Über das Buch

 

Leidenschaft, Kummer und Glück: Was wäre Literatur ohne die großen Gefühle? Markus Gasser erzählt in diesem Buch erstaunliche Liebesgeschichten aus der Weltliteratur: Vom sehnsuchtsvollen Blick über den ersten Kuss und die erste Nacht bis zu Verrat, Trennung, Versöhnung – und über das Ende hinaus. Doch verbirgt sich hinter den Werken von Marguerite Duras, John Updike, García Márquez, Vladimir Nabokov oder Sylvia Plath nicht immer ein Stück eigener Erfahrung? Gasser schildert auch, wie Autoren ihre meist unbekannten Abenteuer in Literatur verwandelt haben.

So entsteht ein außergewöhnliches Panorama der Liebe und Literatur: Ein Buch über Bücher und Menschen, die liebten und von ihrer Liebe erzählen mussten. In manchen wird man sich wiederfinden − wenn man gerade nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht vor lauter Kummer oder Glück.

 

 

 

Markus Gasser

 

Die Launen der Liebe

 

Wahre Geschichten von Büchern und Leidenschaften

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Im Gegensatz zu manchen Romanen ist in diesem Buch weder eine Person noch ein Ereignis erfunden. Der Verfasser war lediglich darum bemüht, wahre Geschichten so zu erzählen, dass sie neben einem Werk der Fantasie bestehen können.

 

 

INHALT

 

DAS UNSTERBLICHE PAAR

 

KAPITEL I  Von der Liebe, die niemals endet

Ein Geheimnis zu Beginn

 

 

SEHNSUCHT

 

KAPITEL II  Die zertanzten Schuhe

Janet Frame

 

 

VERLANGEN

 

KAPITEL III  Ein Ring, ein blauer Stein, eine halbverschleierte Frau

Bettine von Arnim und Goethe

 

 

DER ERSTE KUSS UND DIE LANGE NACHT

 

KAPITEL IV  Ich bin überhaupt nur auf der Welt, damit du mich liebst

Sylvia Plath und Ted Hughes

 

 

UNERWIDERT

 

KAPITEL V  Nemesis

John, Ada und Arthur Galsworthy

 

 

ZU ZWEIT EINS

 

KAPITEL VI  Das geheime Testament des Glücks

E.M. Forster und Syed Ross Masood

 

KAPITEL VII  Ebenso gut könnte man versuchen, mit bloßen Händen eine Eiche zu spalten

Cathy, Heathcliff, Lord Byron und Emily Brontë

 

KAPITEL VIII  Der Regenbogen im Badezimmer

John Updike, Ruth Leonard und Harry »Rabbit« Angstrom

 

 

ZU ZWEIT ALLEIN

 

KAPITEL IX  Basilikum

George Eliot und George Henry Lewes

 

 

KRISE, VERRAT, TRENNUNG

 

KAPITEL X  Yallah!

Jane und Paul Bowles, Kit und Port Moresby

 

KAPITEL XI  Die Wahrheit, und wäre es ein Verbrechen

Robert Antelme, Dionys Mascolo und Marguerite Duras

 

KAPITEL XII  Komm zurück zu mir, wenn auch nur für einen Tag

Malcolm Lowry und Jan Gabrial

 

 

WIEDERVEREINT

 

KAPITEL XIII  Für Véra

Irina Guadanini und Vladimir Nabokov

 

KAPITEL XIV  Das Märchen von den zwei jungen Leuten, die erst im Alter zueinanderfanden

Gabriel García Márquez, Fermina Daza und Florentino Ariza

 

 

EINE LIEBE, DIE NIEMALS ENDET

 

KAPITEL XV  Wir sehen uns bald

Elizabeth Barrett und Robert Browning, Yoko Ono und John Lennon

 

 

QUELLEN, ERKLÄRUNGEN und was sonst und danach noch geschah

 

 

DAS UNSTERBLICHE PAAR

 

 

KAPITEL I

 

VON DER LIEBE, DIE NIEMALS ENDET

 

Ein Geheimnis zu Beginn

 

 

1

 

Im Sommer des Jahres 1974, in dem Richard Nixon von seinem Amt als Präsident der Vereinigten Staaten zurücktrat, verlor Frieda Hughes den Glauben an ihren Vater, der wie Gott für sie war.

Ihr Vater, Ted Hughes, machte sie wortreich vertraut mit den Namen der Bäume und der Gestirne, die ihr Schicksal bestimmten, mit dem schwebenden Flug des Bussards in der Spannkraft der Luft. Doch immer wenn sie ihn nach dem frühen Tod der Mutter fragte, erwiderte er nur knapp und in Traurigkeit verschlossen, sie sei an einer Lungenkrankheit gestorben. Blinzelnd nahm sie es hin.

Jetzt aber, im Wochenendcamp von Devon, wo die Vierzehnjährige das Schreiben lernen sollte, wie doch nur ihr Vater es konnte, versicherte ihr in einer sonnenstaubigen Kammer des Camps eines der Mädchen mit theatralisch kühlem Blick, ihre Mutter Sylvia Plath hätte Selbstmord begangen. Das wisse doch jeder. Das federnde Bett, in dem sich Frieda Hughes eben noch träumerisch gewiegt hatte, gab stutzend sein Knarren auf, und ihr Vater war im Handumdrehen ein Lügner wie jeder andere Erwachsene auch.

Irgendwie hatte sie immer geahnt, dass an der Geschichte ihrer berühmten Dichtereltern etwas nicht stimmte, ein Geheimnis dahinter verborgen lag, und als sie ihren Vater schließlich zur Rede stellte, brach es aus ihm hervor, ohnmächtig, erleichtert, »Wie erklärt man das einer Dreijährigen, einer Zehnjährigen, wie erkläre ich es dir jetzt?« Wie erklärte man überhaupt jemandem, wie erklärte man zuallererst sich selbst, was man als eine geradezu klassische Liebesgeschichte erlebt hatte? Wie erklärte man die unglaubhaft glücklichen Jahre und dann den Absturz ins Nichts?

 

 

2

 

Als Sylvia Plath und Ted Hughes einander an einem Februarabend 1956 zum ersten Mal erblickten, war es, als hätten ihre Augen nie etwas anderes getan. »Bang!« hatte es gemacht und »Smash!«, notierte Sylvia Plath am späten Morgen nach der Party in ihr Tagebuch; und Ted Hughes ging die Erinnerung an sie– so schrieb er ihr– wärmend durch die Adern wie Brandy. Sie war es, die ihm einen Antrag machte, und sie heirateten heimlich: Ein Hilfsgeistlicher gab den Trauzeugen ab, obwohl er eigentlich eine Busladung Kinder zum Zoo fahren sollte.

