Amy liebt Bücher und das Lesen. Doch dann wird ihr Lieblingsbuch aus der Schulbibliothek verbannt — angeblich ist es ungeeignet für Grundschüler, respektlos und unmoralisch. Die sonst so zurückhaltende Amy ist empört: Es ist ein ganz tolles Buch! Und jeder sollte es ausleihen und lesen können! Als immer mehr Bücher aus den Regalen verschwinden, eröffnet Amy kurzerhand die G.S.B., die Geheime Schließfach-Bibliothek. Hier können ihre Mitschüler alle verbannten Bücher heimlich ausleihen. Schon bald boomt Amys Bibliothek, und gemeinsam schmieden die Kinder einen Plan, um sich gegen die Bücherverbannung zur Wehr zu setzen. Denn niemand soll ihnen vorschreiben, welche Bücher sie lesen dürfen!
Alan Gratz
Amy und die geheime Bibliothek
Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel
Carl Hanser Verlag
Für alle Bibliothekarinnen und Bibliothekare dieser Welt
Alles begann an dem Tag, an dem mein Lieblingsbuch aus der Schulbibliothek verschwand.
Noch wusste ich nicht, dass es verschwunden war. In meiner Vorstellung stand es wie immer im Regal — ganz allein, so wie ein Kind, das in der Cafeteria sitzt und darauf wartet, von seiner einzig wahren Freundin gefunden zu werden. Von mir gefunden zu werden. Am liebsten wäre ich sofort in die Bibliothek gerannt, um es noch vor der ersten Stunde auszuleihen, doch Rebecca, meine einzig wahre Freundin im wirklichen Leben, redete noch immer davon, unsere Namen als Marken schützen zu lassen.
»Hast du schon mal daran gedacht, dir die Homepage AmyAnneOllinger.com sichern zu lassen?«, fragte sie mich.
Nein, Rebecca, ich habe noch nie darüber nachgedacht, mir AmyAnneOllinger.com sichern zu lassen. Ich bin neun Jahre alt, warum sollte ich mir also Gedanken darüber machen, eine Webseite mit meinem Namen anzumelden, wenn meine Eltern mir noch nicht mal erlauben, Facebook zu benutzen?
Doch das dachte ich bloß, in Wirklichkeit antwortete ich: »Nein.«
»Das solltest du aber«, erklärte mir Rebecca. »Du hast einen einzigartigen Namen, aber trotzdem könnte ihn jemand anderes registrieren lassen. Und dann? Was würdest du dann tun? Stell dir vor: RebeccaZimmerman.com ist längst vergeben! Ich bin erst zehn Jahre alt, und mein zukünftiges geistiges Eigentum wurde mir schon vor der Nase weggeschnappt! Jay Z und Beyoncé haben den Namen ihres ersten Kindes bereits kurz nach der Geburt schützen lassen. Man sollte meinen, meine Eltern wären klug genug gewesen, das Gleiche zu tun.«
Rebeccas Eltern waren beide Rechtsanwälte, und auch Rebecca wollte eines Tages Anwältin werden. Ich konnte mir keinen langweiligeren Job vorstellen. Also sagte ich einfach nur: »Ja.«
Meine Beine kribbelten, weil ich so schnell wie möglich in die Bibliothek laufen und mein Lieblingsbuch ausleihen wollte. Ich öffnete mein Schließfach, um meinen Rucksack darin zu verstauen, und warf einen kurzen Blick in meinen Briefkasten.
Niemand weiß, wie es genau dazu gekommen ist, aber in jedem Spind der Shelbourne-Grundschule klebt ein kleiner Pappkarton an der Innenseite der Tür, direkt unterhalb der Lüftungsschlitze, die eingebaut wurden für den Fall, dass man mal von irgendeinem Fiesling eingesperrt wurde. Wenn man jemandem eine Nachricht hinterlassen möchte, schiebt man einfach einen Zettel durch einen der Schlitze, und er landet direkt in dem Karton. Das ist inzwischen so sehr zur Tradition geworden, dass unser Hausmeister Mr Crutchfield die kleinen Briefkästen von Schuljahr zu Schuljahr einfach in den Schließfächern hängen lässt.
Wie gewöhnlich war mein Briefkasten leer, was ich auch nicht anders erwartet hatte. Meine einzig wahre Freundin hält nämlich nichts von Nachrichten in schriftlicher Form. »Hinterlasse niemals Spuren auf Papier«, sagte Rebecca immer. Ein weiterer Rat ihrer Rechtsanwalt-Eltern.
