Ein alternder Psychiater zählt die Tage bis zu seinem Ruhestand. Bald wird er die Praxis in der Rue des Rosettes für immer hinter sich schließen. Doch eine letzte Patientin lässt sich nicht abwimmeln. Und die Gespräche mit Agathe verändern alles: Neue Freundschaften scheinen plötzlich möglich, neue Wege, neue Zuversicht. Eine universelle Geschichte über Nähe und Freundschaft, Liebe und Verbindlichkeit — elegant und zeitlos, voll meditativer Zärtlichkeit und subtilem Humor.
Anne Cathrine Bomann
Agathe
Roman
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther
hanserblau
Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen und Charaktere entstammen der Fantasie der Autorin, und jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebendig oder tot, ist zufällig.
Wenn ich mit zweiundsiebzig in den Ruhestand ging, hatte ich noch fünf Monate zu arbeiten. Das entsprach zweiundzwanzig Wochen oder, falls alle Patienten kamen, genau achthundert Gesprächen. War jemand verhindert oder wurde krank, verringerte sich die Zahl natürlich. Darin lag, trotz allem, ein gewisser Trost.
Ich saß im Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster, als es passierte. Die Strahlen der Frühjahrssonne zeichneten vier versetzte Quadrate auf meinen Teppich und bewegten sich langsam, aber sicher über meine Füße hinweg. Neben mir lag eine ungeöffnete Erstausgabe von Der Ekel, die ich seit Jahren in Angriff zu nehmen versuchte.
Ihre Beine waren dünn und bleich, und es wunderte mich, dass sie zu dieser Jahreszeit schon im Rock nach draußen durfte. Sie hatte ein Himmel-und-Hölle-Feld auf die Straße gemalt und hüpfte hoch konzentriert, erst mit einem Bein, dann mit beiden, dann wieder mit einem. Das Haar trug sie zu zwei Rattenschwänzen gebunden; sie musste um die sieben sein und lebte mit ihrer Mutter und einer älteren Schwester etwas weiter die Straße hinauf in der Nummer vier.
Nun könnte man vielleicht denken, dass ich eine Art philosophisches Unikum war, das den ganzen Tag am Fenster saß und über weit bedeutendere Dinge nachsann als Wurfsteine oder den Weg der Sonne über den Boden. Das war nicht der Fall. Tatsächlich saß ich hier, weil ich nichts Besseres zu tun hatte, und wohl auch, weil die triumphierenden Ausrufe, die gelegentlich zu mir hereindrangen, wenn dem Mädchen eine besonders komplizierte Kombination von Hüpfern geglückt war, in gewisser Weise etwas Lebensbejahendes an sich hatten.
Irgendwann stand ich auf, um mir eine Tasse Tee zu kochen, und als ich auf meinen Posten zurückkehrte, war sie verschwunden. Wahrscheinlich, so schlussfolgerte ich, hatte sie anderswo ein spannenderes Spiel gefunden; Kreide und Stein lagen verlassen mitten auf der Straße.
Und da geschah es. Ich hatte gerade die Tasse zum Abkühlen aufs Fensterbrett gestellt und das Plaid über meinen Knien ausgebreitet, als ich am Rande meines Sichtfelds schemenhaft etwas fallen sah. Während ich noch umständlich meinen steifen Körper auf die Beine brachte, um ans Fenster zu treten, vernahm ich einen gellenden Schrei. Ich entdeckte sie ein Stück weit die Straße hinunter, kurz vor der Abzweigung zum See. Sie hatte sich aufgesetzt und hielt sich, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, schluchzend den Knöchel. Über ihr im Geäst hockte eine Katze und ließ unbeeindruckt den Schwanz hin und her schwingen.
Ich zog den Kopf zurück. Sollte ich zu ihr hinausgehen? Ich hatte das letzte Mal mit einem Kind gesprochen, als ich selbst eines gewesen war, und das zählte wohl kaum. Würde es sie nicht umso trauriger machen, wenn plötzlich ein fremder Mann vor ihr stand und sie zu trösten versuchte? Verstohlen warf ich einen zweiten Blick nach draußen; sie saß noch immer im Gras, das verweinte Gesicht erhoben, den Blick an meinem Haus vorbeigerichtet.
