klangen sanft, so wie es sein musste. Dann setzte er mit seiner Tenorstimme ein und staunte, wie gut sie trotz aller Beschwerden klang, wie die Trauer gleichsam durch sie schimmerte. Er sang die französische Version wie bei seinem letzten Konzert in Avignon, vor einem knappen halben Jahr, es war ihm untersagt gewesen, auf Deutsch zu singen.
Rêve d’un bonheur effacé,/mon cœur lassé/T’appelle en vain dans la nuit.
Geliebte hatte er, der Sänger, viele gehabt und sie immer wieder verlassen, wie er nun auch diesen Ort verlassen würde. Nicht um der Einen die Treue zu halten, der Mutter, die starrsinnig in Czernowitz bleiben wollte, sondern dieses Mal, um der Deportation zu entgehen und sein Leben zu retten. Die Deutschen waren unterwegs in Pétains Rumpf-Frankreich und durchsuchten es nach versteckten Juden, sie würden auch nach La Bourboule kommen.
La paix du soir vient adoucir nos douleurs,/Tout nous trahit, tout nous fuit sans retour, sang er. Tout nous trahit sans retour. Ohne Wiederkehr, das waren die letzten Worte, er ließ sie verschweben, die Klaviertöne verklingen. Es blieb lange still im Salon, draußen meldeten sich einzelne Vögel, als würden sie das Konzert auf ihre Weise fortsetzen. Er blieb sitzen, aufgewühlt und doch, wie fast immer, getröstet von der Musik, dann sagte Mary Solnik: »Wie wahr, wie traurig!« Sie war die dritte der Schönen, neben Lucie und Selma, er mochte, nein, er liebte jede auf ihre Weise; er hatte nie aufgehört, Schönheit zu lieben und um sie zu werben.
Erstickte Geräusche, jemand weinte in ein Taschentuch, vielleicht noch jemand Zweites. Wie oft hatte er sein Publikum zu Tränen gerührt, und wie oft hatte er es ausgekostet, mit seiner Stimme so viele Menschen zu bannen. Er war sicher, dass Caruso Massenets Elegie nicht besser gesungen hatte als er, Joseph Schmidt, aber Caruso, seit zwei Jahrzehnten tot, war kein Jude gewesen, und er wurde, wie Beniamino Gigli, der Mussolini bewunderte, nach wie vor in Nazideutschland verehrt. Er hingegen, der Sänger Joseph Schmidt, den man als den deutschen Caruso bejubelt hatte, war aus den Blättern und Radiosendern verschwunden, aus Filmen herausgeschnitten, die Schallplatten gab es nicht mehr in den Läden. Ein Verbot nach dem anderen hatte nach 1933 das Wirken der Juden im deutschen Musikleben eingeschränkt, schließlich unmöglich gemacht; wer konnte, war rechtzeitig geflüchtet. Und trotzdem galt vielen das Verstörende, das man jetzt über die Lager vernahm, immer noch als bloßes Gerücht. Nicht bei Schmidt. Er wusste, worum es ging: um die Ausrottung des Judentums in Europa. Den Nichtsahnenden konnte er nicht mehr spielen; zu viel hatte er in den letzten Monaten gehört. Auch die Hoffnung schwand, dass er seiner Mutter im Ghetto von Czernowitz aus der Ferne beistehen könnte.
Zaghafter Applaus setzte ein, er brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. Es blieb still, abgesehen von vereinzelten Vogelrufen. Dann kam jemand unbeholfen die Treppe herunter, Guy, Lucies dreijähriger Sohn, für den die Stufen noch fast zu hoch waren.
»Mama«, sagte er, »ich will die Musik auch hören.«
»Sie ist zu Ende«, sagte Lucie, »aber du hast sie ja oben gehört, oder nicht?«
Das Kind wurde von der Mutter auf den Schoß gehoben, in die Arme geschlossen, und nun fingen einige der Gäste halblaut miteinander zu reden an. Mit Guy hatte Joseph in den letzten Tagen oft gescherzt, er hatte mit ihm gesungen, auch jiddische Lieder, obwohl Lucie das nicht mochte und noch weniger ihr Mann, der Textilunternehmer mit dem weichen Gesicht. Der Gast hatte Ringelreihen mit Guy getanzt, ihn im Takt an den Armen herumgeschwungen. Er mochte diesen Jungen mit dem Lockenkopf, der so unbändig lachen konnte, er erinnerte ihn entfernt an seinen jüngeren Bruder, der in der Bukowina geblieben war. Aber jetzt von Guy Abschied zu nehmen, brachte er nicht über sich. Der Kleine würde morgen gewiss nach Joschi fragen, und Lucie würde ihre Locken schütteln und ihm vorlügen, der Onkel sei abgereist und komme bestimmt bald wieder.
