Endlich wird der aufstrebende wissenschaftliche Assistent Fitz auf eine der LSD-Partys seines Professors Leary in Harvard eingeladen. Er erhofft sich davon einen wichtigen Karriereschritt, merkt aber bald, dass Learys Ziele weniger medizinischer Natur sind; es geht dem Psychologen um eine Revolution des Bewusstseins und eine von sozialen Zwängen losgelöste Lebensform. Fitz wird mitgerissen von dieser Vision, mit Frau und Sohn schließt er sich der Leary-Truppe an: Sie leben in Mexiko, später in der berühmten Kommune in Millbrook, mit Drogen und sexuellen Ausschweifungen ohne Ende. Ein kreischend greller Trip an die Grenzen des Bewusstseins und darüber hinaus — T.C. Boyle at his best.
T. Coraghessan Boyle
Das Licht
Roman
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Carl Hanser Verlag
VORSPIEL BASEL, 1943
Teil I: CAMBRIDGE 1962
Teil II: ZIHUATANEJO/MILLBROOK 1962—1963
Teil III: MILLBROOK 1964
In memoriam
Ariane Fasquelle
Turn off your mind, relax and float down stream
It is not dying, it is not dying
John Lennon, Paul McCartney: Tomorrow Never Knows
Wohin entschwand, was Visionen gab Raum?
Wo blieben das Leuchten, der Glanz, der Traum?
William Wordsworth: Ode: Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood
War es ein Gift? War es verboten? Ein unverantwortliches Risiko? Sie wusste es nicht, doch sie war den ganzen Tag nervös und angespannt, obwohl sie sich sagte, das sei töricht: Wenn irgendjemand in diesem ganzen Gebäude wusste, was er tat, dann ihr Chef. Seit sie vor etwas mehr als einem Jahr angefangen hatte, für ihn zu arbeiten, war ihm kein einziger Fehler unterlaufen — er war präzise, vorsichtig, durch und durch verlässlich und setzte weder seine eigene Sicherheit noch die seiner Laborantin aufs Spiel. Was man nicht von allen Chemikern hier sagen konnte. Manche — sie hatte allerlei Klatsch gehört — wurden im Lauf des Tages nachlässig, setzten die Schutzbrille nicht auf oder gingen mit Pipetten voll Salpetersäure oder Natriumhydroxid durch den Raum, als wären sie mit einer Einkaufstasche voller Lebensmittel auf dem Heimweg, und in einem Fall (aber das war wirklich nur ein Gerücht) sprach man sogar von Trunkenheit am Arbeitsplatz. Und wer musste dann aufräumen, die Schuld auf sich nehmen und, wenn es sein musste, den Vorgesetzten direkt ins Gesicht lügen? Die Laboranten natürlich. Wer sonst?
Aber Herr Hofmann war nicht so. Er hielt sich buchstabengetreu an die Sicherheitsvorschriften, morgens um acht ebenso wie nachmittags um fünf, ganz gleich, ob sie die Chemikalien für den ersten oder den letzten Prozess des Tages ansetzten. Sie bewunderte seine Tüchtigkeit, seine Aufmerksamkeit für Details, seine fachliche Qualifikation, aber da war noch mehr. Zum Beispiel hatte er keinerlei Bedenken gehabt, eine Frau einzustellen, die einzige Laborantin in der ganzen Forschungsabteilung, und außerdem war er kein kalter Fisch, sondern ein Mann, in dessen Adern rotes Blut floss. Er war stets ausgeglichen, selbst an Tagen, an denen es nicht gut lief, und hatte immer einen freundlichen Blick oder ein Lächeln für sie, und die Statur unter dem Laborkittel verriet, dass er mit Hanteln trainierte und im Boxverein war. Zwar brauchte er im Labor eine Brille, und sein Haar wurde etwas schütter, doch das merkte man kaum, denn er trug es zurückgekämmt wie Adolphe Menjou, und die Brille ließ ihn nur distinguierter aussehen. Vielleicht war sie verliebt in ihn, schon möglich — aber das hätte sie natürlich keiner Menschenseele erzählt, auch nicht Dorothea Meier, ihrer besten Freundin, und ganz gewiss nicht ihrer Mutter, die, hätte sie auch nur den Hauch eines Verdachts gehabt, ihre Tochter könnte sich in einen älteren Mann verliebt haben (obendrein verheiratet und mit Kindern), schnurstracks ins Labor marschiert wäre, um ihre Tochter am Kragen zu packen und nach Hause zu schleifen.
Es war April, draußen schien die Sonne, Frühling lag in der Luft, die ganze Welt jubilierte, nur sie selbst war nervös und angespannt. Natürlich hatten Selbstversuche im Dienst der Wissenschaft eine lange, ehrwürdige Tradition — August Bier hatte ein Loch in seine Wirbelsäule gebohrt, um herauszufinden, ob die Injektion von Kokain in die Spinalflüssigkeit eine wirksame Anästhesie bewirkte; Werner Forßmann hatte durch eine Vene im Unterarm einen Katheter bis zum Herzen geführt, nur um zu demonstrieren, dass es möglich war; Jesse Lazear hatte sich absichtlich von einem infizierten Moskito stechen lassen, um zu beweisen, dass diese Insekten die Überträger von Gelbfieber waren —, doch die Misserfolge waren ebenso zahlreich gewesen wie die Erfolge. Lazear hatte seinen Beweis geführt, war aber siebzehn Tage später gestorben — was also hatte er davon gehabt? Oder seine Frau, sofern es eine gegeben hatte? Aber das würde ihrem Chef nicht passieren, sagte sie sich, gar nichts würde ihm passieren. Er würde eine sehr kleine Dosis nehmen, bloß 250 Mikrogramm, so dass schlimme Auswirkungen nicht zu befürchten waren, und wenn doch, dann würde sie da sein und ihm helfen.
