Über das Buch

 

Der junge Arzt Norton Perina kehrt mit einer unfassbaren Entdeckung von der Insel Ivu’ivu zurück: Hat er wirklich ein Mittel gegen die Sterblichkeit gefunden? Eine uralte Schildkrötenart soll das Geheimnis des ewigen Lebens in sich tragen.

So kometenhaft Perina damit zur Spitze der Wissenschaft aufsteigt, so rasant vollzieht sich die Kolonisierung und Zerstörung der Insel. Mit gnadenloser Verführungskraft zieht Hanya Yanagihara uns hinein in den Forscherrausch im Urwald und lässt uns auch dann nicht entkommen, als Perina dort eine weitere Entdeckung macht: seine fatale Liebe zu Kindern. Wie betrachten wir eine Lebensleistung, wenn sich das Genie als Monster entpuppt? Das ist die Frage in diesem brillant geschriebenen, gefährlichen Dschungel von einem Roman.

 

 

Hanya Yanagihara

 

Das Volk der Bäume

 

Roman

 

Aus dem Englischen von Stephan Kleiner

 

 

Hanser Berlin

 

 

 

PROSPERO:

Ein geborner Teufel ist’s,

An dem Erziehung nichts verbessern kann,

Und alle Müh’, die ich mir menschlich gab,

Verloren ist, ganz und durchaus verloren.

So wie sein Körper garst’ger wird durch’s Alter,

Verhärtet auch sein Geist sich mit den Jahren,

Ich will sie alle plagen, bis sie brüllen.

 

William Shakespeare, Der Sturm,

Vierter Aufzug, Erste Szene

 

 

INHALT

 

Vorwort von Dr. Ronald Kubodera

 

Die Erinnerungen des A. Norton Perina

Herausgegeben von Ronald Kubodera, M.D.

 

Teil I

Der Bach

Teil II

Mäuse

Teil III

Die Träumer

Teil IV

Die neunte Hütte

Teil V

Das erste Kind

Teil VI

Victor

Teil VII

Danach

 

Epilog von Dr. Ronald Kubodera

Nachtrag

Anhang

 

 

Für meinen Vater

»Vom Vater … die Lust zu fabulieren«

 

 

19. März 1995

Namhafter Wissenschaftler mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs konfrontiert

ASSOCIATED PRESS

 

Bethesda, Md. – Dr. Abraham Norton Perina, der namhafte Immunologe und emeritierte Leiter des Center for Immunology and Virology an den National Institutes of Health in Bethesda, wurde gestern unter dem Verdacht auf sexuellen Missbrauch festgenommen.

Dr. Perina, 71, werden Vergewaltigung in drei Fällen, Unzucht mit Minderjährigen in drei Fällen, sexuelle Nötigung in zwei Fällen und Kindeswohlgefährdung in zwei Fällen vorgeworfen. Die Vorwürfe erhob ein Adoptivsohn Dr. Perinas.

»Diese Vorwürfe sind haltlos«, ließ Dr. Perinas Anwalt Douglas Hindley am gestrigen Tag verlauten. »Dr. Perina ist ein bedeutendes und hochangesehenes Mitglied der wissenschaftlichen Gemeinde und erpicht darauf, diese Angelegenheit schnellstmöglich aufzuklären, um seine Arbeit wiederaufnehmen und zu seiner Familie zurückkehren zu können.«

Für die Erstbeschreibung des den Alterungsprozess verlangsamenden Selene-Syndroms wurde Dr. Perina 1974 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Die Krankheit, die den Körper des Opfers in einem vergleichsweise jugendlichen Stadium erhält, während der geistige Verfall zugleich verstärkt fortschreitet, wurde bei dem Volksstamm der Opa’ivu’eke entdeckt, die auf Ivu’ivu, einer der drei Inseln des mikronesischen Staates U’ivu, leben. Ausgelöst wurde sie durch den Verzehr einer seltenen Schildkrötenart, nach welcher Dr. Perina den Stamm benannte und deren Fleisch, wie sich zeigte, die Telomerase stimuliert, das natürliche Enzym, welches Telomere verlängert und dadurch die mögliche Anzahl der Teilungen jeder einzelnen Zelle erhöht. Wie festgestellt wurde, können vom – nach der unsterblichen und ewig jugendlichen Mondgöttin der griechischen Mythologie benannten – Selene-Syndrom Befallene über Jahrhunderte hinweg mit der Krankheit leben. Perina, der erstmals 1950 als junger Arzt mit dem bekannten Anthropologen Paul Tallent nach U’ivu reiste, führte auf den Inseln jahrelange Feldforschungen durch. Dort adoptierte er auch seine 43 Kinder, viele von ihnen Waisen oder Söhne und Töchter verarmter Opa’ivu’eke-Stammesangehöriger. Einige der Kinder befinden sich derzeit noch in Perinas Obhut.