Schmidt stand auf, er fühlte sich körperlich besser als zuvor, aber es lag so viel Unbekanntes vor ihnen, den Fluchtwilligen, dass ihm von Minute zu Minute banger wurde.
»Wir müssen aufbrechen«, sagte er zu Lucies Mann, den er einst in Berlin kennengelernt hatte. Der nickte, ein bisschen zu nachdrücklich. Der Passeur, der Fluchthelfer, war inzwischen eingetroffen und stand bei der Tür im Schatten, ein junger Mann aus der Umgebung, Mitglied der Résistance, er war dunkel gekleidet, mit breitkrempigem Hut. Er würde sie zu Fuß in die Nähe von Clermont-Ferrand bringen; in einem Auto um diese Zeit aus dem kleinen Kurort wegzufahren, wäre zu auffällig gewesen. Wer genau ihre Route vorbereitet hatte, wusste Schmidt nicht, er wollte es auch nicht wissen. Falls die Deutschen ihn erwischen und im berüchtigten Gefängnis von Lyon foltern würden, konnte man ihm keinen Namen abpressen oder höchstens erfundene. Er hatte zu lange gezögert, das wusste er, er hatte die Mutter, die in Czernowitz ausharrte, nicht im Stich lassen wollen. Wer hätte sich vor wenigen Monaten vorstellen können, dass in Europa als mögliches Exil für Juden und Nazigegner bloß noch die Schweiz übrigbleiben würde? Er hatte eigentlich andere Pläne gehabt. Mit größter Mühe war er in Nizza, in der unbesetzten Zone, zu einem Visum für Kuba gekommen; und dann, am Vortag seiner vorgesehenen Abfahrt, hatten die Japaner Pearl Harbour überfallen. Kuba hatte an der Seite der USA den Achsenmächten den Krieg erklärt, und deshalb war nun der Schiffsverkehr ab den französischen Häfen lahmgelegt. Keine Möglichkeit mehr wegzukommen, die Restriktionen von Vichy-Frankreich verschärften sich, jeden zweiten Tag mussten sich die Flüchtlinge bei den Behörden melden. Man wies Schmidt als vorläufigen Aufenthalt den Kurort La Bourboule, in der Auvergne, zu. Lucie und Ernst, die dort noch vor dem Krieg ein Anwesen gekauft hatten, boten ihm Gastrecht an, das ersparte ihm das Internierungslager im Ort. Es waren von Nizza aus zehn Stunden bis dorthin gewesen, in vier verschiedenen Zügen. Schmidts Verzweiflung nahm auf dieser Fahrt zu, er konnte sie nicht mehr mit kleinen Späßen oder beim Singen überspielen, denn auch die Musik, die er als seine eigentliche Heimat ansah, hielt die Realität immer weniger von ihm ab.
Nun also die Schweiz, das hieß: fünfzig Kilometer bis Clermont-Ferrand, danach fast dreihundert bis Genf. Über die Grenze zu gelangen, auch das hatte man ihm gesagt, würde nicht einfach sein. Die Schweiz hatte in den letzten Monaten ihre Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge rigoros verstärkt, Juden, erkennbar meist am J im Pass, wurden seit August konsequent zurückgewiesen. Man könne bloß hoffen, dass alles gutgehen würde, hatte Mary gesagt. Sie und ihr Mann waren, der Kinder wegen, nicht bei der Flüchtlingsgruppe, sie hofften, sie würden mit gefälschten Pässen in einem Dorf in der Haute-Savoie der Gefangennahme entgehen. Aber Selma Wolkenheim kam mit, die auf die Hilfe ihres wohlhabenden Bruders, Zigarrenfabrikant in Zürich, setzte, dazu zwei Männer, Jakob und Arnold, die Joseph kaum kannte, Juden wie Selma und er. Erst seit drei Tagen waren sie in La Bourboule, fürchteten um ihr Leben und lachten trotzdem noch. Sie waren aus einem Internierungscamp entwichen, wurden inzwischen gesucht, auch sie verfügten über gefälschte Papiere. Darauf hatte Schmidt verzichtet, er galt als staatenlos, obwohl er noch den alten rumänischen Pass auf sich trug. In den neuen Identitätspapieren, die man ihm, noch in Nizza, ausgehändigt hatte, war das J eingestempelt. Gegen alle Vernunft vertraute er darauf, dass er in der Schweiz, wo er vor zwei Jahren letztmals als gefeierter Sänger aufgetreten war, bevorzugt behandelt würde. Am meisten fürchtete er sich vor den Strapazen, die ihm bevorstanden, er wusste nicht, ob er sie durchstehen würde, er wusste nicht, ob sein Husten ihn und die anderen unterwegs irgendwann verraten würde. Aber er hatte sich entschieden, er würde in dieser Nacht losmarschieren, am Rücken den Rucksack, den er, zusammen mit Selma, gepackt hatte. Schwer war er, und doch hatte aus seinem Überseekoffer, mit dem er angekommen war, viel zu wenig darin Platz gefunden: Ersatzwäsche, ein zweiter Pullover, ein eng zusammengerollter Anzug, eine Thermosflasche, drei Langspielplatten, geschützt von mehreren Hemden, es waren nur drei von den vielen mit Arien und Liedern, die im Umlauf gewesen waren. Unmöglich schien es ihm nicht, dass sie ihn in einer gefährlichen Situation retten könnten. Aus Vorsicht hatte er aber keine Platten mit Synagogengesängen eingepackt, die im jüdischen Osten populär waren.