Es war sicher am besten, wenn mich niemand sah. Ist er nicht Arzt, würden sie einander zuflüstern, warum steht er bloß da und glotzt? Also ging ich mit meinem Tee in die Küche, wo ich mich an den Esstisch setzte. Doch auch wenn ich mir sagte, dass bestimmt alles in Ordnung sei und das Mädchen jeden Moment aufstehen und nach Hause humpeln würde, blieb ich dort sitzen wie ein Fremder in meinen eigenen vier Wänden, während die Stunden an mir vorbeistrichen. Der Tee wurde kalt und bitter, und die Dunkelheit brach herein, ehe ich schließlich zurück ins Wohnzimmer schlich, wo ich, halb verborgen hinter der Gardine, die Straße hinunterspähte. Da war sie natürlich längst weg.
Seit ich sie vor vielen Jahren eingestellt hatte, hatte mich Madame Surrugue jeden einzelnen Morgen auf die exakt gleiche Weise empfangen. Tag für Tag saß sie an ihrem großen Mahagonischreibtisch wie eine Königin auf ihrem Thron, wenn ich aber zur Tür hereintrat, stieg sie herab, um meinen Stock und meinen Mantel entgegenzunehmen, während ich den Hut auf die Ablage über der Garderobe legte. Dabei setzte sie mich über die bevorstehenden Termine in Kenntnis und reichte mir zum Schluss einen Stapel Patientenakten, die ansonsten penibel geordnet in einem großen Schrank hinter ihrem Schreibtisch archiviert waren. Wir wechselten noch ein paar Worte, woraufhin ich sie für gewöhnlich nicht wieder vor zwölf Uhr fünfundvierzig sah, wenn ich das Behandlungszimmer verließ, um in einem mittelmäßigen Restaurant in der Nähe zu Mittag zu essen.
Bei meiner Rückkehr saß sie stets genauso da, wie ich sie verlassen hatte, und mitunter fragte ich mich, ob sie überhaupt aß. Es duftete weder nach Essen, noch hatte ich jemals auch nur einen Krümel unter ihrem Schreibtisch entdeckt. Brauchte Madame Surrugue überhaupt Nahrung zum Leben?
An diesem Morgen teilte sie mir mit, dass eine deutsche Frau angerufen habe, die später vorbeikommen und einen Termin ausmachen wolle.
»Ich habe mit Dr. Durand über sie gesprochen. Anscheinend war sie vor einigen Jahren wegen schwerer Manie und versuchten Selbstmords als Patientin in Saint Stéphane.«
»Kommt nicht infrage«, sagte ich entschieden. »Wir können sie nicht behandeln. Die Therapie würde Jahre dauern.«
»Dr. Durand ist ebenfalls der Meinung, dass es sinnvoller wäre, sie wieder stationär aufzunehmen, aber sie besteht offenbar darauf, zu Ihnen zu kommen. Ich könnte durchaus einen Termin für sie freimachen.«
Madame Surrugue sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf.
»Nein, unmöglich. Bitte sagen Sie ihr, dass sie sich anderswo Hilfe suchen soll.«
Wenn ich mich in ein paar Monaten zurückzog, hätte ich fast ein halbes Jahrhundert lang praktiziert, und das war mehr als genug. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war eine neue Patientin.
Madame Surrugue musterte mich kurz, ging dann aber den restlichen Tagesablauf mit mir durch, ohne das Thema weiterzuverfolgen.
»Danke, ausgezeichnet«, sagte ich, nahm den Stapel Akten entgegen und zog mich in mein Behandlungszimmer zurück. Es lag am entgegengesetzten Ende des großen Vorraums, wo Madame Surrugue herrschte und die Patienten darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. Auf diese Weise konnten mich weder das Klappern der Schreibmaschine noch eventuell stattfindende Gespräche bei der Arbeit stören.
Die erste Patientin, eine völlig humorlose Frau namens Madame Gainsbourg, war soeben eingetroffen und blätterte in einer der Zeitschriften, die Madame Surrugue ab und an mitbrachte. Ich seufzte etwas zu tief und rief mir in Erinnerung, dass nach dem Termin mit ihr nur noch siebenhundertdreiundfünfzig Sitzungen auf mich warteten.