»Norton ist ein vorbildlicher Vater und ein genialer Kopf«, sagte Dr. Ronald Kubodera, langjähriger Mitarbeiter in Perinas Labor und einer der engsten Freunde des Wissenschaftlers. »Ich bin fest davon überzeugt, dass diese lächerlichen Vorwürfe fallengelassen werden.«

 

*

 

3. Dezember 1997

Freiheitsstrafe für bedeutenden Wissenschaftler, Nobelpreisträger

REUTERS

 

Bethesda, Md. –Dr. Abraham Norton Perina wurde heute zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe in der Frederick Correctional Facility verurteilt.

Dr. Perina erhielt 1974 den Nobelpreis für Medizin; er hatte nachgewiesen, dass der Verzehr einer inzwischen ausgestorbenen Schildkrötenart aus dem mikronesischen Staat U’ivu das Enzym Telomerase stimuliert, wodurch die mögliche Anzahl der Teilungen jeder einzelnen Zelle steigt. Untersuchungen ergaben eine Übertragbarkeit der als Selene-Syndrom bekannten Krankheit zwischen einer Vielzahl von Säugetieren einschließlich des Menschen.

Perina gehörte zu den wenigen Vertretern der westlichen Welt, die unbegrenzten Zugang zu diesen entlegenen und abgeschotteten Inseln erhielten, und im Jahr 1968 adoptierte er das erste von insgesamt 43 dort geborenen Kindern, die allesamt in seinem Haus in Bethesda aufwuchsen. Vor zwei Jahren war Perina der Vergewaltigung und Gefährdung des Kindeswohls bezichtigt worden; Ankläger ist eines seiner Adoptivkinder.

»Das ist eine echte Tragödie«, sagt Dr. Louis Altschur, Leiter der National Institutes of Health, an denen Dr. Perina viele Jahre als Wissenschaftler tätig war. »Norton ist ein ausgesprochen kluger Kopf, ein begnadeter Forscher, und ich hoffe inständig, dass er alle notwendige Hilfe bekommt, auch von ärztlicher Seite.«

Weder Perina noch sein Anwalt standen für Stellungsnahmen zur Verfügung.

 

 

VORWORT

 

Ich bin Ronald Kubodera – aber nur in wissenschaftlichen Publikationen. Für alle anderen bin ich Ron. Ja, ich bin der Dr. Ronald Kubodera, von dem Sie sicherlich in den Zeitschriften und Zeitungen gelesen haben. Nein, nicht all die Geschichten sind wahr – das sind sie ja in den seltensten Fällen.

Aber in meinem Fall sind es die wichtigsten schon, und ich bin stolz darauf. So bin ich beispielsweise stolz, überhaupt eine Beziehung zu Norton zu haben (und bis vor anderthalb Jahren hätte ich das nicht einmal eigens betonen müssen), den ich kenne, seit ich 1970 in seinem Labor an den National Institutes of Health in Bethesda, Maryland, zu arbeiten begann. Den Nobelpreis hatte Norton damals noch nicht erhalten, doch mit seiner Arbeit hatte er bereits das Medizinwesen revolutioniert und den wissenschaftlichen Blick auf die Fachgebiete Virologie und Immunologie, aber auch, das muss hinzugefügt werden, auf die medizinische Anthropologie für immer verändert. Stolz bin ich auch darauf, dass aus unserer anfänglichen Arbeitsbeziehung eine ebenso intensive freundschaftliche Beziehung erwuchs; tatsächlich ist meine Verbindung zu Norton die bedeutsamste in meinem Leben. Vor allem aber bin ich stolz darauf, dass ich nach den Ereignissen der vergangenen zwei Jahre noch immer sein Freund bin und er noch der meine ist.