Fast Mitternacht, seine Uhr mit Leuchtziffern hatte er noch nicht weggegeben. Zum Schlafen, auch bloß zu einer kurzen Rast, war keine Zeit, der Passeur drängte zum Aufbruch. Er sei ein Hirt, hatte er gesagt, mit Schafen unterwegs, er kenne die Wege bis zur Stadt, aber sie könnten vor Sonnenaufgang nur die halbe Strecke zurücklegen, müssten dann an einem vereinbarten Ort eine Weile ausruhen. Wenn alles gutgehe, werde sie danach ein Auto bis Clermont-Ferrand bringen. Dort, unter den vielen Menschen, seien sie weniger auffällig. Nachdem er dies auf Französisch mit rollendem R erklärt hatte, schwieg er ausdauernd. Der Abschied von denen, die im Haus blieben, war kurz, trotz der Tränen, die flossen. Am längsten wurde Joseph von Mary umarmt, im Flackerschein der Kerzen leuchtete ihr Gesicht wie ein Versprechen, an das er nicht mehr glauben mochte. Selma zog ihn von ihr weg.
Die Männer warteten draußen, im schwachen Mondschein. Zum Glück ließen die Wolken immer wieder Lücken frei. Ernst Mayer, Lucies Mann, der die Umarmung bloß andeutete, hatte Schmidt ein Couvert zugesteckt, darin waren die sechstausend Francs, um die er ihn gebeten hatte, er bekomme sie von künftigen Gagen zurück, hatte er Mayer zugesichert, war aber keineswegs sicher, ob dies möglich sein würde. Erst ein paar Jahre war es her, da hatte er sehr viel Geld verdient. Ein Drittel davon bekam sein Onkel Leo Engel, der Impresario, ein Drittel die Mutter und die Geschwister in Czernowitz; das letzte Drittel, das ihm selbst, dem Sänger, zustand, war stets viel zu rasch weggeronnen, er hatte es verschenkt, leichtfertig ausgegeben, alle stets eingeladen: Jossele, der Bonvivant, der Freigebige, der Verschwenderische; vor allem Frauen, die ihm gefielen, meist einen halben Kopf größer als er, hatte er beschenkt.
Sie gingen auf Nebenwegen, einer hinter dem andern. Wenn das Mondlicht verschwand, war es mühsam voranzukommen. Dann wieder verwirrten ihn fahle Lichtstreifen links und rechts. Er stolperte oft, fühlte sich zeitweise blind, die Rucksackriemen schnitten sich in die Schultern ein, trotz des Leinenkittels, den ihm Lucie überlassen hatte. Das lange Gehen hatte ihn schon als Kind rasch ermüdet, nicht aber das Singen und Tänzeln. Und jetzt schmerzten ihn nach einer Stunde die Oberschenkel, die Füße; ja, solche Anstrengungen waren ihm fremd, aber er musste sich durchbeißen, in der Nähe von Häusern den Hustenreiz unterdrücken, die Halsschmerzen, den Druck auf der Brust ignorieren. Man konnte versuchen, in eine Art Trance zu gelangen, innerlich zu singen, was er doch am besten konnte, und weil nun ab und zu Sterne zu sehen waren, versuchte er, sich an E lucevan le stelle aus der Tosca zu erinnern. Schwer fiel es ihm nicht, er war bekannt dafür, wie viele Opernpartien er auswendig konnte. Als der Fluchthelfer plötzlich stehen blieb und ihn mit scharfem Flüstern zurechtwies, fuhr er zusammen; hatte er wirklich gesummt, ohne es zu merken?
