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Bruno ließ sein Handy auch außerhalb der Arbeitszeiten eingeschaltet, um in Notfällen erreichbar zu sein. So auch an diesem kühlen, regnerischen Sonntagnachmittag im Frühjahr, der dichte Wolken vom hundert Kilometer entfernten Atlantik mit sich brachte. Bruno hatte frei und feuerte die Damenmannschaft seines Rugbyvereins beim Endspiel der regionalen Meisterschaft an.

Er coachte die Spielerinnen, die zwischen sechzehn und neunzehn waren, seit über zehn Jahren, was zwar nicht zu seinem Aufgabenbereich als erster und einziger Polizist von Saint-Denis gehörte, ihm aber viel Freude bereitete. Er engagierte sich gern für die Jugend der Stadt und war sehr stolz auf das Team. Frauenrugby war in Frankreich ein relativ neuer Sport, und es gab viele, nicht zuletzt in der städtischen Herrenmannschaft, die meinten, das Spiel sei für das zarte Geschlecht zu rauh. Aber nur wenige konnten an diesem Vorurteil festhalten, wenn sie die Mädchen erst einmal hatten spielen sehen. Ihre Tacklings waren so entschlossen wie die der Männer; sie liefen mehr und schlugen häufiger Pässe, spielten schneller und eleganter und traten den Ball ebenso gekonnt, wenn nicht mit größerer Finesse. Andererseits kam es bei ihnen seltener zum wüsten Gerangel im Paket, das für Herrenmannschaften so typisch war. Wollte Bruno ihren Stil

So sah es an diesem Nachmittag auf dem Feld allerdings nicht aus. Der Ball war regennass und die meisten Spielerinnen so verdreckt, dass man die Teams an ihren Trikots kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Es stand unentschieden, zwölf zu zwölf. Die Gegnerinnen kamen aus der sehr viel größeren Stadt Mussidan und waren als Vorjahresmeister hoch favorisiert. Nur wenige, zu denen auch Bruno zählte, gaben den Mädchen von Saint-Denis eine Chance.

Plötzlich fing sein Handy am Gürtel zu vibrieren an. Er achtete nicht weiter darauf. Es waren noch zehn Minuten zu spielen, und das Team von Saint-Denis drängte nach vorn, nur noch rund fünfzehn Meter von der gegnerischen Torlinie entfernt. Der Ball war in einem Gedränge verlorengegangen, und zwei Spielerinnen kämpften miteinander um seinen Besitz. Mit den Teamgefährtinnen im Rücken schaffte es das Mädchen aus Saint-Denis, den Ball an sich zu reißen und der linken Flügelstürmerin zuzuwerfen. Bruno stöhnte, als dieser ein regelwidriger Pass nach vorn unterlief. Der Schiedsrichter pfiff ab und ließ die Mädchen zum Gedränge antreten. Bruno nahm die Gelegenheit wahr, um einen Blick auf sein Handy zu werfen. Pamela, seine frühere Geliebte, mit der er nunmehr eng befreundet war, versuchte, ihn zu erreichen. Er hielt es für besser, ihren Anruf entgegenzunehmen.

»Bruno, mein Lieber, ich brauche deine Hilfe«, meldete sich die vertraute Stimme. »Eine Teilnehmerin an meinem Kochkurs war nicht wie verabredet am Bahnhof, als ich sie abholen wollte. Und sie antwortet nicht auf ihrem Handy.

Auf dem Feld nahmen von beiden Mannschaften jeweils acht Spielerinnen Aufstellung, was aussah, als gerieten Amazonen aus grauer Vorzeit aneinander. Die ersten drei aus beiden Gruppen legten einander die Arme um die Schultern und stemmten sich mit eingezogenen Köpfen in die gegnerische Reihe. Von hinten drängte das Pack nach, flankiert von den Flügelstürmerinnen in Lauerstellung. Bruno richtete seinen Blick auf eine der beiden: Paulette. Die gerade neunzehn Jahre alt gewordene Tochter des Floristen aus Saint-Denis war ein wahres Naturtalent, die beste Spielerin, die er je betreut hatte. Bruno wusste, dass einer der Scouts für die Nationalmannschaft irgendwo auf der Tribüne saß und nach vielversprechenden jungen Spielerinnen Ausschau hielt, wie immer bei Endspielen der regionalen Meisterschaft. Paulette war die einzige seiner Spielerinnen, die das Zeug für die erste französische Liga hatte.

»Ich komme gerade nicht weg, werde mich aber später am Nachmittag darum kümmern«, versprach Bruno, ohne den Blick vom Gedränge zu nehmen. »Schick mir eine SMS mit ihrem Namen und den Flugdaten. Und das Foto per E-Mail.« Kurz und knapp, aber nicht unfreundlich verabschiedete er sich und steckte das Handy wieder weg.

Mit vollem Körpereinsatz verlieh Paulette ihren Mitspielerinnen zusätzlichen Schub, als sich beide Gruppen gegeneinanderstemmten und um den seitlich vom Gedrängehalb

Es ging darum, die Lage richtig einzuschätzen. Geriete sie vor den Ball, würde sie einen Straftritt verschenken. Käme sie zu spät, hätte die Nummer 9 genug Zeit, den Ball an eine Mitspielerin zurückzupassen, die dann den Ball ins Seitenaus würde dreschen können. Ein getretener Ball war unmöglich zu erlaufen. Der Abstand zur gegnerischen Anspielpartnerin aber war relativ gering. Paulette würde dem Rückpass folgen und den Ball zu ergattern versuchen, ehe ihn der Verbindungshalb unter Kontrolle gebracht hätte.