Sie waren voneinander durchdrungen. Ihre Seelenverwandtschaft ging so weit, dass man später Gedichtentwürfe Sylvia Plaths auf der Vorderseite und von Ted Hughes auf der Rückseite desselben Blattes fand. Sie hörten so andächtig aufeinander, wie man der Meeresbrandung in einer Muschel lauscht. Kaum ein Tag verging, den sie nicht gemeinsam verbrachten. Sie war Cathy, er war Heathcliff aus der »Sturmhöhe« Emily Brontës: Sie lebten aus, wovon die Literatur voll war.

Sieben Jahre später, an einem Februarmorgen des Jahres 1963, öffnete Sylvia Plath die Backofentür, nachdem sie Frieda und dem kleinen Nicholas das Frühstück neben die Kinderbettchen gestellt hatte, und kniete sich ins ausströmende Gas. Was war geschehen? Wie konnte eine derart maßlose Zweisamkeit ein so erbärmliches Ende nehmen? Hatte Ted Hughes versagt, ein Verbrechen begangen– und wenn ja, wie und wann genau in jenen Jahren zwischen der ersten Begegnung und ihrem Freitod? An welchem Punkt hätte alles anders kommen können?

Obwohl er sie als ihr Nachlassverwalter zu einer Gottheit erhob, zur vollkommensten Dichterin Amerikas jener Jahre, galt Ted Hughes nunmehr als der Mörder seiner Frau. Ein Gerangel um Sylvia Plaths Inbesitznahme begann, als ginge es um das Millionenerbe eines eben verstorbenen Filmstars. Man durchforschte ihre Gedichte nach Vorahnungen des Todes und nach den Wunden, die Ted Hughes ihr geschlagen haben mochte. In Australien brach er eine Lesung ab, weil ihn Sprechchöre aus dem Publikum als Triebtäter beschimpften. Viermal kratzte jemand den Namen »Hughes« aus Sylvia Plaths Grabstein in Yorkshire. Bald wollte Ted Hughes nicht mehr zählen, wie oft er die Polizei verständigt hatte wegen der blutrünstigen Drohbriefe aus der Sylvia-Plath-Gemeinde, die er doch selbst begründet hatte. Zu alledem schwieg er.

Und trotzdem fühlte er sich von der Notwendigkeit gepackt, sie beide ins rechte Licht zu rücken. Denn immer häufiger überraschte er sich dabei, laut mit Sylvia zu debattieren, als lebte sie noch. Heimlich für sich hatte er auch bald nach ihrem Tod an Gedichten zu arbeiten begonnen, den »Birthday Letters«, die ihre gemeinsame Geschichte erzählten. In ihnen wollte er Sylvia wie Orpheus Eurydike aus dem Totenreich heraufholen und wiedergewinnen und sie erkennen lassen, dass er immer nur sie geliebt hatte und keine andere und dass er sie lieben würde auch über seinen Tod hinaus, bis eine Hand aus den Schatten behutsam seine Schulter berührte und eine Stimme flüsterte: »Lass mich diesmal nicht im Stich.« Das war sein allerletztes Wort, aus ihrem Mund in seine Feder gesprochen, abgedruckt in der Londoner »Sunday Times«, 1998, zehn Tage vor seinem Tod.

Hatte er sie diesmal wirklich nicht im Stich gelassen? In seinen »Birthday Letters« beschwor er die Erinnerung an ihr Leben zu zweit, beschwor Zeile um Zeile Sylvias Gedichte, Tagebücher, Erzählungen. Hatte er damit zumindest postum das Versprechen ihres schöpferischen Beieinanders eingelöst, an dem Sylvia festgehalten hatte bis zum Schluss? Was auch immer er in den »Birthday Letters« verschwiegen, verbrämt, verschleiert und zurechtgebogen hatte: Plötzlich fragten sich die Leser, ob nicht Sylvia Plath versagt und sich selbst in die Verzweiflung getrieben hatte. Plötzlich stand da nur ein Witwer mit zwei Halbwaisen, Frieda und Nicholas, »vom Leben fallengelassen«, so schrieb er– und »Du stirbst nicht und kommst auch nicht nach Haus«.

Oft war Ted Hughes eine Gestalt ihrer Gedichte gewesen, Raubtier, Vampir, dunkel, unwiderstehlich, dämonisch; nun war Sylvia Plath die seine. Dank der »Birthday Letters« aus dem Gefängnis seiner Erinnerungen erlöst, machte er sich ans Sterben: Ihrer beider Leben gehörte von nun an allen– nur ihnen beiden nicht mehr. Desto schwerer lastete auf der erschrockenen Nachwelt das Rätsel um dieses unsterblich gewordene Paar: Worin hatte Sylvia Plath versagt, und welches Verbrechen hatte Ted Hughes tatsächlich begangen?

 

 

3

 

Seit Goethes Leiden im »Werther« verwandelten Schriftsteller wie Sylvia Plath und Ted Hughes ihre Begegnungen mit der Liebe in Geschichten und ließen ihre Geschöpfe die Gewalt ihrer Leidenschaften durchleben, euphorisch und bitter, ihre Sehnsüchte, Kämpfe und Demütigungen, ihr Elend und ihre Seligkeit. Als Liebende unterschieden sich diese Autoren kaum von anderen Menschen. Genauso wenig wie ihre Leser wussten sie, was die Liebe ihrem Wesen nach ist. Ihnen war es genug, ihre Auswirkungen am eigenen Leib erfahren zu haben, um zu wissen, dass es sie wirklich gibt und dass sie kein Ende nimmt in all ihrem Schrecken und Hochgefühl. Indem sie von ihren Erfahrungen Gebrauch machten, bekenntnishaft oft und rücksichtslos gegen sich und andere, gelangen ihnen Werke von einer derart souveränen Kraft, dass uns ihre Charaktere wie wahre Menschen entgegentreten. Sie treffen uns ein ums andere Mal, wie ein Donnerschlag aus der Stille, mitten ins Herz.