»Du musst still sein, Joseph«, flüsterte Selma, die hinter ihm ging.
Sie war eine der wenigen Vertrauten, die ihn nicht Jossele oder Joschi nannten, und er wusste gar nicht, ob ihm dies gefiel oder nicht.
Wie lange gingen sie schon? Zwei Stunden, drei? Er zwang seine Füße, ihm zu gehorchen, widerstand dem Drang, einfach hinzusinken ins feuchte Gras. Es gab Weiher, denen man ausweichen musste, hin und wieder das Quaken von Fröschen, Entengeschnatter. Oder waren es menschliche Stimmen? Die Angst stieg in ihm hoch wie etwas Hartes, Scharfkantiges, er fürchtete, dass er plötzlich wieder Blut spucken würde wie vorgestern. Er hatte es niemandem gesagt, sie hätten ihm sonst die Flucht ausgeredet, alle miteinander, mehrstimmig, dachte er, und nun musste er doch für ein paar Schritte lächeln. Jeder Grund zum Lächeln lenkte ihn ab. Doch diesem Chor der Besorgten konnte sein strahlender Tenor nicht mehr wie einst im Sch’ma Israel, in der großen Synagoge von Berlin, entsteigen. Diese Zeit würde nicht wiederkommen. Nur der eine oder andere Funken Hoffnung blieb noch: in einem freien Land bleiben zu können und dort neue Zuversicht und ein wenig Wärme zu finden, denn trotz der dauernden Bewegung fror er, es war ein Frieren von ganz innen.
Sie gelangten auf eine ungeteerte Straße mit Radspuren und kamen zu ein paar Gehöften, knapp erkennbar im schwachen Licht, ein Hund begann zu bellen. Am Rand der Siedlung gab es, als Anbau zu einem Bauernhof, einen Stall, vor dem der namenlose Passeur ihnen zu warten befahl. Er klopfte an eine Tür, jemand öffnete, der Hund verstummte, ein Mann, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, wies ihnen den Weg in den Stall, brachte ihnen einen großen Krug Wasser. Sie lagerten sich in der vorderen Hälfte auf einer Schicht Stroh. Es war angenehm warm hier drin. Schmidt trank ein paar Schlucke, reichte den Krug weiter an Selma, die ihn aufgefordert hatte, sich sitzend an sie zu lehnen. Hinter ihnen, vermutlich neben einer Futterkrippe, lagen, dem Geruch und den Geräuschen nach, ein paar Kühe. Eine, die sich gestört fühlte, muhte unwillig. Es war aber noch zu früh, um sie zu melken. Ein Glöckchen klingelte kaum hörbar, vermutlich gab es auch die eine oder andere Ziege hier drin. Wie lange war es her, dass er sich in einem Stall aufgehalten hatte. Und doch war ihm all das, was er roch und hörte, tief vertraut. In Davideny, vor dem Umzug nach Czernowitz, hatte der Vater, der fromme Mann, einen kleinen Pachthof mit drei Kühen und etwas Acker- und Weideland bewirtschaftet. Aber das Beten und das Studium der Thora war ihm wichtiger gewesen als der landwirtschaftliche Ertrag. Die tägliche Arbeit hatten hauptsächlich die Ehefrau und die Töchter zu erledigen. Töne hatten Jossele von klein auf magisch angezogen, auch die Stimmen von Tieren, die er bald nachzuahmen versuchte, so wie er im Bethaus schon mit drei, vier Jahren in die gesungenen Gebete einstimmte, oft zum Verdruss des Vorsängers. Vom Singen ließ er sich nicht abhalten, sang oft lieber, als dass er sprach, und wenn irgendwo Musik im Dorf zu hören war, von einer Zigeunerkapelle, von einem Grammophon, zog es ihn dorthin. Nahe beim Primgeiger schaute er gebannt dem Hin und Her des Bogens zu, und in den großen Schalltrichter wäre er am liebsten hineingekrochen. Heftig wehrte er sich dagegen, wenn ihn die Schwestern, die ihn gesucht hatten, von der Musik wegzogen und mit Mühe nach Hause brachten, wo die Mutter ihn tadelte, der Vater ihn aber mit Schlägen bestrafte, die ihm weniger weh taten als der Zwang, der Musik fernzubleiben. Ja, Töne überall, zarte und mächtige Klänge, zwischen denen der Geist wanderte. Es gab, wenn er im Stall allein sein wollte, Klanggeplätscher von Bächen und