Paulettes Timing war perfekt. Als die Nummer 9 den Ball aus dem Gedränge zog und sich umdrehte, um ihn zurückzupassen, rannte sie los. Ihre Beschleunigung war nur unwesentlich geringer als die des Balls, und sie traf auf das angespielte Mädchen, bevor es den Ball sichern konnte. Paulette riss ihn an sich, schlug einen Haken und rannte auf die Torlinie zu, wo sie nur noch die Schlussfrau auszutricksen hatte. Sie ließ den Ball auf den Fuß fallen, lupfte ihn über deren Kopf hinweg, fing den Ball in vollem Lauf wieder auf und konnte sich jetzt Zeit lassen, den Ball hinter die Linie zu legen und eine Erhöhung klarzumachen. Bis auf den Trainer des Teams aus Mussidan sprangen alle Zuschauer begeistert auf und jubelten.

»Gut gespielt, Saint-Denis!«, rief Bruno und ignorierte das Signal einer eingegangenen Nachricht auf seinem Handy, als Paulette den Ball für einen Kick über die

»Nicht nachlassen!«, rief Bruno. »Legt noch einen drauf!«

»Mon Dieu, das Mädchen ist ein Juwel«, schwärmte Lespinasse, der Kfz-Schlosser von Saint-Denis und diesjährige Vorsitzende des Rugbyclubs. »Wer hätte das gedacht? Demnächst wird sie für Frankreich spielen, darauf kannst du wetten.«

Bruno nickte, abgelenkt vom Anblick Paulettes, die sich würgend vornüberbeugte und niederkniete. Er rannte über das Feld auf sie zu, drückte ihr einen feuchten Schwamm in den Nacken und gab ihr zu trinken. Paulette nahm einen Schluck aus der Flasche, stand wieder auf und joggte zurück zu ihren Mitspielerinnen.

Das Spiel wurde fortgesetzt. Mussidan versuchte es mit einem kurzen Kick, worauf alle Stürmerinnen zusammenliefen. Die Mädchen von Saint-Denis warfen sich ihnen entgegen, konnten aber nicht verhindern, dass deren Verbindungshalb den Ball eroberte und um das Paket herumzuflitzen versuchte. Paulette war jedoch auf dem Posten und holte die Nummer 10 von den Beinen. Fast gleichzeitig ertönte der Schlusspfiff. Die Mädchen von Saint-Denis hatten mit einer überzeugenden Leistung und neunzehn zu zwölf Punkten ihre erste Meisterschaft gewonnen. Bruno tanzte vor Freude an der Torlinie, als die beiden Mannschaften aneinander vorbeidefilierten und sich höflich abklatschten.

Strahlend vor Stolz und die Gesichter noch gerötet vom

Schließlich kamen auch Eltern und Familienangehörige herbeigelaufen, um ihre Töchter hochleben zu lassen. Ihnen folgte Bürgermeister Mangin, der Bruno eine Flasche Cognac in die Hand drückte, nachdem er selbst zur Feier des Tages einen guten Schluck daraus genommen hatte. Philippe Delaron, der für die Sud Ouest arbeitende Stadtfotograf, versuchte, die Mädchen für ein Mannschaftsfoto zu gruppieren; die aber sprangen so ausgelassen umher, dass er scheiterte. Erst als Bruno ordnend eingriff, konnte er ein paar Fotos schießen. Als alter Fuchs im politischen Geschäft schaffte es der Bürgermeister, sich in deren Mitte zu positionieren. Jubelnd wurde der Pokal in die Höhe gehoben und Bruno für ein letztes Foto mit ins Bild gebracht. Als die Mädchen auseinanderschwärmten, fiel ihm auf, dass Paulette ungewöhnlich bleich aussah.

»Alles okay mit dir?«, fragte er und schaute ihr prüfend in die Augen. »Hast du dich bei diesem Tackle verletzt?«

»Nein«, antwortete sie und wich seinem Blick aus. »Hab mir nur den Magen verdorben. Ist nicht weiter schlimm.« Sie umarmte Bruno, begrüßte dann ihre Eltern und gab Philippe einen Korb, der noch ein letztes Foto von ihr machen wollte, bevor sie sich dem Rest der Mannschaft anschloss, um zu duschen.

Bruno ließ den Blick über die Zuschauer schweifen, die dem Stadionausgang zuströmten, und hoffte, den Scout der Nationalmannschaft ausfindig zu machen. Auf der Tribüne

Bruno zog sein Handy hervor und rief einen alten Freund von der Polizeiakademie an, der für den Sicherheitsdienst des Flughafens von Bordeaux arbeitete, und gab ihm die Daten der vermissten Teilnehmerin von Pamelas Kochkurs durch. Ihr Name war Monica Felder, wie er von Pamela per SMS erfahren hatte, in der ihm auch eine Mobilfunknummer und eine Adresse in Surrey mitgeteilt worden war. Sie war mit British Airways von Gatwick abgeflogen und hatte den einwöchigen Kurs im Voraus bezahlt. Der Freund versprach Bruno, sich zu erkundigen und später zurückzurufen.

Aus den Umkleidekabinen rief plötzlich jemand Brunos Namen und fragte, ob ein Arzt aufzutreiben sei. Er lief zum Bierzelt, wo Fabiola und ihr Partner Gilles Grillwürstchen in Brötchen aßen und auf die Mädchen warteten, um mit ihnen in dem gemieteten Bus nach Saint-Denis zurückzufahren.