Vom Ideal ewig ungetrübten Glücks, das die große Liebe in der westlichen Welt mit sich führt, ließen sich diese Autoren nicht täuschen. Keiner von ihnen hielt bei jenem Augenblick inne, da sich ein Paar nach schier unüberwindlichen Hindernissen– die Braut ist geraubt, einem anderen versprochen, die Familie dagegen– endlich in die Arme schließt und in den Hafen der Ehe einläuft. Für sie fing danach das Abenteuer erst an: Sie erzählten von Paaren, denen bald die Kleinlichkeit, Gereiztheit und schale Beharrlichkeit des Alltags, der Zwist um die richtige Erziehung der Kinder, bald selbstsüchtige Unbesonnenheit, bald ein Treuebruch die Liebe lähmte, bis sie einander die Seele aus dem Leib geplagt hatten und zusammen buchstäblich keinen Sinn mehr ergaben.

Sie erzählten, wie die Begierde zu versiegen anfing, die Liebe zu Machtspielen verkümmerte, zu Verhandlungen unter Erpressten und Erpressern der finstersten Sorte, wie die Lebensvorstellung des einen diejenige des anderen durchkreuzte, sich ein Dritter dazwischendrängte und ihr Beisammensein sprengte. Doch alle ihre Paare bewiesen, dass es Durchschnittsmenschen nicht gibt, hat das Erdbeben der Liebe sie einmal erfasst. Banal ist ohnehin keiner, sieht man genauer hin; doch in der Liebe wachsen wir zu unserer wirklichen Größe auf, gehen durch jedes Feuer wie der Salamander aus alten Legenden, werden zu Ungeheuern, Verschwörern und Helden. So erzählten sie auch, wie ein Paar gegen alle Widrigkeiten zusammenstand; erzählten von Menschen, die nach einer Trennung das Leben noch einmal vor sich haben wollten und für einen Neubeginn ihre Schwächen, Ansprüche, Sicherheiten über Bord warfen; und dass der Glaube an die Liebe selbst im Alter wiedergefunden werden konnte bis zur Hoffnung auf ein gemeinsames Leben nach dem Tod.

Für diese Autoren– für Vladimir Nabokov etwa und Emily Brontë, für John Updike und Marguerite Duras– war die Liebe weit mehr als nur ihr Thema. Sie war die Triebkraft ihres Tuns. Wie jedem anderen auch gab sie ihnen Rätsel auf: Was wäre geschehen, wenn ich diesem Menschen niemals begegnet wäre, wenn ich ihn, wenn ich sie damals verlassen hätte? Was machte unsere Liebe so stark, dass sie alle Krisen überwand? In welchem Augenblick habe ich den einen Fehler begangen, der uns scheitern ließ? Wer bin ich ohne den anderen? Wäre ich besser allein geblieben? Habe ich genug geliebt?

Die Autoren lasen ihre Lebensläufe wie einen Roman und stellten sich selbst erfunden vor. Sie lichteten am Schreibtisch ihren Beziehungswirrwarr, riefen Gespenster herbei und trieben sie aus, beschwichtigten ihre Schuldgefühle und ihre Eifersucht, rechtfertigten sich, leisteten Abbitte, baten um Vergebung, misstrauten ihrem Gedächtnis und wühlten sich immer tiefer in die Vergangenheit zurück. Doch nahmen sie auch Rache, mit höhnischem Triumph. Logen um. Schufen Versionen nach Versionen derselben Geschichte. Erklärten sich zu Opfern, zu Tätern dabei; schwelgten in erotischen Details und besiegten in einer Art Abwehrzauber ihre Furcht vor dem Verwittern und Verschwinden der Liebe, da der Glaube an die Liebe für sie die Treue zum Leben war.

Manche überwarfen sich zuweilen mit ihr und wurden grundsätzlich. Einst hatte Platon das Bedürfnis zu lieben damit erklärt, jeder von uns sei nur Teilstück eines Ganzen und suche seine fehlende Hälfte, so wie ein Schiffbrüchiger auf einsamer Insel die dunstigen Fernen nach dem rettenden Segel absucht: Was aber geschah, wenn man den ersehnten Kahn nie zu Gesicht bekam? Oder wenn man lediglich meinte, seine fehlende Hälfte gefunden zu haben, und Vertrautheit mit Glück verwechselte, während die wahre Hälfte noch irgendwo dort draußen herumlief? Und wenn man die große, die lebenslange Liebe tatsächlich fand: Musste bedingungslose Hingabe nicht unweigerlich zur Selbstverleugnung führen? Und wie war zu verkraften, wenn man sie wieder verlor? Welcher Preis war zu zahlen, wenn man zur falschen Zeit den Richtigen fand? War das Versprechen, in einem anderen Menschen das Paradies zu erlangen, von einem Popsong und Melodram zum nächsten weitergereicht, nicht eine tyrannische Illusion, dazu angetan, uns mit einer großen Leere im Herzen zurückzulassen? So viel Erwartung, die fehlschlug, so viel Vergeudung. Und trotzdem.

Aus dem Ringen um Antwort auf diese Fragen entstand das Werk jener Schriftsteller, deren Liebesgeschichten hier zu erzählen sind: was sie selbst erlebten und was sie daraus erfanden. Sie beginnen am anderen Ende der Welt mit einem schüchternen Mädchen, das aus Sehnsucht eine folgenschwere Lüge ausheckt. Sie schildern, wie ein gesitteter Herr aus bester Familie, weil seine Liebe unerwidert bleibt, sich in einer Obsession verfängt, die sein ganzes Leben beherrscht; wie der Drang nach Zweisamkeit einem jungen Mann den Mut verleiht, sich gegen die verächtliche Front einer ganzen Gesellschaft zu stellen; wie ein anderer seine Ehe in einem Roman tödlich enden lässt, um sie in der Wirklichkeit bewahren zu können; wie eine leidenschaftliche Frau erkennen muss, dass sich ihre Liebe verflüchtigt hat in dem Augenblick, wo sie der andere am dringendsten braucht; wie einer gezwungen ist, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen, einen geliebten Menschen zu verraten; und wie ein Paar, dessen Liebe in der Jugend verhindert wurde, diese Liebe im hohen Alter endlich ausleben kann.