»Hast du gehört, was diesem Schauspieler, Morgan Freeman, passiert ist?«, fragte sie mich. »Ein Unbekannter hat sich MorganFreeman.com gesichert, sodass der echte Morgan Freeman klagen musste, um seinen Namen zurückzubekommen! Was übrigens ein sehr interessanter Fall ist, da —«
Ich kann mir nichts Uninteressanteres vorstellen, Rebecca! Ich interessiere mich nicht die Bohne für Markennamen oder das Registrieren von irgendwelchen Webseiten. Ich muss mein Lieblingsbuch ausleihen, bevor es jemand anderes tut!
Das wollte ich zu ihr sagen, doch stattdessen hielt ich einen Stapel Bücher wie einen Schutzschild vor mich und erklärte: »Ich muss die hier noch vor dem Unterricht in die Bibliothek zurückbringen!« Dann drehte ich mich um und eilte davon, ehe Rebecca mir noch mehr über den Fall erzählen konnte. »Wir sehen uns in der Klasse!«, rief ich ihr zu.
Normalerweise hätte ich mein Lieblingsbuch schon längst ausgeliehen und sicher in meinem Rucksack verstaut, doch unsere Bibliothekarin, Mrs Jones, hatte eine Regel aufgestellt, nach der man ein Buch nur zweimal hintereinander ausleihen durfte, danach musste es ganze fünf Schultage lang im Regal stehen, bevor man es wieder mitnehmen durfte. Sie sagte, die Regel wäre dazu da, dass auch andere Kinder die Gelegenheit hatten, das Buch zu lesen. Doch ich glaube, in Wahrheit hatte sie sich das nur ausgedacht, um mich dazu zu bringen, auch andere Bücher zu lesen, was ich aber sowieso tat.
Ich ließ die Bücher von gestern in die Rückgabekiste plumpsen und winkte Mrs Jones auf dem Weg in die Kinderbuch-Ecke zu.
»Amy«, rief sie. »Warte, Liebes —«
»Ich hole nur kurz mein Buch«, rief ich zurück. Ich bog in die mit H-N beschriftete Regalreihe ein und eilte zu der Stelle, wo mein Lieblingsbuch auf mich warten würde.
Aber es war nicht da.
Ich schaute noch einmal hin.
Es war noch immer nicht da.
Ich warf einen Blick hinter die anderen Bücher im Regal, für den Fall, dass jemand es versehentlich zu weit nach hinten geschoben hatte und es irgendwo versteckt stand. Aber nein. Es war wirklich nicht da. Aber mein Lieblingsbuch war doch immer da! Konnte es tatsächlich von jemand anderem ausgeliehen worden sein?
Gerade wollte ich mich auf den Weg zu Mrs Jones machen, um sie zu fragen, da tauchte sie in der Regalreihe auf und kam auf mich zu.
Mrs Jones war eine kräftige hellhäutige Frau mit kurzen braunen Haaren und einer mit Glitzersteinen besetzten Brille, die an einer Kette um ihren Hals hing, wenn sie nicht las. Heute trug sie ein rotes Kleid mit weißen Tupfen. Tupfen sind absolut ihr Ding.
»Wo ist mein Buch?«, fragte ich.
»Das wollte ich dir eben schon sagen, Liebes«, antwortete Mrs Jones. »Ich wusste ja, du würdest gleich heute Morgen deswegen kommen.«
»Die fünf Tage sind vorbei«, erklärte ich ihr. »Ich hab’s in meinem Kalender notiert. Ich darf das Buch nach fünf Tagen wieder ausleihen, das haben Sie gesagt. Hat jemand … Hat es jemand anderes ausgeliehen?«
»Nein, Amy, ich musste es aus dem Regal nehmen.«
Ich schaute sie entgeistert an. Aus dem Regal nehmen? Was meinte sie mit aus dem Regal nehmen?
»Warum?«
Mrs Jones seufzte und knetete ihre Hände. Sie sah aus, als wollte sie mir mitteilen, dass meine Hunde gestorben waren. »Weil einige Eltern sich zusammengeschlossen haben und der Meinung sind, das Buch wäre für eine Grundschule ungeeignet. Der Schulausschuss hat ihnen zugestimmt.«
»Was ist ein Schulausschuss?«, wollte ich wissen.
»Das ist eine Versammlung von Leuten, die sich mit Fragen rund um die Schule beschäftigen«, erklärte mir Mrs Jones.