Natürlich habe ich nicht die Möglichkeit, so häufig mit Norton zu sprechen, wie ich – und das gilt sicherlich auch für ihn – es gern täte. Es ist ein sonderbares, einsames Gefühl, ihn nicht in meiner Nähe zu haben. Tatsächlich möchte ich behaupten, dass wir bis zu meinem Umzug vor sechzehn Monaten1 – einen Monat nach Nortons Verurteilung – während unserer normalen täglichen Abläufe nie mehr als zwei Tage voneinander getrennt waren. Vielleicht sogar weniger. (Besondere Umstände wie die gelegentlichen Urlaube mit meiner damaligen Frau oder Reisen zu Begräbnissen, Hochzeiten usw. natürlich ausgenommen. Doch selbst während dieser Anlässe versuchte ich, täglich mit ihm zu kommunizieren, entweder telefonisch oder per Fax.) Worauf ich hinauswill: Die gemeinsamen Gespräche mit Norton, die Zusammenarbeit mit Norton, das Zusammensein mit Norton waren schlicht Teil meines täglichen Lebens, so wie manche Leute täglich fernsehen oder täglich die Zeitung lesen – eines dieser leicht zu vergessenden, aber darum längst nicht unbedeutenden Rituale, welche uns die Gewissheit geben, dass das Leben plangemäß fortschreitet. Wird ein solcher Rhythmus allerdings unterbrochen, ist man nicht nur verunsichert, man ist ankerlos. So habe ich mich während der letzten etwa anderthalb Jahre gefühlt. Ich wache morgens auf und gehe meinem Tagwerk nach wie immer, aber abends schiebe ich das Zubettgehen hinaus, streife durch die Wohnung, starre in die Nacht hinaus und frage mich, was ich vergessen habe. Ich hake die Dutzenden kleinen Aufgaben ab, die ich an einem normalen Tag gedankenlos verrichte – Briefe geöffnet und beantwortet? Abgabetermine eingehalten? Türen abgeschlossen? –, bis ich schließlich widerstrebend ins Bett steige. Erst an der Schwelle zum Schlaf wird mir wieder bewusst, dass mein Leben seine ganze Form geändert hat, und dann durchlebe ich einen kurzen Augenblick der Melancholie. Man sollte meinen, inzwischen hätte ich gelernt, mich mit Nortons – und damit auch meinen eigenen – veränderten Lebensumständen abzufinden, doch etwas in mir wehrt sich dagegen; schließlich war er drei Jahrzehnte lang Teil meines Tagesablaufs.

Aber wenn mein Leben schon einsam ist, dann ist Nortons noch weit einsamer. Stelle ich ihn mir an diesem Ort vor, bin ich einfach nur wütend: Norton ist kein junger Mann mehr und auch nicht ganz gesund, und ihn einzusperren ist in meinen Augen weder eine geeignete noch eine angemessene Strafe.

Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Ansicht in der Minderheit bin. Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, Norton – seine Menschlichkeit, seine Intelligenz, seine Außergewöhnlichkeit – Freunden, Kollegen und Reportern (sowie Richtern, Geschworenen und Anwälten) begreiflich zu machen. Tatsächlich wurde ich in den vergangenen sechzehn Monaten oft mit der Heimtücke Nortons früherer Freunde konfrontiert, damit, wie rasch sie einen Mann vergessen und aufgegeben haben, den sie angeblich liebten und respektierten. Einige dieser Freunde – Menschen, mit denen Norton seit Jahrzehnten bekannt gewesen ist und zusammengearbeitet hat – verschwanden von der Bildfläche, sobald die Vorwürfe aufkamen. Aber noch schlimmer sind diejenigen, die ihn nach dem Schuldspruch verlassen haben. Das hat mir ins Bewusstsein gerufen, wie treulos und heuchlerisch die meisten Menschen sind.

Doch ich schweife ab. Eine der größten Herausforderungen seiner Gefangenschaft bestand für Norton darin, die große Monotonie zu bekämpfen, die seine Lebensumstände zwangsläufig bestimmt. Ich war zugegebenermaßen etwas überrascht, als er sich nach nicht einmal einem Monat über die lähmende Langeweile zu beschweren begann. Es war stets einer der sehnlichsten Träume von Norton – und, wie ich glaube, von vielen brillanten und überanstrengten Männern – gewesen, einmal einen Monat oder ein Jahr ohne jegliche Verpflichtungen an einem warmen Ort verbringen zu können. Keine Reden zu halten, keine Artikel zu redigieren oder zu schreiben, keine Studenten anzuweisen, keine Kinder zu umsorgen, keine Forschungen zu betreiben; nur eine leere Ebene aus freier Zeit, die er füllen könnte, womit er wollte. Norton hatte immer von der Zeit als einem Meer gesprochen, einer spiegelgleichen, endlos weiten Leere, und tatsächlich wurde dieser Traum – »Meerzeit« nannte er es – zu einer Art Witz, einem Kürzel für Dinge, mit denen er sich eines Tages zu beschäftigen hoffte, für die er aber im Augenblick keine Zeit fand. Und so leistete er Schwüre: In der Meerzeit würde er Tropengräser züchten. In der Meerzeit würde er seine Memoiren schreiben. Niemand, am allerwenigsten Norton selbst, glaubte daran, dass er jemals wirklich Meerzeit haben würde, aber jetzt hat er sie natürlich, nur ohne den warmen Ort und die angenehme, träge Erstarrung, die man mit mühsam verdientem Nichtstun verbindet. Doch unglücklicherweise hat es nun den Anschein, als wäre Norton einfach nicht für den Müßiggang geschaffen; tatsächlich ist es ein quälender Zustand für ihn (wobei ich natürlich einräumen muss, dass das zum großen Teil den unglücklichen Umständen geschuldet sein könnte, unter denen ihm dieser Müßiggang gewährt wurde). Kürzlich schrieb er mir in einem Brief:

 

Es gibt hier wenig zu tun und von einem gewissen Punkt an noch weniger zu denken. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich je in einem solchen Zustand befinden könnte, so erschöpft, dass ich mich fühle wie nach einem Aderlass, bei dem ich kein Blut, sondern meine Gedanken verloren habe. Langeweile – ich dachte eigentlich immer, ich wüsste eine Zeit permanenter Leere zu schätzen und mit Leichtigkeit auszufüllen. Aber ich musste feststellen, dass es uns nicht gegeben ist, Zeit in solch dicken, leeren Brocken zu füllen: Wir sprechen davon, die Zeit zu verwalten, aber eigentlich ist es andersherum – unser Leben ist so sehr mit Geschäftigkeit angefüllt, weil wir nur diese dünnen Zeitspalten wirklich bewältigen können.2

 

Das scheint mir eine weise Erkenntnis zu sein.

Doch der offensichtlichen Härte von Nortons derzeitigen Umständen ungeachtet, besitzen manche die Unverfrorenheit zu sagen, er solle dankbar für das sein, was sie als Milde seiner gegenwärtigen Situation betrachten; ein Kommentar, der mir nicht nur stumpfsinnig, sondern auch grausam erscheint. Einer von ihnen ist ein gewisser Herbert West (den Namen habe ich widerwillig geändert), der Anfang der 1980er-Jahre ebenfalls für Norton tätig war und ihn später auf dem Weg zu einer Londoner Konferenz in Bethesda besuchte. Das war vor der Gerichtsverhandlung, aber nach der Anklageerhebung, als Norton quasi unter Hausarrest stand und der Obhut für seine sämtlichen Kinder enthoben war. West, den ich immer für erträglicher als Nortons vorherige wissenschaftliche Mitarbeiter gehalten hatte, blieb etwa eine Stunde bei Norton und fragte mich dann, ob ich mit ihm essen gehen wolle. Ich hatte eigentlich keine große Lust (und fand es schrecklich unhöflich von ihm, mich im Beisein von Norton einzuladen, der das Haus schließlich nicht verlassen durfte), aber Norton sagte, ich solle ruhig gehen, er wolle ohnehin noch ungestört an etwas arbeiten.

Ich musste also mit West zu Abend essen, und auch wenn es mir schwerfiel, nicht an Norton zu denken, der allein zu Hause saß, entspann sich ein überraschend angenehmes Gespräch über Wests Arbeit und einen Vortrag, den er auf der Konferenz halten wollte, über einen Artikel, den Norton und ich vor seiner Verhaftung im New England Journal of Medicine veröffentlicht hatten, und über einige gemeinsame Bekannte, bis West, gerade als das Dessert serviert wurde, sagte: »Norton ist ganz schön alt geworden.«

Ich sagte: »Er ist in einer fürchterlichen Lage.«

»Ja, fürchterlich«, murmelte West.

»Es ist ausgesprochen ungerecht«, sagte ich.

West sagte nichts.

»Ausgesprochen ungerecht«, wiederholte ich, um ihm eine weitere Gelegenheit zu geben.

West seufzte und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab, eine nicht nur gekünstelte und effeminierte, sondern auch auf ostentative, unausstehliche Weise anglophile Geste. (West hatte – vor Jahrzehnten und nur zwei Jahre lang – als Marshall-Stipendiat in Oxford studiert und besaß ein herausragendes Talent dafür, bei jedem gesellschaftlichen oder geschäftlichen Anlass darauf aufmerksam zu machen.) Er aß eine Blaubeerpastete, die seine Zähne mit Flecken vom dunklen Violett eines Blutergusses überzog.