Diese Geschichten berichten vom Rausch der Erfüllung, von Ausnüchterung, Versöhnung, Verlust und reichen– wie es abendländische Geschichten so an sich haben– darüber hinaus bis zu jenem Moment, da die lungenkranke Elizabeth Barrett Browning, ein Jahrhundert vor Sylvia Plath und Ted Hughes, ihrem Mann Robert ihre Sonette schenkte, worin die ganze Geschichte ihrer Liebe aufbewahrt war und das Versprechen, sie werde ihn noch besser lieben, wenn ihr Leben vorüber sei. Gequält von Zweifeln an einem Wiedersehen im Jenseits, schrie Robert Browning sechzehn Jahre nach Elizabeths Tod sein Heimweh in den Himmel des Mont Salève über Genf und begann dabei eines seiner letzten großen Gedichte: Es wurde ein Widerhall ihres Versprechens. Sie hatte ihn gar nie verlassen, sah er jetzt ein und wurde ganz still. Sie würde schon darauf achten, dass er sie im Finstern drüben auch fand.

 

 

SEHNSUCHT

 

 

KAPITEL II

 

DIE ZERTANZTEN SCHUHE

 

Janet Frame

 

 

1

 

Auch mit ihr würde er fertigwerden. Wer wie er, Mark Goulden, der Verlagschef von W. H. Allen, die Bannflüche des Satanisten Aleister Crowley heil überstanden hatte und die Trunkenheitsausfälle des berühmtesten walisischen Dichters (der immerhin seine Entdeckung gewesen war), brauchte doch Gespenster nicht zu fürchten.

Denn so etwas wie ein Gespenst musste sie sein: Keiner ihrer wechselnden Literaturagenten hatte Miss Janet Frame je leibhaftig zu Gesicht bekommen. Sie irrte, hieß es, in ihrer Heimat Neuseeland ohne festen Wohnsitz von einer Nervenklinik zur nächsten und brachte zwischendurch zittrig und rasch einen ihrer depressionistischen, von der Kritik bejubelten Romane zu Papier. Sie verkauften sich schlecht. Das sollte sich ändern. Dazu war er ja da.

Mark Goulden lehnte seine Stirn an diesem Augustmittag 1962 gegen das säulenhohe Fenster seines Büros in der Londoner Essex Street und brachte sich mit einem Kristallglas Scotch vor dem leisen inneren Beben in Sicherheit, das ihn bei Terminen mit besonders schwierigen Autoren immer beschlich. Rühmte er sich nicht zu Recht eines sechsten Sinns, der ins Innerste jeder Person dringen und noch die verquersten Tröpfe mit einem reichen Repertoire gekonnter Überrumpelungstaktiken aus der Reserve locken konnte, um sie dann heiter in die Welt hinaus zu entlassen? Im Übrigen entzückte es ihn ein ums andere Mal, welche Formenvielfalt die menschliche Spezies bot. Er hatte nichts zu befürchten. Doch darin täuschte er sich.

Vor ihm lagen die zwei Stunden, die er sein Leben lang nicht vergessen sollte. Er würde sie noch oft und immer ein bisschen anders schildern, in großer wie kleiner Runde, und dabei stets der gerade letzten Version unbedingten Glauben schenken. Jede nackte Tatsache stand und fiel mit der Art, in der man sie erzählte. Die Wahrheit war für Mark Goulden eine Sache der Vorstellungskraft.

Kaum war Miss Frame hereingehuscht, gleichgültig gekleidet und wie auf Durchreise ins Exil, legte Goulden schon los, pries ihre Bücher – seines Erachtens – über Gebühr, nutzte dafür das warme, zigarettenangeraute Timbre seiner Stimme und krönte seine Huldigung mit dem Vorschlag, sie auf Verlagskosten für ein Jahr in einem feudal möblierten Apartment in London wohnen zu lassen. Dort konnte sie für ihn in aller Stille – und Goulden nickte ihr bei diesem Wort genießerisch zu – »einen Bestseller« schreiben, mal ganz was anderes vielleicht als diesen denn doch zermürbenden, bitteren Roman »Gesichter im Wasser« … eine Liebesgeschichte (zum Beispiel). »Wie wäre das?« Drei Finger seiner rechten Hand trommelten ein sachtes Stakkato auf den Mahagonitisch, der sie trennte; doch Miss Janet Frame saß einfach nur da, stumm und steif in den Ohrensessel gepresst, als sollte sie für die National Portrait Gallery gemalt werden, mit einem Ausdruck leicht gequälter Resignation. Der Ausdruck war – dachte Goulden – charakteristisch für die Patienten aus jenen Schlössern der Psychiatrie, die auf der vorsintflutlichen Insel dort unten, »Neuseeland«, Namen trugen wie »Lake Alice«, »Seacliff«, »Sunnyside«, als wären sie stolze Luxushotels zwischen kühlenden Palmen mit einem Butler für jeden einzelnen Gast. Miss Frames smaragdgrüne Augen ängstigten sich vor dem, was sie erblickt hatten: Augen auf der Flucht.

Aber wenn sie ein Fall war für die niederträchtigen Sigmund-Freud-Apostel, hätte man auch Greta Garbo, Charles de Gaulle, Agatha Christie und die gesamte Bevölkerung der Shetlands wegen krankhafter Schüchternheit wegschließen müssen. Goulden wollte diese Janet Frame aus ihrem Schweigen holen, und da half nur gespielter Zorn.

»Also gut, Miss Frame. Ich habe jetzt eine verfluchte halbe Stunde« – Goulden konsultierte seine schwergoldene Taschenuhr – »geredet und geredet und geredet wie ein reumütiger Massenmörder in Nürnberg, und Sie sagen kein Wort und starren nur und langweilen mich. Lassen wir, wie Goethe irgendwo so oder so ähnlich meinte, jedem großen Geist seine Idiotien, aber« – Goulden erhob sich mit einem Ruck – »verschwenden Sie nicht jene kurze Zeit, die uns Gott …« Und plötzlich regte sich Miss Janet Frame.