»Und ungeeignet? Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, ich darf es dir nicht ausleihen, Liebes, und auch sonst niemandem. So lange, bis ich beim Schulausschuss vorgesprochen und dafür gesorgt habe, dass dieser Unsinn rückgängig gemacht wird. Das bedeutet, Amy: Dein Lieblingsbuch wurde aus der Schulbibliothek verbannt.«
Ich fühlte mich, als würde sich der Teppich unter meinen Füßen in Treibsand verwandeln. Und ich sank ziemlich schnell. Ich hielt mich an den Bücherregalen fest, um nicht umzukippen. »Aber … das Buch ist nicht ungeeignet! Es ist sehr geeignet! Es ist ein tolles Buch! Es ist mein Lieblingsbuch!«
»Ich weiß, Liebes. Ich bin deiner Meinung. Niemand außer deinen Eltern hat das Recht zu entscheiden, welche Bücher du lesen oder nicht lesen darfst. Ich verspreche dir, ich werde dagegen vorgehen. Aber in der Zwischenzeit muss ich mich daran halten, was der Schulausschuss entschieden hat, sonst kann ich meinen Job verlieren.«
Ich konnte nur nicken. Mir war nach Weinen zumute, was dumm war. Es fühlte sich an, als wäre jemand in mein Zimmer gekommen und hätte, ohne zu fragen, alle meine Sachen mitgenommen. Was sogar noch dümmer war, denn das Buch war ja ein Bibliotheksbuch. Bibliotheksbücher gehören allen.
»Du kannst dabei helfen, dass wir es zurückbekommen, Amy«, sagte Mrs Jones.
Ich wischte eine Träne von meiner Wange. »Wie denn?«
»Am Donnerstagabend tagt der Schulausschuss wieder, und ich werde dort hingehen und ihnen sagen, wie sehr sie im Unrecht sind. Und es wäre sogar noch besser, wenn sie das von dir hören würden.«
Meine Augen wurden riesig. »Von mir?«
»Von dir zu hören, warum du das Buch so magst, würde sehr viel ausmachen.«
Ich schluckte kräftig. Sind Sie verrückt, Mrs Jones? Ich soll mich vor einen Haufen Erwachsener stellen und erklären, warum das Buch mein Lieblingsbuch ist? Das kann ich nicht machen!
Das wollte ich eigentlich sagen, doch stattdessen sagte ich: »Okay.«
Der Schulbus setzte mich in unserer Nachbarschaft ab, und ich schaute die Straße hinunter zu unserem gelben Haus. Dort befanden sich jetzt gerade Ding 1 und Ding 2, meine beiden nervigen kleinen Schwestern. Ich schloss die Augen und schauderte bei dem Gedanken, auch nur eine weitere Minute mit ihnen verbringen zu müssen. Du hast sie noch nicht kennengelernt, aber glaube mir: Wenn es eine Auszeichnung für die schrecklichsten Geschwister des Jahrhunderts gäbe, stünden Alexis und Angelina ganz oben auf der Liste. Sie sind nämlich noch schlimmer als Ginny Weasley, die Heffley-Brüder und Edmund Pevensie — und dabei hat Edmund Pevensie seine Geschwister quasi für einen Teller voll Süßigkeiten an die weiße Hexe verraten.
Hin und wieder dachte ich deswegen sogar darüber nach, von zu Hause wegzulaufen, so wie die Hauptfigur in meinem Lieblingsbuch.
Hab ich dir schon erzählt, welches Buch es ist? Das Buch, das aus unserer Schulbibliothek verbannt wurde? Für das ich vor dem Schulausschuss vorsprechen würde? Laut vorsprechen? Vor ganz vielen Leuten? Das Buch hieß Gilly Hopkins — Eine wie keine und ist von Katherine Paterson. Ich mochte auch viele andere Bücher, zum Beispiel Insel der blauen Delfine, Allein in der Wildnis, Robinson Crusoe, Im Zeichen des Bibers und Julie von den Wölfen. Im Grunde mochte ich alle Geschichten, in denen die Hauptfigur allein leben darf. Das Buch Indianerwinter gefiel mir auch ziemlich gut, obwohl die Hauptfiguren Geschwister sind und ohne Eltern in der eisigen Wildnis Alaskas überleben müssen. Ich jedenfalls würde lieber mit einem großen Bruder in Alaska im Schnee wohnen als mit meinen zwei doofen kleinen Schwestern bei uns zu Hause.
Ich wandte mich von unserem Haus ab und blickte die Straße entlang, die aus unserem Viertel hinaus auf die Hauptstraße führte. Papa Taco, unser mexikanisches Lieblingsrestaurant, lag nur fünfzehn Minuten mit dem Auto von hier entfernt. Ich könnte dorthin weglaufen. Wie lange ich wohl zu Fuß für den Weg bräuchte? Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn ich es schaffen würde, was sollte ich dort tun?