»In der Kabine wird nach einem Arzt verlangt«, sagte er zu Fabiola. »Könntest du mal nachsehen, was da los ist?«

Paulettes Vater Bernard gesellte sich zu ihm. »Weshalb wurde sie gerufen? Hat sich jemand verletzt?«

»Keine Ahnung«, antwortete Bruno. »Wir werden es gleich erfahren. Übrigens, Paulette hat klasse gespielt.«

»Wir machen uns Sorgen um sie. Heute Morgen ist ihr nach dem Frühstück übel geworden. Sie sagte, sie sei nervös vor dem großen Spiel.«

Bruno schaute ihn an, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ließ sich nicht anmerken, dass er plötzlich selbst alarmiert war. Wenig später kam Florence aus dem Umkleideraum. Sie unterrichtete Naturkunde am collège von Saint-Denis und fungierte als Teammanagerin. Sie wirkte aufgeregt und winkte Bruno zu sich.

»Paulette ist unter der Dusche in Ohnmacht gefallen«, flüsterte sie, um von Bernard nicht gehört zu werden. »Ihr sei nur ein bisschen schwindlig geworden, sagt sie, nicht der Rede wert. Fabiola ist jetzt bei ihr.«

Florence ging wieder hinein. Ein paar Minuten später kamen die Spielerinnen heraus, manche in Jeans, andere in kurzen Röcken und modischen Jacken. Sie sahen aus, als kämen sie aus der Disco und nicht von einem anstrengenden Match. Ihnen folgten Florence und Fabiola mit Paulette in ihrer Mitte, die, obwohl ein bisschen blass um die Nase, wieder bei Kräften zu sein schien.

»Es war nichts«, erklärte sie ihrem Vater und umarmte ihn. »War bestimmt nur die Aufregung.«

»Es wird schon wieder«, sagte Fabiola, ohne zu lächeln.

»So eins hätte ich auch gern«, sagte Paulette. »Ich habe einen Bärenhunger.« Mit ihrem Vater machte sie sich auf den Weg zum Imbissstand.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Bruno, als die beiden gegangen waren.

»Mutter und Kind sind wohlauf«, antwortete Fabiola mit ernster Miene. »Sie ist seit knapp drei Monaten schwanger und hat ihren Eltern noch nichts davon gesagt, geschweige denn einen Arzt aufgesucht. Rugbyspielen kommt für sie in diesem Jahr nicht mehr in Frage.«

Bruno wollte etwas zu den Tests für das Nationalteam sagen, hielt sich aber zurück. Er schloss die Augen und verzog das Gesicht. Für Paulette gab es jetzt Wichtigeres als Rugby. Er seufzte in Gedanken an die vielen Trainingsstunden, die er mit ihr verbracht hatte.

»Haben die anderen Mädchen was mitgekriegt? Wissen sie jetzt Bescheid?«, fragte er.

»Ich habe sie in einem freien Zimmer nebenan untersucht. Gehört hat niemand etwas«, antwortete Fabiola. »Aber ihre Mitspielerinnen sind nicht auf den Kopf gefallen.«

»Merde, merde, merde«, murmelte Florence.

Auch sie hatte sich sehr für das Mädchen und seine Zukunft eingesetzt. Paulette war eine eher schlechte Schülerin, die ein Jahr hatte wiederholen müssen, nachdem sie im ersten Anlauf bei den Aufnahmeprüfungen für ein lycée gescheitert war. Bruno und der Bürgermeister hatten ihren

»Hat sie nicht gewusst, dass sie schwanger ist?«, fragte Bruno.

Fabiola warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Sei nicht so naiv, Bruno. Natürlich wusste sie es. Ihr ist bloß nicht klar, wie sie sich dazu verhalten soll. Ich glaube, sie hat darauf spekuliert, dass sich das Problem im Gerangel auf dem Spielfeld gewissermaßen von selbst löst. Aber Embryos können einiges aushalten, und Paulette ist gesundheitlich enorm robust.«

Fabiola presste die Lippen aufeinander. Sie und ihr Partner wünschten sich schon seit einiger Zeit ein Kind, bislang vergebens. Bruno wusste von Gilles, dass Fabiola deshalb allmählich nervös wurde, obwohl sie selbst Patientinnen in ähnlicher Lage immer den Rat gab, der Natur zu vertrauen und sich nicht unnötig Sorgen zu machen.

»Weiß der Vater Bescheid? Ich meine den Erzeuger, nicht ihren papa«, sagte er.

»Keine Ahnung. Sie hat keinen Piep gesagt, als ich sie gefragt habe, wann sie ihre letzte Periode hatte. Immerhin will sie morgen in die Klinik kommen. Ich werde sie dann gründlich untersuchen und ihr ein paar Fragen zu stellen

»Armes Ding«, sagte Florence. »In ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Wie dem auch sei, sie könnte ein Jahr aussetzen und später mit dem Studium anfangen. Wenn du sie morgen siehst, sag ihr, dass sie jederzeit zu mir kommen kann, wenn sie Gesprächsbedarf hat.«

Sie konnte zwar immer noch zur Uni gehen, dachte Bruno, aber die Chance auf einen Platz im französischen U20-Team wäre vertan, und wie er Paulette kannte, würde sie das nur schwer verkraften. Und als Sportlehrerin, die für ihr Land gespielt hatte, wäre sie später bei ihren Schülern wahrscheinlich sehr viel besser angekommen.