Der Tag verlief ohne nennenswerte Ereignisse, bis ich nach dem Mittagessen zurück in die Praxis kam. Hier wäre ich beinahe mit einer tödlich bleichen, dunkelhaarigen Frau zusammengestoßen, die direkt hinter der Tür stand, und ich entschuldigte mich für meine Ungeschicklichkeit. Die Frau war auffallend mager, und ihre Augen wirkten riesig in ihrem spitzen Gesicht.
»Das macht nichts, schließlich stehe ich im Weg«, erwiderte sie und betrat den Raum. »Ich wollte gern einen Termin ausmachen.«
Sie sprach mit einem unüberhörbaren Akzent, und mir wurde klar, dass es sich um die Deutsche handeln musste. Sie presste eine Mappe mit dem Aufdruck Saint Stéphane an die Brust.
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, antwortete ich, doch sie machte einen schnellen Schritt auf mich zu und sagte eindringlich:
»Es ist sehr wichtig, dass ich einen Termin bekomme. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände mache, aber ich kann nirgendwo anders hin. Bitte helfen Sie mir.«
Ich wich unwillkürlich ein Stück zurück. Ihre braunen Augen leuchteten wie im Fieber, und ihr Blick war so intensiv, dass es sich anfühlte, als hielte sie mich umklammert. Sie abzuweisen würde offensichtlich ein Kampf werden, und dazu hatte ich im Augenblick weder die Zeit noch die Kraft. Ich machte eine Bewegung in Richtung Madame Surrugue und bemühte mich, ein freundliches Lächeln aufzusetzen.
»Wenn Sie mir bitte folgen würden«, sagte ich und drückte mich an ihr vorbei, »meine Sekretärin wird Ihnen die Situation erklären.«
Es war Madame Surrugues Schuld, dass die ungebetene Patientin überhaupt aufgetaucht war, sollte sie also ruhig selber sehen, wie sie das Problem wieder loswurde.
Ich schaffte es, mich an der Frau vorbeizuschieben, die mir glücklicherweise zum Schreibtisch folgte, wo ich sie mit vielsagendem Blick vor Madame Surrugue abstellte. Meine Sekretärin hob die linke Augenbraue um einige Millimeter.
»Wären Sie so freundlich, ab hier zu übernehmen, Madame Surrugue«, bat ich, verabschiedete mich mit einem steifen Nicken und hastete in Richtung meines sicheren Behandlungszimmers davon.
Das Bild der bleichen Frau aber wollte mich nicht mehr loslassen, und den Rest des Tages schien es mir, als ob noch immer eine Spur ihres Parfüms in der Luft hinge, die jedes Mal, wenn ich die Tür öffnete, wie eine feine Staubwolke aufwirbelte.
Die Zeit lief durch mich hindurch wie Wasser durch einen rostigen Filter, den niemand Lust hat zu wechseln. Eines bleigrauen verregneten Nachmittags hatte ich ohne jede Spur von Engagement mit sieben Patienten gesprochen und nur noch einen Termin vor mir, ehe ich nach Hause gehen konnte.
Bevor ich Madame Almeida in mein Behandlungszimmer folgte, sah ich zu meiner Sekretärin hinüber. Sie saß regungslos an ihrem akribisch aufgeräumten Schreibtisch und starrte auf ihre Hände. Die Tischleuchte warf ihren versteinerten Schatten auf die dahinterliegende Wand, und sie wirkte derart verloren, dass ich flüchtig erwog, etwas zu ihr zu sagen. Bloß was? Stattdessen schloss ich die Tür hinter mir und wandte mich meiner Patientin zu.
Madame Almeida, die fast einen Kopf größer war als ich und damit stets einen etwas mächtigen Eindruck machte, entledigte sich mit hektischen Bewegungen ihres Regenschirms sowie ihres Capes und ließ sich auf dem Diwan nieder. Sie strich ihren speigrünen Rock glatt und betrachtete mich anklagend durch die kleine Brille, die ganz vorn auf ihrer krummen Nase balancierte.