Brunnen, es gab die Tonkaskaden von den kleinen Wasserfällen im Fluss, es gab die Klangwogen von den Glocken der Christenkirche am Sonntagmorgen, es gab im Sommer den Gewitterdonner, der auch eine Art Musik war, eine furchteinflößende. Aber am schönsten war es, wenn ein Chor sang, diese Klänge umschlossen das Kind und bargen es, fast so schön wie die Arme der Mutter, die sich um ihn schlangen. Ja, das alles gab es, und man konnte versuchen, es mit der Stimme nachzuahmen, eine ganze eigene Welt aus Tönen zu schaffen, und manchmal war es nicht mehr klar, ob sein Singen zu den anderen Tönen ging oder diese zu ihm kamen und mit seinen verschmolzen. »Der Junge singt und summt die ganze Zeit, statt mir die Verse nachzusprechen«, hatte der Rebbe in der Schul sich über ihn beschwert, aber er war auch Vorsänger im Bethaus, und da stellte er Jossele mit seinem glockenreinen Sopran als Solisten schon früh nach vorne in die Mitte und war stolz auf ihn. Der Vater indessen verlangte vom Sohn Demut und Gottesfurcht, der Ruhm mache doch bloß hoffärtig. Die Mutter widersprach, denn der Gesang im Bethaus war doch zu Gottes Preis bestimmt. Sie stritten sich seinetwegen, das war dem Kleinen nicht recht, er hätte gerne beiden gefallen, aber das ging nicht.
Auch Schlafen ging jetzt nicht, die Brust schmerzte, einer der Begleiter schnarchte laut, die Tiere waren zu unruhig, er selbst ja auch, bloße Hoffnungen, dass die Flucht glücken würde, halfen nicht. Die Erinnerungen an das Kind in Davideny hatten auch das Bild von Otto aus der Versenkung geholt, Otto, der doch gar nicht sein Sohn sein sollte und es trotzdem war, knapp sieben nun. Er hatte Lotte geschwängert und es erst nicht geglaubt, denn er war doch geübt darin aufzupassen. In Wien, auf einer Gesellschaft, hatte er sie kennengelernt, eine elegante Bewunderin, jünger als er und verheiratet, er hatte gedacht, es sei eine Affäre, dann war sie ihm, schwanger, nachgereist, hatte Geld und eine legale Verbindung gewollt, er war zu schwach, sie abzuschütteln, und dass sie in der Tat ein Kind bekam, rührte ihn. Aber die Vaterrolle im Ernst übernehmen, das konnte er nicht, er reiste zu viel herum. Das Kind, das sie ihm bei ihren Begegnungen in die Arme legte, war ihm fremd, sein Kopf schien zu groß, nie streckte es die Ärmchen nach ihm aus, und so unbeholfen ging Schmidt mit ihm um, dass es jedes Mal rasch zu weinen begann. Seiner Mamuschka wagte er gar nicht, deswegen zu schreiben. Es war unschön, wie er sich als Vater benommen hatte, unwürdig. Das schlechte Gewissen brachte ihn dazu, vor einem Rabbiner in Nizza, wo Juden sich noch frei bewegen konnten, das Eheversprechen abzugeben, ohne es allerdings besiegeln zu lassen, und danach hatte sich Lotte mit ihm derart gestritten, dass sie anderntags mit Otto bei ihrem momentanen Liebhaber Zuflucht suchte. Und doch war sie bei seinem letzten Konzert im Theater von Avignon, zusammen mit Otto, überraschend aufgetaucht, hatte, ganz vorne im Publikum stehend, den unglücklichen Jungen zu ihm emporgehoben, und es hatte ihm einen Moment beinahe die Stimme verschlagen. Auch nach dem Konzert gelang es Lotte nicht, zu ihm vorzudringen, dafür hatten seine Beschützer gesorgt. Er winkte ihr zu, immerhin, und wendete sich dann ab. Das Geld war ja auch ihm nach der Emigration nahezu ausgegangen, es zerrann ihm jetzt, wo die Einnahmen drastisch schrumpften, noch schneller als sonst zwischen den Fingern, das hielt ihm der strenge und geldgierige Leo oft genug vor. Es war wohl seine größte Schuld, dass er auch in dieser Situation nur eines sein wollte, Sänger, nichts als ein Sänger, der Musik ganz hingegeben, er konnte dem eigenen Kind, obwohl er es anders wollte, nicht anders begegnen als einem fremden.