In dem Buch Gilly Hopkins — Eine wie keine kommt Gilly in eine neue Pflegefamilie, die sie zuerst überhaupt nicht leiden kann. Sie läuft von dort weg und versucht, mit dem Bus zu ihrer richtigen Mutter nach San Francisco zu fahren, aber sie wird schon am Busbahnhof geschnappt, bevor sie überhaupt losgefahren ist. Ich wüsste nicht, in welche Stadt ich fahren sollte, aber ich könnte mich bei Papa Taco verstecken, bis sie schließen. Doch dann würde ich die ganze Nacht in einem mexikanischen Restaurant festsitzen. Wenn ich doch nur irgendwie zur Bibliothek kommen könnte …
Meine Tagträume vom Weglaufen wurden schlagartig beendet, als das Auto meiner Mom in die Straße einbog. Ich wartete, bis sie neben mir anhielt und das Fenster herunterließ.
»Na, meine Große! Denkst du ans Weglaufen?«
Klar denke ich ans Weglaufen. Jeden Tag stehe ich hier und denke darüber nach, wie ich Klamotten zum Wechseln und mein gesamtes Geld — was nicht wirklich viel ist, weil ihr mir nicht genug Taschengeld gebt — in meinen Rucksack packen könnte, um dann den Bus zum Einkaufszentrum zu nehmen und dort in den Kaufhausbetten zu schlafen.
Das wollte ich antworten, aber natürlich sagte ich es nicht, sondern einfach nur: »Nein.«
Mom hatte hellere Haut als ich, ihre Haare waren kraus, und auf ihren Wangen bildeten sich tiefe Grübchen, wenn sie lächelte, so wie jetzt. »Spring rein!«, sagte sie. Auf dem dreißig Sekunden langen Weg zu unserer Einfahrt erkundigte sie sich: »Wie war die Schule?«
Am liebsten hätte ich gesagt: Fürchterlich! Mein Lieblingsbuch wurde verbannt, und Mrs Jones will, dass ich mit zum Schulausschuss komme und über das Buch spreche. Und ich hab Ja gesagt, dabei hab ich gar keine Ahnung, wie ich das überhaupt schaffen soll!
Doch ich antwortete nur: »Ganz gut.«
»Nimm deine Zöpfe nicht ständig in den Mund«, ermahnte mich Mom zum millionsten Mal.
Mein ganzer Kopf ist mit Zöpfen bedeckt, und manche Zopfenden sind mit kleinen Perlen geschmückt. Wenn ich nervös werde, lutsche ich daran. Was ziemlich oft passiert.
Mom parkte ihr Auto neben Dads Lieferwagen. Ich stieg aus und blieb neben dem Auto stehen. So groß war mein Widerwille, ins Haus zu gehen.
»Na komm«, ermutigte mich Mom. »So schlimm ist’s nicht.«
Oh doch, ist es, dachte ich, aber ich sagte es nicht.
Unsere beiden riesigen Rottweiler, Mogli und Balu, begrüßten uns an der Tür und leckten mir über das Gesicht. Sie waren so groß, dass sie mir bis zu den Schultern reichten, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellten.
»Aus! Aus!«, rief ich und versuchte, sie zu streicheln — auf diese Weise sagte ich ihnen Hallo. Sie bellten, wedelten mit dem Schwanz und liefen vor unseren Füßen hin und her, sodass ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte. Als sich meine Mutter schließlich wie ein Eisbrecher einen Weg an den Hunden vorbei in die Küche bahnte, folgte ich ihr.
Mein Dad war am Herd damit beschäftigt, in zwei Töpfen zu rühren, etwas im Ofen zu backen und einen Salat vorzubereiten. Er war groß und dünn, seine Haut war so dunkel wie meine und seine Arme muskulös, weil er den ganzen Tag Steine verlegte. Er hatte seine Opernmusik wieder einmal laut aufgedreht, und eine italienische Dame sang, als hätte sie jemand an den Schultern gepackt und würde sie ordentlich durchschütteln.
»In fünfzehn Minuten gibt’s Spaghetti«, kündigte er an. Dann rief er: »Alexis! Komm und deck den Tisch!« An uns gewandt, fügte er hinzu: »Ich hab sie schon dreimal gebeten.«
»Ich kann nicht!«, ertönte Alexis’ Antwort aus unserem Zimmer am Ende des Flurs. »Ich zieh mich fürs Ballett um!«
»Kannst du es dann übernehmen, Amy?«, bat Dad mich.
Nein. Alexis hat immer irgendeine Entschuldigung, um nicht zu tun, was sie tun soll. Lass sie es machen, wollte ich sagen. Doch aus Erfahrung wusste ich, dass es nichts nützte zu diskutieren. Es hatte noch nie etwas genützt. Für alle Beteiligten war es einfacher, wenn ich ohne Widerworte tat, was man mir sagte.