»Ron«, setzte er an.

»Ja?«, sagte ich.

»Glaubst du, er hat es getan?«, fragte West.

Auf diese Frage war ich inzwischen vorbereitet. »Glaubst du das denn?«

West schaute mich lächelnd an, dann blickte er an die Decke, bevor er mich wieder ansah. »Ja«, sagte er.

Ich sagte nichts.

»Du glaubst es nicht«, sagte West mit leichter Verwunderung.

Auch darauf hatte ich eine Antwort parat. »Es kommt nicht darauf an, ob er es getan hat oder nicht«, sagte ich. »Norton ist ein Genie, und das ist alles, was in meinen Augen zählt und meiner Ansicht nach für die Geschichte zählen sollte.«

Wir schwiegen.

Schließlich sagte West verlegen: »Ich sollte bald aufbrechen. Ich habe noch einiges zu lesen, bevor ich morgen fliege.«

»Verstehe«, sagte ich. Und wir aßen schweigend unser Dessert.

Wir waren mit meinem Wagen zum Restaurant gefahren, und nachdem wir das Essen bezahlt hatten (West wollte die Rechnung übernehmen, aber ich setzte mich durch), brachte ich ihn zu seinem Hotel. Während der Fahrt unternahm er noch einige Gesprächsanläufe, die mich nur zorniger machten.

Nachdem wir auf dem Hotelparkplatz minutenlang schweigend dagesessen hatten, West erwartungsvoll, ich wütend, streckte er schließlich die Hand aus, und ich schüttelte sie.

»Na dann«, sagte West.

»Danke für den Besuch«, sagte ich knapp. »Ich weiß, dass Norton sich darüber gefreut hat.«

»Na dann«, wiederholte West. Ich wusste nicht, ob er meinen Sarkasmus zur Kenntnis genommen hatte oder nicht; ich glaubte es eher nicht. »Ich werde an ihn denken.«

Erneutes Schweigen.

»Wenn er schuldig gesprochen wird –«

»Das wird er nicht«, erklärte ich.

»Aber wenn doch«, fuhr West fort, »kommt er dann ins Gefängnis?«

»Ich kann es mir nicht vorstellen«, antwortete ich.

»Na ja, wenn doch«, beharrte West, und mir fiel wieder ein, wie abstoßend ambitioniert, wie gierig West als wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen war und wie sehr er darauf hingefiebert hatte, Nortons Labor zu verlassen und sein eigenes zu betreiben, »dann wird er zumindest jede Menge Meerzeit haben, was, Ron?« Ich war über diese Frivolität so entsetzt, dass ich nichts erwidern konnte. Während ich noch mit offenem Mund dasaß, lächelte mich West an, verabschiedete sich nochmals und stieg aus. Ich blickte ihm nach, als er die Flügeltüren des Hotels öffnete und die hell erleuchtete Eingangshalle betrat, und dann ließ ich den Motor wieder an, um zu Nortons Haus zurückzufahren, wo ich die meisten Nächte verbrachte. In den folgenden Monaten begann und endete der Gerichtsprozess, und dann begann und endete die Urteilsverkündung, aber West besuchte Norton selbstredend nie wieder.

 

*

 

Doch wie ich bereits sagte: Nein, die Menschen haben kein Verständnis für Nortons gegenwärtige Situation. Tatsächlich haben sie ihn verurteilt und verstoßen, bevor er offiziell verurteilt und verstoßen wurde, auf legale Weise, von einer angeblich ebenbürtigen Jury – wie musste es sich für einen Mann von Nortons Intellekt anfühlen, zwölf Dilettanten (wenn ich mich recht entsinne, arbeitete einer der Geschworenen in einem Mauthäuschen, ein anderer in einem Hundesalon) über seinen Charakter entscheiden und sein Schicksal bestimmen zu lassen, deren Entscheidung im Grunde jede seiner bisherigen Errungenschaften schmälerte, wenn nicht gar vollkommen bedeutungslos machte? Ist es, so betrachtet, ein Wunder, dass Norton sich niedergeschlagen, gelangweilt und geistig unangeregt fühlt?