Sie war hochgestimmt zur Arbeit erschienen und hatte nicht geahnt, was er vorhatte und dass dieser Tag anders sein würde als die anderen. Das Wetter war so schön, dass sie nicht die Tram genommen hatte, sondern geradelt war, und der Sonnenschein und die frische Luft hatten sie unbeschwert gemacht. »Guten Morgen, Fräulein Ramstein«, hatte Herr H. sie begrüßt, als sie, nachdem sie ihre Jacke in den Schrank gehängt und den Kittel angezogen hatte, in sein Arbeitszimmer getreten war. Er hatte am Schreibtisch gesessen und grinsend von seinem Laborjournal aufgesehen. »Haben Sie die Narzissen gesehen? Es sieht aus, als hätte jemand über Nacht Butterflocken in der Landschaft verteilt.«
»Ja, ja, es ist alles so schön, und bald ist Sommer« — und wenn das eine banale Floskel war, dann passte sie doch sehr gut, denn alles war wie immer, es war ein ganz normaler Arbeitstag, und ihr oder ihrem Chef würde nichts passieren, weder jetzt noch sonst irgendwann.
Doch dann sah er sie, noch immer grinsend, lange an und sagte: »Fanden Sie es nicht ungewöhnlich, dass ich am Freitagnachmittag früher Schluss gemacht habe?«
Doch, sie hatte es ungewöhnlich gefunden, aber nichts gesagt, und sie sagte auch jetzt nichts, sondern blieb abwartend in der Tür stehen.
»Sie wissen natürlich, das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich glaube, ich habe in den« — er hielt inne und rechnete in Gedanken nach — »vierzehn Jahren, die ich jetzt hier bin, keine zwei Tage gefehlt. Aber ich habe mich so eigenartig gefühlt, so desorientiert, könnte man sagen, und war mir sicher, dass ich Grippe oder Fieber oder so was hatte.« Er sah sie unverwandt an. »Aber das war nicht der Grund, ganz und gar nicht. Wissen Sie, was der Grund war?«
Sie hatte keine Ahnung, aber genau in diesem Moment begann die Angst in ihr zu ticken wie eine dieser Zeitbomben, mit denen die Widerstandsbewegung in Frankreich und Holland gegen die Besatzer kämpfte.
»Es war die Chemikalie, die Verbindung, die wir hergestellt haben. Sie wissen, wie vorsichtig ich bin, besonders im Umgang mit toxischen Stoffen, aber niemand ist perfekt, und am nächsten Morgen wurde mir klar, dass während der Rekristallisation eine Spur der Lösung irgendwie an meine Haut gelangt sein musste, an den Unterarm oder das Handgelenk, vielleicht sogar an die Fingerspitzen, als ich die Handschuhe ausgezogen habe. Eine Spur, mehr nicht. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Es war, als wäre ich berauscht, urplötzlich betrunken, hier im Labor, am helllichten Tag. Aber außerdem und noch viel seltsamer: Als ich zu Hause war, habe ich alle möglichen phantastischen Formen und Bilder gesehen, sogar mit geschlossenen Augen.«
Sie sagte das Erstbeste, was ihr einfiel: »Eine Vergiftung.«
»Ja«, sagte er, erhob sich und ging durch den Raum zu ihr. Er sah ihr in die Augen, als suchte er dort etwas. »Aber wie? Und was hat es zu bedeuten?«
Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er stand zu dicht vor ihr, so dicht, dass sie seine Pfefferminzpastillen riechen konnte. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Dass Sie Glück gehabt haben?«
Er lachte auf. »Genau: Glück. Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir da auf etwas gestoßen sind.«
»Nein«, sagte sie und wich einen Schritt zurück. All die Regeln und Vorsichtsmaßnahmen, alles, was sie in ihrer Lehrzeit und später, als ausgebildete Laborantin, gelernt hatte, all die Horrorgeschichten über versehentliche Vergiftungen, Verbrennungen, Verätzungen flatterten wie ein Schwarm schwarzer Vögel durch ihren Kopf: Niemals Wasser in Säure geben! Hantieren mit flüchtigen Stoffen nur unter einer Haube mit eingeschaltetem Abluftgebläse! Haut abdecken und Handschuhe tragen! »Ich meine, Sie haben Glück, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist. Sie haben Glück« — sie hielt inne und spürte etwas in sich aufsteigen, eine Mischung aus Liebe und Verlustangst —, »dass Sie noch am Leben sind.«
Bei der Chemikalie handelte es sich um eine der Mutterkorn-Verbindungen, die Albert Hofmann 1938 synthetisiert hatte, als sie erst sechzehn gewesen war und noch als Au-pair-Mädchen in Neuchâtel gearbeitet hatte. Er war damals ein ehrgeiziger junger Chemiker gewesen, der gehofft hatte, ein Analogon zu Nikethamid zu finden, einem kardiovaskulären Stimulans, das von Ciba, einem der größten Konkurrenten der Firma, unter dem Namen Coramin vermarktet wurde. Die Struktur von Nikethamid — Nikotinsäurediethylamid — hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der von Lysergsäure, dem Grundbestandteil der Mutterkornalkaloide, die Arthur Stoll, sein Mentor, vor achtzehn Jahren isoliert hatte, und so nahm Albert Hofmann an, dass deren Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten ähnlich sein würden. Drei Jahre der Forschung erbrachten jedoch nur ein einziges vermarktungsfähiges Produkt — Ergobasin, das von der Firma für den Einsatz in der Geburtshilfe angeboten wurde, da es eine Dilatation des Uterus bewirkte und blutstillend war — sowie eine Reihe von leider nicht sonderlich vielversprechenden Lysergsäurederivaten, darunter auch die fünfundzwanzigste Iteration: Lysergsäurediethylamid. Die pharmakologische Abteilung stellte fest, dass diese Chemikalie um dreißig Prozent weniger wirksam als Ergobasin war. Allerdings schien es auf die Versuchstiere leicht stimulierend zu wirken und rief bei Ratten, Kaninchen und Hunden eine gewisse Rastlosigkeit hervor. Doch Sandoz hatte nicht vor, Tierstimulantien zu vermarkten, und so landete LSD-25 wie seine vierundzwanzig Vorgänger im Archiv.