»Ich hatte eine fürchterliche Woche, Doktor«, verkündete sie und brachte sich in eine bequeme Liegeposition. »Ach, ich rege mich immer so auf. Es sind die Nerven, das können Sie mir glauben, und das habe ich auch zu Bernard gesagt — Bernard, habe ich gesagt, du machst mich nervös, wenn du den ganzen Tag da in deinem Stuhl herumsitzt!«
Madame Almeida war immer nervös, und es gab keine guten Phasen in ihrem Dasein. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Therapie bei ihr auch nur im Entferntesten Wirkung zeigte, dennoch kam sie getreulich zweimal die Woche in die Praxis marschiert, um mich auszuschimpfen. Allein der Gedanke an ein besseres Leben schien sie aufzuregen, und ehrlich gesagt war mir nicht ganz klar, weshalb sie mich überhaupt aufsuchte. Für gewöhnlich ließ ich sie einfach reden, schob jedoch bisweilen eine Bemerkung ein oder versuchte mich an einer Deutung, die sie vollständig ignorierte.
»… und dann meinte sie doch glatt, ich würde ihr noch drei Franc von letzter Woche schulden, stellen Sie sich das einmal vor, so eine Frechheit! Das habe ich sofort in der Brust gespürt, beinahe hätte mich mitten im Laden so ein Unwohlsein überkommen, aber dann habe ich zu ihr gesagt …«
Jahre der Übung halfen mir, an den richtigen Stellen zu brummen, ohne tatsächlich zuzuhören, und mit etwas Glück würde ich nicht ein Wort wahrgenommen haben, bis sie wieder ging.
Ich schaute nach unten auf meinen Notizblock und merkte, dass ich aus purer Frustration die Spitze des Bleistifts durch das Papier gedrückt hatte. Um mich abzulenken, begann ich eine weitere meiner Vogelkarikaturen.
»Denn auch wenn ich schwache Nerven habe, lasse ich mir keine Unverschämtheiten gefallen, das kann ich Ihnen sagen!«, schrie Madame Almeida nahezu. Draußen regnete es inzwischen so heftig, dass sich außer verschwommenen Konturen unmöglich etwas durch die Fenster erkennen ließ, und zu meinem Pech ermunterte das Prasseln der Tropfen gegen die Scheiben meine Patientin dazu, noch lauter zu sprechen als ohnehin schon.
Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich damit abzufinden, dachte ich ergeben und konzentrierte mich auf eine Stelle auf ihrem Schädel, die verdächtig dünnhaarig aussah. Es freute mich, dass sie möglicherweise bald eine Glatze bekam und ich es in dem Fall vor ihr gewusst hätte. Sogleich fügte ich dieses Detail meiner Zeichnung hinzu. Ich stellte mir vor, wie sie eines Tages zufällig einen Blick auf ihren Hinterkopf erhaschte, gefangen zwischen einem Spiegel und einer Fensterscheibe, wie ihre dicken Finger fiebrig dort oben herumsuchten, die Haare zur Seite rissen und die Haut freilegten, während sie schrie: »Bernard! Warum hast du nichts gesagt, Bernard?«
Und so, auf die eine oder andere Weise, verging eine Stunde in einem Leben. Madame Almeida dankte mir für das Gespräch, und ich hielt ihr die Tür auf, sorgsam darauf bedacht, den Block wegzudrehen, damit sie den glatzköpfigen Strauß nicht entdeckte.
Noch sechshundertachtundachtzig Sitzungen. In diesem Moment fühlten sie sich an wie sechshundertachtundachtzig zu viel.
Ein paar Tage darauf musste ich Madame Surrugue beim morgendlichen Durchgehen des Kalenders unterbrechen. »Moment mal, was haben Sie da gerade gesagt? Hat die Deutsche etwa doch einen Termin bekommen?«
Sie neigte den Kopf in einem kurzen, entschiedenen Nicken.
»Ja, sie war sehr insistierend, muss ich sagen. Sie ist fest entschlossen, eine Therapie zu machen, und hat offenbar nur Gutes von Ihnen gehört.«
Ich schnaubte; seit wann galt das als Grund, sich meinen Anweisungen zu widersetzen?
»Ich habe ihr klargemacht, dass Sie nur noch ein halbes Jahr lang hier sein werden. Damit war sie vollkommen einverstanden, daher schien es mir albern, sie abzulehnen.«