Es hätte nach der errungenen Meisterschaft eigentlich eine fröhliche Heimfahrt nach Saint-Denis sein können. Paulette aber hatte den Pokal wortlos an Bruno weitergereicht, sich im Bus auf einen Platz in der hintersten Reihe gesetzt, die Augen geschlossen und so getan, als schliefe sie. Anscheinend wollte sie mit niemandem reden oder mitfeiern, was auch die Stimmung der anderen dämpfte.

Und so kam es nicht zu den üblichen Freudengesängen. Für Bruno hatte das immerhin den Vorteil, dass er sein Handy klingeln hörte. Der Anruf kam vom Sicherheitsdienst des Flughafens. Monica Felder war nicht wie angekündigt mit der heutigen Maschine der British Airways gekommen,

»Wollen Sie ein Foto von ihr haben?«, wurde Bruno gefragt. Er wusste, dass inzwischen überall auf dem Flughafen Überwachungskameras installiert waren, und bejahte unverzüglich. Er würde das Foto mit demjenigen vergleichen können, das Pamela ihm versprochen hatte. Er bedankte sich bei seinem alten Kollegen, beendete das Gespräch und fand im Nachrichteneingang Pamelas E-Mail samt Anhang. Er öffnete ihn und rechnete mit einem nichtssagenden Bild im Stil eines nüchternen Passfotos. Stattdessen blickte er auf das wahrscheinlich in einem Studio aufgenommene und sorgfältig ausgeleuchtete Porträt einer wunderschönen Frau mit blonden, kunstvoll frisierten Haaren, die ihre großen, ausdrucksvollen Augen optimal zur Geltung brachten. Ihre Wangenknochen waren ausgeprägt, ihr Lächeln bezaubernd, wenn auch ein wenig zurückhaltend, um den Anforderungen eines Passbildes zu genügen. Ihre Haut hatte jenen frischen Schimmer, der so manchen Engländerinnen eigen war. Ein gerechter Ausgleich, wie Bruno fand, für ein Leben im feuchten, nebligen Klima der Insel. Sie schaute direkt in die Kamera, ihre Schultern ein wenig schräggestellt, was ihren schlanken Hals umso eleganter erscheinen ließ.

Bruno stieß einen leisen Pfiff aus und dachte, dass niemand diese Frau so leicht vergessen würde, der sie einmal gesehen hatte. Sie ausfindig zu machen mochte nicht allzu schwer sein. Sein Handy piepte zweimal und meldete eine angekommene Nachricht. Sie kam von seinem Freund am

Dass sie nicht wie geplant eingetroffen war, konnte eine Reihe plausibler Erklärungen haben. Vielleicht hatte sie den Zug verpasst oder kurzerhand beschlossen, einen Tag in Bordeaux zu bleiben; möglich auch, dass sie wegen eines familiären Notfalls umgehend hatte zurückfliegen müssen. Auf jeden Fall wäre es aber wohl angebracht gewesen, Pamela telefonisch Bescheid zu geben. Er wählte also die von ihr durchgegebene englische Telefonnummer, worauf sich eine automatische Stimme meldete, die ihm mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Er hinterließ eine Mitteilung mit seiner eigenen Nummer.

Als er das Handy weggesteckt hatte, dachte er wieder an Paulette und fragte sich, ob sie ihm gegenüber vielleicht gesprächiger sein würde. So oder so wollte er in Erfahrung bringen, wer der Vater des Kindes war. Vielleicht würde er ihn dazu überreden können, sich Paulettes Eltern zu offenbaren. Allerdings musste er auch Rücksicht darauf nehmen, dass Paulette volljährig war und ein Recht auf Selbstbestimmung hatte.

Seufzend betrachtete Bruno den billigen Messingpokal neben sich auf der Sitzbank, der sehr viel bescheidener war als der Wanderpokal, den die jungen Männer zur Meisterschaft überreicht bekamen und der vor fast dreißig Jahren angeschafft worden war. Trotzdem wollte Bruno dafür sorgen, dass er einen Ehrenplatz im Trophäenschrank des Clubs bekommen würde – wenn es sein musste, auch gegen

Wie würde ihre Familie reagieren? Wenn sie das Kind behalten wollte, würden einige Veränderungen ins Haus stehen. Die eigentliche Entscheidung aber hatte Paulette zu treffen. Bruno stöhnte innerlich bei dem Gedanken, dass er immer häufiger vor Situationen gestellt wurde, auf die ihn die Polizeiakademie nicht vorbereitet hatte.

Er nahm sich vor, seine Kollegin Yveline um Rat zu bitten, die beeindruckende junge Kommandantin der hiesigen Gendarmerie, zudem eine Sportlerin, die im französischen Feldhockey-Olympiateam gestanden hatte. Sie interessierte sich sehr für Paulettes sportliche Entwicklung und hätte allzu gern das heutige Endspiel gesehen, war aber dienstlich verhindert gewesen. Er beschloss, auf dem Weg nach Hause in der Gendarmerie vorbeizuschauen. Bei der Gelegenheit würde er ihr auch von Pamelas ausgebliebenem Gast berichten können. Der Gedanke erinnerte ihn daran, dass er sich erkundigen wollte, ob Pamela inzwischen etwas Neues erfahren hatte.

»Was wird gekocht?«, fragte er.