Die Sache war nur — und das hatte er in der Woche zuvor versucht, ihr zu erklären —, dass dieses Lysergsäurediethylamid ihm nicht aus dem Kopf ging. Er wurde dafür bezahlt, zu experimentieren, kreativ zu sein, natürlichen Substanzen wie dem Mutterkorn, einem parasitischen Getreidepilz, der seit Jahrhunderten von Hebammen verwendet wurde, seine chemischen Geheimnisse zu entreißen, damit die Firma neue Medikamente produzieren und vermarkten und somit einen Gewinn erwirtschaften konnte, zum Wohl der Aktionäre und letztlich auch der Angestellten. Das war seine Aufgabe, seine Erfüllung, das machte seine Freude an der Arbeit aus: Die natürliche Welt präsentierte sich als Rätsel, und die Aufgabe der Wissenschaft war, an diesem Rätsel zu kratzen, um zu sehen, was darunter verborgen war. Was diese ganz bestimmte Verbindung betraf, so hatte er eine Ahnung. Es war zwar ungewöhnlich, die Forschungen an einer Substanz fortzusetzen, die von der pharmakologischen Abteilung bereits beurteilt worden war, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass es hier etwas gab, das alle anderen bisher übersehen hatten. Und so hatte sie ihm am vergangenen Freitag bei der Herstellung einer neuen Synthese für weitere Versuche assistiert. Dabei hatte er sich versehentlich vergiftet und war früher als sonst nach Hause gegangen. Und jetzt war Montag, der erste Tag der Woche, und er wollte sich noch einmal vergiften, diesmal absichtlich.
Er stand vor ihr, so nahe wie noch nie zuvor, und ihr klopfte das Herz. Seltsamerweise blinzelten seine Augen nicht — sie waren nicht auf sie gerichtet, sondern auf etwas, das hinter ihr, jenseits von ihr lag: auf eine Idee —, und für einen langen Moment sagte er gar nichts. Als er ihr seinen Entschluss mitteilte, war sie so schockiert, dass sie unwillkürlich leise aufschrie. »Aber wäre es nicht besser, es erst an Tieren zu erproben? Ich meine, für den Fall, dass es zu … zu Beeinträchtigungen kommt oder Sie … Sie …«
Sie musste den Blick abwenden. Es stand ihr nicht zu, seine Entscheidungen in Zweifel zu ziehen: Er hatte an der Universität studiert, er war ein gebildeter Mann, ihr Chef, und sie war fast noch ein Mädchen, gerade einundzwanzig, und nicht mal auf die Oberschule gegangen. Keine ihrer Freundinnen war dort gewesen — Frauen wie sie sollten heiraten und Kinder kriegen, Punkt. Vielleicht durften sie ein, zwei Jahre als Au-pair-Mädchen oder als Verkäuferin arbeiten, als Stenotypistin oder Laborantin, aber letztlich war die Ehe ihre Zukunft und ihre Bestimmung, und darum kam ein höherer Schulabschluss nicht in Frage.
»Ha!«, sagte er und fuhr herum wie ein Tänzer, so aufgeregt, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. »Das hatten wir doch schon. Die Eierköpfe in der Pharmakologie würden es ein paar Hunden geben und feststellen, dass die Pupillen der Tiere sich erweitern, dass ihre Körpertemperatur steigt und sie in ihren Zwingern auf und ab laufen, aber Hunde können nicht sprechen, sie können uns nicht von den psychoaktiven Eigenschaften berichten, die diese Substanz vielleicht, nein, bestimmt hat, dessen bin ich ganz sicher.«
»Aber Sie sind doch kein Versuchstier«, sagte sie und ließ nicht locker. Mutterkorn war gefährlich. Sie hatte es in der Bibliothek nachgeschlagen, denn sie wollte informiert sein, sie wollte lernen, und der Lexikoneintrag, auf den sie dort gestoßen war, hatte ihr nur noch mehr Angst gemacht. Früher hatte der Pilz, wenn er mit dem befallenen Getreide vermahlen worden war, ganze Dörfer vergiftet, und niemand hatte die Ursache gekannt. Er rief Krämpfe, Diarrhö und Lähmungen hervor, außerdem Wahnvorstellungen, Psychosen und trockene Gangrän, bei der Nase, Ohren, Finger und Zehen verschrumpelten und abfielen.
»Doch, das bin ich«, beharrte er. »Und Sie werden alles protokollieren.«
In der Mittagspause ging sie nicht nach Hause, sondern setzte sich hinaus in die Sonne und aß das Sandwich, das ihre Mutter ihr am Morgen gemacht hatte. Überall ringsumher waren andere Menschen: Angestellte aus Labors und Büros saßen essend auf Parkbänken oder breiteten Decken auf dem Rasen aus, Bienen umsummten die Blumen, Vögel zwitscherten in den Bäumen, Tauben flatterten auf und ließen sich nieder wie windverwehte Blätter. Sie war nicht hungrig, zwang sich aber zu essen und versuchte, nicht an das zu denken, was nun kommen sollte — und das war eigentlich nichts, sagte sie sich immer wieder, denn Mutterkorn war nur in wesentlich höheren, wiederholten Dosierungen giftig. Die schwarz verfärbten, verfaulenden Füße eines von Ergotismus befallenen Bauern, die sie auf Fotos gesehen hatte, waren eine Folge fortgesetzter Einnahme: Brot, das tägliche Brot. Sie nahm einen Bissen von dem Sandwich, drehte es hin und her und untersuchte es, musterte den akkuraten Halbkreis, den ihre Zähne gemacht hatten, die Krümel, den rosigen Schinken, den gelben Käse. Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Ihre Gedanken schweiften. Sie kaute. Schluckte. Betrachtete eine sichelförmige Wolke, die sich vor die Sonne schob und dahinschmolz.