Jemanden zu langweilen war ihr zuwider, und es ärgerte sie, von ihm ins Visier genommen zu werden: Das Bild, das er sich offenbar von ihr machte, sollte in sich zusammenstürzen, jetzt und sofort. Später würde sie es manchmal bereuen, Mark Goulden, der zunächst auf sie gewirkt hatte wie ein Casinobesitzer und Mafiaboss in einer Person (drahtig, grauhaarig, untersetzt), so viel von sich selber preisgegeben zu haben; doch in diesem Augenblick begann sie zu erzählen, Goulden ließ Sandwiches bringen, rührte sie aber, mehr und mehr aus der Fassung gebracht, nicht an. Seine Fantasie stieg, mit ihren zuverlässigen Worten als Leiter, Stufe um Stufe zur kiesknirschenden Dachterrasse des Verlagshauses empor. Doch statt über London blickte er, an Miss Frames Seite, von einem Hügel der Stadt Oamaru im Südosten Neuseelands aufs Meer hinab. Er sah, was sie als Kind gesehen, las, was sie gelesen hatte, fühlte ihr erstes Verlangen, das noch nicht wusste, wonach. Und das Verlangen fand einen Menschen, gemeingefährlich (sagte sich Goulden) und ihrer nicht wert. Er spürte die Hand des Irrenhausdirektors auf seiner Schulter, »Und, Miss Frame? Haben wir uns schon eingewöhnt?« Er empfand ihre Scham, etwas überlebt zu haben, dem andere zum Opfer gefallen waren. Und er schämte sich selbst.

Mark Goulden, schnell von Begriff und Gefühl, begnadeter Allerweltsphilosoph und Schwadroneur, lauschte und schwieg.

 

 

2

 

Einst hatten schottische Auswanderer auf ihrer Suche nach einem Himmel auf Erden in Oamaru haltgemacht: Das ganze Tal der Bucht mit seinem tiefen, fetten Erdreich war ein eigens für sie ausgerollter Teppich goldener Mohnblumen und blauer Lupinen. Obwohl sie sich auf ihre Freiheitsliebe einiges zugutehielten, bauten sie ihre Stadt europäischen Vorbildern nach. Die Bank glich derjenigen Edinburghs, die Stadtbibliothek einem griechischen Tempel mit der Göttin Pallas Athene obendrauf. Die Straf- und Irrenanstalten mit ihren Erkern und Wasserspeiern waren, über den Grabstätten der Ureinwohner errichtet, grau-gotische Spukschlösser und kleine Städte für sich, als hätten die Architekten sie den Schauerromanen entnommen – eine Drohung für all jene, die der in England umgehenden Mode nachgeben wollten, den Verstand zu verlieren. Denn hier benahm man sich anständig, trank mäßig, entstaubte samstags das Porzellanschränkchen, Gewürzdosen und Einweckgläser, legte den Schildpattkamm wieder haargenau an die ihm zugedachte Stelle zurück, pflegte den Rasen samt Schutzgeistern (Gartenzwerge aus Terrakotta), und Männer spielten mit Männern nur beim Kricketmatch.

Dennoch verfiel die Stadt. Als die Eisenbahnerfamilie Frame – vier Töchter, ein Sohn – 1931 nach Oamaru kam, hatten die aufgelassenen Fabriken im Hafen gerade noch etwas von ihrem Geruch nach Wolle und Getreide bewahrt, wie wenn sie sich an ihre frühere Bestimmung erinnern wollten. Zwischen den Pflastersteinen vor den Toren schoss fröhlich das Unkraut hoch. Längst waren die Dachschindeln, Treppengeländer und Eichenböden der Kontore in den hungrigen Kaminen der Arbeiter verheizt, mit den wunderprächtigen Träumen von der Neulandgewinnung zu Asche geworden und von nervösen Winden über den Pazifik verweht.

Auch im grauverwitterten Holzhaus der Frames regierte ein Durcheinander wie am fünften Schöpfungstag kurz vor Erschaffung des ordnungswilligen Menschen. Mutter Lottie vernachlässigte es – nicht aus Schlampigkeit, sondern nach einem Plan, in den nur ihr Gott eingeweiht war. Kinder liebten das Unaufgeräumte, und wie Gott die Welt eigentlich eingerichtet hatte, bevor bibelunkundig fantasielose Leute sie verflachten, ja, auch davon besaß sie genaue Vorstellungen: Bettler konnten getarnte Engel sein, und sie wies keinen von ihnen ab; ein Stein war für sie nicht einfach ein Stein, sondern ein aus dem Firmament verstoßener Stern.

Durfte sich die neunjährige Janet als Klassenbeste für ein Jahr kostenlos Bücher aus der Stadtbibliothek leihen, rief Lottie auch schon euphorisch aus, »Bring uns Charles Dickens, Shakespeare, Mark Twain!«, so als erfreuten sich diese drei Herren bester Gesundheit und könnten es kaum erwarten, der Familie Frame in der Eden Street noch am selben Abend einen Besuch abzustatten. Nichts war nur, wie es schien. Im liebgewonnenen Märchenband der Gebrüder Grimm zertanzten zwölf Prinzessinnen mit zwölf schönen Prinzen jede Nacht ihre Schuhe hinter dem Rücken des eifersüchtigen Vaters. Schmiegten sich Janet und ihre drei Schwestern abends im engen Bett aneinander, nahmen sie einschlummernd die Gestalt der Prinzessinnen an und stiegen durch die Falltür die Treppe zum unterirdischen, hellerleuchteten Schloss hinab, und kein blöder alter Soldat in einem Umhang, der unsichtbar machte, folgte ihnen nach.

Janet passte es auch nicht, welch trostlose Zukunft in diesem Märchen die älteste der zwölf Prinzessinnen erwartete, die den Soldaten heiraten musste, nachdem ihr Geheimnis aufgedeckt war. Überhaupt gingen ihr die immergleichen Märchenschlüsse auf die Nerven: Paare feierten Hochzeit und lebten vergnügt bis zum Tod. In der Wirklichkeit, so konnte man von Shakespeare lernen, ging es rauer zu, wahrhaft Liebende starben früh, und die älteste der zwölf hatte sich nach der Heirat bestimmt von einer Burgzinne geworfen.

Jene Ergriffenheit, die sich der ersten Siedler beim Anblick der Bucht Oamarus bemächtigt hatte, war in Janet Frame noch lebendig, wenn sie vom Hügel hinter dem Haus den Pazifik musterte und die schwarzen, grünen, gelben Wolken, groß wie Wale, die über den Himmel schwammen und, wie von einem Harpunier verwundet, bei Sonnenuntergang blutend in die Fluten wegtauchten. Dorthin nahm sie Reißaus vor den Demütigungen der Schulvormittage, dort füllte sie ihr für Lokführer gedachtes Notizbuch mit Tagebuchbriefen an den weisen Herrscher dieses Meerreichs, das seinen Namen trug, »Ardenue«. Sie schrieb darin auch das Märchen von den zertanzten Schuhen um: Der alte Soldat wurde in der dritten Nacht, bevor er dem Vater der Prinzessinnen seine Entdeckung verraten konnte, von einem der silberblättrigen Bäume erschlagen, mit gewaltigem Krach.