»Blanquette de veau«, antwortete sie. »Da jetzt ein Platz am Tisch frei bleibt, gibt es für alle mehr als genug. Du könntest kommen und uns Gesellschaft leisten.«

»Würde ich liebend gern, aber ich muss das Rugbyteam verabschieden. Sie sind übrigens Meister. Toll, nicht wahr? Und anschließend wollte ich noch zur Gendarmerie. Ich ruf dann später an. Mal sehen, vielleicht schaffe ich’s ja noch. Hast du was von der Frau aus England gehört?«

»Kein Wort. Ist sie in Bordeaux angekommen?«

»Ja, gestern schon, nicht erst heute, wie ich am Flughafen erfahren habe. Kann es sein, dass sie sich im Datum geirrt hat?«

»Nein, sie hat mir vor zwei Tagen eine E-Mail geschrieben und darin bestätigt, dass sie heute am Bahnhof von Le Buisson eintreffen würde. Heute Morgen um elf sollte ihr Flieger landen. Ich habe ihr erklärt, wie sie vom Flughafen aus mit dem Bus zum Bahnhof von Bordeaux gelangt, wo um zwei der Zug abfährt. Zeit hätte sie gehabt, genug, um auch noch was am Bahnhof zu essen. Ich sollte sie um vier Uhr abholen. Wenn sie schon gestern gekommen ist, wird sie sich vielleicht Bordeaux angesehen haben. Glaubst du, ihr könnte was passiert sein? Ob sie plötzlich krank geworden ist?«

»Ich werde mich am Bahnhof nach ihr erkundigen«, sagte er.

»Die blanquette ist perfekt gelungen. Ich halte einen Platz für dich frei. Zu trinken gibt’s den Rosé von Château Briand, den du mir empfohlen hast«, fügte sie hinzu.

»Bin schon auf dem Weg.«

Am nächsten Morgen stand Bruno früh auf, um seine Stiefel und den Gürtel zu polieren, bevor er die übliche Runde durch den Wald lief. Balzac, sein Basset, folgte ihm anfangs auf den Fersen, wurde dann aber wie fast immer von einem interessanten Duft abgelenkt und fiel immer weiter zurück. Bruno konnte sich darauf verlassen, dass er zum Ende der Runde hin wieder aufkreuzen würde. Und obwohl ihm klar war, dass er sich ein paar Gedanken über den Festumzug machen musste, der noch am Vormittag stattfinden sollte, kam ihm immer wieder Paulettes Schwangerschaft in den Sinn. Er konnte es kaum erwarten, von Fabiola zu hören, wie ihr Gespräch mit dem Mädchen verlaufen war, machte sich allerdings keine allzu großen Hoffnungen, Einzelheiten zu erfahren, da Fabiola ihre Schweigepflicht als Ärztin immer sehr ernst nahm. Abgesehen davon wollte er sich am Fahrkartenschalter von Le Buisson erkundigen, ob jemand Pamelas vermissten Gast dort gesehen hatte, am Schalter selbst oder beim Besteigen des Zugs.

Am gestrigen Abend hatte sich das Gespräch bei Tisch in Pamelas Haus hauptsächlich um jene Monica Felder gedreht. Bruno war etwas verspätet eingetroffen, gerade noch rechtzeitig für das Hauptgericht. Zu einer ausführlicheren Vorstellung mit den anderen Gästen hatte die Zeit nicht

Dank Pamelas Nachhilfe war Brunos Englisch inzwischen gut genug, dass er der Unterhaltung in der Tischrunde folgen konnte. Als Pamela durchblicken ließ, dass Bruno der Polizist vor Ort war, musste er ein Sperrfeuer von Fragen über Monica abwehren. Als vermisst werde eine erwachsene Person erst nach drei Tagen registriert, erklärte er, aber weil sie aus dem Ausland komme und vermutlich nur bruchstückhaft Französisch spreche, wolle er sich bemühen, sie ausfindig zu machen. Er war dankbar, als Pamela ein anderes Thema anschlug und auf Brunos Rolle als einer der Küchenchefs ihres Kochkurses zu sprechen kam.

Bruno würde den Teilnehmern beibringen, wie pâté de foie gras zuzubereiten war und wie sich aus einer einzigen Ente fünf verschiedene Gerichte zaubern lassen. Als einer der anderen Kursleiter wollte der Baron zeigen, wie man einen Gänsehals füllt und was sonst noch in ein klassisches cassoulet nach Art des Périgord gehörte. Ivan vom Bistro hatte versprochen, seinen freien Tag – gegen ein Entgelt – zu opfern, um seine Desserts vorzuführen: von der crème bis zur tarte aux noix, Birnen in gewürztem Rotwein und sabayon de fraises, den von Bruno favorisierten Erdbeeren in Weinschaumcreme. Odette von Oudinots ferme würde mit den Gästen durch den Wald wandern, Pilze sammeln und ihnen zeigen, wie sie sich als Beilage für ein Kalbfleischgericht verarbeiten lassen. Stéphane hatte sich bereit erklärt, seine Künste als Käser und Hersteller von Joghurt zu demonstrieren. Julien wollte den Gästen eine Führung über das städtische Weingut und durch die Winzerei anbieten, worauf im Anschluss eine Verkostung bei Hubert stattfinden sollte. Mit einer Rundfahrt entlang den Anbaugebieten des Bergerac sowie Abstechern nach Lascaux und dem einen oder anderen Château stand den Gästen eine sehr abwechslungsreiche und mit Terminen vollgepackte Woche bevor. Pamela und ihre englische Freundin Miranda hatten sie gut geplant.