Dr. Hofmann, der stets die Belange der Firma berücksichtigte, legte den Beginn des Experiments auf den späten Nachmittag. Sie reinigte die Geräte, spülte und trocknete Becher, Trichter und Glasstäbe, wischte Tischplatten ab, die sie bereits zweimal abgewischt hatte, und behielt ihn diskret im Auge, während er an seinem Schreibtisch saß und ins Laborjournal schrieb. Der Nachmittag verging. Mangels sinnvollerer Tätigkeit war sie gerade mit einer Bestandsaufnahme beschäftigt, als er plötzlich den Stuhl zurückschob, aufstand und sich zu ihr umdrehte. »Nun«, sagte er, »sind Sie bereit, Fräulein Ramstein?«
Es war vier Uhr zwanzig — er notierte es ebenso wie sie —, als er 0,5 Kubikzentimeter einer wässrigen Lösung, die 0,5 p. m. Diethylamidtartrat enthielt, mit zehn Kubikzentimetern Wasser mischte, sie mit einem »Na dann«-Grinsen ansah, den Becher erhob, als wollte er ihr zuprosten, und ihn mit einem Schluck leerte. »Keinerlei Geschmack«, erklärte er und sah an ihr vorbei zum Fenster und dem Schimmern des Sonnenlichts auf dem Glas. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich gerade nichts als einen Schluck Wasser getrunken habe.« Wieder das Grinsen. »Um meine Kehle zu befeuchten. Es ist ratsam, die Kehle feucht zu halten, nicht?«
Sie antwortete so leise, dass sie selbst es kaum hören konnte. »Ja, ich glaube schon.« Sie beobachtete ihn genau, und insgeheim genoss sie seinen Anblick. Dieser großartige Mann, dieses Genie — warum hatte er nicht jemand anders für den Versuch aussuchen können, einen, der nicht so viel zu verlieren hatte? Er hätte einen Freiwilligen nehmen oder auch jemanden bezahlen können, Axel Joder zum Beispiel, den Trottel, der den ganzen Tag seinen Mopp durch die Flure schob, als wäre der Stiel an ihm festgewachsen. Oder die schielende Verkäuferin in der Metzgerei ein Stück die Straße hinunter. Der hätte er doch Geld geben können, oder? Was wusste sie denn schon? Oder einen Affen — warum das Zeug nicht an einem Affen ausprobieren?
Zwanzig Minuten später war noch immer nichts passiert. Sie hatten beide ihre Arbeit wieder aufgenommen, die Sonne schien herein, irgendwo läutete ein Telefon. Sie konnte kaum atmen. Sie brannte darauf, ihn zu fragen, ob er schon etwas spüre, irgendeine Wirkung, wie schwach auch immer, doch sie fühlte sich plötzlich gehemmt, als wäre diese Frage eine Zumutung, als wäre der Ausgang des Experiments gefährdet, wenn sie ihn ansprach. Das Gift war in ihm, es war sein Körper, sein Selbstversuch, und was könnte privater sein als das? Sie dachte an Werner Forßmann und daran, dass er seine Krankenschwester auf dem Operationstisch hatte festbinden müssen, damit sie ihn nicht daran hinderte, den Katheter durch die Antekubitalvene bis zum Herzen zu schieben, und wünschte, sie hätte diese Substanz ebenfalls genommen. Oder sogar an seiner Stelle.
Die Minuten verstrichen quälend langsam. Sie wollte aufstehen und zu ihm gehen, und sei es nur, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und ihm so zu zeigen, dass sie bei ihm war, doch sie unterdrückte den Impuls. Und dann, gerade als vom Kirchturm der Stundenschlag ertönte, drehte er sich plötzlich um, sah sie über die Schulter an und lachte. Er lachte! Kein Kichern oder Schmunzeln, sondern ein schallendes, brüllendes Gelächter, das immer weiterging, bis er Tränen in den Augen hatte, und sie sprang auf, eilte zu ihm und rief: »Was? Was ist los?« Und dann, absurderweise: »Spüren Sie etwas?«
Er versuchte aufzustehen und sackte schwer zurück. Das Lachen erstarb. »Ich … ich fühle mich« — er mühte sich, die Worte herauszubringen — »leicht … taumelig … vielleicht sogar schwindlig. Und« — er begann wieder zu lachen, scharf und abgehackt, es war beinahe ein Bellen — »fröhlich. Fröhlich, Fräulein Ramstein. Aber warum sollte ich fröhlich sein?«
Sie stand neben ihm, wagte kaum zu atmen und tat das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam: Sie legte die Hand ganz leicht auf seinen Unterarm. Seine Frage hing noch in der Luft. Er wandte den Kopf und starrte sie an, und sie sah, dass seine Pupillen so geweitet waren wie bei den Versuchshunden, von denen er erzählt hatte, so geweitet, dass das Schwarz alle Farbe verdrängt hatte. Normalerweise waren seine Augen karamellbraun, doch jetzt waren sie schwarz, glänzend und schwarz, und das merkte sie sich, damit sie es später notieren konnte, und warum verspürte sie mit einem Mal einen Stich im Bauch und musste an Dr. Jekyll und Mr. Hyde denken?
»Ich muss …«, begann er, lachte erneut und schwenkte den Arm vor seinem Gesicht, als dirigierte er ein Orchester, das nur er selbst hören konnte, »ich muss … es aufschreiben …« Im nächsten Augenblick nahm er seinen Stift und schrieb sehr langsam und akkurat in sein Notizbuch: 17:00 — Beginnender Schwindel, Angstgefühl, Sehstörungen, Lähmungen, Lachreiz.
Sie hatte die Hand zurückgezogen, als er begonnen hatte zu fuchteln, und dachte nicht so sehr daran, dass dies, abgesehen von den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich, mit irgendwelchen Geräten hantierend, zufällig gestreift hatten, das erste Mal war, dass sie einander wirklich berührt hatten, sondern vielmehr an das, was er geschrieben hatte: Angstgefühl. Lähmungen. Sollte sie ein Brechmittel besorgen? Ein Beruhigungsmittel? Sollte sie einen Arzt rufen?
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte er sich wieder zu ihr — schwarze Augen, die Gesichtszüge schlaff und verschoben — und murmelte: »Es ist gut, Susi, mir geht’s gut, alles ist gut … es ist nur … geben wir der Sache … noch ein bisschen mehr Zeit.« Er sah auf die Uhr und lachte erneut auf. »Es ist ja erst fünf. Wir wollen die Firma … doch nicht … um unsere letzte Arbeitsstunde betrügen, oder?«
Alles verharrte, erstarrte: Er hatte sie Susi genannt. Noch nie zuvor, nicht ein einziges Mal, hatte er den Kodex ihrer Arbeitsbeziehung verletzt, der besagte, dass sie füreinander immer und ausnahmslos Fräulein Ramstein und Herr Dr. Hofmann waren. So ängstlich und besorgt sie auch war, fühlte sie sich dennoch beglückt: Er hatte sie mit ihrem Vornamen angesprochen, fast als stünden sie auf gleicher Stufe — fast als wären sie Freunde, sehr enge Freunde, als wäre sie für ihn mehr als ein gestärkter Laborkittel und zwei hilfreiche Hände. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Firma betrügen? Die Antwort war natürlich: Nein. Andererseits war er offensichtlich nicht in der nötigen geistigen Verfassung, und der Gedanke, die normale Arbeit fortzusetzen, war absurd.