Also ließ ich meinen Rucksack auf den Boden fallen und ging zum Küchenschrank, um die Teller zu holen. Mom verschwand am Ende des Flurs, um sich umzuziehen.
»Wie war dein Schachklub?«, wollte Dad wissen.
Ich zuckte leicht zusammen. Ich nahm jeden Tag den späten Schulbus nach Hause, weil ich meinen Eltern erzählt hatte, ich würde wegen verschiedener Klubs länger in der Schule bleiben. Doch in Wirklichkeit war ich weder im Schachklub noch im Anime- oder Roboterklub. Ich war in gar keinem Klub. Stattdessen saß ich in meiner Lieblingsecke in der Bibliothek und las Bücher. Das war meine einzige Chance auf ein bisschen Ruhe und Zeit für mich.
»Ganz gut«, schwindelte ich.
Angelina, meine jüngste Schwester, kam auf allen vieren in die Küche galoppiert. Sie war eine pummelige Fünfjährige mit Moms Grübchen und Dads dunklerer Haut. Ihre Haare waren am Hinterkopf zu einem krausen Pferdeschwanz zusammengebunden. Angelina hatte sich entschlossen, eines Tages ein Pony zu werden, weshalb sie seit Wochen jeden Tag dafür übte. Sie machte mit der Zunge das Geräusch von Hufgetrappel nach und stupste mich mit dem Kopf an.
»Hallo, Angelina«, begrüßte ich sie.
»Regenbogenfunke!«, korrigierte sie mich.
Regenbogenfunke war ihr Ponyname. Und ich würde sie ganz bestimmt nicht Regenbogenfunke nennen.
Weil die Hunde dachten, Angelina wollte mit ihnen spielen, fingen sie an zu bellen und ausgerechnet dort herumzuhüpfen, wo ich gerade langgehen wollte. Ich musste die Teller hochhalten, um sie nicht fallen zu lassen, während ich an den beiden vorbeibalancierte.
Angelina und die Hunde gerieten zwischen Dads Füße, weshalb er mit verärgertem Blick einen Schritt vom Ofen wegging. »So, alle Ponys und Hunde gehen jetzt raus aus der Küche, solange ich Essen mache«, sagte er. »Amy, kannst du dich darum kümmern?«
Warum soll ich mich darum kümmern? Ich bin nicht diejenige, die auf dem Küchenboden rumkrabbelt und die Hunde verrückt macht!
Das wollte ich sagen, aber natürlich sagte ich es nicht, sondern holte das Buch Hanni und Nanni sind immer dagegen aus meinem Rucksack, führte Angelina an ihrer unsichtbaren Leine in den Flur und rief Mogli und Balu zu mir in das Zimmer, das ich mir mit Alexis teilte.
Alexis’ Kleider lagen über den ganzen Boden verteilt — sogar auf meiner Seite des Zimmers —, während sie sich an meinem Bettpfosten festhielt und in ihrem rosa Tutu Ballettübungen machte. Alexis war die mittlere von uns drei Schwestern. Ihre Hautfarbe war eine hübsche Mischung aus Moms hellem und Dads dunklem Braun. Ihre Haare waren kurz und geglättet und mit rosafarbenen Strähnen durchzogen. Aus ihrem CD-Player dröhnte irgendein Popsong.
Ich trat ihre Kleider mit dem Fuß über die unsichtbare Linie, die unsere beiden Zimmerseiten voneinander trennte. »Benutz dein eigenes Bett!«, sagte ich ihr zum tausendsten Mal.
»Geht nicht!«, erwiderte sie ebenfalls zum tausendsten Mal. »Dein Bettpfosten hat genau die gleiche Höhe wie die Ballettstange!«
»Pech für dich«, gab ich zurück, doch sie ließ nicht los. Ich schlug auf die Auswurftaste ihres CD-Players, schnappte mir die CD und sprang auf mein Bett.
Alexis kletterte hinter mir her und reckte sich nach der CD. »Mom! Mom! Amy hat mir schon wieder meine Musik weggenommen!«, schrie sie.
»Das hier ist auch mein Zimmer, und ich will lesen!«, stellte ich klar.
»Amy Anne!«, rief Mom. »Gib deiner Schwester ihre CD wieder!«
Warum? Das Zimmer gehört auch zur Hälfte mir, wollte ich sagen. Ich will nicht Taylor Swift hören, während ich lese! Doch ich wusste, das würde nichts nützen. Alexis durfte Ballett üben, wann immer sie wollte. Ich warf die CD wie eine Frisbeescheibe auf ihr Bett, und Alexis sprang hinterher.