Weil Mr. Ardenue ein neugieriger und um seine Untertanen besorgter Monarch war, vertraute sie ihm alles an: Keine der Mädchencliquen nahm sie auf, und jede Klassenkameradin, die so scheu war wie sie, rückte von ihr ab, um nicht ihre verachtete Position in der Schule mit ihr teilen zu müssen. Mr. Ardenue erfuhr, dass sie manchmal in dem Gefühl einschlief, der Arm, der sie umfangen hielt, sei nicht der ihrer Schwester Myrtle, sondern der Arm eines Mannes, der ihr begütigend zuflüsterte: »Morgen, Liebes, sieht alles ganz anders aus.« Wie sie ihre Sommersprossen hasste. Ihre Zähne verfaulten: Sie trug der Klasse nur mit vorgehaltener Hand ihre Gedichte vor. In ihrem roten Zaushaar verfingen sich Schmeißfliegen wie im Netz einer Spinne. Laut der Schulärztin gehörte sie zu »den Schmutzigen«, die mit bösen Bakterien um sich warfen. Sie mochte sich nur in dem, was sie schrieb. Es war ein Weg zu überleben: »Ich will etwas Schönes schaffen, wie Sie es hier getan haben, Mr. Ardenue.« Eines Tages würde ein anderes Mädchen Tränen über einen Roman vergießen, der ihre Geschichte war.

Ihre Schwester Myrtle erlitt beim Schwimmen einen Herzstillstand und lag wie eine große, vergessene Puppe in der Küche aufgebahrt. Wenn du den Tod einmal gesehen hast, notierte sich Janet Frame später, wirst du deiner selbst gewahr und musst dich vor nichts mehr fürchten. Von nun an wollte sie ein Leben führen und nicht nur davon träumen. Für die Welt war sie ein Nichts. Aber würde sie nicht irgendwann für irgendwen, der sie gelten ließ, wie sie war, eine ganze Welt sein können?

Am Tag vor ihrem Aufbruch in die Universitätsstadt Dunedin verbrannte sie ihre Gedichte und Tagebuchbriefe an Mr. Ardenue.

 

 

3

 

Doch auch an der Universität von Dunedin zwang ihre Scheu sie ins Abseits.

Sie besuchte Sinfoniekonzerte und wagte nach der letzten Note nicht zu klatschen, überwältigt wie sie war – und aus Furcht, der Applaus könnte ihr zu laut geraten. Neue italienische Filme in strengem Schwarzweiß, vorgeführt in kleinen Kellern und damit sicher vor den Sittenrichtern der Stadt, rüttelten sie aus ihren Tagträumen wach: In einem davon las ein Soldat eine Prostituierte auf, erzählte ihr von einem lieben Mädchen, das er vor Monaten in Rom getroffen hatte, und bemerkte in seiner Betrunkenheit nicht, dass sie, die Prostituierte, genau dieses Mädchen war. Die Enttäuschung des Mädchens hatte etwas unaussprechlich Beklemmendes und Richtiges. Doch wenn man sie, »Nun, was sagt unsere Janet dazu?«, verhohlen belustigt nach ihrem Urteil zu diesen Filmen fragte, stammelte sie nur Plattitüden daher. Sie galt als haarsträubend ungebildet, hässlich, verschroben, verrückt. Bald kursierte das Gerücht, Mitglieder ihrer Familie säßen seit Jahrzehnten in Irrenhäusern der Insel ein.

Warum war es ihr nicht gegeben, für sich zu bleiben, wo es sie so viel kostete, in den Augen der anderen etwas darstellen zu müssen? Wenn man doch nur sein Leben lang schlafen könnte. Oder in einen anderen Körper auswandern. Dann könnte man vielleicht dazugehören.

Der einzige Mensch, in dessen Gegenwart sie ihre Schüchternheit überwand, war John William Money, Jungdozent für Psychologie, den alle Studentinnen wie einen Filmstar umschwärmten, als wäre er soeben aus »Vom Winde verweht« direkt von der Leinwand herabgestiegen. Ihm fiel Miss Frame erst auf, als sie am Ende eines Essays beiläufig erwähnte, sie hätte sich mit einer Überdosis Aspirin das Leben nehmen wollen, und zwar seinetwegen: Die Traurigkeit brauchte eine Ursache, und sie fand keine andere in sich als ihn.

Wider Erwarten stieß John Money sie auch nicht weg. Sie interessierte ihn. Die ersten Therapiesitzungen auf dem Dachboden der Universität gaben vorderhand nichts Nennenswertes her. Doch ein Freud-Experte wie Money ließ sich von den Theaterkulissen des Unterbewussten nicht täuschen. Dass Miss Frame mit einundzwanzig Jahren noch immer an diesem Märchen von den zertanzten Schuhen hing und ihn mit einem der Prinzen verglich, zeugte von einer gehemmten Libido. Er schickte Miss Frame zur Begutachtung in die psychiatrische Station des örtlichen Krankenhauses. Die Diagnose der Ärzte fiel rasch und eindeutig aus.

»Schizophrenie«. Dass einer der Ärzte an den Rand des Gutachtens handschriftlich notiert hatte: »Unglücklich ist jeder von Zeit zu Zeit«, ignorierte Money aus akademischer Würde und trug Miss Frame die brisantesten Passagen aus dem Gutachten vor. Bald würde die Krankheit ganz aus ihr hervorbrechen, als ginge sie damit schwanger. Im Wettlauf mit dem Verlöschen ihres Geistes schrieb sie ihre Kurzgeschichten nieder, als glaubte sie ernsthaft an die Diagnose, und gab sie Money zu lesen, der desto beeindruckter von ihrem heroischen Kampf gegen die Krankheit war. »Wenn ich an Sie denke, Miss Frame, denke ich an Wahnsinn und Größe eines Vincent van Gogh.«

Da ihr von den Symptomen des Begriffsungeheuers »Schizophrenie« nicht das Geringste bekannt war, machte sie sich in der Bibliothek damit vertraut bis ins verwinkeltste Detail, um in weiteren Sitzungen mit John Money denn auch jene Schizophrene sein zu können, die er in ihr sah und jetzt auch schon immer in ihr gesehen haben wollte. So mochte er sie.