Abrupt drehte er sich wieder um, wobei die Stuhlbeine mit einem Geräusch, bei dem sie zusammenfuhr, über den Boden kratzten, und ließ die Seiten des Laborjournals schnalzen wie ein Kartenspiel. Die Blätter flatterten — ein Geräusch, das ihr frivol, ja respektlos erschien: Dieses Buch war schließlich kein Spielzeug, sondern ein Dokument. Er strich die Seiten glatt, griff erneut zu und ließ sie abermals schnalzen. Und noch einmal. »Bitte, Susi, liebe Susi, geben Sie mir, geben Sie uns« — und hier musste er wieder lachen —, »geben Sie uns ein paar Minuten, und wir … wir werden sehen … denn wenn man es genau betrachtet, ganz genau, dann stellt man fest, dass Zeit keinerlei Bedeutung hat, ganz gleich, ob es die Zeit der Firma oder die Freizeit ist oder die Zeit, die man im Observatorium in Greenwich misst, finden Sie nicht auch?«
Susi, liebe Susi — diese Worte ließen sie noch immer wie auf Wolken schweben, als die Dinge kompliziert wurden (oder vielmehr komplizierter, denn ihr Chef hatte absichtlich eine giftige Substanz eingenommen und benahm sich wie ein lallender Säufer im Hinterzimmer einer Kaschemme). Plötzlich sprang er auf, als hätte ihn etwas gestochen, als wäre der Tisch zum Leben erwacht und hätte ihn angefallen, und als er zu ihr herumfuhr, sah sie, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Er lachte nicht mehr. Er sah jetzt krank aus, schwer krank, und das Wissen um das, was er sich angetan hatte, stieg in ihm auf und setzte sich in den geweiteten schwarzen Pupillen seiner Augen fest. Er sah an die Decke, an die Wände. »Das Licht«, sagte er. »Das Licht.«
»Soll ich es ausmachen?« Sie schaltete die Deckenbeleuchtung aus, doch das Labor war noch immer von Sonnenlicht durchflutet, so dass man kaum einen Unterschied feststellen konnte.
»Das ist es nicht«, sagte er. »Nein, das ist es nicht, das ist es … ganz und gar nicht.« Er stand schwankend mitten im Raum. »Nach Hause«, sagte er abrupt und nestelte an den Knöpfen seines Kittels. »Bringen Sie mich nach Hause. Ich muss … Helfen Sie mir, Susi, helfen Sie mir …«
Wenn sie Angst hatte — und die hatte sie —, so blieb ihr keine Zeit, sich damit zu befassen. Sie war noch nie bei ihm zu Hause gewesen, wusste aber, dass er in Bottmingen wohnte, einem etwa zehn Kilometer entfernten Vorort, und das unmittelbare Problem, bei dem es, nach ihrer Einschätzung, möglicherweise um Leben und Tod ging, bestand darin, ihn nach Hause zu bringen, wo man sich um ihn kümmern würde. Auch ihre Hände zitterten, als sie ihm aus dem Laborkittel half, ihm seine Jacke reichte, die er nur anstarrte, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen, und ihm schließlich hineinhalf. Und seine Strickmütze — er konnte ja nicht ohne Mütze nach Hause radeln. Für einen Augenblick war er unschlüssig und drehte die Mütze in den Händen, als versuchte er, irgendeinen Bezug dazu herzustellen, dann zog er sie fest über den Kopf.
Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich noch einmal davon, dass das Labor aufgeräumt war, und führte ihn hinaus. Sie hatte nicht vor, einen seiner Kollegen um Hilfe zu bitten — ganz im Gegenteil: Denen wollte sie auf keinen Fall begegnen. Sie sah sich nach beiden Seiten um und führte Dr. Hofmann zur Hintertreppe, wo nur Axel Joder war, der wie immer seinen Mopp vor sich herschob. Es war wie ein Reflex, sie tat es, um ihren Chef zu schützen. Er war mehr als bloß respektabel, er war eine der Säulen der Forschungsabteilung von Sandoz, und sollte ihn jemand in diesem Zustand sehen, dann wäre das eine Katastrophe, denn natürlich würde man das Schlimmste annehmen: dass er am Arbeitsplatz getrunken hatte. Das durfte sie nicht zulassen.
Ihre nächste Sorge war, wie sie ihn nach Hause bringen sollte. Er fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit, im Sommer wie im Winter, ob es regnete oder die Sonne schien, aber war er jetzt dazu imstande? Sie hätte einen Wagen bestellt, aber es war Krieg, und daher gab es keine Wagen, außer vielleicht für den Bürgermeister oder die Vorstandsvorsitzenden der großen Chemiefirmen. Ihr blieb keine Wahl. »Ich bringe Sie jetzt nach Hause«, sagte sie beruhigend und bestimmt, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und mit einem Mal waren ihre Rollen vertauscht: Sie sprach nicht mit ihrem Vorgesetzten, sondern mit einem Kind, einem Kind wie Liliane und Juliette, den beiden Mädchen, die sie als Au-pair beaufsichtigt hatte. »Können Sie Fahrrad fahren?«
Sie standen auf dem Bürgersteig, der milde Abend senkte sich herab, die Sonne warf leuchtende, bis zum Ende des Blocks reichende Banner über die Straße, und der Duft von Blumen und Küchengerüche aus den umliegenden Restaurants erfüllten die Luft. Es war ein wunderschöner Abend, den sie unter anderen Umständen sicher genossen hätte, doch jetzt zählte nur, dass die Straßen trocken waren und kein Regen drohte. Zu ihren Füßen waren die allgegenwärtigen Tauben, die ihr geschickt auswichen, als sie die beiden Fahrräder aus dem Ständer zog und seines an der Lenkstange festhielt. Er hatte, seit sie das Gebäude verlassen hatten, kein einziges Wort gesagt, sondern sich wie ein Schuljunge von ihr dirigieren lassen, doch jetzt begann er haltlos zu kichern. Ein Paar, das untergehakt vorbeiging, musterte ihn argwöhnisch.