Dann schlief er doch eine Weile, Selma hatte ihn sanft von ihrem Schoß auf den Boden gebettet. Plötzlich stand er auf einer Bühne und war immer noch viel zu klein, trotz hoher Absätze, aber mit seiner Stimme konnte er im Traum einen beinahe greifbaren Raum um sich schaffen, niemand durchbrach die tönende Grenze. Solange er sang, blieb er unversehrt, so war es doch, immer wieder hatte die Musik ihn gerettet.
Näher kommendes Motorengeräusch weckte ihn aus dem Halbschlaf, im Dunkel flüsterte Selma ihm zu: »Steh auf, wir müssen weiter«, da wusste er gleich, dass er nicht dort war, wohin er sich gewünscht hatte, im Land der Kindheit, in der Bukowina, auch der Passeur, Antoine, ließ sich, nahe bei ihm, vernehmen: »Vite maintenant, vite!« Einer der zwei halbfremden Begleiter, es war Jakob, zündete ein Streichholz an, das aber Antoine gleich zornig ausblies. Sie tappten hinaus ins Freie, wo es um eine Spur heller war. Fast hätte Schmidt den Rucksack vergessen. Das Auto stand auf der Straße, schwarz wie ein urweltliches Tier, der Motor war abgestellt, die Scheinwerfer brannten nicht. Der Chauffeur winkte sie zu sich heran, auch er schien jung zu sein. »Montez, vite!«, befahl er. Sie stiegen ein, Selma zuerst, nach ihr kam Schmidt, dann die zwei andern, Jakob und Arnold, der Passeur – ein freundlicheres Wort für Menschenschmuggler, dachte Schmidt – setzte sich neben den Fahrer. Sie drückten sich eng aneinander auf der Rückbank, Selmas Wärme war ihm angenehm. Sie fiebere nun wohl auch, sagte sie; beim Husten lösten sie einander ab. Der Motor stotterte beim Start, nachdem der Fahrer halblaut geflucht hatte, lief er besser. Sie fuhren langsam, zunächst ohne Licht. Es wurde zwar unmerklich heller, aber wie der Fahrer, wohl auch ein Ortskundiger, die Straße erkannte, war Schmidt ein Rätsel, er fühlte sich unwohl, gefährdet, doch das war er ohnehin, jederzeit konnte eine Straßensperre sie aufhalten, dann würden sie verhaftet, und er hatte genug darüber gehört, dass staatenlose Juden ohne Erbarmen, zusammengepfercht wie Vieh, in den Osten transportiert würden, tage- und nächtelang, man drohte zu verdursten, zu ersticken. Wollte man der Deportation entgehen, kam es auf das Wohlwollen der Polizei an, auf die Höhe der Bestechungsgelder. Sechstausend Francs hatte ihm Lucies Mann zugesteckt, es würde kaum reichen, sich überall loszukaufen, aber zweitausend sollten für die Fluchthelfer genug sein. Die schlechte Federung des Vorkriegsrenaults malträtierte ihn, er memorierte, wie oft in schwierigen Situationen, Arien aus seinem Repertoire, das half auch dieses Mal, und er war nun diszipliniert genug, stumm zu bleiben, Töne und Worte jedoch gingen ihm, ohne dass er sie herbeirief, durch den Kopf, O wär vorbei die Nacht, Donna non vidi mai, Alles ist nun vorbei, nichts passte zusammen, es war ein Durcheinander, das ihn beinahe amüsierte, eine Kakophonie, hätte es seine Lehrerin, Felicitas Lerchenfeld, die er oft geneckt hatte, mit gespieltem Schrecken genannt.