Ich rief die Hunde, und sie tappten hinter mir her, als ich wütend in den Flur hinausstapfte.
Mom hatte sich umgezogen und war gerade auf dem Weg in die Küche, da klingelte ihr Handy.
»Geh nicht dran!«, rief Dad.
Mom nahm das Telefon aus der Tasche und schaute auf das Display. »Es ist das Büro.«
»Dann geh auf gar keinen Fall dran!«, sagte Dad.
Mom ging dran. »Hallo? Ja? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Die ganze Präsentation neu machen? Wirklich? Bis morgen Abend? Aber sie ist erst fällig am —. Nein, ich bin schon zu Hause. Meine Familie und ich wollen gleich zu Abend essen und —«, sie hielt ihre Hand über das Mikrofon und rief meinem Dad zu: »Jamal, kannst du bitte die Musik leiser drehen?«
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht drangehen!«, antwortete Dad und drehte die verrückte Opernsängerin nicht leiser.
Mogli und Balu versuchten, in die Küche zu laufen, um sich dort etwas zu essen zu stibitzen. Also zerrte ich sie hinter mir her ins Wohnzimmer. Doch auch hier konnte ich mich nicht verkriechen. Angelina hatte sich aus den Sofakissen einen Stall gebaut und mithilfe von Moms Reißwolf Papier in Streifen geschnitten, das sie als Heu benutzte. Diesmal hatte sie sogar etwas gefunden, womit sie sich einen Zaun bauen konnte.
»Meine Bücher!«, schrie ich auf. Die wenigen Bücher, die ich besaß, standen alle aneinandergelehnt in einem Halbkreis um ihren Stall herum, sodass sich die Buchrücken verbogen. Als ich anfing, sie wieder einzusammeln, begann Angelina zu quengeln.
»Nein! Nein! Die brauch ich! Ich brauch die!« Sie versuchte, mir die Bücher aus der Hand zu reißen. »Du benutzt sie doch gar nicht!«
»Tja, und du benutzt dein Zimmer nicht«, gab ich zurück. »Wie wäre es, wenn ich einfach in dein Zimmer gehe, um zu lesen?«
Alexis und ich teilten uns ein Zimmer, weil Mom und Dad vor fünf Jahren beschlossen hatten, dass es bei uns noch nicht verrückt genug zuging und sie noch ein weiteres Kind brauchten. Da Angelina das Baby war und andere Schlafenszeiten hatte, bekam sie ein eigenes Zimmer. Ich würde mich freuen, jeden Tag um acht ins Bett zu gehen und zu lesen, wenn ich dafür mein eigenes Zimmer hätte. Doch mir war klar, dass sich Alexis und Angelina auf keinen Fall ein Zimmer teilen würden.
Mit meinen Händen voller Bücher marschierte ich zu Angelinas Zimmer.
»Nein! Nein! Das ist mein Zimmer! Du darfst da nicht rein!«, protestierte sie.
Mom steckte ihren Kopf durch die Tür. »Mädchen, bitte! Ich telefoniere mit dem Büro.«
Angelina umklammerte mein Bein. »Amy hat mir meinen Zaun weggenommen, und jetzt geht sie in mein Zimmer!«
»Amy Anne, benimm dich bitte deinem Alter entsprechend«, schimpfte Mom.
»Aber —«
Mom warf mir einen warnenden Blick zu. »Bring das hier in Ordnung!«, befahl sie und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Telefonat.
Ich sollte also Alexis ihre CD zurückgeben, aber Angelina durfte meine Bücher behalten? Wie fair war das denn, bitte? Und Mom verstand nicht, warum ich von zu Hause weglaufen wollte?
Ich wandte mich von Angelinas Zimmer ab und drückte ihr die Bücher wieder in die Hand. »Hier. Wenn du auch nur eine Seite oder einen Einband zerknickst, bist du ein totes Pferdchen, kapiert?«
»Pony!«, korrigierte mich Angelina und baute aus den Büchern einen neuen Zaun.
»Amy?«, rief Dad. »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst die Hunde aus der Küche fernhalten! Sie lecken schon wieder den Boden ab!«
Ich ließ meine Schultern hängen. Die Hunde waren mir entwischt, als ich mich mit Angelina gestritten hatte. »Mogli! Balu! Hierher!«, rief ich.
Im Flur hielt sich Mom das freie Ohr zu und machte ein verärgertes Gesicht. »Entschuldigung, könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«
Ich nahm die Hunde mit ins Badezimmer und schloss die Tür. Das war der einzige Ort, der mir noch blieb, um ein bisschen Ruhe vor den anderen zu haben. Mit einem Seufzer setzte ich mich auf den geschlossenen Klodeckel, zog Mogli und Balu zu mir heran und umarmte sie. Sie waren die Einzigen, die mir überhaupt zuhörten, bei allen anderen hatte ich es längst aufgegeben.