»Ob ich Fahrrad fahren kann?«, sagte er in einem seltsamen Ton, nahm die Lenkstange und stieg auf. Seine Bewegungen waren langsam, fast träge, und das täuschte sie für einen Moment, aber im nächsten Augenblick war er bereits losgefahren und trat wie verrückt in die Pedale. »Das sehen Sie doch!«, rief er, sah sich triumphierend zu ihr um und hätte um ein Haar einen alten Mann mit steifem Bein angefahren, der humpelnd die Straße überquerte. Sie geriet in Panik: Bevor sie auch nur auf ihr eigenes Fahrrad gestiegen war, hatte Dr. Hofmann bereits das Ende des Blocks erreicht und bog scharf nach links ab, direkt vor einer Tram, die ihn nur knapp verfehlte. Sie machte sich an die Verfolgung.
Überall waren Menschen, in Wagen, auf Fahrrädern, zu Fuß, Männer mit Aktentaschen und Frauen mit Einkaufskörben, Kinder, die Reifen oder Bällen nachrannten — es war der reinste Hindernisparcours. Nicht zu vergessen die Hunde, die von irgendwo herbeistürzten, sie verfolgten und dann verschwanden, um gleich darauf schon wieder herbeizustürzen. Eine Tram. Ein Auto. Ein Brauereifuhrwerk. Dr. Hofmann trug die Lodenjacke, in die sie ihm vor kaum fünf Minuten geholfen hatte, und sie mühte sich, ihn in dem Gewimmel nicht aus den Augen zu verlieren. Sie trat mit aller Kraft in die Pedale, schien aber gar nicht aufzuholen. Was war das hier — ein Wettrennen? Da bog er in voller Fahrt ab und tauchte in einem Grüppchen von Radfahrern unter, die allesamt praktisch genauso gekleidet waren wie er, so dass sie ihn für eine verzweifelte Minute aus den Augen verlor und sich auf einen anderen konzentrierte, bis sie ihren Irrtum bemerkte. Ihre Beine bewegten sich auf und ab, ihr Herz klopfte. Wo war Dr. Hofmann? Wo war er nur? Sie fuhr weiter und suchte mit Blicken die Straße vor ihr ab, und da löste sich eine Gestalt aus der Gruppe: Lodenjacke, helle Strickmütze, kräftiger Rücken. Sie jagte ihm nach.
Erst auf der breiten Bottminger Straße, wo nicht mehr so viele Menschen unterwegs waren, holte sie ihn schließlich ein. Er hatte sein Tempo keinen Augenblick verlangsamt, und dass sie mithalten konnte, verdankte sie nur der Angst und dem Adrenalin, denn was, wenn er einen Unfall hatte, wenn er in den Graben fuhr und sich das Bein brach oder sich womöglich noch schlimmer verletzte? Sie war verantwortlich. An niemand anderen als sie hatte er sich um Hilfe gewandt. Von allen Menschen — seinen Kollegen, seinen vertrauten Freunden, seiner Frau — war sie die Einzige, die wusste, dass er nicht bei klarem Verstand war, dass er ein Gift genommen hatte und sich in Lebensgefahr befand. Als sie endlich neben ihm war, rief sie keuchend: »Bitte nicht so schnell, Dr. Hofmann.«
Die Räder surrten. Der Fahrtwind war kühl. Er wandte nicht den Kopf, sondern trat weiter in die Pedale, als wäre sie gar nicht da. »Dr. Hofmann!« Ihre Lunge brannte, ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, und schließlich verlor sie die Beherrschung und schrie ihn an — nein, sie kreischte. »Bitte halten Sie an! Albert! Albert!«
Erst da sah er sie an. »Fräulein Ramstein?« Er bremste und musterte sie verwirrt. »Was machen Sie denn hier?«
Sie war neugierig auf sein Haus — und auf seine Frau Anita, hübsch, dunkelhaarig, etwa dreißig, der sie nur einmal flüchtig begegnet war. Laborantinnen wurden nicht zum sonntäglichen Abendessen oder zu anderen Geselligkeiten eingeladen, sie durften ihr Weißbrot nicht im Kreis der Familie ins Fondue tauchen, und außerdem lag Bottingen auch nicht gerade zentral. Das Seltsame war, dass sie, als sie schließlich angekommen waren, gar nicht darauf achtete: Es war das Haus, in dem er wohnte, und das war alles, was zählte. Sie schwitzte, sie war erschöpft, ihr Herz klopfte wie verrückt, doch sie folgte ihm, als er scharf rechts abbog und durch die gekieste Einfahrt bis vor den Eingang fuhr, wo er das Fahrrad einfach hinwarf, blitzschnell im Haus verschwand und die Tür weit offen stehen und den Schlüssel im Schloss stecken ließ. Sie lehnte ihr Rad an einen Baum und war unschlüssig, ob sie hineingehen und seiner Frau die Situation, so gut es ging, erklären sollte, als sie ihn drinnen rufen hörte: »Anita! Anita, wo bist du?« Ein Klappern, als wäre etwas Metallisches zu Boden gefallen. Ein, zwei Augenblicke lang herrschte Stille. Und dann erklang ein langgezogenes, verzweifeltes Stöhnen: »Anita!«
Zögernd ging sie die Stufen hinauf und trat ein. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber drinnen gab es viele Schatten. Keine der Lampen war eingeschaltet, und der Widerschein des Lichts, das auf dem Garten lag, fiel bebend durch die Fenster. »Dr. Hofmann?«, rief sie und zögerte, ungebeten einzutreten.
Mit brechender Stimme rief er noch einmal den Namen seiner Frau, dann senkte er sie zu einem Flüstern: »Ich bin hier. Hier drinnen.«
Er stand im Wohnzimmer — Sofa, Sessel, Beistelltischchen, Lampen, alles in bester Ordnung — und sah sich mit wilden Blicken um. »Sie … sie ist fort«, sagte er mit einem abgrundtiefen Seufzer.
»Fort? Was meinen Sie damit?« Es war beinahe sechs — um diese Zeit war jede Ehefrau, und ganz gewiss die Frau eines Mannes in seiner Stellung, zu Hause, bereitete das Abendessen zu, beaufsichtigte die Kinder und begrüßte ihren Mann am Ende seines langen Arbeitstages.