Sie wusste wohl, dass sie für ihn lediglich einer der Fälle war, die in seinen Bewerbungsschreiben an die Elite-Universitäten der USA aufgelistet sein würden, wo Money seinen Traum von einer Karriere als Sexualforscher zu verfolgen gedachte; dennoch widmete sie ihre ganze Einbildungskraft nun ihrer Rolle, und sie spielte sie perfekt. Sie erfand Alpträume und dämonische Unsichtbare, die manchmal, wie aus dem Jenseits kommend, schattenhaft ihr Bett umdrängten, ihr Obszönitäten zuraunten und lüsterne Gedanken eingaben. Nur in John Moneys Zuwendung fand sie ein wenig Halt. Solange er sie mit erhobenem Haupt ruhig und gemütvoll anblickte, die feingeäderten Hände im Schoß gefaltet, schenkte er ihr ein Stück Glauben an ihren eigenen Wert. Sie saß drei Meter entfernt ihm gegenüber und konnte sein Herz schlagen hören. Es gab, lehrte sie ein Philosoph, kein Ich ohne ein Du. Doch kaum war die Sitzung vorüber, brach der neugewonnene Boden unter ihren Füßen schon wieder weg; John Money schiffte sich nach Baltimore ein, und wenige Tage nachdem ihre Schwester Isabel, wie Myrtle zuvor, ertrunken war und sie vor Trauer zu Scherben zersprang, schlossen sich im Februar 1948 die Tore der Irrenanstalt »Sunnyside« hinter Miss Janet Frame.

 

 

4

 

Auf Schloss »Sunnyside« sprach man nicht mit Patienten. Visiten beschränkten sich auf kurzatmige Fragen, denen die Antwort schon bekannt war. Reden regte die Insassen nur auf. Von ungefähr kam man ja nicht hierher. Es bedurfte keiner Beweise, dass Miss Frame psychisch krank war, obwohl ihre Manie, Papier zu bekritzeln, harmlos war etwa im Vergleich zu jener ältlichen Dame, die darüber untröstlich schien, die Welt erschaffen zu haben. Oder wenn man in die Ecke hinüberschaute, wo »die Hungerkönigin« kauerte: Sie saugte an ihren Zähnen, grub in ihrem Mund nach Krumen von Kuchen, die sie gestern aus Aucklands Feinkostläden gestohlen haben wollte, und verweigerte jede Nahrung, weil die Menschheit ihrer Diebstähle wegen verhungerte. Dagegen erschien »die Frame« manchen Aufsichtsschwestern ausnehmend normal. Nach Meinung erfahrener Schwestern freilich konspirierte diese ach so gebildete Universitätsgans sicher brieflich mit Beamten der Regierung, um sie alle von ihren hart erarbeiteten Posten zu vertreiben. Überdies sah die Logik der Anstalt vor: Wer sich gesund verhielt, machte sich – so durchtrieben, wie nur Verrückte es sein konnten – über die Gesunden jenseits der Anstaltsmauern lustig und verlangte nach einer besonders festen Hand. Fügte man sich, »unkooperativ«, in den Alltag nicht ein, wurde man auf Station Zwei verlegt. Dort stand die Maschine.

Die Maschine war ein cremefarbenes, üppiges Ding mit glänzenden Augen, rot das eine, das andere schwarz. Einer der Herren Doktoren strich zärtlich darüber hinweg und sagte zu dem Ding, »Es geht gleich los, Liebes«, während Miss Frame, auf erhöhtem Bettgestell mit fetten Kabeln verschnürt, in einem reißenden Gefälle aus schreiender Angst ins Koma fiel. Tat die Elektrokrampftherapie nicht ihre Wirkung, war man auf Station Zwei wunderbar aufgehoben und benötigte lediglich weitere Schocks. Nach über zweihundert Therapien ungedrosselten Stroms ohne Narkose wusste Janet Frame oft nicht mehr, wer sie war. »Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht«, wimmerte in ihr ein Gebet aus der Kindheit, die Jahrhunderte her war, »so fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir.« Sie bewohnte jenes innerste Reich der Einsamkeit, in dem die Sterbenden vor dem Tod vegetierten.

Ihre zahllosen Briefe nach draußen hatte man seit ihrem Eintritt abgefangen und überflogen; einer davon nahm nun jedoch die professionelle Wachsamkeit des Schlossdirektors gefangen wie einer der Radiokrimis, die er abends neben seiner Gattin mit einem Glas Sherry genoss. Miss Frame gestand darin, »Pierre« stünde ihr in den schwersten Stunden bei. Sie litt also nicht nur unter Halluzinationen, die sie krankheitstypisch leugnete: Sie war gespalten, ihrer zwei, einmal »Janet«, dann ein »Pierre«. Als »Janet« den Direktor aufklärte, mit »Pierre« sei eine Figur aus »Krieg und Frieden« gemeint, »Von Tolstoi, wissen Sie«, fand er die altbewährte Einsicht bestätigt, wie betrüblich die Lektüre von Romanen den Frauenverstand verwirrte. Man konfiszierte ihre Bücher, auch Bleistift und Papier, überstellte sie nach »Seacliff« und trug sie dort für Ende Dezember 1952 in die Liste der Lobotomie-Anwärterinnen ein.

Eine der Schwestern – eine ehemalige Nonne, die der Obergärtner von »Seacliff« eines Nachts auf der großen Wiese zwischen den drei Apfelbäumen für sich gewonnen hatte – erklärte Miss Frame begeistert die harmlose Prozedur: Man bohre ein Loch oberhalb der Augenhöhle in den Schädel, schneide geschickt die Nervenfasern zwischen dem Gehirn hinter der Stirn und der tiefer liegenden grauen Masse entzwei, und schon würde sie, wieder ganz vernünftig, in Dunedin einen Blumenladen eröffnen können. John Moneys warnender Brief aus den USA kam zu spät: Mutter Lottie hatte, von bekümmert nickenden Ärzten umstellt, das Zustimmungsformular bereits unterzeichnet. Heiligabend näherte sich, ein Kostümball war in Planung, und die Gärtner hatten den Lichterbaum dieses Jahr mit einem neuen Engel bestückt: Schon breitete er auf der Baumspitze, immer kurz vorm Abflug hoch zum Lüster, seine goldenen Schwingen aus.