Ich möchte auch gern einige Worte zu der Berichterstattung über Nortons Verhandlung sagen, denn es wäre wohl töricht, ihre Stoßrichtung und ihre Breite zu ignorieren. Zunächst einmal fand ich es in Anbetracht der Verbrechen, deren Norton bezichtigt wurde, nicht im Mindesten überraschend, dass die Medien Seiten über Seiten an Geschichten verschwendeten, in denen das wenige, was die Öffentlichkeit über Norton weiß, aufs Ausführlichste und mit einer schockierenden Geringschätzung der Wahrheit ausgeschmückt wird. (Zugegebenermaßen wurde in diesen Geschichten, wenn auch recht widerwillig, auf einige seiner beträchtlichen Errungenschaften eingegangen, aber nur um seine angebliche Verderbtheit noch schärfer zu konturieren.)

Ich erinnere mich, dass Norton in den Tagen, als ich damals mit ihm zusammen in seinem Haus auf seine Verhandlung wartete (draußen verbrachten einige Fernsehreporter ihre Tage damit, sich vor Nortons Garten auf dem Gehweg zu versammeln, wo sie an der sirrenden, vor Insekten strotzenden Sommerluft aßen und plauderten wie bei einem Picknick), nur in einer einzigen der zahlreichen (und natürlich vergeblichen) Interviewanfragen, die wir erhielten – leider kam diese eine ausgerechnet vom Playboy –, dazu aufgefordert wurde, selbst eine Verteidigung zu formulieren, statt dass man irgendeinen geifernden jungen Schreiberling darauf ansetzte, sein Leben und seine angeblichen Vergehen für die Leserschaft aufzubereiten. (Ich hatte das ursprünglich, ungeachtet des Mediums, für ein gutes Angebot gehalten, aber Norton fürchtete, was immer er schreibe, könnte manipuliert und als Geständnis gegen ihn verwendet werden. Natürlich hatte er recht, und damit war die Sache erledigt.) Aber ich wusste auch, dass ihn die Einsicht, nicht einmal mehr für sich selbst sprechen und sich verteidigen zu können, wütend und traurig machte.

Ironischerweise hatte Norton kurz vor seiner Verhaftung tatsächlich den Plan gefasst, seine Memoiren zu schreiben. Zu dieser Zeit – 1995 – befand er sich bereits im Vorruhestand und musste sich nicht mehr mit den verschiedenen administrativen Pflichten und Scherereien des Labors herumschlagen. Das soll nicht heißen, dass er nicht nach wie vor der lebendigste und unabkömmlichste Geist dort war – nur dass er sich inzwischen erlaubte, seine Zeit anders einzuteilen.

Aber Norton sollte nicht die Gelegenheit bekommen, sein bemerkenswertes Leben aufzuzeichnen, zumindest nicht unter den Bedingungen, die er, wie ich weiß, bevorzugt hätte. Doch wie ich immer gesagt habe, verfügt er über einen Verstand, der in der Lage ist, jedes Hindernis zu überwinden. Und so fragte ich ihn im April, zwei Monate nach Antritt seiner Haftstrafe, in meinem täglichen Brief an ihn, ob er nicht in Erwägung ziehen wolle, trotzdem seine Memoiren zu schreiben. Nicht nur würden sie, so schrieb ich, sowohl die Welt der Literatur als auch die der Wissenschaft wirklich bereichern, sondern ihm auch endlich eine Gelegenheit bieten, allen Interessierten zu beweisen, dass er nicht war, wozu ihn die Welt unbedingt hatte machen wollen. Ich erklärte, es wäre mir eine Ehre, seine Niederschrift für ihn abzutippen und, wenn er mich ließe, behutsam zu redigieren wie zuvor schon verschiedene wissenschaftliche Aufsätze, die er bei Fachzeitschriften zur Publikation eingereicht hatte. Für mich, schrieb ich, wäre es ein faszinierendes Projekt, und ihm könnte es zur Zerstreuung dienen.

Eine Woche später schickte mir Norton eine kurze Mitteilung:

 

Auch wenn ich nicht behaupten kann, die vielleicht letzten Jahre meines Lebens damit verbringen zu wollen, die Leute davon zu überzeugen, dass ich an den Verbrechen, die ich ihrem Willen nach begangen haben soll, unschuldig bin, habe ich beschlossen, mit der Erzählung der, wie Du schreibst, »Geschichte meines Lebens« zu beginnen. Ich habe … [großes] Vertrauen [in Dich].3

 

Einen Monat später hatte ich das erste Kapitel.

 

*

 

Ich sollte wohl einige Dinge vorausschicken, bevor ich den Leser einlade, Nortons außergewöhnliches Leben kennenzulernen. Schließlich ist es eine Geschichte, in deren Herz die Krankheit wohnt.