»Fort«, wiederholte er und presste die Hände an die Schläfen, als wäre der innere Druck unerträglich. »Und ich … ich werde hier sterben, sterben. Ich bin vergiftet, sehen Sie das nicht?«
Sie erstarrte innerlich. War das möglich? War es eine tödliche Dosis gewesen? Hatte er sich verrechnet? Keiner der Versuchshunde war gestorben, oder? Aber wer wusste schon, welche Wirkung eine Substanz haben konnte, die noch nie an einem Menschen erprobt worden war?
»Nein, nein, Sie werden nicht sterben, bestimmt nicht«, sagte sie und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen. »Es wird Ihnen gleich besser gehen, ganz bestimmt. Setzen Sie sich doch erst einmal hin.« Sie half ihm zum Sessel, in den er sich wie ein Stein fallen ließ. Dann machte sie einen eiligen Rundgang durch das Haus und rief ebenfalls — »Frau Hofmann? Frau Hofmann, sind Sie zu Hause?« —, doch niemand antwortete. Dr. Hofmanns Frau und seine Kinder waren nicht da. Unwillkürlich verspürte sie Zorn: Wenn sie die Frau eines Mannes wie Dr. Hofmann, wie Albert wäre, würde sie Tag und Nacht jede Minute für ihn da sein.
Eine Minute später war sie wieder im Wohnzimmer und bestätigte, was er bereits wusste: »Sie ist nicht da.«
Er sagte nur: »Ich kann es nicht stoppen.«
»Milch«, sagte sie, »wie wär’s mit Milch? Um das Gift zu neutralisieren. Haben Sie Milch im Haus?«
Er gab keine Antwort, also ging sie in die Küche, um nachzusehen. Sie fühlte sich fremd in diesem Haus, wo er lebte, die Nächte verbrachte, sich zu seiner Frau ins Bett legte, die nicht da war, wenn er sie am dringendsten brauchte … Sie riss die Kühlschranktür auf, aber es gab keine Milch. Eine Flasche Bier, ja, Käse, einen Teller mit Braten, Rösti und Erbsen, der aussah, als wäre er als Abendessen beiseitegestellt worden, aber keine Milch.
Als sie, den Tränen nahe, zu ihm zurückkehrte, um ihm zu sagen, es gebe keine Milch im Haus, und zu fragen, was sie denn nun tun solle — einen Arzt rufen? —, zuckte er vor ihr zurück, als würde er sie nicht einmal mehr erkennen, als wollte sie ihn nicht retten, sondern ihm irgendetwas antun. Sein Gesicht lag im Schatten. Er hielt sich die Hand vor die Augen. »Einen Arzt«, wiederholte sie. »Soll ich einen Arzt rufen?«
Unvermittelt fuhr er hoch, sein Gesicht war gerötet, seine Augen herrschten sie an. »Das fragen Sie noch? Herrgott, ja, natürlich sollen Sie einen Arzt rufen! Und die … die Nachbarin, Frau Rüdiger … bitten Sie sie um Milch, so viel, wie sie entbehren kann …«
Sogleich war sie wieder in Bewegung, froh, etwas tun zu können, irgendetwas. Sie rannte durch die noch immer offene Tür hinaus und durch den Garten zum Nachbarhaus, wo sie an die Tür hämmerte, bis eine verwundert dreinblickende Frau mit fleischigen Hängebacken und kleinen, tief in den Höhlen liegenden blauen Augen öffnete. »Helfen Sie uns, bitte, es ist ein Notfall, wir brauchen Milch, und es ist keine da«, stieß sie atemlos hervor, »und bitte rufen Sie einen Arzt, bitte …«
»Einen Arzt?«, fragte die Frau. »Wer sind Sie überhaupt?«
Die Erklärung brauchte weitere zehn Sekunden, und dann hatte die Frau zwei Literflaschen Milch in den Händen und eilte mit ihr zum Haus der Hofmanns. »Vergiftet? Aber wie denn?«, sagte die Frau, doch dann sah sie den Schweiß an Susis Schläfen, das aufgelöste Haar und den verzweifelten Blick in ihren Augen und sagte nichts mehr.
Der Arzt hatte seine Praxis in Bottmingen und traf eine halbe Stunde später ein. Er kam mit dem Fahrrad, seine Tasche hatte er auf den Gepäckträger geschnallt. Als er ins Wohnzimmer trat, lag Dr. Hofmann ausgestreckt und bis zum Kinn mit einem Federbett zugedeckt auf dem Sofa. Die beiden leeren Milchflaschen standen auf dem Beistelltischchen neben ihm. Er drückte die Fingerspitzen auf die Augenlider, doch als der Arzt erschien, ließ er die Hände sinken und schlug die Augen auf, wirkte allerdings eher erschrocken als erleichtert. Nach seinem Ausbruch war er in Lethargie versunken, hatte gemurmelt, gestöhnt, gerufen und sich die ganze Zeit benommen, als wäre sie gar nicht im Raum, als könnte er sie nicht sehen oder als traute er seinen Augen nicht. Jetzt versuchte er, etwas zu sagen — einen Namen, den des Arztes vielleicht, oder nein, den Namen der Substanz, des Gifts —, aber was er sagte, war unverständlich und verworren, und obwohl es ihr wirklich nicht zustand, hatte sie das Gefühl, die Situation erklären zu müssen. »Es war ein Experiment«, sagte sie und kam sich lächerlich vor, schuldig, als wäre sie für all das verantwortlich oder zumindest eine Komplizin.
Der Arzt war ein alter Mann in einem ausgebeulten blauen Anzug und einem Hemd, dessen Kragen ihm zu weit war. Sein Haar war weiß, sein Gesicht gerötet, und er runzelte verwundert die Stirn, als wüsste er nicht, ob er sie oder den Patienten befragen oder erst einmal kurz innehalten und sich mit ihr bekannt machen sollte, denn wer war sie denn, dass sie hier im Wohnzimmer seines Patienten saß, und wo war die Frau des Patienten?