Nun wurde es deutlich heller, sie waren im freien Feld, weit und breit keine Gehöfte, der Fahrer traute sich, die Scheinwerfer einzuschalten. Das Lichtband vor ihnen schien zu tanzen, dann wieder zu ermatten, brachte in den angrenzenden Weiden Momente lang Kühe ins Licht, die man draußen gelassen hatte, vorbeigleitende Fellflecken, Hörner, es wurde, und das war ein Trost, alles zu Rhythmus, den die Musik vorgab, die in ihm erklang, so lange, bis die Augen ihm zufielen und er nur noch eine Weile den Schweißgeruch ringsum in der Nase hatte, auch seinen eigenen, grundiert von Selmas schwachem, schon fast verduftetem Parfum. So eng zu sitzen wurde zur Qual, auch der Rucksack auf seinen Knien wurde immer schwerer, er ruckte hin und her. Arnold protestierte. »Du bist doch der Kleinste«, fuhr er ihn an, »halt dich still, andere leiden bei Gott stärker als du.« Selma ertrug es besser, obwohl er deutlich hörte, wie erkältet auch sie war. Das hatte ihm Lotte oft genug vorgeworfen: »Frauen halten mehr aus als Männer wie du.« Er sei ein Luftibus, hatte sie ihn angeschrien, ein Traumtänzer, der in den Wolken lebe, unfähig, Verantwortung für das Kind zu übernehmen, das er gezeugt habe. Selma, die sich in La Bourboule entschieden hatte, an seiner Seite zu bleiben, verstand ihn besser in seiner Hinwendung zur Musik, die so weit gehen konnte, dass er sich selbst gleichsam als Körper auflöste und vor einem tausendköpfigen Publikum, dessen Energie auf ihn überging, nur noch Stimme war. »Für wen singst du eigentlich?«, hatte ihn Mary, die Klügste seiner Geliebten, einmal gefragt. »Für dich? Für deine Mamitschka? Für dein Publikum? Für Gott?«
Er hatte die Antwort verweigert, er wusste ja auch keine eindeutige. All das mochte stimmen oder nichts, das Wesentliche war, dass sich beim Singen seine Existenz erweiterte, über ihn selbst hinauswuchs. Es sei seine Form von Frömmigkeit, hatte er Mary später gesagt, sie hatte ihn ausgelacht auf ihre Weise, nie hätte sie ihn angeschrien wie Lotte. Und jetzt, in die Enge getrieben, war ihm seine Stimme abhandengekommen. Von Tag zu Tag verlor sie mehr von ihrem Schmelz, ihrer Tiefe; die Heiserkeit, die schon lange im Hintergrund gelauert hatte, sein Schreckgespenst, nahm hinterhältig Besitz von ihr. Er spürte, dass ihm die Tränen kamen, und legte, in einer nur halb bewussten Geste, schutzsuchend seine Hand auf Selmas Schoß. Sie schob sie zur Seite, nicht unwirsch, nicht feindselig, aber deutlich genug. Die Männer unterhielten sich leise, auf Deutsch und Französisch, er hörte erst weg, verstand dann doch, dass sie berieten, ob sie tatsächlich am hellen Tag nach Clermont-Ferrand hineinfahren und in der Pension, die man benachrichtigt hatte, absteigen sollten wie normale Touristen, die es allerdings, so wendete Jakob ein, in der zone libre kaum noch gab. Abgesehen davon hatte man offenbar gehört, die Deutschen würden planen, den unseligen Präsidenten Pétain zu entmachten und mit regulären SS-Einheiten und nicht bloß mit Kleingruppen die Deportationen zu beschleunigen.
Judenfrei – Jakob spuckte das Wort beinahe aus – solle nun auch Vichy-Frankreich werden, durch das sie, als Juden, ja gerade fuhren. Die Wehrmacht, sagte er, werde die ganze Südzone besetzen, als Antwort auf das Vorrücken der Alliierten in Nordafrika; die Vichy-Truppen seien dort vernichtend geschlagen. Schmidt spürte, wie sich seine Brust wieder zusammenschnürte, wie es ihn beinahe würgte vor Angst. Wäre er doch schon in der Schweiz! Wunderdinge hatte er gehört vom Kleinstaat, der eingekesselt war von Nazis und Faschisten und doch bisher, unter Entbehrungen, seine Unabhängigkeit gewahrt habe, es gebe dort noch Kaffee, Butter, Schinken, auch Konzerte fänden weiterhin statt und nicht bloß Auftritte von Militärkapellen. Die Schweiz, schalt er sich selbst, kam ihm gegen alle Vernunft vor wie das gelobte Land, in das die verfolgten Juden von allen Seiten gelangen wollten, dabei wusste er, dass man sie mit allen Mitteln davon abhielt, die Grenze zu überqueren, und die Juden inzwischen wie Straftäter behandelte. Nun war er unterwegs dorthin, er ließ die Stimmen in seiner Nähe verschwimmen, das hatte er schon als Junge geübt. Was im Auto beschlossen wurde, wollte er gar nicht wissen.