Balzac wartete geduldig vor der Gartentür, als Bruno zu seinem Haus zurückkehrte. Nachdem er geduscht und sich gründlich rasiert hatte, toastete er die Reste des Baguettes vom Vortag und teilte sie mit seinem Hund, während er den Nachrichten von Radio Périgord lauschte. Die letzte Meldung ließ ihn aufmerken, sie betraf ihn und den Festakt am Vormittag, mit dem seine Beförderung und die damit verbundene Zunahme seiner Verantwortlichkeiten feierlich begangen werden sollten. Er packte seine Uniform aus der Folie der Reinigung, zog sie an, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und machte sich auf den Weg zur Mairie. Normalerweise saß Balzac auf dem Beifahrersitz und legte seinen Kopf auf den Schenkel des Herrchens; heute aber musste er im Heckraum des Transporters Platz nehmen,

Als er den Wagen neben der Mairie abstellte, fiel ihm auf, dass dort bereits zwei weitere Fahrzeuge der police municipale parkten. Von Fauquets Café aus winkten ihm zwei uniformierte Kollegen zu: ein übergewichtiger und etwas ungepflegter Mann, der für seinen Job eigentlich schon zu alt zu sein schien, und eine jüngere Frau, die in einer offenbar nagelneuen, aber viel zu großen Montur steckte.

Der Mann war Louis, Polizeichef von Montignac, einer Kleinstadt weiter oben im Tal der Vézère. Montignac wurde jedes Jahr von Tausenden von Touristen besucht, die die nahe gelegene Höhle von Lascaux besichtigten, weshalb die Gemeinde wirtschaftlich um einiges besser dastand als Saint-Denis. Louis, schon zweimal wegen Trunkenheit im Dienst abgemahnt, machte kein Hehl daraus, dass er Bruno die Beförderung von Herzen missgönnte, zumal er als dienstälterer Kollege vorrangig Anspruch darauf zu haben glaubte.

Bei der jungen Frau handelte es sich um Juliette Robard. Sie war als Nachfolgerin der letzten Polizistin von Les Eyzies eingestellt worden, die sich nach einer Schussverletzung im Dienst hatte ausmustern lassen. Die Kollegin war zwar inzwischen wieder auf den Beinen, zog aber nunmehr einen sichereren Arbeitsplatz in ihrer Mairie vor. Juliette hatte vor kurzem erst ihre Ausbildung an der Polizeiakademie abgeschlossen. Sie war in Les Eyzies geboren und hatte früher in Teilzeit als Kontrolleurin für die Regionalbahn gearbeitet, um sich um ihre Mutter kümmern zu können, die seit einem Verkehrsunfall im Rollstuhl saß. Da ihr Vater schon seit vielen Jahren im Stadtrat saß, war ihre Ernennung eine

Bruno war weder überrascht noch eingeschnappt. Auf dem Land schob man sich die Posten halt auf diese Art und Weise zu. Er kannte Juliette seit ihren Teenagerjahren, denn sie war Schülerin in seiner Tennisklasse gewesen. Er mochte sie und hielt sie für eine vernünftige, kluge junge Frau, der er viel Erfolg in ihrem neuen Beruf zutraute. Er schätzte ihre heitere Art; und dass ihr Gesicht sowohl Intelligenz als auch Freundlichkeit ausstrahlte, ließ darauf hoffen, dass sie ihm eine gute Kollegin sein würde. Außerdem sprach sie fließend Englisch, was für eine Polizistin oder einen Polizisten in einer Region, die wie das Périgord zunehmend vom Tourismus abhängig war, immer wichtiger wurde. Louis dagegen hatte keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Über die Ernennung seines Nachfolgers würde Bruno immerhin ein Wort mitzureden haben.

Bruno schüttelte ihnen die Hand, gab Juliette einen Kuss auf die Wange und nahm ihre Einladung auf eine Tasse Kaffee dankbar an. Das Angebot eines Croissants wollte er schon ausschlagen, doch Balzac, der sich in diesem Café bestens auskannte und wusste, wie lecker Fauquets Croissants waren, schaute ihn so flehentlich an, dass er klein beigab. Fauquet servierte prompt. Auf dem Stuhl vornübergebeugt, um seine Uniform nicht vollzukrümeln, ließ sich Bruno die Köstlichkeit aus Blätterteig schmecken und gab Balzac den üblichen Anteil.

»Ja, zu den meisten«, antwortete sie vorsichtig. »Was willst du wissen?«

Er erzählte ihr von der verschwundenen Monica Felder und fragte, ob es möglich sei, herauszufinden, ob sie im Verlauf der letzten zwei Tage am Bahnhof von Bordeaux ein Ticket für die Fahrt in irgendeine Stadt hier in der Gegend gekauft hatte.

»Wenn sie von England aus online gebucht hat, wird sie einen Ausdruck vorgelegt haben, der von irgendeinem Kontrolleur eingescannt worden ist«, erklärte Juliette. »Auch wenn sie mit ihrer Kreditkarte ein Ticket am Bahnhof gekauft hat, wird das nachvollziehbar sein, aber dafür braucht man ihre Kreditkartennummer, und die Auskunft könnte eine Weile dauern. Wegen der Datenschutzrichtlinien müssten wir außerdem eine polizeiliche Vermisstenmeldung vorlegen können.«

»Ginge das nicht auch unter der Hand, um die Sache etwas zu beschleunigen?«

»Natürlich«, antwortete sie grinsend. »Gib mir ihre persönlichen Daten, und ich erkundige mich, welche Kollegen während der letzten zwei Tage auf der Sarlat-Strecke Dienst hatten.«

Er nannte Juliette Name und Adresse der Vermissten und schickte ihr und Louis über sein Handy das Foto zu, das er von Pamela bekommen hatte.

»Wozu so viel Aufhebens um eine Ausländerin, die womöglich nur ihren Zug verpasst hat?«, fragte Louis.