»Ihr habt nicht zufällig einen magischen Kaninchenbau entdeckt, in den ich reinfallen könnte? Oder ein verzaubertes Amulett im Garten ausgegraben, das in eine andere Welt führt?«
Mogli und Balu leckten mir über das Gesicht und wedelten mit ihren Stummelschwänzen, was ich als ein Nein deutete.
»Wenigstens können wir uns hier bis zum Abendessen verstecken.«
In dem Moment rüttelte jemand an der Tür. »Mom! Mom!«, schrie Alexis. »Amy blockiert das Badezimmer, und ich muss Pipi!«
Beim Abendessen wickelte Alexis ihre Spaghetti um die Gabel, sodass sie aussah wie eine Ballerina, und ließ sie elegant durch die Soße tanzen. Angelina wieherte und aß ohne Hände.
Ich beschloss, mich nach dem Essen an den Computer zu setzen und herauszufinden, wie lange ich zu Fuß gehen müsste, um in die Stadtbibliothek zu kommen.
»Wegen dieser Präsentation werde ich die ganze Woche länger arbeiten müssen«, beklagte sich Mom. »Du müsstest Angie von Mrs Taggert abholen«, bat sie Dad.
»Das geht jeden Tag außer am Donnerstag«, antwortete er. »Da hab ich diesen Termin im Norden der Stadt, weil dort ein Haus neu gemauert werden muss. Ich müsste es aber schaffen, Alexis zum Ballett zu bringen.«
Mom seufzte. »Dann muss ich eben jemanden finden, der für mich einspringt. Sonst noch was?«
»Ich möchte am Donnerstag zum Schulausschuss-Treffen«, wollte ich sagen, und diesmal sagte ich es tatsächlich auch.
Mom und Dad schauten mich überrascht an.
»Zum Schulausschuss?«, fragte Dad. »Möchtest du für ein Amt kandidieren, Kleines?«
»Nein«, antwortete ich. »Ich will einfach nur hingehen.«
»Der Donnerstag ist sehr hektisch, Schätzchen«, erklärte mir Mom. »Dein Dad hat seinen Termin, Alexis hat Ballett, Angelina ist nachmittags zum Spielen verabredet, ich muss eine wichtige Präsentation für die Arbeit nächste Woche vorbereiten —«
»Aber sie haben mein Lieblingsbuch verbannt!«, platzte es aus mir heraus.
»Wer?«, fragte Dad.
»Der Schulausschuss!«
»Warum?«, wollte Mom wissen. »Ist das ein Buch, das du gar nicht erst hättest lesen sollen?«
»Nein! Es ist Gilly Hopkins — Eine wie keine. Ich hab es schon ungefähr hundertmal gelesen, aber jetzt ist es aus dem Regal verschwunden, dabei ist es mein Lieblingsbuch!«
»Du bist ja ganz außer dir deswegen«, stellte Mom fest.
Ich glaube, damit hatte sie recht. Alle am Tisch starrten mich an. Angelina hatte sogar aufgehört, Pony zu spielen.
Mom und Dad tauschten über den Tisch hinweg diese Blicke aus, mit denen sie sich manchmal unterhielten, ohne etwas laut zu sagen. Dann schlug Dad vor: »Ich denke, ich könnte Amy dort hinfahren, wenn du Angelina abholen und Alexis zum Ballett bringen könntest.«
»Beides schaffe ich nicht«, sagte Mom. »Aber wir können Mrs Mitchell fragen, ob Angelina noch mal zum Essen bleiben darf. Und vielleicht kann Alexis mit mir ins Büro kommen, bis das Ballett anfängt.«
Alexis und Angelina protestierten — Angelina fand Mrs Mitchells Essen zu scharf und Alexis Moms Büro zu kalt —, doch Mom und Dad meinten, sie würden es beide überleben, und damit war die Diskussion beendet. Ich würde tatsächlich zum Schulausschuss gehen!
Ich konnte es kaum glauben. Ausnahmsweise hatte ich ausgesprochen, was ich dachte, und daraufhin war tatsächlich etwas geschehen! Ich fühlte ein leichtes Flattern in meinem Magen, so wie bei einer Achterbahn, die nach oben fährt. Für einen Sekundenbruchteil kann man über die Spitze schauen, bevor einen die Schwerkraft packt und wieder nach unten zieht. Und man hat gleichzeitig Angst und ist wahnsinnig aufgeregt. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht, meine Hände in die Luft gestreckt und laut geschrien, aber dann wären wohl alle am Tisch endgültig ausgeflippt.