Natürlich wird Norton das alles besser erklären als ich, doch ich möchte dem Leser einige Informationen über den Mann, um den es hier geht, an die Hand geben. Er hat mir gegenüber einmal bemerkt, sein Leben habe erst wirklich begonnen, als er das Land verließ, um nach U’ivu zu gehen, wo er Entdeckungen machen sollte, die die moderne Medizin transformierten und in der Auszeichnung mit dem Nobelpreis mündeten. 1950, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, reiste er zum ersten Mal in den damals noch unbekannten mikronesischen Staat – eine Reise, die sein Leben für immer verändern und das Medizinwesen revolutionieren sollte. In U’ivu lebte er bei einem später als das Volk der Opa’ivu’eke bezeichneten isolierten Stamm auf Ivu’ivu, dem damals (zumindest unter den U’ivuanern) als die »verbotene Insel« bekannten und größten zu der geringen Landmasse gehörenden Eiland. Dort entdeckte er eine Krankheit – eine nie zuvor beschriebene, unerforschte Krankheit –, an der die eingeborene Bevölkerung litt. Die U’ivuaner waren – und sind es zu einem gewissen Grad noch immer – für ihre geringe Lebenserwartung bekannt. Doch während seines Aufenthalts auf Ivu’ivu begegnete Norton einer Gruppe von Inselbewohnern, deren Alter die normale Lebensspanne weit überstieg: um zwanzig, fünfzig oder sogar hundert Jahre. Zwei weitere Dinge machten seine Entdeckung noch bemerkenswerter: Erstens alterten die Betroffenen zwar nicht körperlich, fielen aber geistigem Niedergang anheim; und zweitens handelte es sich nicht um ein angeborenes, sondern um ein erworbenes Leiden. Nie ist der Mensch dem ewigen Leben näher gekommen als durch Nortons Entdeckung. Und doch hat sich nie eine so wundervolle Verheißung derart rasch in Luft aufgelöst: ein Geheimnis aufgedeckt, ein Geheimnis verloren, alles innerhalb eines einzigen Jahrzehnts.

 

*

 

Doch Nortons Arbeit mit den Opa’ivu’eke spiegelte richtungsweisende Veränderungen in Feldern jenseits der Medizin wider: Die nahezu zwei Jahrzehnte seines Zusammenlebens mit dem Stamm begründeten einen neuen Bereich der modernen medizinischen Anthropologie, und seine in dieser Zeit entstandenen Schriften sind heute fester Bestandteil der Lehrpläne vieler Hochschulen.

Doch U’ivu4 war auch der Ort, an dem seine Schwierigkeiten begannen. Zu den vielen Dingen, die Nortons Reisen durch U’ivu prägten, gehörte auch die Erfahrung, die seine anhaltende Liebe zu Kindern begründen sollte. Für jene Leser, die Ivu’ivu nicht kennen: Es ist eine bedrohliche Landschaft, zu gleichen Teilen schön und einschüchternd. Alles ist dort größer, reiner und beeindruckender, als man es sich vorstellen kann, und in jeder Himmelsrichtung bieten sich dem Blick atemberaubende Aussichten, eine spektakulärer als die andere: zur einen Seite eine endlose Wasserfläche, so still und so farbintensiv, dass man nicht lange darauf schauen kann; zur anderen lange, tiefe Gebirgsfältelungen, deren Gipfel in schäumendem Nebel verschwinden. Von seiner ersten Reise nach Ivu’ivu an engagierte Norton U’ivuaner, von denen er sich zu Schauplätzen und Objekten führen ließ, wie er sie noch nie gesehen hatte. Jahrzehnte später nahm er – auf ihren inständigen Wunsch hin – ihre Kinder und Enkelkinder mit nach Maryland, wo er sie wie seine eigenen aufzog und ihnen eine Erziehung ermöglichte, die ihnen auf U’ivu nie zuteilgeworden wäre. Er nahm auch viele Waisenkinder mit nach Hause, darunter Kleinkinder, die unter himmelschreienden Bedingungen ohne Aussicht auf irgendeine Besserung ihrer Umstände lebten.