»Das will ich dir gern erklären«, antwortete Bruno.

Juliette versetzte ihm einen spielerischen Knuf‌f. Louis grunzte widerwillig und murmelte, dass er mit seinem neuen Telefon noch nicht so richtig umgehen könne. Juliette hingegen hatte schon einen ehemaligen Kollegen am Apparat, tauschte ein paar Freundlichkeiten mit ihm aus und sprach in einem Jargon, den nur cheminots, also französische Eisenbahner, verstanden.

»Euer und unser Bürgermeister kommen, zusammen mit Bossuet vom Regionalrat«, sagte Louis. Er beugte sich vor und flüsterte Bruno ins Ohr: »Ich habe munkeln hören, dass Bossuet dich vereidigen wollte, aber dein Bürgermeister besteht darauf, es selbst zu tun.«

Laut einer jüngst vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Studie mangelte es den kommunalen Polizeikräften an Computern, elektronischer Infrastruktur und administrativer Unterstützung. Bruno war einer der befragten Beamten gewesen, was zur Folge hatte, dass in seinem Zuständigkeitsbereich ein neu eingerichtetes System im Rahmen eines Pilotprojekts getestet wurde. Amélie, die mit der Durchführung der Studie betraut war, hatte Bruno als Projektleiter empfohlen, der daraufhin zum Chef de police für das ganze Tal befördert worden war, ein Gebiet, das von Limeuil an der Mündung der Vézère in die Dordogne flussaufwärts bis nach Montignac reichte.

Nach der heutigen Vereidigung würde er der Vorgesetzte von Juliette und Louis sein und von einem Verwaltungsassistenten unterstützt werden, der noch zu benennen war

»Der Festakt ist auf elf Uhr verschoben worden. Wir haben also noch etwas Zeit«, sagte Louis mit dem verschlagenen Blick eines Mannes, der mit den Interna vertraut ist. »Ich habe zwitschern hören, dass du dich auf eine Überraschung gefasst machen kannst. Darum auch die Verzögerung. Es haben sich ein paar hohe Tiere angekündigt. Wir werden vor lauter Salutieren die Arme nicht mehr hängen lassen können.«

Bruno verließ der Mut. Ihm war auch schon zu Ohren gekommen, dass Mangin etwas Besonderes organisiert hatte. Bruno hatte gehofft, dass die Vereidigung eine schlichte Formalität im Büro des Bürgermeisters und in wenigen Minuten vorüber sein würde. Anscheinend war aber Größeres geplant. Und jetzt hatte er noch zwei Stunden totzuschlagen. Vielleicht sollte er in sein Büro gehen und noch liegengebliebenen Papierkram erledigen, aber seine beiden Kollegen im Stich zu lassen war wohl keine so gute Idee.

»Dann nichts wie hin«, sagte Bruno und stand auf. Er zögerte kurz und fragte Louis, ob er mitkommen wolle. Der aber zeigte auf ein paar Jägerkollegen, die an der Bar standen, und sagte, dass er bei ihnen bliebe.

Sie fuhren mit Brunos Transporter und waren zwanzig Minuten später am Bahnhof. Juliette führte ihn um das Gebäude herum und durch eine Hintertür in einen Korridor zwischen Büros. Am äußeren Ende befand sich das, was Juliette den Erfrischungsraum nannte, wo die Bahnbediensteten Pausen einlegten oder auf den Schichtwechsel warteten. Darin befanden sich zwei Sofas, ein großer Esstisch, auf dem ein Schachbrett mit Figuren stand, sowie eine kleine Küchenzeile mit Spüle, Mikrowellenherd und einer Kaffeemaschine. Unter der Arbeitsplatte waren ein Kühlschrank, ein Geschirrschrank und eine Spülmaschine untergebracht. Auf einem zur Hälfte mit Taschenbüchern, Illustrierten und Gesellschaftsspielen gefüllten Regal stand ein kleiner Fernsehapparat.

»Das ist Sylvain, der Schachmeister unter den cheminots«, stellte Juliette einen jungen Mann mit Ziegenbärtchen vor, der sich von der Kaffeemaschine abwandte, um Juliette zu umarmen und Bruno die Hand zu geben.

»Sie müssen Bruno sein. Wie möchten Sie Ihren Kaffee?«, fragte er.

»Schwarz, ohne Zucker, danke.«

»Sie sind also der Mann, der unsere Juliette von der Bahn

Als er Balzac bemerkte, kniete er nieder und tätschelte ihn. Dann holte er eine Packung Kekse aus dem Schrank und forderte seine Gäste auf, sich zu bedienen.

»Darf ich ihm auch einen geben?«, fragte er Bruno und winkte mit einem Keks. »Mein Onkel hatte auch einen Basset; ein herrlicher Hund war das. Wie ist sein Name?«

»Balzac«, antwortete Bruno, der sich wieder einmal darüber freute, dass sein Hund, wo immer er hinkam, Freundschaften schloss. Es machte seinen Job um einiges leichter. »Wenn Sie ihn verwöhnen, wird er Ihnen auf ewig die Treue halten.«

Sylvain schenkte Kaffee ein und zog danach einen kleinen Computer aus seinem Schulterbeutel, der an einem Haken neben dem Bücherregal hing. Bruno sah, dass es sich bei dem Gerät um ein System der elektronischen Fahrscheinverwaltung handelte. Sylvain tippte zwei Tasten an, gab ein Passwort ein und scrollte verschiedene Bildschirmfenster durch.