Gegen halb neun erreichten sie Clermont-Ferrand, bei trübem Tageslicht, unter verhangenem Himmel. Man hatte beschlossen, das vorgesehene Hotel nun doch für einen längeren Zwischenhalt tagsüber aufzusuchen, dann am frühen Abend Richtung Lyon weiterzufahren, außerhalb der Großstadt erneut eine Weile zu schlafen, notfalls unter freiem Himmel, wenn der neue Fluchthelfer nicht am vorgesehenen Ort auf sie warten würde. Und am übernächsten Tag sollten sie zu Fuß weiter bis zur Schweizer Grenze. All dem hatte Schmidt, dank Selma, wieder aufmerksam zugehört, sie hatte ihn in den Arm gekniffen und ihn beschworen, jetzt gefälligst die Ohren zu spitzen. Das Hotel hieß Ravel, es machte einen heruntergekommenen Eindruck; deutsche Offiziere, die den Luxus suchten, logierten hier nicht, auch keine hochrangigen Gendarmen, eher Handwerker auf Montage, Vertreter. Der Wirt, in einer fleckigen weißen Schürze, empfing sie mit einem Nicken am Eingang.
»Er gehört zu uns«, sagte der Fahrer, der ihm die Hand drückte. »Er mag die Deutschen nicht, er will ihren Gegnern helfen, auch wenn es Juden sind.«
Dann sagte der Wirt doch einen Satz, den Arnold übersetzte: »Von den Leuten hier drin verrät keiner was. Dafür verbürge ich mich.« Er streckte die Hand aus, Schmidt gab ihm ein paar Scheine von der Summe, die Mayer ihm überlassen hatte, er zählte sie nicht nach, und Selma sagte: »So idealistisch sind sie gar nicht, diese Leute.«
»Sie können es sich in dieser Zeit wohl auch nicht leisten«, entgegnete Schmidt.
Ihr Gepäck ließen sie hinter der Schranke der Rezeption. Ein Zimmer mit drei Betten, auf deren Matratzen bloß ein Leintuch lag, wurde ihnen zugewiesen. In der schmutzigen Etagentoilette konnten sie sich erleichtern, flüchtig Hände und Gesicht waschen. Sie zogen die Schuhe aus, Schmidt legte sich auf das Bett beim Fenster, neben Selma, die ihn mit einer Geste zu sich einlud. Wenn er im Auto die bedrängende Körpernähe kaum noch ertragen hatte, so suchte er sie jetzt wieder, und Selma ließ es zu, dass er seinen Kopf in die Beuge ihres ausgestreckten Arms legte und sich seitlich zu ihr hin kuschelte. Wie ein kleines Kind, dachte er, aber er kam jetzt nicht aus ohne diese Nähe, ohne das Gefühl von Wärme, die von ihr ausging. Sie ließ zwischendurch dem Husten freien Lauf, während im Nachbarbett der eine der zwei Jüngeren schnarchte und der Fluchthelfer – Antoine, zumindest nannte er sich so – auf dem dritten saß und eine Landkarte studierte. Eine ältere Frau brachte auf einem Servierwagen eine Suppenschüssel mit Tellern, Löffeln, geschnittenem Brot. Sie ging gleich wieder hinaus, ohne etwas zu sagen, ohne die Gäste zu mustern. War Schmidt überhaupt hungrig? Er hatte das Gefühl, alles, was er schluckte, würde seinen Magen in Aufruhr versetzen. Doch Selma schöpfte Suppe in die Teller, nötigte auch ihn dazu, ein paar Löffel hinunterzuschlucken: »Du musst essen, Joseph, du musst dich kräftigen, wir haben noch eine lange Strecke vor uns.«
»Ich weiß nicht, wie lange ich das durchstehe«, murmelte er.
»Ich auch nicht, aber wir müssen es versuchen.« Ihre Stimme war inzwischen belegter als seine, zeitweise fast nur noch ein Flüstern. »Mein Bruder wird uns helfen und die verlangte Kaution hinterlegen. Ich bin sicher.«
»Wirklich?« Er dachte an Zürich, wo Selmas Bruder, Julius Orlow, als Zigarrenfabrikant in einem herrschaftlichen Haus residierte. Wenn sie Glück hatten, würden sie dorthin gelangen, zu ihm, in die Stadt am See, die ihm noch vor zweieinhalb Jahren im kalten Februarlicht, bei seinem damaligen Konzert, so proper vorgekommen war, ohne Hakenkreuzfahnen, durch und durch rechtschaffen bürgerlich, und doch schien Angst unter den Dächern, in den engen Gassen der Altstadt zu nisten, ein verstohlener Gehorsam gegenüber dem mächtigen Nachbarn, der auf den Schlachtfeldern in diesen Monaten unbesiegbar schien. Trotzdem stand nun Zürich vor ihm wie eine strahlende Verheißung. Woran konnte er sich sonst noch festhalten, nachdem alle Sicherheiten in seinem Leben zerfallen waren wie schadhaftes Gemäuer und auch der Glaube an einen gütigen Gott sich beinahe ganz zu verflüchtigen drohte?