Ehe er sichs versah, hatte er eine mehr als vierzig Köpfe zählende Kinderschar um sich versammelt. Viele dieser in drei insgesamt beinahe drei Jahrzehnte umspannenden Wellen adoptierten Kinder kehrten nach Mikronesien zurück, wo sie heute Ärzte, Anwälte, Professoren, Häuptlinge, Lehrer und Diplomaten sind. Andere haben sich dafür entschieden, in den USA zu bleiben, wo sie arbeiten oder studieren. Und wieder andere sind, wie ich leider berichten muss, Armut, Drogen und Kriminalität anheimgefallen. (Wer dreiundvierzig Kinder hat, kann nicht erwarten, dass alle von ihnen erfolgreich sind.) Aber sie gehören jetzt natürlich nicht mehr zu Norton. Und Norton soll nach ihrem Willen auch nicht mehr zu ihnen gehören: Wie sie sich während seiner jüngsten Notlage förmlich in Massen von ihm abgewandt haben, war nicht weniger als schockierend. Schließlich ging es hier um einen Mann, von dem sie Obdach, Sprache und Bildung erhalten haben – all die Mittel, die sie benötigten, um ihn eines Tages zu hintergehen, was sie schließlich auch getan haben. Nortons Kinder haben die Botschaft des Westens, die Botschaft Amerikas nur allzu tief verinnerlicht; irgendwo haben sie mitbekommen, dass der Vorwurf der Perversion stets wohlfeil ist, ein Vorwurf, dem nicht einmal ein Nobelpreisträger, ein hochangesehener Wissenschaftler, standhalten kann. Es ist ausgesprochen schade; ich hatte einige von ihnen in mein Herz geschlossen.

 

*

 

Zweitens sollte ich wohl erklären, dass es sich hierbei meinem offensichtlichen Interesse an diesem Bericht zum Trotz nicht um meine Geschichte handelt. Zum einen bin ich ein schweigsamer Mann. Zum anderen habe ich auch gar kein Interesse daran, meine Geschichte zu erzählen – schließlich gibt es heutzutage ohnehin zu viele Geschichten.

Dennoch möchte ich einige Worte zur Zusammenstellung und Redaktion dieser Seiten sagen. Tatsächlich waren meine herausgeberischen Aufgaben sehr überschaubar. Ich sollte auch erwähnen, dass die einzelnen Abschnitte (deren Titel von mir stammen) eigentlich jeweils eigenständige Teile sind, die ich während Nortons Gefangenschaft von ihm erhielt. Jedem Teil war ein Brief vorangestellt, aber weil diese Briefe vorrangig persönlicher Natur sind, fand ich es unangemessen, sie hier beizufügen. Da dieser Text aus ursprünglich einzelnen Teilen besteht, wird der Leser bemerken, dass er mitunter etwas Spontanes, Beiläufiges an sich hat und beim Leser eine gewisse Vertrautheit mit Leben und Werk seines Verfassers voraussetzt. Da ich derjenige bin, der Norton am besten kennt (und da das Buch letztlich für mich geschrieben wurde, auf meinen Wunsch hin), fühlte ich mich angehalten, Fußnoten einzufügen, wo ich solche zusätzlichen Informationen für ein besseres Verständnis von Nortons Text hilfreich fand. (Gelegentlich sollen meine Anmerkungen auch der Ergänzung von Nortons Aufzeichnungen dienen. Darüber hinaus habe ich – behutsam – Kürzungen an Passagen vorgenommen, welche die Erzählung meinem Empfinden nach nicht bereicherten oder in anderer Hinsicht ohne besondere Relevanz waren; Streichungen dieser Art werden dem Gesamtporträt, das Norton hier von sich selbst gezeichnet hat, nicht abträglich sein.)

Und schließlich halte ich es nur für angebracht, auf eine Frage einzugehen, die Norton im Begleitbrief zu seinem ersten Textteil aufgebracht hat: die Frage danach, was ich mir von diesem Projekt erhoffe. Die Antwort ist nicht kompliziert: Ich möchte nicht weniger als Nortons Ruf wiederherstellen, ich möchte die Welt daran erinnern, dass die Zeit vor den letzten beiden Jahren unvorstellbar viel wichtiger ist als das, was im Laufe einiger kurzer Monate geschehen oder auch nicht geschehen sein mag. Vielleicht ist das naiv von mir. Aber ich muss es versuchen: Weniger als das für einen Mann zu tun, welcher der Welt der Wissenschaft und der Medizin so viel gegeben hat, wäre, in einem Wort, unverzeihlich.

 

Ronald Kubodera

Palo Alto, Kalifornien

 

 

Die Erinnerungen des A. Norton Perina

 

HERAUSGEGEBEN VON RONALD KUBODERA, M.D.