Doch gleich nach Weihnachten ging es unter den Doktoren von »Seacliff« auf einmal drunter und drüber: Die Nachricht machte die Runde, »die Frame« hätte für ihr Gekritzel irgendeinen Preis verliehen bekommen. Der Direktor zog sich abends an Miss Frames Gitterbett heran: »Ich will –«, er machte eine Pause, um seine Worte auszukosten, und legte eine zuvorkommende Hand sacht in die ihre, »dass Sie so bleiben, wie Sie sind.« Er fühlte sich, als hätte er dieser Naturbegabung von Schriftstellerin in Gestalt einer Wahnsinnigen höchstselbst zu Ruhm verholfen. »Sie wissen aber« – sein Zeigefinger hob sich wie selbständig –, »dass Sie in uns« – und sein Zeigefinger bog sich und wies auf sein hoffendes Lächeln – »immer eine rettende Insel haben werden, wenn es Ihnen wieder schlechter gehen sollte, sogar eine Heimat vielleicht?«

Nie war es ihr schlechter gegangen. Als unheilbares Genie entlassen, kam sich Janet Frame vor, als hätte sie sich mit ihren eigenen Händen aus einem Sarg gekrallt. Bald aber nahm sie ihr Gedächtnis zusammen und verfasste in einem Zug den autobiografischen Roman »Gesichter im Wasser«, den sie jenen widmete, die der Lobotomie nicht entronnen waren: Die Schädel rasiert, die Augen wie mit Tinte gefüllt – seelenerblindete Wesen, die nach einer dumpfen Choreografie durch Klinikgewölbe stapften überall auf der Welt. »Gesichter im Wasser« war der Roman, der den Verleger Mark Goulden dermaßen verstörte, dass er die Autorin persönlich kennenlernen wollte, in seinem Büro in London, 1962: »Jetzt, da Sie meine Geschichte so ungefähr kennen«, Miss Frame griff nach einem Sandwich, »nehme ich Ihr Angebot gerne an. Einen Bestseller aber werde ich Ihnen nicht verschaffen können.«

Stattdessen gab man »Gesichter im Wasser« Krankenpflegerinnen bei der Einschulung als Pflichtlektüre auf, und der Roman sorgte später dafür, dass die Regierung Neuseelands mehrere psychiatrische Anstalten schloss und ihre Direktoren in verfrühten Ruhestand zwang.

 

 

5

 

Sommer 1972. – Ihre Katze Neggy weckte sie um fünf Uhr morgens, und Miss Janet Frame trat mit einer Tasse kräftigem Kaffee auf die böige Veranda und sah über die perlengraue See hinweg den Wolkenwalen von Shakespear Bay bei ihrer Himmelswanderung zu. Die Guave stand im Garten ungerührt: Miss Frame dachte an Ibiza, so weit weg und weit zurück, wo die Olivenbäume aufbegehrt hatten gegen den Novembersturm vom Meer, und sie schmeckte noch immer Honig, Austern und den heißen Kieselstaub. Dort war George Parlette, ein verheirateter Buchhalter aus der Schweiz, der sich (du gütiger Gott) für einen Dichter hielt, zwei Wochen lang ihr erster Liebhaber gewesen – und ihr letzter, ging es nach ihr. Ein Mann im Bett hatte gegenüber einer Wärmflasche zwar den Vorteil, dass er morgens noch warm war; doch hatte die Affäre ihre Arbeitskraft gelähmt. Nach Parlettes abrupter Abreise irrte sie die Nächte durch die Straßen Barcelonas, schwanger und von ihrer Nichtigkeit überzeugt wie niemals zuvor. In den verschneiten Pinienwäldern Andorras strickte sie Babykleidung und schluckte Chinin-Tabletten, bis ein blutiges Etwas im Toilettenwasser versank. Ein Gefühl von Freiheit sprang in ihr hoch und der alte Selbsthass, zur gleichen Zeit.

Nirgends hielt es sie lange: Das von Goulden bezahlte Apartment in London, dieser Presslufthämmerstadt, bot nicht den Schutz der Stille, den ihre Fantasie brauchte. Nach dem Ende ihrer intimen Freundschaft mit dem leider unbekehrbar homosexuellen Maler Bee Brown hatte sie einen Schlussstrich unter ihre Sehnsucht nach einem geliebten Menschen gezogen. »Du hast dich eben verrannt wie so viele«, lachte sie in den schäumenden Pazifik hinaus, der ohnehin jedes ihrer Geheimnisse zu kennen schien: Verrannt schon damals auf dem Dachboden mit John Money, für den sie so verhängnisvoll überzeugend die tragische Kranke gemimt hatte.

Ein Psychiater, der so schüchtern war wie sie und ihr dabei half, die Jahre in den Anstalten zu verkraften, hatte ihr einen stimmigen Rat erteilt: Für manche war das Verlangen nach Liebe nichts als die Suche nach Bestätigung – ein steiler Umweg bergan, der keuchend erklettert werden musste, damit man am Gipfel dann sich selbst vorfand. Niemand konnte ihr etwas geben, weil sie alles, was Sinn besaß, bereits in sich trug. »Fügen Sie sich nirgendwo ein. Lernen Sie, allein zu sein. Arbeiten Sie.« Sie war jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Eines absehbaren Tages würde sie ihre Geschichte aufschreiben, romanhaft, doch aufrichtig, um Erinnerungslöcher zu stopfen, die die Elektroschocks in ihr Gehirn gebrannt hatten; würde so ihr Leben zurückerobern und dabei das Image der Schizophrenen zerreißen, das eine vorlaute Presse um sie herum spann. Ein Ärztekonsortium hatte schon vor einem Jahrzehnt die Diagnose für ungültig erklärt. Aber wenn man sie selbst dann noch nicht in Frieden ließ, würde sie unter anderem Namen an einen unbekannten Ort verschwinden, wie aufgelöst in Luft.

Einer ihrer Nachbarn in Shakespear Bay, ein verwitweter Frühpensionär, jätete samstags das Unkraut auf spitzen Knien und flickte seinen Gartenzaun. Sie erkannte in ihm den ehemaligen Direktor von »Seacliff«, der sie nach Verleihung des Literaturpreises ängstlich von der Liste der Lobotomie-Patienten gestrichen hatte. Sie würden sich niemals begegnen, dafür sorgte sie schon. Zu viel hätte sie diesem armen Menschen zu sagen, und es hätte ihm jenes bisschen Leben zerstört, das unverdient noch vor ihm lag.

Als Romanfigur aber taugte er allemal.

 

 

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