Andererseits hätte es wahrscheinlich sowieso niemand in dieser verrückten Familie bemerkt.
Der Donnerstag kam schnell, und auf einmal waren Dad und ich mit seinem Lieferwagen auf dem Weg zum Schulausschuss. Zum Schulausschuss, vor dem ich allen erzählen sollte, warum ich Gilly Hopkins — Eine wie keine so sehr mochte. Mit jedem Kilometer, den wir hinter uns brachten, bereute ich es etwas mehr, den Mund aufgemacht zu haben.
Wir betraten einen Raum im dritten Stock eines großen grauen Gebäudes in der Innenstadt. Ganz vorne stand ein halbrunder Tisch, an dem schon einige Ausschussmitglieder saßen. Gegenüber waren mehrere Reihen unbequem wirkender Stühle aufgebaut, die ein Gang in der Mitte teilte.
Vorn, zwischen Stuhlreihen und Tisch, stand ein Rednerpult, mit einem Mikrofon — das Mikrofon, in das ich gleich sprechen sollte.
Das gefaltete Blatt Papier, auf das ich meine Rede über Gilly Hopkins geschrieben hatte, knisterte in meiner Hosentasche.
In meinem ganzen Leben hatte ich nur ein einziges Mal etwas geklaut — einen Lutscher im Supermarkt, als ich vier war. Ich hatte ihn in meine Tasche gesteckt, während wir in der Schlange an der Kasse warteten. Ich war damals schon alt genug gewesen, um zu wissen, dass das falsch war. Und deshalb hatte sich der Lutscher auf dem Weg nach draußen und zum Parkplatz angefühlt, als wäre er radioaktiv. Ich hatte das Gefühl, alle könnten ihn sehen und jeder wüsste, dass ich ein böses Mädchen war. Er brannte so heiß in meiner Tasche, dass ich in Tränen ausbrach und alles gestand, bevor wir überhaupt das Auto erreicht hatten.
Genauso fühlte sich jetzt gerade die gefaltete Notizbuchseite in meiner Hosentasche an. Ich war überrascht, dass ich damit nicht sämtliche Alarmsysteme im Gebäude ausgelöst hatte. Wie sollte ich mich nur jemals vor all diese Leute stellen und vorlesen, was ich geschrieben hatte?
Mrs Jones, die Bibliothekarin, kam eilig auf uns zugelaufen, um mich zu umarmen. Diesmal trug sie ein schwarzes Kleid mit weißen Tupfen und große schwarze Tupfen als Ohrringe. »Oh, Liebes, ich bin so froh, dass du heute Abend gekommen bist!«, begrüßte sie mich. »Amy ist unsere ehrenamtliche Bibliothekarin«, erklärte sie Dad. »Ich glaube, sie verbringt mehr Zeit in der Bibliothek als ich.«
Plötzlich bekam ich Angst, Mrs Jones könnte ausplaudern, dass ich die Nachmittage in der Bibliothek verbrachte, anstatt zu irgendwelchen Klubs zu gehen. Sie wusste ja nicht, dass ich Mom und Dad anschwindelte.
Doch dann streckte sie Dad ihre Hand entgegen. »Opal Jones«, stellte sie sich vor.
»Opal ist ein schöner Name«, antwortete Dad und schüttelte ihr die Hand.
Mrs Jones wurde rot. Erwachsene Damen benahmen sich immer etwas merkwürdig, wenn mein Dad dabei war. Mom sagte, das lag an seinen Maurerarmen und an seinem Filmstarlächeln.
»Meine Eltern haben mir einen ungewöhnlichen Vornamen gegeben, weil wir Smith mit Nachnamen hießen«, erklärte Mrs Jones. »Später habe ich dann einen Mann namens Jones geheiratet.« Sie zuckte mit den Schultern. »Was will man machen.«
»Was hat es mit der Bücherverbannung auf sich?«, wollte Dad wissen.
Mrs Jones atmete tief ein. Sie hatte zwei gewaltige Lungenflügel zu füllen. »Es ist nicht das erste Mal, dass Bibliotheksbücher auf ihren erzieherischen Wert hin infrage gestellt werden. Aber es ist das erste Mal, dass der Schulausschuss über meinen Kopf hinweg entschieden und Bücher aus dem Regal genommen hat. Und das alles verdanken wir dieser Frau dort.«
Dad folgte Mrs Jones’ Blick zu einer hübschen, zierlichen hellhäutigen Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie trug eine fliederfarbene Jacke und einen dazu passenden Rock.
»Sie sieht nicht gerade aus wie eine Bücherverbrennerin«, bemerkte er.