»Monica Felder hat ihr Ticket online in England gebucht, mit einer Kreditkarte bezahlt und selbst ausgedruckt. Das Ticket ist für alle Züge und einen Monat lang gültig.« Sylvain sprach so deutlich und präzise, wie man es sich von einem Zeugen vor Gericht wünschte, dachte Bruno.

Der junge Mann blickte auf. »Platzreservierungen gibt es

»Wissen Sie, wo sie ausgestiegen ist?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, es war Lalinde, obwohl ihr Fahrschein bis Le Buisson gültig war. Ich muss bei jedem Halt raus auf den Bahnsteig und darauf achten, dass niemand zu nahe am Zug ist, wenn ich dem Lokführer das Zeichen für die Weiterfahrt gebe. Deshalb erinnere ich mich an sie und den Mann in ihrer Begleitung.«

»Was für ein Mann? War er mit ihr im Zug?«

»Ja, sie haben englisch miteinander gesprochen, als ich ihre Fahrkarten kontrolliert habe. Er hatte keine und sagte in gutem Französisch, dass er nicht mehr dazu gekommen sei, am Bahnhof eine zu kaufen. Er hat dann in bar nachgelöst und als Grand Voyageur eine Ermäßigung bekommen.«

Bruno wusste von der Treuekarte für Vielreisende. Er selbst konnte darauf verzichten, weil seine Ermäßigung als Polizist noch höher ausfiel. »Dann dürften Sie wohl die Nummer der Treuekarte registriert haben.«

»Ich weiß, wo das ist«, sagte Juliette und rief auf ihrem Smartphone das Telefonbuch auf. »Nördlich von Lalinde, auf dem Weg nach Saint-Marcel. Er hat auch einen Festnetzanschluss.«

Bruno warf einen Blick auf die Uhr und wählte die von ihr genannte Nummer. Noch vor dem Festakt dorthin zu fahren und zurück lag zeitlich nicht drin.

»Was für einen Eindruck haben die beiden auf sie gemacht?«, fragte Bruno. »Sie sagten, sie hätten sich unterhalten. Wie alte Freunde? Oder wie Fremde, die gerade Bekanntschaft schließen?«

»Verheiratet waren sie bestimmt nicht – dafür waren sie allzu interessiert aneinander. Sie hat mit ihm geflirtet, und er war regelrecht scharf auf sie. Ich schätze, er wollte sie abschleppen.«

»Wusste gar nicht, dass du so ein Romantiker bist, Sylvain«, schaltete sich Juliette ein und verdrehte die Augen.

»Du holst das Beste aus mir heraus«, gab er grinsend zurück. Bruno hatte das Gefühl, als schäkerte er nicht das erste Mal mit ihr, der offenbar nicht der Sinn danach stand, auf ihn einzugehen.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Bruno, als sie ihre Tassen ausgetrunken hatten, und er und Juliette fuhren zurück nach Saint-Denis. Louis war immer noch bei Fauquet. Er saß ganz hinten an einem kleinen Tisch, trank einen petit blanc

»Bonjour, Bruno, der Bürgermeister will, dass ich mich um Balzac kümmere«, sagte sie, hob die Leine in die Höhe und klimperte mit den Augenlidern. »Ich pass auch gut auf ihn auf. Und das sollen Sie tragen statt Ihrer alten Jacke.«

Chef de service principal

Commissaire de police,

communes

anciens combattants

Angeführt von den beiden Fahnenträgern, setzte sich der Festzug in Bewegung, überquerte die Brücke und bog auf den großen Parkplatz ein. Ein Gendarm, der den Platz für die Öffentlichkeit gesperrt hatte, öffnete den Schlagbaum und salutierte, als der Zug vorbeimarschierte. Vor dem Kriegerdenkmal, das einen Soldaten des Großen Krieges mit

Chef de police

»Ja, ich gelobe«, erwiderte Bruno.

officier judiciairePolice nationale

»Polizeichef Courrèges, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, sagte nun der Präfekt. Als Bruno vor ihm Haltung annahm, ließ sich der Präfekt von einem Assistenten eine

Médaille d’honneur

commune

cheminots

la vallée de l’homme

»Weil wir es im Unterschied zu den Amerikanern in unserem Land zum Glück nicht mit Abermillionen von bewaffneten Zivilisten zu tun haben«, antwortete Jean-Jacques, als sie das Bürgermeisteramt erreichten. »Um es der europäischen Waffenindustrie gutgehen zu lassen, müssen wir also ständig neue Waffen anschaffen – und unterschiedliche für Polizei, Armee, Gendarmerie und Marine.«

vin d’honneur

hors-d’œuvretarte au citron

foie grasCroix de guerreMédaille d’honneur

»Es ist für unser Département eine Ehre, für das Pilotprojekt der geplanten Polizeireform ausgewählt worden zu sein. Ich vermute, die Justizministerin war sehr angetan von dem Bericht der charmanten jungen Frau aus Guadeloupe, die die Studie gemacht hat. Sie ist jetzt offenbar eine protégée der Ministerin.«

»Amélie Duplessis«, präzisierte Bruno. »Ja, eine beeindruckende junge Frau. Wussten Sie, dass sie auch eine professionelle Jazzsängerin ist? Sie wird im Sommer zu uns kommen und Konzerte geben.«

Der Präfekt hatte sich nach seiner Ansprache gerade wieder gesetzt, als Brunos Handy vibrierte. Es war Quatremer aus Lalinde, der Bruno sagte, dass er sofort kommen und Jean-Jacques mitbringen solle. In McBrides Haus habe ein Verbrechen stattgefunden.