»Es war eine neue Verbindung, die wir — das heißt, Dr. Hofmann und ich — im Labor synthetisiert haben, Lysergsäurediethylamid, und Dr. Hofmann hatte das Gefühl …« Sie musste innehalten, weil sie fürchtete, in Tränen auszubrechen. »Er … er … es war eine winzig kleine Dosis, nur zweihundertfünfzig Mikrogramm …«
»Wann war das?« Der Arzt sah sie scharf an, seine Stimme war rau und vorwurfsvoll. »Und wer sind Sie eigentlich, Fräulein?«
Sehr langsam, nach und nach, gelang es ihr, alles zu erklären, und Frau Rüdiger berichtete weitere Details über das, was sich seit Dr. Hofmanns Ankunft abgespielt hatte: dass sie ihm Milch zu trinken gegeben hätten, dass er geschrien habe, der Teufel habe von seiner Seele Besitz ergriffen, dass er nicht mehr habe stehen können und dass Frau Hofmann ausgerechnet heute nicht da sei, denn sie sei mit den Kindern nach Luzern gefahren, um ihre Eltern zu besuchen, aber Frau Rüdiger habe sofort dort angerufen und nun sei sie bereits unterwegs hierher. Währenddessen lag Dr. Hofmann auf dem Sofa und starrte ins Nichts.
»Nun gut«, sagte der Arzt und wandte sich zu ihm. »Wie geht es Ihnen, Albert? Können Sie sprechen?«
Dr. Hofmann — schwarze Augen, Fingerspitzen an den Schläfen — nickte nur.
»Diese junge Dame … Ihre Laborantin, ist das richtig? Diese junge Dame behauptet, Sie hätten eine sehr kleine Dosis von dieser Substanz eingenommen — zweihundertfünfzig Mikrogramm, ja? Nicken Sie, wenn das stimmt.«
Dr. Hofmann nickte und versuchte, etwas zu sagen. Der Arzt beugte sich vor und legte die Hand ans Ohr. »Ja«, sagte Dr. Hofmann kaum hörbar. »Ja, Mikrogramm.«
Der Arzt gab keine Antwort, sondern spitzte die Lippen und griff hinter sich nach der schwarzen Tasche. Er maß die Temperatur des Patienten, die leicht erhöht war, horchte ihn mit dem Stethoskop ab und legte schließlich den Finger an Dr. Hofmanns Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Es verging ein langer Moment. Frau Rüdiger sah so entsetzt aus, als wäre sie im Wohnzimmer ihres Nachbarn, der doch immer so solide und bescheiden gewirkt hatte, jetzt aber als Perverser entlarvt war, auf eine Satansmesse gestoßen, während sich die Augenbrauen des Arztes in der einfallenden Dunkelheit wie bleiche Markierungen hoben und senkten. Susi ging im Raum umher und schaltete die Lampen an, als wäre dies ihr Haus und sie die Hausherrin.
»Alle Werte sind normal, Albert«, sagte der Arzt schließlich und wandte sich zur Seite, um seine Instrumente in der Tasche zu verstauen. »Sie werden sehen, das geht bald vorbei. Und es war klug« — er sah wieder den Patienten an —, »die Milch zu trinken, die, wie es scheint, als Gegenmittel gegen das Zeug wirkt, mit dem Sie sich vergiftet haben. Wie hieß es doch gleich?«
Dr. Hofmann setzte sich auf und lächelte zum ersten Mal, seit sie das Labor verlassen hatten. Sein Gesicht hatte wieder Farbe, als wäre die Krise vorüber — oder jedenfalls im Begriff vorüberzugehen. Er schwieg, ließ den Blick durch den Raum gehen und sah schließlich den Arzt an. »Lysergsäurediethylamid«, sagte er. »Synthese« — hier stolperte seine Zunge über die Silben — »Synthese Nummer fünfundzwanzig.«
Der Arzt setzte sich wieder auf sein Fahrrad und fuhr in den Sonnenuntergang, allerdings nicht ohne Susi beiseitegenommen und ermahnt zu haben, den Patienten gut im Auge zu behalten und ihn zu benachrichtigen, sollte sich Dr. Hofmanns Zustand verschlechtern. »Bei diesen Vergiftungen kann man nie wissen«, sagte er und sah sie unverwandt an, »besonders wenn kein Gegenmittel bekannt ist. Und wie sollte man das kennen, wenn schon das Gift praktisch unbekannt ist?«
Sie konnte nur nicken.
Er musterte sie scharf, und sie machte sich schon auf eine Predigt über die Gefahren unbekannter Substanzen gefasst, doch schließlich sagte er nur in scharfem, vorwurfsvollem Ton: »Haben Sie für so was denn keine Versuchstiere?«
Frau Rüdiger stand in der Tür, rang die Hände — oh, was für eine Geschichte ihr da zugeflogen war — und sagte, sie hoffe, dass alles wieder gut werde, müsse sich jetzt aber um ihre eigene Familie kümmern, wenn es dem Fräulein nichts ausmache. Sie warf einen Blick auf Dr. Hofmann, der auf dem Sofa lag, an die Decke starrte und die Lippen bewegte, als unterhielte er sich mit einem Unsichtbaren, und sagte, sie werde später noch einmal vorbeischauen, wenn Frau Hofmann zurückgekehrt sei. »Verstehen Sie?«, fügte sie seltsamerweise hinzu.
Nein, das verstand Susi nicht. Dennoch war sie, so unangenehm diese Situation auch war — allein mit ihrem Chef, in seinem Haus —, entschlossen auszuharren. Ihre Mutter fiel ihr ein. Die machte sich bestimmt Sorgen, und sie hätte sie eigentlich anrufen müssen, fand aber die Frage, ob sie telefonieren dürfe, zu peinlich — und wen hätte sie überhaupt fragen sollen? Frau Hofmann war noch nicht da — sie saß, zweifellos halb verrückt vor Sorge, im Zug von Luzern nach Basel —, und Dr. Hofmann war nicht ansprechbar. Tatsächlich lag er die ganze nächste Stunde reglos auf dem Sofa, riss hin und wieder die Augen auf und rief: »Das Licht! Das Licht!«
Sie saß ihm gegenüber im Sessel und versuchte, in einem Buch zu lesen, das sie aus dem Regal gezogen hatte — Narziß und Goldmund von Hermann Hesse, recht zäh, fand sie, besonders da ihre Gedanken immer wieder abschweiften —, als sie rasche Schritte vor der Tür und das Klicken des Schlüssels im Schloss hörte. Im nächsten Augenblick stürzte mit gerötetem Gesicht und weit aufgerissenen Augen Frau Hofmann herein, streifte den Mantel ab und ließ die Handtasche fallen, und dann kniete sie vor dem Sofa, drückte ihren Mann an sich und sagte immer wieder seinen Namen, als wäre es ein Gebet.